«Hat der Westen das Vertrauen verspielt?»

Durch Entspannung und Abrüstung kann das Verhältnis der Grossmächte verbessert werden

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Was kann man von dem Treffen in Genf zwischen hochrangigen Vertretern Russlands und der USA erwarten?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Es ist wichtig, dass die politisch Verantwortlichen direkt miteinander sprechen und nicht nur offizielle Verlautbarungen von sich geben. Darum sind der Uno-Sicherheitsrat und der Uno-Menschenrechtsrat wichtig, denn dort werden Wahrheiten angesprochen, die eben auf den Tisch kommen müssen. Es ist dann unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die richtigen Prioritäten im Uno-Sicherheitsrat und beim Treffen zwischen Biden und Putin gesetzt werden. Die Resolution des Uno-Sicherheitsrats vom 3. Januar 2022 über die Nicht-Zulässigkeit der Verwendung von Nuklearwaffen ist besonders aktuell. Die fünf ständigen Mitglieder haben nämlich anerkannt, dass «a nuclear war cannot be won and must never be fought»; ferner wollen sie den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen stärken.

Was sollte bei diesem Treffen oberste Priorität haben?

Hauptanliegen muss der Frieden sein, die Entspannung zu fördern, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, Kriegspropaganda zu bannen, um eben eine Abrüstungspolitik umzusetzen. Es geht hier – wie überall – um richtige Informationen und eine rationale Diskussion darüber, was auch den guten Willen bzw. «bona fide» beider Seiten verlangt. Wir schwimmen aber in einem Ozean von Desinformation und Machiavellismen.

Wie sind die Forderungen Putins an die USA und die Nato zu bewerten?

Ich bewerte sie als positiv und notwendig. Es ist vor allem deshalb wichtig, dass Putins Vorschläge nun publik sind, denn auf diese Weise werden die «Narrative Managers» des US-State Departments und der westlichen Medien Putins Vorschläge nicht verfälschen oder nur selektiv wiedergeben können. Und auch wenn die Katze aus dem Sack ist, werden die Medien versuchen, die Katze in verschiedenen Farben zu bemalen. Putins Forderungen sind durchaus legitim. Aber die grosse Politik ist selten ausgewogen. Man spricht nicht immer dieselbe Sprache. «Demokratie» bedeutet nicht dasselbe in Washington, Jerusalem, Kairo, Moskau, Teheran oder Peking.

Ist es richtig von Putin, auf ein Ende der Nato-Erweiterung zu bestehen?

Absolut – und das hätte die russische Regierung bereits in den 90er Jahren verlangen müssen. In Moskau sass aber ein korrupter Mann, Boris Jelzin, den sich wie eine betrunkene Marionette der USA verhielt. Der Schaden, den Jelzin Russland brachte, war kolossal, aber die westlichen Medien malen weiterhin ein positives Porträt von diesem Verräter am eigenen Volk.

Putin möchte einen Rückzug der US-Atomwaffen aus Europa. Das wäre doch ein sinnvoller Schritt in Richtung Frieden?

Ja, gewiss, aber weder die Amerikaner noch die Briten, noch die Franzosen sind geistig dort. Unsere Rüstungsindustrie braucht einen Feind – und das ist die Rolle, die Russland zukommt. Wir im Westen leben in unserer eigenen Propaganda, und wir sind insofern gelähmt, weil wir uns von unseren eigenen Vorurteilen nicht allzu leicht befreien können. Nato-Chef Stoltenberg ist genauso ein Kriegstreiber, Manipulator und Propagandist wie die Politiker in Washington und London.

Was erwarten Sie vom US-Präsidenten?

Wäre Biden ein unabhängiger Denker, ein aufgeklärter Geist und kein Apparatschik, dann würde er echte Realpolitik betreiben. Er würde erkennen, dass ein Dritter Weltkrieg das Ende unserer Welt bedeuten würde, dass Nuklearwaffen und andere Massenvernichtungswaffen die grösste Gefahr für die Menschheit darstellen – mehr als Pandemien oder Klimaveränderungen. Er würde verstehen, dass die Russen und Chinesen auch weiterleben wollen und nicht von der Landkarte verschwinden werden. Man muss also lernen, wie man mit ihnen in Frieden lebt. Warum muss Washington vorweg die Russen und Chinesen zu Feinden erklären und nicht als potentielle Partner betrachten? Ich glaube kaum, dass Biden sich von den eigenen Vorurteilen über Russland befreien kann. Er denkt, Putin sei so etwa ein neuer Stalin – bzw. ein neuer Zar. Das ist Putin aber nicht. Biden folgt einer politischen Linie, die ihm vom «Brookings Institute», von der «Heritage Foundation» usw. vorgeschrieben wird.

Was raten Sie ihm?

Wenn Biden einmal eine kluge amerikanische Politik machen möchte, dann müsste er sich mit den Russen auf einen Modus Vivendi einlassen. Er könnte z. B. Putin nach seinen Vorstellungen zur Abrüstung fragen oder über Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Weltall sprechen, über Ausweitung der Kooperation in der Internationalen Raumstation (ISS), über eine Rückkehr zum «Open Skies Treaty».

Es gibt also durchaus Ansätze, wie das Verhältnis der Grossmächte im Jahr 2022 verbessert werden kann?

Ja, natürlich, durch Entspannung und Abrüstung. Darum sollte die Uno-Abrüstungskonferenz in Genf aktiv werden. Dies muss auf der Basis gegenseitigen Res­pekts geschehen und im Zusammenhang mit allen relevanten Mechanismen der Uno. Die Haltung der USA, sich als alleiniger Hegemon zu verstehen, stellt natürlich ein gehöriges Hindernis dar. Es geht um die geistige Haltung der amerikanischen «Eliten» und Medien, die nicht so einfach zu verbannen ist, denn wir Amerikaner haben diese Angewohnheit seit Jahrhunderten. Das nennen wir «Exzeptionalismus». Die meisten Amerikaner sind quasi überzeugt, dass sie eine «Mission» haben. Genauso wie die britischen Imperialisten (Queen Victoria, Cecil Rhodes) an «The White Man’s Burden» (Rudyard Kipling) glaubten, so glaubt auch die Mehrheit der Amerikaner, dass sie die Wahrheit besitze und ihre Idee von «Demokratie» und «Menschenrechten» in andere Länder exportieren müsse. Dies ist keine gute Voraussetzung für Gespräche zwischen souveränen Staaten.

Welche Rolle kann dann noch eine Nato haben?

Am liebsten keine, denn ihre Raison d’être gibt es nicht mehr – sie wurde als Gegenpol zur Sowjet­union und zum Warschauer Pakt etabliert. Seit spätestens 1991 ist die Nato obsolet, sucht aber eine neue Aufgabe. Wie jede Organisation, jeder Apparat, will die Nato weiter existieren. So ist sie eine aggressive Allianz geworden und hat dabei grosse Völkerrechts- bzw. Menschenrechtsverletzungen begangen, z. B. in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien usw. Sie agiert gegen die Nürnberger Prinzipien und gegen das Statut von Rom.

Müssten diese Menschen- und Völkerrechtsverletzungen nicht geahndet werden?

Doch, natürlich! Eigentlich müssten auch Nato-Kriegsverbrechen und Nato-Verbrechen gegen die Menschheit durch den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) untersucht werden – denn es gibt Verletzungen der Artikel 5, 6, 7, und 8 des Statuts von Rom. Aber träumen wir nicht. Der neue Chefankläger des ICC ist ein Engländer, der bereits gesagt hat, er will die Nato-Verbrechen in Afghanistan nicht untersuchen, obwohl er eine Untersuchung der Verbrechen der Taliban veranlasst hat. Im Prinzip sollte die Nato sang- und klanglos abgeschafft werden. Künftig sollten Sicherheitsfragen allein im Uno-Sicherheitsrat geregelt werden.

Putin hat bereits 2007 von einer europäischen Sicherheitsarchitektur gesprochen. Wäre das eine Grundlage für eine friedlichere Politik in der Welt?

Das war damals richtig und ist umso dringender heute. Diese europäische Sicherheitsarchitektur müsste natürlich zusammen mit der Uno und nicht gegen sie wirken. Eigentlich wollen wir eine Sicherheitsarchitektur für die ganze Welt – und dies bedeutet nukleare Abrüstung und Schluss mit Wettrüsten.

Welche Rolle könnte die OSZE für ein friedliches Zusammenleben in Europa spielen?

Eine sehr positive Rolle. In der OSZE spielen auch Russland und Belarus mit – sie werden nicht vorweg ausgeschlossen.

Vom Westen her wird die OSZE immer etwas stiefmütterlich behandelt, obwohl hier ganz Europa am Tisch sitzt. Warum das?

Nicht nur die alten republikanischen Neo-Cons wie Dick Cheney, George W. Bush, Condoleeza Rice usw. unterschätzten die OSZE – heute möchte im US-House of Representatives, der Republikaner Mike Turner, US-Truppen in die Ukraine entsenden, um dort die «Demokratie» gegen Russland zu verteidigen. Nicht nur die radikalen Neo-Cons denken so – auch Demokraten wie Victoria Nuland (Assistant Secretary of State) und sogar Hillary Clinton halten nichts von der OSZE oder von der EU. Auch die Demokraten wollen nur Befehle erteilen.

Wie muss man verstehen, dass ein Treffen mit der OSZE anberaumt ist, aber nicht mit der EU?

Die EU hat sich selbst in eine Sackgasse manövriert. Dadurch, dass die EU sich am Maidan-Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Viktor Janukowitsch aktiv beteiligte, dadurch, dass sie den «Rechtsstaat» in der Ukraine nicht verteidigte, sondern sich sofort auf die Seite der antidemokratischen Putschisten schlug, hat sie ihre Glaubwürdigkeit und Autorität verloren. Die Art und Weise, wie die EU mit der Ukraine und Polen umgeht, beweist, dass sie an Macht und Gewalt interessiert ist – nicht aber an einem Dialog oder Kompromiss.

Ist die Tatsache, dass Russland der OSZE den Vorrang gibt, ein Affront gegenüber der EU, wie manche Zeitungen kommentieren, oder Ausdruck davon, dass die europäischen Staaten sich letztlich in der Abhängigkeit der USA befinden?

Es ist gar kein Affront, sondern Realpolitik. Seit Jahrzehnten sind die europäischen Staaten Lakaien der USA. Ausserdem führt die EU keine Uno-konforme Politik, unterstützt Aktivitäten, die mit der Uno-Charta unvereinbar sind. Sie betreibt Kriegspropaganda, hetzt gegen Russland und China, duldet aber die Verbrechen der Türkei, Saudi-Arabiens, der Vereinigten Emirate usw. – verletzt dabei den Artikel 20 des Internationalen Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte, der Kriegspropaganda verbietet.

Worin sehen Sie die Gründe, warum die Lage sich in den letzten Jahren zusehends verschlechtert hat?

Wir im Westen befinden uns gewissermassen in einer ständigen Flucht nach vorn. Es geht nicht gut mit unserer Wirtschaft und den Finanzen. Vor allem die USA haben so viele wichtige Verträge gebrochen, dass ihre Glaubwürdigkeit schwer angeschlagen ist. «Pacta sunt servanda» (Art. 26 der Wiener Vertragsrechtskonvention) – die Vertragstreue gilt nicht nur für ratifizierte Verträge, sondern auch für mündliche Vereinbarungen. Der Bruch eines «Gentleman Agreements» mag nicht vor den Internationalen Gerichtshof kommen, aber er hat immerhin allerlei Konsequenzen für Gegenwart und Zukunft.

Meinen Sie das in Bezug auf die Nato-Osterweiterung?

Ja, der Westen wollte, dass die Sowjetunion ihre Truppen aus Mittel- und Osteuropa abzieht. Das hat Gorbatschow versprochen und durchgeführt. Aber wie die Aussagen verschiedener verantwortungsträger beweisen, hat die Nato tatsächlich versprochen, sich nicht nach Osten auszudehnen. Man denke, Gorbatschow hätte verlangen können, dass sich die Nato genauso wie der Warschauer Pakt auflöste, die Nato genauso abgeschafft werden müsste. Das hat Gorbatschow nicht verlangt – wohl aber ein Versprechen und die Zusage bekommen, dass die Nato keinen Zentimeter nach Osten gehen würde. Der Westen hat diese wesentliche Vereinbarung nicht eingehalten.

US-Aussenminister Antony  Blinken hat neulich bestritten, dass sein Vorgänger Baker Versprechungen über die mögliche Osterweiterung der Nato gegeben habe.

Dies lässt sich leicht widerlegen, denn freigegebene Dokumente beweisen, dass tatsächlich mündliche Versprechungen gegeben wurden und dass diese Bestandteil der allgemeinen Vereinbarung waren.¹ Juristisch gesehen sind mündliche Zusicherungen bindend, auch wenn nicht in Stein gemeisselt sind.

Bereits im April 2009 schrieb Gorbatschow: «Bundeskanzler Helmut Kohl, US-Aussenminister James Baker und andere sicherten mir zu, dass sich die Nato keinen Zentimeter nach Osten bewegen würde. Daran haben sich die Amerikaner nicht gehalten, und den Deutschen war es gleichgültig. Vielleicht haben sie sich sogar die Hände gerieben, wie toll man die Russen über den Tisch gezogen hat. Was hat es gebracht? Nur, dass die Russen westlichen Versprechungen nun nicht mehr trauen.»²

Baker hatte in einem Gespräch mit Gorbatschow zugesichert, dass «die Rechtshoheit der Nato auf Nato-Streitkräfte nicht einen Zoll nach Osten ausgedehnt würde.»³

Ähnlich sagte im Jahr 1990 der damalige US-Botschafter in Moskau, Jack Matlock, anlässlich einer Anhörung im amerikanischen Kongress, Gorbatschow hätte von den USA eine «klare Verpflichtung» erhalten, dass «falls Deutschland sich vereinigt und in der Nato bleiben würde, die Grenzen der Nato sich nicht ostwärts bewegen würden».⁴

Der ehemalige deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher sagte am 2. Februar 1990 nach einem Treffen mit dem damaligen US-Aussenminister James Baker: «Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das Nato-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt nicht nur für die DDR, sondern ganz generell.»⁵

Nun ist natürlich das Vertrauen gestört…

Gestört ist ein zu mildes Wort. Eine der grössten Errungenschaften der Zivilisation und des rechtsstaatlichen Denkens ist nämlich die Vertragstreue. Die Verpflichtung, Wort zu halten. Wenn ein Versprechen gemacht wird, so muss man es in gutem Glauben umsetzen und nicht unterminieren, re-interpretieren, aufweichen. Es ist Ehrensache. Aber es scheint, dass wir im Westen keine Ehre mehr haben – und dass wir ganz bewusst die Russen übers Ohr gehauen haben. Wir haben ein «Fait accompli» geschaffen und erwarten, dass die Russen es so annehmen.

Das geschah doch im Zuge der Auflösung der Sowjetunion.

Ja, aber 1991 war die Sowjetunion kein besiegter Staat. Gorbatschow wollte Glasnost und Perestroika in Russland, Kooperation und Frieden mit dem Westen. Er hat keine bedingungslose Kapitulation unterschrieben. Im Grunde hat der Westen Gorbatschow und die Russen belogen, betrogen, hinters Licht geführt. Aber diese Tatsache wollen die meisten Politiker in Washington nicht zugeben. Es besteht kein bisschen Reue – wir leugnen einfach alles. Wir spielen den Unschuldigen. Dies hat Konsequenzen. Es geht nämlich um mangelnde «bona fide» – um mangelnden Treu und Glauben. Leider haben wir uns im Westen eine schlechte Reputation erworben. Um wieder glaubwürdig und vertragswürdig zu werden, müssen wir politischen Willen zeigen, müssen wir beweisen, dass wir ein verlässlicher Vertragspartner sind. Ein echter Staatsmann versteht das.

Gab es nicht immer Wortbrüche in internationalen Beziehungen?

Zu viele – und seit biblischen Zeiten. In der Renaissance lesen wir verschiedene erstaunliche Geschichten im Buch «Der Fürst» von Niccolò Machiavelli. Aber nehmen wir z. B. den Ersten Weltkrieg – das Deutsche Reich hat im November 1918 gar nicht kapituliert, und brauchte es nicht zu tun. Das Reich hat an den guten Willen Präsident Woodrow Wilsons geglaubt und sich auf die Umsetzung der 14 Punkte verlassen. Deutschland war nicht besetzt, im Gegenteil. Deutschland hielt noch Teile Frankreichs und Belgiens besetzt. Der Vertrag von Brest-Litowsk mit Russland war noch in Kraft. Das Deutsche Reich war nicht besiegt. Es gab keine bedingungslose Kapitulation wie im Mai 1945. Das deutsche Volk war 1918 kriegsmüde, wollte den Frieden, glaubte mit einer gewissen Naivität an den 14-Punkte-Plan Wilsons.

Der Waffenstillstand vom 11. November 1918 baute expressis verbis bzw. juristisch auf den 14 Punkten auf, die das Fundament des Friedensvertrages bilden sollten. Aber sobald Kaiser Wilhelm II. abgedankt hatte und das Reich zusammengebrochen war, vergassen Frankreich und England alle ihre Verpflichtungen. Der Versailler Vertrag hatte nichts mehr mit den 14 Punkten zu tun. Eigentlich war der er ein grotesker Wortbruch. Man möchte beinahe sagen, ein Beispiel des «vae victis» – aber der springende Punkt ist nämlich, dass Deutschland nicht besiegt war. Ähnlich wie Gorbatschow 1991 wurde Deutschland 1919 in Versailles übers Ohr gehauen.

Was sind die Konsequenzen eines Wortbruches?

Jeder Vertrauensbruch bedeutet eine Vergiftung der zwischenstaatlichen Atmosphäre, die die Kooperation verhindert und zu weiteren Missverständnissen führen kann. Und so war es 1919 auch. Frankreich und England haben sich dreist gegenüber Deutschland verhalten. Genau wegen der ungeheuren Ungerechtigkeit des Versailler Vertrages konnte ein Demagoge wie Adolf Hitler in Deutschland an die Macht kommen. Der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau war nämlich ein Chauvinist, kein Staatsmann. Mehr als der britische Premierminister Lloyd George trägt Clemenceau eine schwere Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg. Der Verrat von Versailles führte ganz Europa ins Verderben. Der laufende Vertrauensbruch durch die Nato seit 1991 kann uns früher oder später einholen und zum Armageddon führen.

Was können die USA von Russland verlangen?

Zum Beispiel, dass Putin sich verpflichtet, die Ukraine nicht anzugreifen. Eine solche Versicherung kann Putin ohne weiteres geben. Allerdings, sollte Selenski die russischsprechenden Gebiete Donezk und Lugansk angreifen, wie seinerzeit Saakaschwili Süd-Ossetien angriff, dann kann man nicht erwarten, dass Putin tatenlos zuschaut. Jahrhundertelang war die Ukraine Bestandteil Russlands. Putin hat kein Interesse daran, die Ukraine wieder Mutter Russland einzuverleiben, darum wird er ohne Provokation nicht in die Ukraine einfallen. Er hat sich mit dem Putsch von 2014 mehr oder weniger abgefunden. Aber er will nicht zulassen, dass die Ukraine die russischstämmige Bevölkerung in Donezk, Lugansk, Slowiansk usw. massakriert. Im Westen sind die Massaker an den Russen in Odessa vom 2. Mai 2014 vergessen – in Russland aber nicht.

Was kann Russland von den USA verlangen?

Einen redlichen Versuch, die Situation zu entspannen. Ein Ende der ständigen antirussischen Propaganda. Ein Ende der Nato-«Manöver» im Schwarzen Meer und in der Nähe der russischen Grenze. Die Bereitschaft, globale Fragen im Einklang mit der Uno-Charta multilateral zu lösen.

Welche Rolle kann die Schweiz spielen? Das Treffen findet ja in Genf statt.

Genauso wie Bundespräsident Parmelin ein erfolgreiches Treffen zwischen Putin und Biden im Juni 2021 ermöglichte, soll nun Ignazio Cassis als neuer Bundespräsident seine guten Dienste anbieten und so die schweizerische Tradition der Mediation fortsetzen. Die Schweiz könnte als neutraler Staat ihre Erfahrungen in der Rolle des Vermittlers ernsthaft wahrnehmen und einen konstruktiven Beitrag zu mehr Frieden in der Welt leisten. Bundespräsident Cassis ist gefordert.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2017-12-12/nato-expansion-what-gorbachev-heard-western-leaders-early
² http://www.bild.de/politik/2009/bild-medienpreis/die-deutschen-waren-nicht-aufzuhalten-7864098.bild.html
³ Philip Zelikow und Condoleezza Rice: Germany Unified and Europe Transformed: A Study in Statecraft (Cambridge, Mass. 1995), S. 182
⁴ House Committee on International Relations, U.S. Policy Toward NATO Enlargement: Hearing, 104th Cong., 2nd sess., June 20, 1996, S. 31.
https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/516654/NATO-Osterweiterung-Ein-gebrochenes-muendliches-Versprechen-mit-Folgen-fuer-Europa

«Die Vereinigten Staaten haben wiederholt Angriffskriege vom Zaun gebrochen und das Völkerrecht mit Füssen getreten»

thk. Wenn sich diese Woche hochrangige Vertreter der Russischen Föderation und der USA in Genf treffen, werden verschiedene Hoffnungen damit verbunden sein. Die grösste Hoffnung ist, dass eine Vertrauensbasis gebildet werden kann, und man in den strittigen Fragen einen Konsens findet, der zu mehr Frieden zwischen den grossen Mächten und somit auch in der Welt führt. 

Solange Menschen miteinander sprechen, können Missverständnisse geklärt und gegenseitiges Misstrauen möglicherweise aufgelöst werden. Wenn die USA von ihrem hohen Ross herunterkommen und den Willen zeigen, die Situation des grössten Landes der Erde zu verstehen oder zumindest signalisieren, es verstehen zu wollen, wird eine andauernde Entspannung eintreten können. Die Treiber der Ukraine-Krise sind eindeutig die USA und ihre Verbündeten.

In den Mainstreammedien ist der Tenor klar. Joe Biden müsse Putin an der Grenze zur Ukraine in die Schranken weisen und den Abzug der russischen Truppen verlangen. Russland wird gewöhnlich in den westlichen Medien als Aggressor dargestellt und die USA als friedliebende Ordnungsmacht. Nach all dem Desaster, das die USA nur in diesem noch jungen Jahrhundert in Afghanistan, in Syrien, in Libyen, im Irak, in Venezuela etc. angerichtet haben, ist es schon erstaunlich, wie lange sich dieser Schein «des Guten» aufrecht erhalten lässt, unter völliger Verkennung der Realitäten. Bernd Greiner, Professor für Geschichte mit Schwerpunkt USA im 20. Jahrhundert und Kalter Krieg, schreibt im Vorwort seines neusten Buches¹ einen in unseren Medien selten zu lesenden Satz: «Die Vereinigten Staaten haben mit Abstand die meisten Kriege geführt, wiederholt Angriffskriege vom Zaun gebrochen und das Völkerrecht mit Füssen getreten…» (S. 7). 

Um so erstaunlicher, wenn nicht geradezu erfreulich, ist es, dass die «NZZ» vom 31.12.2021 einen Artikel veröffentlicht, mit dem eindeutigen Titel «Der amerikanische Luftkrieg ist schmutziger als gedacht». Bei der Berichterstattung stützt sich der Autor auf Recherchen der «New York Times». Dabei wird deutlich, dass allen Beschönigungen zum Trotz mehrere Tausend Zivilisten bei US-amerikanischen Luftangriffen auf den Irak und auf Syrien getötet worden sind. Für kritische Beobachter des Kriegsgeschehens ist das nichts Neues, dennoch ist es bemerkenswert, weil unsere Medien fast ausschliesslich über die Luftangriffe der russischen und syrischen Luftwaffe berichtet haben und dass ihr Vorgehen gegenüber der Zivilbevölkerung rücksichtslos gewesen sei. Was in dem Artikel ans Tageslicht kommt, wird nur die Spitze des Eisbergs sein, denn die US-Propaganda hat ihre militärischen Aktionen stets als sauber dargestellt, offensichtliche Kriegsverbrechen wurden vertuscht und der Öffentlichkeit vorenthalten. Dieses Vorgehen der USA ist nicht neu, man denke nur an Guantanamo, Abu Graib, Bagram etc. 

Wenn wenige Tage vor dem Treffen in Genf ein Land, das mit Russ­land verbündet ist, von Unruhen und Aufständen heimgesucht wird, kann das tatsächlich ein Zufall sein, oder aber sie sind eine gezielte Machtdemonstration der USA. Zu dieser Überzeugung kann man kommen, wenn man – und damit schliesst sich der Kreis – an die Maidan-Unruhen in Kiew im Jahre 2014 denkt. Hier wurde auch, je länger die Unruhen anhielten, immer deutlicher, dass das Ganze von den USA und der EU orchestriert wurde, mit Hilfe hochrangiger Politiker, die sogar auf der Seite der gewalttätigen Demonstranten Sandwiches und Kaffee verteilten. Das ständige Bestreben der USA, mit der Erweiterung der Nato nach Osten – obwohl die USA Michail Gorbatschow zusagten, von einer Ausdehnung der Nato Richtung Osten abzusehen – einen immer engeren Kreis um Russ­land zu ziehen, wird irgendwann eine Reaktion Russ­lands provozieren. Dass Kasachstan die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) um Beistand gebeten hat, ist dem Umstand geschuldet, dass es ein beliebtes Vorgehen der USA ist, dort Unruhe zu säen, wo sie den vermeintlichen Gegner schwächen können. Bernd Greiner zitiert Jimmy Carter, der im Frühjahr 2019 sagte: «Die USA sind die kriegerischste Nation in der Geschichte der Welt, [weil wir andere Länder dazu zwingen wollen] unsere amerikanischen Prinzipien zu übernehmen.» (S. 237)

Es wird für Russland nicht einfach sein, nach den Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte einen offenen Dialog mit den USA zu führen, denn deren Politik ist alles andere als vertrauensbildend, und doch muss man miteinander auf dieser Welt auskommen. 

¹ Bernd Greiner: Made in Washington – Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. München 2021. ISBN 978 3 406 77744 8

 

Amnesty International stiftet Verwirrung

von Dr. phil. Helmut Scheben, ehemaliger Redaktor und Reporter beim Schweizer Fernsehen SRF

Amnesty International (AI) fordert in der Corona-Krise Informationsfreiheit. Aber gleichzeitig soll stärker zensuriert werden. Was nun von beiden?

Am 19. Oktober verbreitete Amnesty International in London einen Medientext, in dem es heisst, die Informationsfreiheit sei in der Coronakrise in Gefahr geraten. Die Menschenrechte der Bevölkerung seien eingeschränkt worden. Rajat Khosla, Chef der Abteilung Research, Advocacy and Policy, warnt vor den schlimmen Folgen der Zensur: «Kommunikationskanäle wurden überwacht und attackiert, in den Sozialen Medien wurde zensiert und Medieneinrichtungen wurden geschlossen – mit verheerenden Folgen für den Zugang der Öffentlichkeit zu lebenswichtigen Informationen über den Umgang mit Covid-19».

Man ist auf den ersten Blick erfreut. Endlich hat auch die renommierte Menschenrechts-NGO gemerkt, dass seit mehr als 18 Monaten auch seriöse Kritiker an die Kandare genommen werden und grosse Mühe haben, ihre Stimme zu Gehör zu bringen. Jüngstes Beispiel war das Publikationsverbot des TV-Senders «RT-Deutsch» auf Youtube. Ende September sperrte Youtube den Ableger des russischen Auslandssenders mit der Begründung, «RT» verstosse gegen die Bestimmungen zur Desinformation im Zusammenhang mit Corona. «RT-Deutsch» hatte renommierte Mediziner und Epidemiologen zu Wort kommen lassen, die die Corona-Politik kritisieren.

Der Sender ist der deutschen Regierung seit langem ein Dorn im Auge, weil er die Politik der militärischen Interventionen der Nato und ihres Bündnispartners Deutschland in schlechtem Licht zeigt. Die Zensurmassnahme der Google-Tochter Youtube kommt wahrscheinlich auf Drängen der Regierung in Berlin zustande. Der Zeitpunkt ist kein Zufall. «RT-Deutsch» erfreut sich wachsender Beliebtheit und will ab Dezember ein komplettes deutschsprachiges TV-Programm anbieten, das auch über Kabel empfangen werden kann.

Mehr Informationsblockade gefordert

Amnesty International ist also zuzustimmen, wenn die Organisation die Alarmglocke läutet, weil das Menschenrecht auf freie Meinungsäusserung «unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung» eingeschränkt wird. Aber Vorsicht, weit gefehlt: Bei genauer Lektüre der Medienmitteilung stellt man überrascht fest, dass Amnesty International etwas ganz anderes im Sinn hat. Nicht weniger Blockade von Information, sondern mehr. Zensur soll nicht generell von Übel sein, sondern die gute Information soll erlaubt, die schlechte verboten werden. Was aber gut und was schlecht ist auf dieser Welt, soll offenbar nicht die Justiz im Hinblick auf strafbare Handlungen entscheiden, sondern ein paar private Unternehmen im kalifornischen Silicon Valley. Diese sollen, wenn es nach Amnesty International geht, endlich mehr Informationen löschen, mehr Accounts abschalten, mehr für die korrekte politische Gesinnung sorgen. Klarer als im letzten Satz des Pressetextes könnte sich Rajat Khosla nicht ausdrücken: «Das zerstörerische Geschäftsmodell von Big Tech (Amazon, Apple, Google, Facebook und Microsoft), das eine der Hauptursachen für die Verbreitung von Falsch- und Desinformationen im Internet ist, muss überarbeitet werden. Die Betreiberfirmen der Sozialen Medien müssen aufhören, den Kopf in den Sand zu stecken und Massnahmen gegen die virale Verbreitung von Fehlinformationen ergreifen, indem sie sicherstellen, dass ihre Geschäftsmodelle die Menschenrechte nicht weiter gefährden.»

«Also was nun?», fragt sich das verstörte Publikum. Brauchen wir weniger Zensur dieser privaten Giganten, weil diese Zensur gegen die Menschenrechte verstösst, oder benötigen wir mehr Zensur zur Durchsetzung der Menschenrechte? 

Fragwürdige Rolle bei internationalen Konflikten

Amnesty International hat seit der Gründung 1961 mit einem unermüdlichen Einsatz für politische Gefangene viel Gutes getan. Die Organisation ist aber auch immer wieder ins Zwielicht geraten, weil sie sich einspannen liess für die Interventionspolitik der Nato-Staaten. 

Schlagzeilen machte die Brutkasten-Story. Derzufolge hätten irakische Soldaten im August 1990 bei der Invasion in Kuwait Frühgeborene aus ihren Brutkästen gerissen und auf dem Boden sterben lassen. Amnesty International bestätigte damals, es habe sich um rund 300 Babies gehandelt. Die Geschichte erwies sich als eine Propagandalüge. Sie war eine Erfindung der PR-Agentur Hill  &  Knowlton, die den Auftrag hatte, weltweit öffentliche Zustimmung für den zweiten Golfkrieg herzustellen.¹ 

Der US-Kongress liess sich von dieser und anderen Propagandalügen überzeugen und stimmte im Januar 1991 in beiden Kammern mehrheitlich für den Krieg.

2011 schloss sich Amnesty International der Darstellung an, in Libyen drohe ein Völkermord, weil Staatschef Muammar al-Gaddafi den Aufstand mit Luftbombardements niederschlage. Die Meldungen von Bombardierungen und Truppenbewegungen, die als Beweise angeführt wurden, erwiesen sich später als massive Fälschungen. Rony Brauman, der Gründer von «Médecins sans Frontières», hat dies 2018 in seiner Studie «Les guerres humanitaires» nachgewiesen. Der angeblich drohende Massenmord war die offizielle Begründung, mit der der Uno-Sicherheitsrat unter Berufung auf die Klausel «Responsibility to Protect» grünes Licht gab für die «Durchsetzung einer Flugverbotszone» zum Schutz der libyschen Bevölkerung. Die Äusserungen der massgebenden Kriegsbefürworter Sarkozy, Cameron und Obama liessen jedoch keinen Zweifel daran, dass es sich in Wirklichkeit um einen Angriffskrieg zum Sturz des Gaddafi-Regimes handelte.

2012 forderte Amnesty International mit der Parole «Keep the progress going» die Nato auf, den Krieg in Afghanistan weiterzuführen. Die Menschenrechts-Organisation machte sich dabei die Legende der Nato-Staaten zu eigen, es gehe darum, die Frauen vor Unterdrückung zu schützen. Inzwischen dürfte selbst der schärfste aussenpolitische Falke in Washington einräumen, dass es den USA bei diesem Krieg um vieles ging, aber kaum um die Probleme der Frauen in Afghanistan.

Der Amnesty-Mann Rajat Khosla ist eng mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verbunden, für die er lange gearbeitet hat. In der WHO wiederum hat die Bill Gates Foundation weitgehenden Einfluss. Gates bekundete bei Beginn der Corona-Pandemie seine Absicht, «den Impfstoff letztendlich sieben Milliarden Menschen zu verabreichen».²

So ist es kaum erstaunlich, wenn Khosla in seiner Medienmitteilung fordert, die Welt endlich durchzuimpfen: «Während wir Regierungen und Pharmaunternehmen auffordern, Impfstoffe an alle Menschen auf der ganzen Welt zu verteilen und für alle verfügbar zu machen, müssen auch Staaten und Betreiberfirmen Sozialer Medien dafür sorgen, dass die Öffentlichkeit ungehinderten Zugang zu genauen, evidenzbasierten und aktuellen Informationen hat.»

Man darf sich fragen, ob wir thematisch und politisch noch bei der Menschenrechts-NGO Amnesty International sind oder schon in der Kommunikationsabteilung der WHO. Da wird Hand in Hand gearbeitet. Jedenfalls wird klar, was Khosla meint, wenn er sagt, der «freie Informationsfluss» müsse gesichert und «das Recht auf Gesundheit aller geschützt» werden. Zum freien Informationsfluss gehört in seinem Denkgebäude mit Sicherheit nicht die Vorstellung, dass es Menschen auf dieser Welt gibt, die meinen, ihr Körper könne sich auch ohne Impfung gegen das Virus verteidigen. Vielmehr wäre das für Khosla eine Fehlinformation, die die Betreiberfirmen der Social Media augenblicklich zu löschen hätten.

Amnesty International begibt sich damit auf ein gefährliches Gleis des Opportunismus. Wir sind in einer Welt angekommen, in der ein paar Big-Tech-Giganten sich das Recht anmassen zu entscheiden, was mehrere Milliarden Menschen äussern, lesen und sehen dürfen. Und was nicht. Eine politische Zensur, die auf eine orwellsche Dystopie hinausläuft. Allein in den ersten drei Monaten des letzten Jahres hat Youtube laut eigenem Bericht fast zehn Millionen Videos gelöscht. Löschen, sperren, blockieren: Da muss entfernt werden, was einer kleinen und von niemand demokratisch gewählten Gruppe von Leuten nicht ins Weltbild passt. Dies alles mit der häufig fadenscheinigen Begründung, man müsse Hassreden unterbinden, die Jugend schützen, Rechtsextremismus vermeiden und so weiter. Es ist unbestritten, dass Medieninhalte, die unmittelbar zu strafbaren Handlungen aufrufen, gelöscht werden sollen. Die politische Diskussion über diese heikle Problematik ist im Gange. Was aber strafbare Handlungen sind, bestimmen Gesetz und Justiz. Nicht hingegen US-amerikanische Privatunternehmen, die enorme finanzielle Macht haben und entscheiden, was politisch korrekt und moralisch überlegen ist.

Cancel Culture triumphiert. Ob «unreine» historische Denkmäler, unkorrekte Wörter, polemische Bücher oder Kritik des Corona-Lockdowns, es muss alles weg, was stört. Da agieren selbsternannte «Fakten-Checker», die für sich eine höhere moralische Position beanspruchen und so tun, als gäbe es in der Wissenschaft keine widersprüchlichen Befunde. So als könne man die Faktenlage kontrollieren wie die Bremsen in einem Auto. Und viele Medien haben vergessen, dass Journalismus einmal die Aufgabe hatte, das Handeln der Regierenden in Frage zu stellen.

Zum Glück gibt es Gerichte und unerschrockene Rechtsanwälte, die beginnen, den Missbrauch zu kontrollieren. In Dresden hat das Oberlandesgericht den Google-Konzern zu 100 000 Euro Strafe verurteilt, weil er ein Video über Corona-Proteste in der Schweiz gelöscht und trotz Aufforderung nicht unverzüglich wiederhergestellt hatte.³

Über derartige Probleme wird man wohl in naher Zukunft nichts in den Publikationen von Amnesty International lesen. 

Quelle: www.infosperber.ch/medien/medienkritik/amnesty-international-stiftet-verwirrung/

Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.

¹ John R. MacArthur: Die Schlacht der Lügen –Wie die USA den Golfkrieg verkauften. dtv 1993
² Bill Gates in den ARD-«Tagesthemen» vom 14. April 2020
³ NZZ vom 04.08.2021

Covid-19: Menschenbild im Wandel – Homo homini virus est? 

von Dr. iur. Kaspar Gerber*

Der sich wohl noch länger hinziehenden Coronalage ist mit der Erörterung einzelner epidemiologischer, juristischer und politischer Aspekte nicht mehr beizukommen. Zum echten «Gamechanger» wird möglicherweise erst eine breite Diskussion über das sich seit Pandemiebeginn gewandelte Menschenbild – vom vermutungsweise gesunden zum vermutungsweise kranken Menschen. 

Gegenwärtig rollt die x-te Coronawelle über die Schweiz. Seit Februar 2020 gelten verschiedene Coronamassnahmen. Zudem ist der «Kuchen» der gesetzlichen Leistungen, vor allem im Intensivpflegebereich, durch Personal- und damit auch Bettenverlust kleiner geworden. Anlass genug für ein Schlaglicht auf ein markantes Corona­phänomen: Das bis zum Pandemiebeginn in der Schweiz «übliche» Menschenbild scheint sich in dieser Zeit stark gewandelt zu haben. 

Das «big picture» des staatlichen Risikomanagements bei Covid-19: Coronamassnahmen aller Art beruhen auf der rechtlich mehr oder weniger sinnvoll materialisierten Grunderkenntnis, wonach umso weniger Virenübertragungen erfolgen, je mehr physische Distanz die Menschen zueinander halten. Bei respiratorischen Viren handelt es sich allerdings um ein konstantes, im sozialen Leben alltägliches und saisonal akzentuiertes, zunächst grundsätzlich von allen Menschen zwangsläufig zu tragendes Lebensrisiko. Gegenmassnahmen wie das «social distancing» gegenüber der breiten Bevölkerung verursachen daher, je nach deren Intensität und Dauer, sofort gesamtgesellschaftliche Kollateralschäden. In der Gesamtbevölkerung die Verbreitung ubiquitärer respiratorischer Viren zu vermindern, ist ohnehin schwerer als das sprichwörtliche Hüten eines Sacks voller Flöhe. Hierzu ist je nach Massnahme ein technisch und personell beliebig aufwändiger (staatlicher) Kontrollapparat erforderlich. Es drohen zudem bei gleichzeitig ergriffenen und/oder undifferenzierten, nicht risikobasierten Massnahmen gegenüber der breiten Bevölkerung falsche und kontraproduktive Kausalitätsbeurteilungen sowie Kontrollillusionen. Bei erhöhter Gefahrenlage durch respiratorische Viren wie gegenwärtig durch Covid-19 drängt sich realistischerweise der gezielte Schutz der unterdessen gut identifizierbaren Risikogruppen auf. So weit die Theorie.

Heute zeigt sich allerdings die folgende Gesamtsituation: Staatliche Coronaregeln gelten in praktisch allen Lebensbereichen (noch) ausserhalb der eigenen vier Wände – unabhängig vom individuellen Risikostatus und vom klinischen Zustand der betroffenen Personen. Der Zutritt zu den meisten öffentlich zugänglichen Innenräumen ist für den Grossteil der Bürgerinnen und Bürger nur noch mit Masken und/oder Zertifikat möglich. Daneben sind weitere BAG-Hygienevorschriften wie Abstandsgebote, Niessvorschriften und Handschlagverbote einzuhalten. Auch (maskierte) Schulkinder werden mittels mehr oder weniger freiwilliger Massentests auf ihre epidemiologische Gefährlichkeit «gescannt». 

Es entsteht der Eindruck, der Mensch solle möglichst hermetisch mit verschiedenen «Schutzschichten» bzw. Massnahmen von anderen Menschen abgeschirmt werden. Der Mensch wird von Staat und Gesellschaft somit einer persönlich zu widerlegenden «Krankheitsvermutung» unterworfen. Seine gesellschaftliche Relevanz wird zurzeit in erstaunlichem Ausmass über seine Eigenschaft als potenziell tödliche Virenschleuder definiert – im Grunde eine persönliche Beleidigung. Vermutungsweise gesunde Menschen existieren de iure coronae auch in der Schweiz praktisch nicht mehr. 

Das Menschenbild scheint sich also verändert zu haben: Nur ein maskierter und/oder getesteter und/oder geimpfter Mensch ist ein (guter?) Mensch – und das auch nur mit genügendem Abstand oder hinter Plexiglasscheiben. Dieses Menschenbild hat seine Berechtigung (nur) in Gebieten mit massiv gesteigerten Sicherheitsanforderungen wie in einer Laborumgebung oder im professionellen Gesundheitsbereich.

Die Covid-19-Pandemie wird seit Beginn prominent via täglich medial frisch aufbereitetem Datenmaterial unerbittlich ins Alltagsbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger gespeist. Dabei fehlen meistens gleichzeitige Relationsangaben zu mindestens so relevanten Lebensrisiken. Dazu kommt der Versuch der stigmatisierenden und Schuld oder Unschuld implizierenden Unterteilung von Bevölkerungsgruppen in «Treiber» oder «Nichttreiber» der Pandemie.

Die staatlich vermutete generalisierte Fremdgefahr durch Covid-19 hat den Boden bereitet für die undifferenzierte Kollektivierung der Gesundheit und entsprechendem moralischem Druck auf bestimmte Bevölkerungsgruppen – abwechselnd Reiserückkehrer im Allgemeinen, speziell z. B. Menschen aus dem Balkan, Partygänger, aktuell pauschal Ungeimpfte. Wer als nächstes? 

Vorderhand wird das «Perpetuum mobile» von Virusmutationen und Massnahmen vermutlich ungebrochen weiterlaufen. Man wird sich aber je länger, je mehr fragen, zu welchem Preis sich die gegenwärtig herrschenden Erwartungen an den coronabezogenen «Hygienestaat» aufrechterhalten lassen. Erst diese breite Diskussion wird möglicherweise zum echten «Gamechanger» der Pandemie. 

Die künftige Aufarbeitung der Covid-19-Pandemie wird sich der Frage zuwenden müssen, wie sich ein Menschenbild aus einer Laborumgebung oder aus dem professionellen Gesundheitsbereich zum Massstab für das gesamtgesellschaftliche Leben entwickeln konnte. Eine unvoreingenommene Analyse wird wahrscheinlich erst in einigen Jahrzehnten möglich sein – wenn sich (auch in den Köpfen) die dunklen Coronawolken verzogen haben. 

Quelle: Jusletter Coronavirus-Blog 17. Dezember 2021 jusletter.weblaw.ch/blog/gerber17122021.html

* Dr. iur. Kaspar Gerber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) am Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich.

 

Wie will der Bundesrat das Vertrauen der Bevölkerung wieder herstellen?

thk. Dass das Corana-Virus unsere Gesellschaft vollständig auf den Kopf stellen würde, hätte niemand gedacht, als vor zwei Jahren in den Medien von einer «neuartigen Lungenkrankheit» die Rede war, die «sehr gefährlich» sei. Schnell hatte man Angst verbreitet, bevor konkrete Zahlen und Daten vorlagen. 

Innerhalb von zwei Jahren wurden politisch Dinge durchgedrückt, die man sich in den schlimmsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Begonnen hat es damit, dass der Bundesrat mit Hilfe des Epidemiengesetzes die «Ausserordentliche Lage» ausgerufen, das Parlament in einer Panik während der Frühjahrssession 2020 davongelaufen ist, und damit die Exekutive innert kürzester Zeit einen enormen Machtzuwachs erhalten hat. So konnte der Bundesrat den Lockdown verhängen, den Menschen vorschreiben, zu wievielt sie sich im privaten Rahmen treffen dürfen, unter Androhung von Bussen Restaurants, Bars, Fitnesscenter, Kinos, Theater und Museen schliessen, Milliarden an Hilfsgeldern (wohlgemerkt Steuergelder) sprechen, Kinder vom Unterricht verbannen und Menschen in die Isolation zwingen – eine Einschränkung der persönlichen Freiheit, wie es unsere Gesellschaft noch nie erlebt hat. Als innert kürzester Zeit ein Impfstoff vorhanden war, obwohl verschiedene Experten davor warnten, alles auf einen unausgereiften Impfstoff zu setzen, der bis heute nur eine provisorische Zulassung erhalten hat, wurde dieser mit einem riesigen Propagandaaufwand, flankiert von den Medien – Marc Walder lässt grüssen – zum Allheilmittel erhoben. Sollten sich anfänglich laut Bundesrat Berset vor allem die «Vulnerablen», also Betagte und solche mit Vorerkrankungen impfen lassen, macht man heute im Fernsehen Werbung für die Impfung von 5jährigen. Bisher hiess es immer, Kinder seien keine Gefahr, sie steckten sich selten an und spielten bei der Verbreitung des Virus keine Rolle. Heute soll alles anders sein?

Galt am Anfang nach einer zweimaligen Impfung ein Impfschutz von über 90 % – Experten staunten schon damals: Einen so hohen Impfschutz gibt es selten – ist das inzwischen alles Schnee von gestern? 

Als immer mehr Impfdurchbrüche gemeldet wurden, änderte man das Narrativ, und die Impfung sorgte nur noch «für mildere Verläufe», bot aber keinen 90 %igen Schutz mehr. Inzwischen wurden aber die Massnahmen immer weiter verschärft, und die Gesunden zu den «Treibern der Pandemie» erklärt, zu «Virenschleudern», die eine Gefahr für die Gesellschaft darstellten. Die Stimmung in der Bevölkerung verschlechterte sich zunehmend. Der Gesunde musste jetzt überall beweisen, dass er gesund ist – ein Paradigmenwechsel. Wenn das Schule macht, darf bald niemand mehr auf die Strasse, denn er könnte Träger einer gefährlichen Krankheit sein. 

In der Folge werden die gesunden Ungeimpften weitgehend vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, während sich die Geimpften in Bars und Clubs tummeln dürfen. Als Belohnung für das Impfen, können sie kurzfristig auf die Maske verzichten und stecken sich dafür untereinander wacker an, von gesunden Ungeimpften, die die «Treiber der Pandemie» sein sollen, weit und breit keine Spur. 

Anfang Dezember die Schreckensmeldung aus Südafrika: Eine neue Corona-Variante mit Namen Omikron ist im Anmarsch, die viel ansteckender sein soll, aber möglicherweise weniger schwere Verläufe bewirkt. Kann man aufatmen? Nein, natürlich nicht. Mehr Ansteckungen, so die Experten des BAG, werden die Krankenhäuser weiter (über)belasten. Was soll man tun? «Schnell boostern!», das ist die Devise. Da der Impfschutz nach einem halben Jahr nur noch sehr klein ist, – die Prozentzahlen ändern ständig – braucht es eine Auffrischung. Inzwischen, so die Experten des BAG, ist der Impfschutz nach der zweiten Impfung nur noch wenige Monate vorhanden. Jetzt heisst es «boostern, boostern, boostern». Inzwischen häufen sich kurze Zeit nach der dritten Impfung die Impfdurchbrüche. Omikron wirft alles über den Haufen. Die Spitäler überbelastet? Die Zahl der Intensivpatienten verharrt seit Wochen schweizweit bei ca. 300. (www.covid19.admin.ch/de/overview) Das macht einen Drittel der Intensivbetten der Schweizer Spitäler aus, die, damit sie rentieren, konstant mit 70–80 % ausgelastet sein sollten. Die aktuelle Auslastung ist nicht höher. Seit Freitag ist aber auch klar, dass die übrigen Zahlen zu den wegen Covid-19 Hospitalisierten falsch waren. Laut Radio SRF hat man jemanden, der z. B. wegen eines Beinbruchs im Spital lag, auf Covid getestet. War der Test positiv, galt er als Covid-Patient und wurde so in die Statistik aufgenommen. So sollen 50 % der Patienten nicht wegen Covid hospitalisiert worden sein. Diese Zahlen bilden also die Grundlage für die beschlossenen Massnahmen? Bestätigt sich hier wieder einmal der Satz: «Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.»? Was stimmt denn eigentlich noch? Wem kann man noch trauen? Was passiert, wenn noch mehr Unwahrheiten ans Tageslicht kommen? Was heisst das für unser Staatswesen, für unsere direkte Demokratie, die auf Vertrauen basiert? Wie lange soll die Bevölkerung noch im ungewissen gelassen werden? 

Der Bundesrat muss alle Fakten ungeschminkt auf den Tisch legen, von den Verträgen mit den Pharmafirmen bis hin zu den falschen Zahlen über Infektion, Hospitalisierung und Sterblichkeit. Auch das  Parlament ist in der Pflicht und muss seine Verantwortung als Kontrollinstanz gegenüber dem Bundesrates und als gewählte Volksvertretung wahrnehmen, nur so wird das Vertrauen wieder hergestellt werden können. 

Wenn Bildungsreformen die Bildungsschere weiten 

Kinder und Jugendliche benötigen Anleitung, Unterstützung, Rückmeldung und Ermutigung

von Dr. phil. Carl Bossard, Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug 

Dr. phil. Carl Bossard (Bild zvg)
Dr. phil. Carl Bossard (Bild zvg)

Bildung erzeugt immer Differenz. Das ist so. Und gleichzeitig muss die Schule für Chancengleichheit sorgen. So will es der Auftrag. Doch wie weit wird er durch die aktuelle Reformwelle erschwert? 

Seit bald 30 Jahren jagt eine Schulreform die andere. Es sind Hunderte von Teilprojekten. Und die Wirkung im Ganzen? Kaum jemand hat den Überblick; die Effekte ernüchtern nicht selten.¹ Und es wird weiterreformiert – immer auch mit dem Ziel: mehr Chancengleichheit bei ungleichen Startchancen zu erzielen oder Chancengerechtigkeit zu schaffen, wie es der neue Begriff postuliert.

Der elterliche Status prägt

Unzählige empirische Forschungsprojekte beschäftigen sich mit dem Lernerfolg junger Menschen und ihrer sozialen Herkunft. Dieses Feld zählt wohl zu den bestuntersuchten Forschungsgebieten der Päda­gogik. Da werden Korrelationen hergestellt, da werden die Bücher im Elternhaus überprüft und die Bildungszertifikate gezählt und daraus der akademische Abschluss der Kinder prognostiziert. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Jugendliche aus sozial schwächerem Milieu haben es schwerer als Akademikerkinder. Diagnostiziert wird der berühmte Matthäus-Effekt: «Wer hat, dem wird gegeben.» Das generelle Fazit aus den Studien zur Bildungsungleichheit: Der elterliche Hintergrund prägt, der sozioökonomische Status determiniert.

Die Zahlen zeigen es: 2020 stammen gemäss Bundesamt für Statistik 47,2 Prozent der Studierenden aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil über einen Hochschulabschluss verfügt. Hingegen sind nur 6,7 Prozent der Studierenden Kinder von Eltern, die nur die obligatorische Schule besucht haben.²

Die Folge: Man ruft nach Massnahmen auf systemischer Ebene, man verlangt Eingriffe in die Strukturen, man fordert beispielsweise spätere Übertritte oder gar die Abschaffung der Übertrittsprüfung.

Was der bildungspolitische Diskurs oft vergisst

Und doch gelingt vielen der berühmte Aufstieg durch Bildung. Aus der Forschung wissen wir: Wirkung erzielen nicht primär Strukturen; das Systemische allein schafft die erhofften Effekte und Lernerfolge kaum. Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit auf systemischer Ebene bleiben letztlich Utopie – ebenso wie die Losung, gesellschaftliche Gleichheit durch pädagogische Gleichheit  erreichen zu können. Wirkung geht immer von Menschen aus, in der Schule konkret von den einzelnen Lehrpersonen.

Entscheidend ist, was innerhalb der Strukturen passiert, was in den zwischenmenschlichen Interaktionen geschieht – oder anders ausgedrückt: Wie gut der Unterricht ist. Im bildungspolitischen Diskurs geht das schnell vergessen. Ein Denkfehler!

Die Haltung zum Lernen verändern

Und noch etwas wissen wir: Jeder Bereich einer förderlichen Begegnung ist personal und hängt in hohem Masse davon ab, wie sehr wir als Person berührt werden und uns angesprochen fühlen. Das gilt ganz besonders für den Unterricht. Darum können auf personaler Ebene Lehrerinnen und Lehrer einen Unterschied machen und vor allem die weniger privilegierten Kinder und Jugendlichen auf ihrem Lern- und Lebensweg unterstützen. Sie haben es in der Hand, dass (auch) diese Schülerinnen und Schüler fachlich und menschlich besonders gefördert und vor allem gefordert werden. Darum betont Roland Reichenbach, Päda­gogikprofessor an der Universität Zürich, dezidiert: «Nicht Tablets und digitale Techniken sind dringlich, vielmehr benötigen heute zahlreiche Kinder und Jugendliche vermehrt Anleitung, Unterstützung, Rückmeldung und Ermutigung.»³ Das fördert sie auch in ihrer Haltung zum Lernen. Und das kann allein von vital präsenten Menschen geleistet werden.

Selbstbestimmung erfordert angeleitete Lernprozesse

Wichtig ist eben die Lehrperson und entscheidend ihr Unterricht. Die empirische Unterrichtsforschung belegt es vielfach. Darum fordert Reichenbach angeleitete Lernprozesse. Sie erzielen hohe Wirkwerte. Gleichzeitig erstaunt immer wieder, wie viele Schulreformer jegliches pädagogische Denken und Handeln ausschliess­lich vom Lernenden her sehen wollen. Sie marginalisieren so das Bedeutsame der Lehrerin und degradieren den Lehrer zum blossen Lernbegleiter. Unter dem propagierten «Shift from Teaching to Learning» darf er nicht mehr Lehrer sein, sondern nur noch «Guide at the Side».⁴

Zur Verantwortung fürs autonome Lernen führen

Dieser reformpädagogische Überoptimismus geht vom kindlichen Können und Vermögen ohne jede Anleitung aus. Verschiedene Lernpsychologen wie der Berner Hochschullehrer Hans Aebli zeigen aber auf, dass die kognitive Entwicklung der Kinder von aussen nach innen verläuft und – je nach Voraussetzung – mehr oder weniger angeleitet von einem kompetenteren Gegenüber.⁵

Lernen, Denken und Problemlösen sind zunächst immer sozial. Das Ich wird am Du ein Selbst – im Dialog zwischen zunächst ungleichen Partnern. Nach und nach übernehmen die Lernenden die Verantwortung für ihr Lernen und ihr autonomes Weiterkommen. Doch von selbst entsteht das nur bei wenigen. «Im Andern zu sich selbst kommen», resümiert darum der Philosoph Georg Friedrich Hegel das Wesen der Bildung. Oder konkret auf das pädagogische Parterre übertragen: Vor allem leistungsschwächere und mittelstarke Kinder und Jugendliche sind mit Selbstorganisation und Eigenverantwortung für ihr Lernen oft überfordert; das weiss jede engagierte Lehrerin, das ist jedem erfahrenen Pädagogen bewusst.

Die Hilfe aus dem Elternhaus

Viele moderne Reformen aber gehen von der Utopie des selbstregulierten Lernens und der selbstorganisierten Bildung aus. Mit diesem Blickwinkel wird das Lernen unbemerkt zunächst an die Eltern delegiert – und in letzter Konsequenz den Kindern und Jugendlichen selbst überantwortet. Ob das die vielzitierte Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit stärkt?

Zwei Beispiele illustrieren die Tendenz. Die Reform hat viele Namen: Schreiben nach Gehör, lauttreues Schreiben, Lesen durch Schreiben oder «Reichen-Methode», benannt nach dem Erfinder, dem Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen.⁶ Die Kinder lernen mit einer «Anlauttabelle» texten – selbstgesteuert. Sie schreiben dann drauflos, ohne auf die Rechtschreibung zu achten. Die Lehrerin darf weder intervenieren noch korrigieren. Dazu der emeritierte Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers, Universität Zürich: «Schüler prägen sich durch falsches Schreiben die eigenen Fehler ein. Unsere Söhne haben nach diesem Prinzip schreiben gelernt. Aber meine Frau und ich haben das zu Hause einfach immer korrigiert.»⁷ Der Vorteil des bildungsaffinen Elternhauses! Und die anderen Kinder?

Die Schere im Bildungsmilieu weitet sich

Ein zweites Beispiel: Verschiedene kommunale Schulen streichen die offiziellen Hausaufgaben. Man postuliert Chancengleichheit. Die Bildung aber kennt das «Gesetz der nicht beabsichtigten Nebenwirkungen». Formuliert hat es der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger. Kaum jemand beachtet es – so wenig vielleicht wie die Beipackzettel von Medikamenten und ihre möglichen Kollateralfolgen. Wer die Hausaufgaben abschafft, schafft sie trotzdem nicht ab. Bildungsbewusste Eltern werden mit ihren Kindern weiterhin wiederholen und automatisieren. Sie wissen um den Wert des Übens und Festigens. Kinder aus anderen Familien haben diese Chance vielleicht nicht. Die nicht beabsichtigte Folge: Die Schere im Bildungsmilieu öffnet sich weiter.

Junge Menschen haben nur eine Bildungsbiografie. Das unterscheidet sie von industriellen Produktionsgütern. Mit Werkstücken kann man experimentieren; mit jungen Menschen sollte man das nicht. Bildungspolitiker müssten darum bei jeder Reform die altrömische Devise beachten: «[…] et respice finem» – die Folgen abschätzen. Ein Grundsatz ohne Verfallsdatum! 

¹ Martin Beglinger: «Das ist vernichtend!» Die Antworten der Bildungsforscher über die Wirkung der Schulreformen in der Schweiz sind ernüchternd. In: NZZ, 31.08.2018.
² www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsindikatoren/themen/zugang-und-teilnahme/soziale-herkunft-hs.html [Status: 23.10.2021]
³ Roland Reichenbach (2020): Homeschooling, Distant Learning und das selbstorganisierte Kind. In: Merkur 08, S. 38.
⁴ Ewald Terhart (2018): Eine neo-existenzialistische Konzeption von Unterricht und Lehrerhandeln? Zu Gert Biestas Wiederentdeckung und Rehabilitation des Lehrens und des Lehrers. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 94 (2018) 3, S. 479.
⁵ Hans Aebli (1978): Von Piagets Entwicklungspsychologie zur Theorie der kognitiven Sozialisation. In: Gerhard Steiner (Hrsg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band VII: Piaget und die Folgen. Zürich: Kindler, S. 604-627.
⁶ Barbara Höfler (2019): Sind fiele Feler schädlich? In: NZZ Folio 4, S. 32.
www.wireltern.ch/artikel/wer-sagt-dass-kinder-sich-nicht-anstrengen-sollen 
[Status: 23.10.2021]

Moldawien – Die Not der ältesten Generation

von Célia Francillon

Mit Unterstützung des SRK-Delegierten Viorel Gorceag gelangt der 91-jährige Ion Dascal auf die Terrasse. In Moldawien leben viele ältere Menschen sich selber überlassen in extremer Armut. Jüngere Angehörige, die ihnen im Alltag helfen könnten, arbeiten häufig im Ausland. Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) ermöglicht den Hauspflegedienst für Pflegebedürftige und fördert die Selbsthilfe von Seniorengruppen. 

Mit Unterstützung des SRK-Delegierten Viorel Gorceag gelangt der 91-jährige Ion Dascal auf die Terrasse.  (Bild Chişlari Oleg)

 

Eugenia Jelihovschi zupft ihr Foulard zurecht und wirft einen letzten Blick in den Spiegel, bevor sie das Haus verlässt. Wie jede Woche begibt sich die 76-Jährige zur Seniorengruppe Romantica in Corpaci, einem 1 000-Seelen-Dorf im Norden Moldawiens. Es regnet in Strömen, aber nichts kann ihre Ener­gie bremsen: Sie kann es kaum erwarten, ihre Landsleute zu treffen, um der Einsamkeit zu entfliehen. Sie will sich nützlich fühlen, indem sie anderen hilft. Das Leben von Eugenia Jelihovschi war nicht rosig. Vor 20 Jahren starb ihr Mann an den Folgen von Diabetes. Ihre Arbeit als Rumänisch- und Französischlehrerin musste sie aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Sie leidet an Bluthochdruck, Arteriosklerose und Hepatitis C. «Ich habe begonnen, auf mich achtzugeben. Viele meiner Leiden habe ich mit Heilkräutern kuriert. Dank dem Internet habe ich mein Wissen vertieft. Meine Tochter hat mir gezeigt, wie ich es nutzen kann.» Jetzt ist sie aber alleine: Ihre Tochter ist zum Arbeiten nach Griechenland gezogen, und ihr Sohn ist in Deutschland.

Abwanderung junger Menschen

Das ist die traurige Realität der älteren Menschen in Moldawien: Die Jungen verlassen das Land, um in Europa oder Russland Arbeit zu suchen. «Fehlende berufliche Perspektiven, eine marode Infrastruktur, tiefe Löhne – es gibt zahlreiche Gründe für diesen Exodus», erklärt Viorel Gorceag, SRK-Delegierter in Moldawien. Viele Seniorinnen und Senioren bleiben also alleine zurück, ohne Angehörige, die sie begleiten. «Zudem hat die Pandemie die Einsamkeit der Seniorinnen und Senioren verstärkt und dazu geführt, dass die Einkommen generell gesunken sind», ergänzt der Delegierte. Viele Menschen haben ihre Stelle verloren. Es war nicht mehr möglich, im Ausland Arbeit zu suchen. Ältere Menschen leiden erst recht unter einer schwierigen Lebenssituation: Ihre Renten sind mager und das Gesundheitssystem schwach

Seit Victor Gașco als Dreijähriger von einem Auto angefahren wurde, leidet der heute 65-Jährige unter einem Muskelschwund an den Beinen. Er erhält monatlich 80 Euro Rente. Seit die Eltern und der Bruder verstorben sind, lebt er allein im Elternhaus im Dorf Hitresti, zwei Stunden nördlich der Hauptstadt Chișinău. Sein Alltag mit der körperlichen Einschränkung ist unvorstellbar schwer. Das Haus hat weder eine Toilette noch fliessendes Wasser. Er kann sich nur mit grosser Mühe in seinem Haus fortbewegen, was ihn viel Zeit und Energie kostet. Wenigstens kann er nun den Hauspflegedienst von CASMED nützen, der vom Schweizerischen Roten Kreuz unterstützt wird. Mehrmals pro Woche hilft ihm Valentina Donighevici im Haushalt. Der Kontakt tut dem alleine lebenden Mann gut, und er kann trotz seines Handicaps zu Hause leben. Denn er ist geistig fit und lässt den Kopf nicht hängen: «Mein Traum ist es, einen elektrischen Rollstuhl zu haben. Dann könnte ich rund um mein Haus fahren.»

Ohne den Hauspflegedienst könnte Victor Gașco nicht allein wohnen – er freut sich, dass Viorel Gorceag ihm heute hilft, mit dem Rollstuhl in den Garten zu gelangen. (Bild Chişlari Oleg)

 

Soziale Benachteiligung 

Liubovi Pilipetcaia (84) arbeitete ihr Leben lang auf Kolchosen in der ehemaligen Sowjetunion. Ihr Körper trägt die Spuren dieser harten Arbeit. Da sie seit acht Jahren verwitwet ist, erhält sie eine bescheidene finanzielle Unterstützung von ihren vier Kindern. Sie sieht sie jedoch fast nie. Eine Pflegefachfrau von CASMED besucht sie täglich. Sie ist vor sechs Monaten schwer gestürzt und war lange bettlägerig. Mittlerweile geht es ihr besser. «Alina Draganel massiert mich und macht mit mir Bewegungsübungen. Ich hoffe, dass ich mich bald ohne Hilfe bewegen kann.»

Die 84-jährige Liubovi Pilipetcaia ist der Pflegefachfrau von CASMED sehr dankbar für die Pflege, die sie nach ihrem schweren Sturz erhalten hat. (Bild Chişlari Oleg)

 

Alle Rentnerinnen und Rentner Moldawiens profitieren von einer Krankenversicherung, die durch den Staat gedeckt wird. Doch nur für rund 20 % der hilfsbedürftigen Personen zahlt die Krankenversicherung den dringend benötigten Hauspflegedienst. «Das SRK hilft älteren Menschen, die ohne Unterstützung nicht in Würde leben könnten», erklärt Viorel Gorceag. Zudem setzt sich das Rote Kreuz für eine gerechtere Verteilung der Krankenkassengelder ein. Das SRK unterstützt die lokalen Behörden dabei, Dienstleistungen aufzubauen, die auf ältere Menschen zugeschnitten sind. Zum Beispiel den wichtigen Hauspflegedienst. Zudem setzt sich das SRK dafür ein, dass längerfristig die Finanzierung der Gesundheitsversorgung nachhaltig sichergestellt werden kann. Dies mit dem Ziel, dass CASMED finanziell unabhängig wird.

Engagierte Seniorengruppen

Ion Dascal wirkt noch immer wie ein schneidiger Cowboy. Doch er ist 91 und erhält keinerlei Unterstützung. Zum Glück kann er auf Eugenia Jelihovschi zählen. Sie besucht ihn mit zwei anderen Mitgliedern der Seniorengruppe Romantica. Die drei bringen ihm einen Sack mit Lebensmitteln und trinken zusammen Tee.

Seniorengruppen sorgen für soziale Kontakte und setzen sich aktiv ein, um die Situation der älteren Menschen in Moldawien zu verbessern. Romantica wurde 2017 gegründet und bietet seinen Mitgliedern Tanz, Gesang, Spiele sowie Informationsanlässe zum Coronavirus. Die Mitglieder engagieren sich zudem gemeinnützig. Sie besuchen hilfsbedürftige Menschen wie Ion Dascal. Eugenia Jelihovschi hilft das soziale Engagement: «Ich verbringe viel Zeit in der Gruppe. Wir wollen älteren Menschen helfen, denen es weniger gut geht als uns.» Zudem haben die Mitglieder in den letzten Jahren realisiert, wie sie sich mit politischem und sozialem Engagement im Dorf selber helfen können. Viorel Gorceag freut sich darüber sichtlich: «Durch unsere Unterstützung lernen die Seniorengruppen immer besser, wie sie ihre Bedürfnisse gegenüber den lokalen Behörden vertreten können. Zum Beispiel fordern sie, dass an einer Bushaltestelle eine Sitzbank installiert wird.» Sinnvolle und nachhaltige Massnahmen unterstützt das SRK mit bis zu 30 %. Den restlichen Aufwand finanzieren die Seniorengruppen durch eine eigene Mittelbeschaffung.

Zum Glück musste CASMED die Besuche bei pflegebedürftigen Seniorinnen und Senioren trotz der Corona-Pandemie nicht einstellen. Und die Mitglieder von Romantica sind während der Pandemie telefonisch in Kontakt geblieben. Stets angetrieben durch die Lebenskraft von Eugenia Jelihovschi: «Die Pandemie hat mich Gott sei Dank nicht getroffen. Ich stärke weiterhin mein Immunsystem, bekämpfe Krankheiten mit Heilkräutern und halte die Schutzmassnahmen ein.» Optimistisch meint sie: «Ich bin sicher, dass alles gut wird!» 

Erstveröffentlichung in:
Humanité, 3/2021, August 2021
Wir danken dem SRK und der Autorin für die Abdruckgenehmigung.

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