Artikel in dieser Ausgabe
- Ukrainekonflikt: «Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, die abgebrochenen Verhandlungen wieder aufzunehmen»
- Die Mitverantwortung des Westens am Ukraine-Krieg
- «Es ist wichtig, dass Brasilien zur Ruhe kommt und der Präsident sein sehr ambitioniertes Programm in die Tat umsetzen kann»
- Schulbücher im Besetzten Palästinensischen Gebiet
- Lieber getrennte Reihen für Mädchen und Buben als gar kein Unterricht
Ukrainekonflikt: «Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, die abgebrochenen Verhandlungen wieder aufzunehmen»
«Waffenlieferungen bedeuten, dass der Krieg sinnlos verlängert wird»
Zeitgeschehen im Fokus Welchen Wert geben Sie der Berichterstattung über die Ukraine in unseren Mainstream-Medien?
General a. D. Harald Kujat Der Ukrainekrieg ist nicht nur eine militärische Auseinandersetzung; er ist auch ein Wirtschafts- und ein Informationskrieg. In diesem Informationskrieg kann man zu einem Kriegsteilnehmer werden, wenn man sich Informationen und Argumente zu eigen macht, die man weder verifizieren noch aufgrund eigener Kompetenz beurteilen kann. Zum Teil spielen auch als moralisch verstandene oder ideologische Motive eine Rolle. Das ist in Deutschland besonders problematisch, weil in den Medien überwiegend «Experten» zu Wort kommen, die über keine sicherheitspolitischen und strategischen Kenntnisse und Erfahrungen verfügen und deshalb Meinungen äussern, die sie aus Veröffentlichungen anderer «Experten» mit vergleichbarer Sachkenntnis beziehen. Offensichtlich wird damit auch politischer Druck auf die Bundesregierung aufgebaut. Die Debatte über die Lieferung bestimmter Waffensysteme zeigt überdeutlich die Absicht vieler Medien, selbst Politik zu machen. Es mag sein, dass mein Unbehagen über diese Entwicklung eine Folge meines langjährigen Dienstes in der Nato ist, unter anderem als Vorsitzender des Nato-Russland-Rats und der Nato-Ukraine-Kommission der Generalstabschefs. Besonders ärgerlich finde ich, dass die deutschen Sicherheitsinteressen und die Gefahren für unser Land durch eine Ausweitung und Eskalation des Krieges so wenig beachtet werden. Das zeugt von einem Mangel an Verantwortungsbewusstsein oder, um einen altmodischen Begriff zu verwenden, von einer höchst unpatriotischen Haltung. In den Vereinigten Staaten, einem der beiden Hauptakteure in diesem Konflikt, ist der Umgang mit dem Ukrainekrieg wesentlich differenzierter und kontroverser, gleichwohl aber immer von nationalen Interessen geleitet.
Sie haben sich Anfang 2022, als die Lage an der Grenze zur Ukraine immer zugespitzter wurde, zum damaligen Inspekteur der Marine, Vizegeneral Kai-Achim Schönbach, geäussert und sich im gewissen Sinne hinter ihn gestellt. Er warnte eindringlich vor einer Eskalation mit Russland und machte dem Westen den Vorwurf, er hätte Putin gedemütigt, und man müsse auf gleicher Augenhöhe mit ihm verhandeln.
Ich habe mich nicht in der Sache geäussert, sondern um ihn vor unqualifizierten Angriffen in Schutz zu nehmen. Ich war allerdings immer der Ansicht, dass man diesen Krieg verhindern muss und dass man ihn auch hätte verhindern können. Dazu habe ich mich im Dezember 2021 auch öffentlich geäussert. Und Anfang Januar 2022 habe ich Vorschläge veröffentlicht, wie in Verhandlungen ein für alle Seiten akzeptables Ergebnis erzielt werden könnte, mit dem ein Krieg doch noch vermieden wird. Leider ist es anders gekommen. Vielleicht wird einmal die Frage gestellt, wer diesen Krieg wollte, wer ihn nicht verhindern wollte und wer ihn nicht verhindern konnte.
Wie schätzen Sie die momentane Entwicklung in der Ukraine ein?
Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird es, einen Verhandlungsfrieden zu erzielen. Die russische Annexion von vier ukrainischen Gebieten am 30. September 2022 ist ein Beispiel für eine Entwicklung, die nur schwer rückgängig gemacht werden kann. Deshalb fand ich es so bedauerlich, dass die Verhandlungen, die im März in Istanbul geführt wurden, nach grossen Fortschritten und einem durchaus positiven Ergebnis für die Ukraine abgebrochen wurden. Russland hatte sich in den Istanbul-Verhandlungen offensichtlich dazu bereit erklärt, seine Streitkräfte auf den Stand vom 23. Februar zurückzuziehen, also vor Beginn des Angriffs auf die Ukraine. Jetzt wird immer wieder der vollständige Abzug als Voraussetzung für Verhandlungen gefordert.
Was hat denn die Ukraine als Gegenleistung angeboten?
Die Ukraine hatte sich verpflichtet, auf eine Nato-Mitgliedschaft zu verzichten und keine Stationierung ausländischer Truppen oder militärischer Einrichtungen zuzulassen. Dafür sollte sie Sicherheitsgarantien von Staaten ihrer Wahl erhalten. Die Zukunft der besetzten Gebiete sollte innerhalb von 15 Jahren diplomatisch, unter ausdrücklichem Verzicht auf militärische Gewalt gelöst werden.
Warum kam der Vertrag nicht zustande, der Zehntausenden das Leben gerettet und den Ukrainern die Zerstörung ihres Landes erspart hätte?
Nach zuverlässigen Informationen hat der damalige britische Premierminister Boris Johnson am 9. April in Kiew interveniert und eine Unterzeichnung verhindert. Seine Begründung war, der Westen sei für ein Kriegsende nicht bereit.
Es ist ungeheuerlich, was da gespielt wird, von dem der gutgläubige Bürger keine Ahnung hat. Die Verhandlungen in Istanbul waren bekannt, auch dass man kurz vor einer Einigung stand, aber von einem Tag auf den anderen hat man nichts mehr gehört.
Mitte März hatte beispielsweise die britische «Financial Times» über Fortschritte berichtet. Auch in einigen deutschen Zeitungen erschienen entsprechende Meldungen. Weshalb die Verhandlungen scheiterten, ist allerdings nicht berichtet worden. Als Putin am 21. September die Teilmobilmachung verkündete, erwähnte er zum ersten Mal öffentlich, dass die Ukraine in den Istanbul-Verhandlungen im März 2022 positiv auf russische Vorschläge reagiert habe. «Aber», sagte er wörtlich, «eine friedliche Lösung passte dem Westen nicht, deshalb hat er Kiew tatsächlich befohlen, alle Vereinbarungen zunichte zu machen.»
Darüber schweigt tatsächlich unsere Presse.
Anders als beispielsweise die amerikanischen Medien. «Foreign Affairs» und «Responsible Statecraft», zwei renommierte Zeitschriften, veröffentlichten dazu sehr informative Berichte. Der Artikel in «Foreign Affairs» war von Fiona Hill, einer ehemals hochrangigen Mitarbeiterin im nationalen Sicherheitsrat des Weissen Hauses. Sie ist sehr kompetent und absolut zuverlässig. Sehr detaillierte Informationen wurden bereits am 2. Mai auch in der regierungsnahen «Ukrainska Pravda» veröffentlicht.
Haben Sie noch weitere Angaben zu dieser Ungeheuerlichkeit?
Es ist bekannt, dass die wesentlichen Inhalte des Vertragsentwurfs auf einem Vorschlag der ukrainischen Regierung vom 29. März beruhen. Darüber berichten inzwischen auch viele US-amerikanische Medien. Ich habe jedoch erfahren müssen, dass deutsche Medien selbst dann nicht bereit sind, das Thema aufzugreifen, wenn sie Zugang zu den Quellen haben.
Sie äussern sich in einem Artikel folgendermassen: «Der Mangel an sicherheitspolitischem Weitblick und strategischem Urteilsvermögen in unserem Lande ist beschämend.» Was meinen Sie damit konkret?
Nehmen wir als Beispiel den Zustand der Bundeswehr. 2011 wurde eine Bundeswehrreform durchgeführt, die sogenannte Neuausrichtung der Bundeswehr. Neuausrichtung bedeutete weg vom Verfassungsauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung und hin zu Auslandseinsätzen. Zur Begründung hiess es, dass es kein Risiko eines konventionellen Angriffs auf Deutschland und die Nato-Verbündeten gebe. Personalumfang und Struktur der Streitkräfte, Ausrüstung, Bewaffnung und Ausbildung wurden auf Auslandseinsätze ausgerichtet. Streitkräfte, die über die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung verfügen, können auch Stabilisierungseinsätze durchführen, zumal die Bundesregierung und das Parlament darüber im Einzelfall selbst entscheiden können. Umgekehrt ist das nicht der Fall, denn ob der Fall der Landes- und Bündnisverteidigung eintritt, entscheidet der Aggressor. Die damalige Lagebeurteilung war ohnehin falsch. Denn durch die einseitige Kündigung des ABM-Vertrages durch die USA war bereits 2002 ein strategischer Wendepunkt im Verhältnis zu Russland entstanden. Politischer Wendepunkt war der Nato-Gipfel in Bukarest 2008, als US-Präsident George W. Bush versuchte, eine Einladung der Ukraine und Georgiens zum Nato-Beitritt durchzusetzen. Als er damit scheiterte, wurde, wie in solchen Fällen üblich, eine vage Beitrittsperspektive für diese Länder in das Communiqué aufgenommen.
Sehen Sie aufgrund dieser Entwicklung zwischen Russland und den USA einen Zusammenhang mit der aktuellen Krise?
Obwohl durch den Ukrainekrieg das Risiko einer Konfrontation Russlands und der Nato für jedermann offensichtlich ist, wird die Bundeswehr weiter entwaffnet, ja, geradezu kannibalisiert, um Waffen und militärisches Gerät für die Ukraine freizusetzen. Einige Politiker rechtfertigen dies sogar mit dem unsinnigen Argument, dass unsere Freiheit in der Ukraine verteidigt würde.
Warum ist das für Sie ein unsinniges Argument? Alle argumentieren so, selbst der Vorsteher des Schweizer Aussendepartements, Ignazio Cassis.
Die Ukraine kämpft um ihre Freiheit, um ihre Souveränität und um die territoriale Integrität des Landes. Aber die beiden Hauptakteure in diesem Krieg sind Russland und die USA. Die Ukraine kämpft auch für die geopolitischen Interessen der USA. Denn deren erklärtes Ziel ist es, Russland politisch, wirtschaftlich und militärisch so weit zu schwächen, dass sie sich dem geopolitischen Rivalen zuwenden können, der als einziger in der Lage ist, ihre Vormachtstellung als Weltmacht zu gefährden: China. Zudem wäre es doch höchst unmoralisch, die Ukraine in ihrem Kampf für unsere Freiheit allein zu lassen und lediglich Waffen zu liefern, die das Blutvergiessen verlängern und die Zerstörung des Landes vergrössern. Nein, in diesem Krieg geht es nicht um unsere Freiheit. Die Kernprobleme, weshalb der Krieg entstanden ist und immer noch fortgesetzt wird, obwohl er längst beendet sein könnte, sind ganz andere.
Was ist Ihrer Meinung nach das Kernproblem?
Russland will verhindern, dass der geopolitische Rivale USA eine strategische Überlegenheit gewinnt, die Russlands Sicherheit gefährdet. Sei es durch Mitgliedschaft der Ukraine in der von den USA geführten Nato, sei es durch die Stationierung amerikanischer Truppen, die Verlagerung militärischer Infrastruktur oder gemeinsamer Nato-Manöver. Auch die Dislozierung amerikanischer Systeme des ballistischen Raketenabwehrsystems der Nato in Polen und Rumänien ist Russland ein Dorn im Auge, denn Russland ist überzeugt, dass die USA von diesen Abschussanlagen auch russische interkontinentalstrategische Systeme ausschalten und damit das nuklearstrategische Gleichgewicht gefährden könnten. Eine wichtige Rolle spielt auch das Minsk II-Abkommen, in dem die Ukraine sich verpflichtet hat, der russischsprachigen Bevölkerung im Donbas bis Ende 2015 durch eine Verfassungsänderung mit einer grösseren Autonomie der Region Minderheitenrechte zu gewähren, wie sie in der Europäischen Union Standard sind. Es gibt inzwischen Zweifel, ob die USA und die Nato bereit waren, vor dem russischen Angriff auf die Ukraine ernsthaft über diese Fragen zu verhandeln.
Wilfried Scharnagl zeigt in seinem Buch «Am Abgrund» bereits 2015 ganz deutlich auf, dass die Politik des Westens eine unglaubliche Provokation ist, und wenn EU und Nato ihren Kurs nicht ändern, es zu einer Katastrophe kommen könnte.
Ja, damit muss man rechnen. Je länger der Krieg dauert, desto grösser wird das Risiko einer Ausweitung oder Eskalation.
Das haben wir bereits in der Kubakrise gehabt.
Das war eine vergleichbare Situation.
Wie beurteilen Sie die beschlossene Lieferung von Marder-Panzern an die Ukraine?
Waffensysteme haben Stärken und Schwächen aufgrund technischer Merkmale und damit – abhängig vom Ausbildungstand der Soldaten sowie den jeweiligen operativen Rahmenbedingungen – einen bestimmten Einsatzwert. Im Gefecht der verbundenen Waffen wirken verschiedene Waffensysteme in einem gemeinsamen Führungs- bzw. Informationssystem zusammen, wodurch die Schwächen des einen Systems durch die Stärken anderer Systeme ausgeglichen werden. Bei einem niedrigen Ausbildungsstand des Bedienungspersonals oder wenn ein Waffensystem nicht gemeinsam mit anderen Systemen in einem funktionalen Zusammenhang eingesetzt wird und möglicherweise die Einsatzbedingungen schwierig sind, ist der Einsatzwert gering. Damit besteht die Gefahr der frühzeitigen Ausschaltung oder sogar das Risiko, dass die Waffe in die Hand des Gegners fällt. Das ist die gegenwärtige Lage, in der moderne westliche Waffensysteme im Ukrainekrieg zum Einsatz kommen. Russland hat im Dezember ein umfangreiches Programm zur Auswertung der technischen und operativ-taktischen Parameter eroberter westlicher Waffen begonnen, was die Effektivität der eigenen Operationsführung und Waffenwirkung erhöhen soll.
Darüber hinaus stellt sich grundsätzlich die Frage der Mittel-Zweck-Relation. Welchem Zweck sollen die westlichen Waffen dienen? Selenskij hat die strategischen Ziele der ukrainischen Kriegsführung immer wieder geändert. Gegenwärtig verfolgt die Ukraine das Ziel, alle von Russland besetzten Gebiete einschliesslich der Krim zurückzuerobern. Der deutsche Bundeskanzler sagt, wir unterstützen die Ukraine, solange das nötig ist, also auch bei der Verfolgung dieses Ziels, obwohl die USA mittlerweile betonen, es ginge darum, lediglich «das Territorium zurückzuerobern, das seit dem 24. Februar 2022 von Russland eingenommen wurde.»
Es gilt somit die Frage zu beantworten, ob das Mittel westlicher Waffenlieferungen geeignet ist, den von der Ukraine beabsichtigten Zweck zu erfüllen. Diese Frage hat eine qualitative und eine quantitative Dimension. Die USA liefern keine Waffen ausser solche zur Selbstverteidigung, keine Waffen, die das Gefecht der verbundenen Waffen ermöglichen und vor allem keine, die eine nukleare Eskalation auslösen könnten. Das sind Präsident Bidens drei Neins.
Wie will die Ukraine ihre militärischen Ziele erreichen?
Der ukrainische Generalstabschef, General Saluschnij, sagte kürzlich: «Ich brauche 300 Kampfpanzer, 600 bis 700 Schützenpanzer und 500 Haubitzen, um die russischen Truppen auf die Positionen vor dem Angriff vom 24. Februar zurückzudrängen. Jedoch mit dem, was er erhalte, seien «grössere Operationen nicht möglich». Ob die ukrainischen Streitkräfte angesichts der grossen Verluste der letzten Monate überhaupt noch über eine ausreichende Zahl geeigneter Soldaten verfügen, um diese Waffensysteme einsetzen zu können, ist allerdings fraglich. Jedenfalls erklärt auch die Aussage General Saluschnijs, weshalb die westlichen Waffenlieferungen die Ukraine nicht in die Lage versetzen, ihre militärischen Ziele zu erreichen, sondern lediglich den Krieg verlängern. Hinzu kommt, dass Russland die westliche Eskalation jederzeit durch eine eigene übertreffen könnte.
In der deutschen Diskussion werden diese Zusammenhänge nicht verstanden oder ignoriert. Dabei spielt auch die Art und Weise eine Rolle, wie einige Verbündete versuchen, die Bundesregierung öffentlich nun auch zur Lieferung von Leopard 2-Kampfpanzern zu drängen. Das hat es in der Nato bisher nicht gegeben. Es zeigt, wie sehr Deutschlands Ansehen im Bündnis durch die Schwächung der Bundeswehr gelitten hat und mit welchem Engagement einige Verbündete das Ziel verfolgen, Deutschland gegenüber Russland besonders zu exponieren.
Was nährt Selsenkijs Auffassung, man könne die Russen aus der Ukraine vertreiben?
Möglicherweise werden die ukrainischen Streitkräfte mit den Waffensystemen, die ihnen auf der nächsten Geberkonferenz am 20. Januar zugesagt werden, etwas effektiver in der Lage sein, sich gegen die in den nächsten Wochen stattfindenden russischen Offensiven zu verteidigen. Sie können dadurch aber nicht die besetzten Gebiete zurückerobern. Nach Ansicht des US-amerikanischen Generalstabschefs, General Mark Milley, hat die Ukraine das, was sie militärisch erreichen konnte, erreicht. Mehr ist nicht möglich. Deshalb sollten jetzt diplomatische Bemühungen aufgenommen werden, um einen Verhandlungsfrieden zu erreichen. Ich teile diese Auffassung.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die russischen Streitkräfte offenbar die Absicht haben, das eroberte Gebiet zu verteidigen und den Rest des Donbas zu erobern, um die von ihnen annektierten Gebiete zu konsolidieren. Sie haben ihre Verteidigungsstellungen gut dem Gelände angepasst und stark befestigt. Angriffe auf diese Stellungen erfordern einen hohen Kräfteaufwand und die Bereitschaft, erhebliche Verluste hinzunehmen. Durch den Abzug aus der Region Cherson wurden ungefähr 22 000 kampfkräftige Truppen für Offensiven freigesetzt. Zudem werden weitere Kampfverbände als Verstärkung in die Region verlegt.
Aber was sollen dann die Waffenlieferungen, die das Erreichen von Selenskijs Ziel nicht ermöglichen?
Die derzeitigen Bemühungen der USA, die Europäer zu weiteren Waffenlieferungen zu veranlassen, haben möglicherweise mit dieser Lageentwicklung zu tun. Man muss zwischen den öffentlich geäusserten Gründen und den konkreten Entscheidungen der Bundesregierung unterscheiden. Es würde zu weit führen, auf das ganze Spektrum dieser Diskussion einzugehen. Ich würde mir allerdings wünschen, dass die Bundesregierung in dieser Frage wirklich kompetent beraten wird und – was vielleicht noch wichtiger ist – der Bedeutung dieser Frage entsprechend aufnahmebereit und urteilsfähig wäre.
Die Bundesregierung ist mit der Unterstützung der Ukraine schon sehr weit gegangen. Zwar machen Waffenlieferungen Deutschland noch nicht zur Konfliktpartei. Aber in Verbindung mit der Ausbildung ukrainischer Soldaten an diesen Waffen unterstützen wir die Ukraine dabei, ihre militärischen Ziele zu erreichen. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags hat deshalb in seinem Gutachten vom 16. März 2022 erklärt, dass damit der gesicherte Bereich der Nicht-Kriegsführung verlassen wird. Auch die USA werden ukrainische Soldaten in Deutschland ausbilden. Das Grundgesetz enthält in seiner Präambel ein striktes Friedensgebot für unser Land. Das Grundgesetz toleriert die Unterstützung einer Kriegspartei also nur dann, wenn diese geeignet ist, eine friedliche Lösung zu ermöglichen. Die Bundesregierung ist deshalb in der Pflicht, der deutschen Bevölkerung zu erklären, innerhalb welcher Grenzen und mit welchem Ziel die Unterstützung der Ukraine erfolgt. Schliesslich müssten auch der ukrainischen Regierung die Grenzen der Unterstützung aufgezeigt werden. Selbst Präsident Biden hat vor einiger Zeit in einem Namensartikel erklärt, dass die USA die Ukraine zwar weiter militärisch unterstützen werden, aber eben auch ihre Bemühungen, in diesem Konflikt einen Verhandlungsfrieden zu erreichen.
Seit Wochen rennt die ukrainische Armee gegen die Russen an – ohne Erfolg. Dennoch spricht Selenskij von Rückeroberung. Ist das Propaganda oder besteht diese Möglichkeit tatsächlich?
Nein, dazu sind die ukrainischen Streitkräfte sowohl nach Einschätzung des amerikanischen wie des ukrainischen Generalstabschefs nicht in der Lage. Beide Kriegsparteien befinden sich gegenwärtig wieder in einer Pattsituation, die durch die Einschränkungen aufgrund der Jahreszeit verstärkt wird. Jetzt wäre also der richtige Zeitpunkt, die abgebrochenen Verhandlungen wieder aufzunehmen. Die Waffenlieferungen bedeuten das Gegenteil, nämlich dass der Krieg sinnlos verlängert wird, mit noch mehr Toten auf beiden Seiten und der Fortsetzung der Zerstörung des Landes. Aber auch mit der Folge, dass wir noch tiefer in diesen Krieg hineingezogen werden. Selbst der Nato-Generalsekretär hat kürzlich vor einer Ausweitung der Kämpfe zu einem Krieg zwischen der Nato und Russland gewarnt.
Sie sagen, wir haben wieder eine «Pattsituation». Was meinen Sie damit?
Eine positive Ausgangslage für eine Verhandlungslösung hatte sich beispielsweise Ende März vergangenen Jahres ergeben, als die Russen entschieden, vor Kiew abzudrehen und sich auf den Osten und den Donbas zu konzentrieren. Das hat die Verhandlungen in Istanbul ermöglicht. Eine ähnliche Lage entstand im September, bevor Russland die Teilmobilisierung durchführte. Die damals entstandenen Möglichkeiten sind nicht genutzt worden. Jetzt wäre es wieder Zeit zu verhandeln, und wir nutzen auch diese Gelegenheit nicht, sondern tun das Gegenteil: Wir schicken Waffen und eskalieren. Auch dies ist ein Aspekt, der den Mangel an sicherheitspolitischem Weitblick und strategischem Urteilsvermögen offenlegt.
Sie haben in Ihrem Text noch erwähnt, dass der russische Verteidigungsminister Schoigu Bereitschaft für Verhandlungen signalisiert hat …
… das hat auch Putin gemacht. Putin hat am 30. September, als er zwei weitere Regionen zu russischem Territorium erklärte, ausdrücklich wieder Verhandlungen angeboten. Er hat das zwischenzeitlich mehrfach getan. Jetzt ist es allerdings so, dass Schoigu das nicht an Bedingungen geknüpft hat, aber Putin hat sozusagen die Latte höher gelegt, indem er sagte, wir sind zu Verhandlungen bereit, aber es setzt natürlich voraus, dass die andere Seite die Gebiete, die wir annektiert haben, anerkennt. Daran sieht man, dass sich die Positionen beider Seiten immer mehr verhärten, je länger der Krieg dauert. Denn Selenskij sagte, er verhandle erst, wenn sich die Russen vollständig aus der Ukraine zurückgezogen hätten. Damit wird eine Lösung immer schwieriger, aber sie ist noch nicht ausgeschlossen.
Ich möchte noch auf ein Ereignis zu sprechen kommen. Frau Merkel hat in einem Interview …
… ja, was sie sagt, ist eindeutig. Sie hätte das Minsk II-Abkommen nur ausgehandelt, um der Ukraine Zeit zu verschaffen. Und die Ukraine habe diese auch genutzt, um militärisch aufzurüsten. Das hat der ehemalige französische Präsident Hollande bestätigt.
Petro Poroschenko, der ehemalige ukrainische Staatspräsident, hat das ebenfalls gesagt.
Russland bezeichnet das verständlicherweise als Betrug. Und Merkel bestätigt, dass Russland ganz bewusst getäuscht wurde. Das kann man bewerten, wie man will, aber es ist ein eklatanter Vertrauensbruch und eine Frage der politischen Berechenbarkeit. Nicht wegdiskutieren kann man allerdings, dass die Weigerung der ukrainischen Regierung – in Kenntnis dieser beabsichtigten Täuschung – das Abkommen umzusetzen, noch wenige Tage vor Kriegsbeginn, einer der Auslöser für den Krieg war. Die Bundesregierung hatte sich in der Uno-Resolution dazu verpflichtet, das «gesamte Paket» der vereinbarten Massnahmen umzusetzen. Darüber hinaus hat die Bundeskanzlerin mit den anderen Teilnehmern des Normandie-Formats eine Erklärung zur Resolution unterschrieben, in der sie sich noch einmal ausdrücklich zur Implementierung der Minsk-Vereinbarungen verpflichtete.
Das ist doch auch ein Völkerrechtsbruch?
Ja, das ist ein Völkerrechtsbruch, das ist eindeutig. Der Schaden ist immens. Man muss sich die heutige Situation einmal vorstellen. Die Leute, die von Anfang an Krieg führen wollten und immer noch wollen, haben den Standpunkt vertreten, mit Putin kann man nicht verhandeln. Der hält die Vereinbarungen so oder so nicht ein. Jetzt stellt sich heraus, wir sind diejenigen, die internationale Vereinbarungen nicht einhalten.
Nach meinen Kenntnissen halten die Russen ihre Verträge ein, sogar während des aktuellen Krieges hat Russland weiterhin Gas geliefert. Aber Frau Baerbock hat vollmundig verkündet: «Wir wollen kein russisches Gas mehr!» Daraufhin hat Russland die Menge gedrosselt. So war es doch?
Ja, wir haben gesagt, wir wollen kein russisches Gas mehr. Alle Folgewirkungen, die Energiekrise, die wirtschaftliche Rezession etc. sind das Resultat der Entscheidung der Bundesregierung und nicht einer Entscheidung der russischen Regierung.
Aber wenn Sie die Nachrichten hören oder sehen – auch bei uns in der Schweiz – dann gibt es die Energiekrise aufgrund von Putins Entscheid, Krieg gegen die Ukraine zu führen.
In der Vergangenheit gab es zweimal Schwierigkeiten bei der Lieferung von Gas, die von der Ukraine verursacht wurden. Da sollte man ehrlich sein. Russland würde weiter liefern, aber wir wollen von dort nichts mehr, weil es die Ukraine angegriffen hat. Dann kommt noch die Frage auf: Wer hat eigentlich North-Stream II in die Luft gesprengt?
Haben Sie eine Einschätzung zur Sprengung?
Nein, das wäre reine Spekulation. Es gibt Indizien wie so häufig, aber keine Beweise. Jedenfalls keine, die öffentlich bekannt geworden sind. Aber Sie können ganz sicher sein: Die Sonne bringt es an den Tag.
Welche Erfahrungen haben Sie in Verhandlungen mit Russland gemacht?
Ich habe viele Verhandlungen mit Russland geführt, z. B. über den russischen Beitrag zum Kosovo-Einsatz der Nato. Die USA hatten uns darum gebeten, weil sie mit Russland zu keinem Ergebnis kamen. Russland war schliesslich bereit, seine Truppen einem deutschen Nato-Befehlshaber zu unterstellen. In den 90er Jahren entstand eine enge politische Abstimmung und militärische Zusammenarbeit zwischen der Nato und Russland, seit 1997 durch den Nato-Russland-Grundlagenvertrag geregelt. Die Russen sind harte Verhandlungspartner, aber wenn man zu einem gemeinsamen Ergebnis kommt, dann steht das und gilt auch.
Wie sah das Ergebnis aus?
Die Russen wollten in den Verhandlungen um den Grundlagenvertrag eine Art Mitentscheidungsrecht erhalten. Das war nicht möglich. Wir haben aber einen Weg gefunden, gemeinsame Lösungen in Fällen zu finden, in denen die Sicherheitsinteressen der einen oder anderen Seite betroffen sind. Nach dem Georgienkrieg hat die Nato die Zusammenarbeit leider weitgehend suspendiert. Es hat sich auch im Vorfeld des Ukrainekrieges gezeigt, dass Regelungen, die in Zeiten eines guten Verhältnisses für die Beilegung von Krisen und Konflikten geschaffen werden, dann ihren Wert haben, wenn es zu Spannungen kommt. Leider hat man das nicht verstanden.
Herr General Kujat, ich danke für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
* General a.D. Harald Kujat, geboren am 1. März 1942, war u. a. Generalinspekteur der Bundeswehr und als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses höchster Militär der Nato. Zugleich amtete er als Vorsitzender des Nato-Russland-Rates sowie des Euro-Atlantischen-Partnerschaftsrates der Generalstabschefs. Für seine Verdienste wurde Harald Kujat mit einer grossen Zahl von Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Kommandeurskreuz der Ehrenlegion der Republik Frankreich, dem Kommandeurskreuz des Verdienstordens Lettlands, Estlands und Polens, der Legion of Merit der Vereinigten Staaten, dem Grossen Band des Leopoldordens des Königreichs Belgien, dem Grossen Bundesverdienstkreuz, sowie mit weiteren hohen Auszeichnungen, u.a. aus Malta, Ungarn und der Nato.
Die Mitverantwortung des Westens am Ukraine-Krieg
Während sich die offizielle Berichterstattung über den Ukraine-Krieg an das schwarz-weiss Schema klammert – im Sinne von Ukraine, Selenskij und Nato gut, Russland und Putin schlecht – , gibt es zum Glück immer wieder Stimmen, die die Dinge nüchtern, ohne moralische Überhöhung und politische Arroganz betrachten. Man muss sie suchen, aber man findet sie. Als Kriegstreiberin steht jedoch die grüne (im doppelten Sinne des Wortes) deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock unangefochten an der Spitze. Doch wer von «Panzerschlachten im 19. Jahrhundert» fabuliert und von Ländern, die «Hunderttausende von Kilometern entfernt liegen», hat entweder keine Bildung oder den Bezug zur Realität verloren.
Bei ihrem kürzlichen Besuch in der Ukraine versprach sie weitere Waffenlieferungen. Neben den bereits gelieferten Marder-Panzern plädiert sie für die Lieferungen von Leopard-Kampfpanzern. Es hat den Anschein, als ob Annalena Baerbock als «erste stramme weibliche Militaristin» in die Geschichte eingehen möchte.
Es ist ein Irrsinn, denn dadurch vermittelt man der Ukraine das Gefühl, sie könnte mit ein paar Schützen- und Kampfpanzern Russland besiegen, was nach Auskunft verschiedener ehemaliger und aktiver hochrangiger Militärs in das Reich der Phantasie gehört. Der Oberbefehlshaber der US-Armee, Mark Milley, stellte klar: «Die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen militärischen Sieges – definiert als der Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschliesslich der von ihnen beanspruchten Krim – ist militärisch gesehen in naher Zukunft nicht sehr hoch.» Auch der ehemalige ranghöchste General und Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, in der Schweiz mit dem Chef der Armee vergleichbar, hält es für eine gefährliche Illusion, zu glauben, die Ukraine könnte den Krieg militärisch für sich entscheiden, wenn man ihr nur ordentlich Waffen liefert: «Die Aussicht auf einen totalen Sieg über Russland ist völlig ausgeschlossen, man kann eine Nuklearmacht nicht besiegen.»
Obwohl es Experten gibt, die diesen Titel aufgrund ihrer fundierten Kenntnisse und militärischen Erfahrungen zu Recht tragen und nicht, weil sie den Mainstream vertreten, scheren sich vor allem westliche Regierungen nicht im geringsten um die Warnungen professioneller Militärexperten. Der ehemalige Oberst der Schweizer Armee und Mitarbeiter des strategischen Nachrichtendienstes Jacques Baud, ein Warner der ersten Stunde, wird von offiziellen Stellen in der Schweiz ignoriert.
Im Eilverfahren die westlichen Armeen aufrüsten
Der Krieg läuft jetzt bald seit einem Jahr, und es gehört zu den Aufgaben eines seriösen Journalismus und einer Regierung, die Ursachen dieses Konflikts sorgfältig zu analysieren, bevor man irgendwelche «Wahrheiten» in die Welt setzt. Häufig war zu lesen, dass Putin aus heiterem Himmel diesen Krieg vom Zaun gebrochen habe und seine finsteren Pläne umsetzen wolle. Die einen warnten vor dem angeblichen Plan Putins, das alte zaristische Russland wieder zu etablieren und alles einnehmen zu wollen, was damals zum Territorium des Russischen Reichs gehörte; andere wiederum wollen die Wiederherstellung der alten Sowjetunion als Ziel des russischen Angriffs sehen. Meist im gleichen Atemzug berichten die Medien, dass die russische Armee in einem desolaten Zustand sei, die Soldaten reihenweise desertierten und die Strategie der Russen völlig veraltet sei. So titelte das Wochenmagazin «Focus»: «Dokumente offenbaren den katastrophalen Zustand der Putin-Truppen.» Auch die deutsche Tageszeitung «Frankfurter Rundschau» wird nicht müde, Russlands Vorgehen als dilettantisch zu bezeichnen: «Russland benutzt veraltete Strategien aus dem Zweiten Weltkrieg in der Ukraine.» Wenn der Zustand der russischen Armee so desaströs ist, warum muss man dann im Eilverfahren die westlichen Armeen aufrüsten? Scholz hat 100 Milliarden Euro gesprochen, um die deutsche Armee kampffähig zu machen. Auf der anderen Seite wird die ukrainische Armee für ihre angebliche Kampfkraft bejubelt. Wenn die medialen Aussagen alle stimmen sollten, dann hätte die ukrainische Armee die Russen schon längst aus dem Land geworfen oder die Russen müssten schon längst das Baltikum, Polen (als Teil des zaristischen Russlands) und weitere Länder mit Krieg überzogen haben. Was stimmt nun?
Nichts davon ist bisher geschehen, und es gibt auch keine Anzeichen dafür. Wir werden hingehalten, an der Nase herumgeführt und mit allen propagandistischen Tricks auf einen antirussischen (Kriegs-)Kurs eingespurt. Dass das nicht erst heute geschieht, sondern die antirussische Stimmung über einen Zeitraum von Jahren gelegt wurde, ist Inhalt einiger Bücher, die bereits 2014 oder 2015, also kurz nach den Unruhen auf dem Maidan und dem Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten, Viktor Janukowitsch, publiziert wurden. Unter anderen hat Wilfried Scharnagl, langjähriger Chefredaktor des Bayernkuriers und Vertrauter von Franz-Joseph Strauss, bereits 2015 eine kritische Betrachtung mit dem vielsagenden Titel: «Am Abgrund – Streitschrift für einen anderen Umgang mit Russland» publiziert.⁷ Der Inhalt ist erschreckend und erhellend zugleich.
Zerrbild von Russland und seinem Präsidenten
Man kann Scharnagl als Konservativem sicher keine antiamerikanische oder anti-EU-Einstellung vorwerfen, sondern seine Darstellung orientiert sich wie in anderen Büchern auch (vgl. Adleheid Bahr: Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen Frankfurt 2018), an den realen Gegebenheiten. Wilfried Scharnagl leistet eine historische Aufarbeitung der Beziehung zwischen Deutschland und Russland. Dabei erwähnt er im ersten Kapitel das eigens von einem russischen Soldaten komponierte Lied zum Abschied der russischen Truppen aus dem Osten Deutschlands. Am 31. August 1994 hat sozusagen der letzte russische Soldat gemäss den Verträgen Deutschland verlassen, und zu diesem Ereignis fand am Treptower Denkmal in Berlin eine Abschiedsparade statt. Das Lied, das von Tausenden russischer Soldaten gesungen wurde, hat auf Deutsch folgenden Wortlaut: «Deutschland, wir reichen dir die Hand / und kehr’n zurück ins Vaterland / Die Heimat ist empfangsbereit / Wir bleiben Freunde allezeit / Auf Frieden, Freundschaft und Vertrauen / sollen wir unsere Zukunft bauen. / Die Pflicht erfüllt! Lebwohl Berlin! / Unsere Herzen heimwärts zieh’n.» (S. 71) Das Lied musste die Herzen der Menschen bewegen, und es schien, dass tatsächlich eine neue Ära zwischen beiden Staaten beginnen könnte. Doch wenn man die Lage heute betrachtet, so muss man doch mit einer gewissen Ernüchterung feststellen, dass nichts davon zu sehen ist, und zwar nicht erst seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Schon seit Jahren dominiert ein Zerrbild von Russland und seinem Präsidenten in unseren Medien und in der Politik. Man denke nur an Biden, der sagte, Putin sei «ein Killer.» Ob er seine Vorgänger im Amt und sich selbst auch so bezeichnen würde...?
Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon
Zieht man Putins Rede vor dem deutschen Bundestag am 25. September 2001 als Quelle heran, ist unschwer zu erkennen, dass der junge Präsident, wie es einst der letzte Staatschef der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, formulierte, die Vision einer versöhnlichen Welt durch eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur und einen gemeinsamen Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon vertrat: «Niemand bezweifelt den grossen Wert der Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.» Mit dieser Rede hat Putin zu Beginn seiner Präsidentschaft seine aussenpolitischen Ziele formuliert. Was ist danach geschehen? Nichts, was ernsthaft den weitsichtigen Überlegungen Putins Rechnung getragen hätte.
An der Münchner Sicherheitskonferenz sechs Jahre später wird Putin deutlicher. Inzwischen war die Nato- und EU-Osterweiterung trotz starker russischer Sicherheitsbedenken durchgezogen worden. Mit dem Beitritt der baltischen Staaten 2004 zur Nato rückte das Kriegsbündnis bis an die russische Grenze vor. Im Gleichschritt mit der Nato erfolgte die Aufnahme der Länder in die EU. Dass Russland das nicht als freundliche Umarmung erleben konnte, müsste allen auf der politischen Bühne klar gewesen sein. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 machte Putin diesen Schritt zum Thema, indem er an die Abmachungen im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten gemahnte. «Ich denke, es ist offensichtlich, dass der Prozess der Nato-Osterweiterung keinerlei Bezug zur Modernisierung der Allianz selbst oder zur Gewährleistung der Sicherheit in Europa hat. Im Gegenteil, das ist ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt. Nun haben wir das Recht zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Erweiterung?» Weiter führte der russische Präsident aus: «Ich möchte ein Zitat von einem Auftritt des Generalsekretärs der Nato, Herrn Wörner, am 17. Mai 1990 in Brüssel bringen. Damals sagte er: ‹Schon der Fakt, dass wir bereit sind, die Nato-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der BRD zu stationieren, gibt der Sowjetunion Sicherheitsgarantien.› Wo sind die Garantien?»⁹
Keine Absicht, das Nato-Verteidigungsgebiet auszudehnen
Doch nicht nur der damalige Nato-Generalsekretär, Klaus Wörner, machte diese Zusage. Der damalige Aussenminister, Hans-Dietrich Genscher, äusserte sich bei einem Treffen mit dem US-Aussenminister James Baker in Washington noch deutlicher und versprach: «Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das Nato-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt nicht nur in Bezug auf die DDR, die wir da nicht einverleiben wollen, sondern das gilt ganz generell.»
Dieses Versprechen, auf das sich die russische Regierung bis heute beruft, wird vom Westen umgedeutet als nicht so gemeint, und weil nirgends schriftlich festgehalten, für obsolet erklärt. Ein Diplomat, der damals in seinen jungen Jahren Aussenminister Genscher begleitet hatte, meinte 30 Jahre später, dass Genscher als Aussenminister gar nicht die Kompetenz gehabt hätte, so etwas zu sagen und dass die Russen das auch gewusst hätten. Damit sei die Aussage nicht relevant. Tatsächlich aber hatte der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und damit der Regierungschef etwas Ähnliches gesagt. «Unstrittig ist, dass Helmut Kohl seinem Partner Michail Gorbatschow gegenüber davon sprach, dass die Wiedervereinigung Deutschlands keineswegs eine Ausdehnung des Atlantischen Bündnisses in Richtung Osten bedeute.»11 Es erstaunt, dass ein Diplomat sich dahingehend äussert. In der Nato gilt zumindest bis heute das Prinzip der Einstimmigkeit. Auch wenn die USA die Osterweiterung gewollt haben, wäre eine Umsetzung nicht möglich gewesen, denn Deutschland hätte sehr wohl die Kompetenz gehabt, mit seinem Veto die Osterweiterung der Nato zu verhindern. Dass das auch möglich gewesen wäre, zeigt das aktuelle Beispiel Schwedens. Die Türkei lehnt den Beitritt Schwedens zur Nato ab, und solange die Türkei auf ihrem Standpunkt beharrt, wird es keinen Beitritt Schwedens geben.
Russland von der Nato eingekreist
Wenn man den Frieden erhalten möchte und mit den Nachbarländern ein gutes Auskommen anstrebt, dann muss man auf die Sicherheitsbedürfnisse seiner Nachbarländer Rücksicht nehmen. Das ist im Falle Russlands nicht geschehen, im Gegenteil. Das Land wurde immer stärker von der Nato eingekreist. Selbst der ehemalige Nato-Oberbefehlshaber, Philip Breedlove, sicher kein Freund Russlands, hat doch erkannt, welche Befindlichkeit ein immer stärkeres Heranrücken der Nato an die russische Grenze bewirkt: «Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich Präsident Putin offensichtlich von der Nato bedrängt fühlt.»12
Der gescheiterte Versuch von George W. Bush, die Ukraine und Georgien auf dem Gipfel von Bukarest 2008 als Kandidaten für die Nato zu nominieren, scheiterte am Widerstand Frankreichs und Deutschlands. Auch ein Beweis dafür, dass einzelne Mitgliedstaaten der Nato sehr wohl Möglichkeiten haben, negative Entwicklungen zu verhindern. Dennoch haben die USA kontinuierlich daran gearbeitet, die Ukraine näher an das Bündnis heranzubringen. Russische Bedenken ignorierend, spielte auch die EU unter dem Kommissionspräsidenten José Emanuel Barroso eine wenig konstruktive Rolle, indem er strikt ein Entweder – oder (entweder eine Annäherung an die EU – oder die Zusammenarbeit mit Russland) dem damaligen Staatspräsidenten Janukowitsch abverlangte. Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der für seine klaren Worte und scharfsinnigen Gedanken bekannt war, äusserte sich im Mai 2014 zu den Vorgängen in der Ukraine und der Haltung der EU. «Die Politik der EU-Kommissare sei ‹grössenwahnsinnig›, liess er in einem Interview 2014 wissen. Brüssel mische sich in die Weltpolitik ein und provoziere damit die Gefahr eines Krieges. Die Bürokraten der EU hätten die Ukraine vor die ‹scheinbare Wahl› gestellt, sich zwischen Ost und West entscheiden zu müssen.»13 Doch die EU im Verbund mit der Nato führte ihre Politik weiter. Höhepunkt der Entwicklung war der Putsch gegen den Staatspräsidenten der Ukraine, bei dem die USA unbestritten die Finger im Spiel hatten. Das abgehörte Telefonat, in dem die Aussenbeauftrage der USA, Victoria Nuland, mit dem amerikanischen Botschafter in Kiew, Goeffrey Pyatt, die neue Regierung in der Ukraine besprachen, als der gewählte Präsident noch in Amt und Würden war, legt ein beredtes Zeugnis von US-amerikanischer Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates ab. Dies stellt einen Verstoss gegen die Uno-Charta, also einen Völkerrechtsbruch, dar. Danach nahm die Geschichte ihren Lauf.
Nicht ernsthaft für das Minsker Abkommen eingesetzt
Heute, 8 bzw. 9 Jahre später, müssen wir konstatieren, dass die warnenden Stimmen vor einer Eskalation im Ukraine-Konflikt bei manchen Akteuren Europas und Nordamerikas wenig Beachtung gefunden haben. Selbst Vorschläge zur Lösung des Konflikts, die verhindern sollten, «dass aus einem lokalen militärischen Brandherd ein Krieg erwächst, der in seiner Ausbreitung und Wirkung nicht gefährlich genug eingeschätzt werden kann», wurden sabotiert15. Um diese Gefahr, wie sie Wilfried Scharnagl in weiser Voraussicht erkannt hatte, einzudämmen, erhoffte man sich von dem Minsk II-Abkommen, das weitreichende Autonomierechte für die ukrainischen Ostprovinzen vorsah und das nach einer Änderung der ukrainischen Verfassung umgesetzt werden sollte. Doch die Ukraine machte keine Anstalten, dieses Abkommen umzusetzen, sondern spielte auf Zeit. Unterstützt wurde die ukrainische Regierung von alt Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in einem kürzlich veröffentlichten Interview zugab, sich nicht ernsthaft für die Umsetzung des Minsk II-Abkommens eingesetzt zu haben, sondern nur Zeit gewinnen wollte, damit die Ukraine militärisch stärker werde. Wie mies und menschlich verwerflich ist das völkerrechtswidrige Verhalten der deutschen Bundesregierung, denn das Minsk II-Abkommen wurde 2015 vom Uno-Sicherheitsrat in der Resolution 2202 gebilligt, also mit einer Mehrheit der Teilnehmerstaaten und ohne Einspruch einer der Vetomächte. Damit ist Deutschland als Signatarstaat verpflichtet, die Umsetzung des Abkommens zu begleiten. Auch der ehemalige ukrainische Staatpräsident und Oligarch, Petro Poroschenko, liess Gleiches in einer Videobotschaft verlauten. Man war sich darin einig, das Abkommen nicht umzusetzen, sondern die Ukraine aufzurüsten, um Krieg gegen Russland führen zu können Stattdessen hat die Ukraine die eigene Bevölkerung in den Ostprovinzen täglich mit Artillerie beschossen und damit die Minsker Vereinbarungen gebrochen. Das hat natürlich auch Putin realisiert und die mangelnden Bemühungen des Westens, das Minsker Abkommen durchzusetzen, immer wieder thematisiert und kritisiert. Als immer deutlicher wurde, dass ein Frieden gemäss Minsker Abkommen in weite Ferne gerückt war, die Angriffe der ukrainischen Armee auf die Ostprovinzen eskalierten (OSZE-Berichte) und die Nato damit spielte, die Ukraine doch noch aufzunehmen, hat Putin seinen Entscheid gefällt.
Gehörige Verantwortung des Westens
Es ist richtig, mit dem Beginn seiner «militärischen Sonderoperation» hat Russland die Souveränität der Ukraine und das Völkerrecht verletzt, wie es die USA in den letzten Jahrzehnten zigmal getan haben, als sie sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten eingemischt und Krieg geführt haben. (Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien …) Aber, was sich im Vorfeld des Ukrainekriegs alles ereignet hat, und hier ist nur ein kleiner Ausschnitt dokumentiert, zeigt zumindest, dass der Westen eine gehörige Verantwortung an dieser Eskalation trägt, wenn er sie nicht sogar bewusst herbeigeführt hat. Wilfried Scharnagl warnte bereits 2015: «An guten Gründen, sich vor einer antirussischen Einseitigkeit zu hüten, um auch die andere Seite und ihre Position und Motive zu verstehen, fehlt es also nicht. Der amerikanischen, der europäischen und der deutschen Politik ist dringend zu raten, sich von jeder Konfrontation zu verabschieden.»18 Merkels Bekenntnis zeigt genau das Gegenteil.
Neutralität geopfert
Der Konflikt zwischen dem Westen und Russland, der in der Ukraine ausgetragen wird, hat also eine lange Vorgeschichte, die den wenigsten bekannt sein wird und die auf unseren Informationskanälen, sprich Medien, nicht thematisiert wird. Für neutrale Staaten wie die Schweiz würde das äusserste Zurückhaltung in einseitigen Schuldzuweisungen bedeuten. Leider ist das Gegenteil passiert. Die Schweiz, insbesondere in der Person von Ignazio Cassis, hat sich, unbesehen aller Ereignisse im Vorfeld des Konflikts, in moralischer Überhöhung auf die Seite der Ukraine gestellt und damit die Neutralität schwer geschädigt. Wie in der letzten Zeit mehrmals geschehen, hat sie eine mögliche Chance einer friedlichen Verhandlungslösung und das Verhindern eines anhaltenden Blutvergiessens achtlos vertan. Zum Glück gibt es andere Staaten, die sich ernsthaft bemühen, diesem Krieg ein Ende zu setzen. Die Einstellung Cassis’ hat der Schweiz und ihrer Neutralität einen unermesslichen Schaden zugefügt. Diesen gravierenden Fehler könnte das Parlament oder das Schweizer Volk korrigieren.
⁷ Wilfried Scharnagl: Am Abgrund – Streitschrift für einen anderen Umgang mit Russland; Berlin 2015 S. 72
⁹ Thomas Röper: Vladimir Putin – Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt? Gelnhausen 2019,S. 32f
11 Wilfried Scharnagl: Am Abgrund – Streitschrift für einen anderen Umgang mit Russland; Berlin 2015 S. 131.
12 ebenda S. 37
13 ebenda S. 91
15 ebenda S. 155.
18 ebenda S. 122
«Es ist wichtig, dass Brasilien zur Ruhe kommt und der Präsident sein sehr ambitioniertes Programm in die Tat umsetzen kann»
Zeitgeschehen im Fokus Sie waren in Brasilien zur Amtseinsetzung des neuen Präsidenten Ignacio Lula da Silva. Was für einen Eindruck haben Sie bei Ihrem Aufenthalt in Brasilien bekommen?
Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Nachdem ich im Oktober bereits als Wahlbeobachter in Brasilien gewesen war, fuhr ich auch zur feierlichen Amtsübernahme. Ich halte diese Wahl für ein ganz herausragendes Ereignis. Vom 27. Dezember bis zum 9. Januar war ich in Brasilien und habe den ganzen Prozess der Amtseinführung beobachtet. Das ist eine lateinamerikanische Tradition, die wir in Europa so nicht kennen. Es ist ein ganz zentrales Ereignis. Wenn ein neuer Präsident gewählt wird, gibt es eine grosse Zeremonie mit Begleitung und Zuschauern. Es waren über 300 000 Menschen an der Feier in der brasilianischen Hauptstadt dabei. Die einzelnen Ministerien haben jeweils auch ihre offizielle Amtseinführung, indem sie dann ihr Programm vorstellen. Auch da finden sich viele tausend Menschen ein. Das war ein sehr interessanter Prozess mit grosser internationaler Aufmerksamkeit und Präsenz.
Welche Politgrössen waren anwesend?
Zum Beispiel war der deutsche Bundespräsident Steinmeier auch vor Ort und traf Lula da Silva. Das ist deshalb erwähnenswert, weil zum ersten Mal in der Geschichte ein deutscher Bundespräsident zu einer Amtseinführung nach Lateinamerika gereist ist. Aber auch andere Präsidenten oder Vertreter verschiedener Staaten waren anwesend.
Wie muss man das deuten?
Das hat damit zu tun, dass diesem Machtwechsel eine ausserordentliche Bedeutung beigemessen wird. Das hat auch mit der Amazonaspolitik in Bezug auf den Regenwald zu tun. Bolsonaro hatte während seiner Amtszeit die Hemmnisse abgebaut, den Regenwald weiter abzuholzen. Das ist sicher ein grosses Problem, auch für das weltweite Klima. Meines Erachtens ist das das Hauptmotiv gewesen. Dazu kommt, dass Brasilien, ein Land mit über 200 Millionen Einwohnern, von ausserordentlicher Relevanz ist. Zudem findet aktuell eine zentrale Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Rechtspopulismus statt, was wir auch in anderen Ländern feststellen können, z. B. in den USA mit Trump. Es gibt auch eine sehr enge Verbindung zwischen Bolsonaro und Trump, im Hintergrund Steve Bannon.
Obwohl man Bolsonaro von westlicher Seite 2019 unterstützt hat und Lula da Silva hat hängenlassen, als er im Gefängnis war, gab es in den letzten Jahren einen Wechsel in der Sichtweise der Bundesregierung, der EU und zum Teil auch der USA, weil man mit dieser Form des Bolsonarismus, diesen Ausprägungen des Rechtspopulismus bzw. Rechtsextremismus, auch nicht weiterkommt. Es gibt, so glaube ich, ein Interesse, dass die demokratischen Strukturen in Lateinamerika nicht völlig unterminiert werden. Die Entstehung von Bürgerkriegen oder die Etablierung einer Militärdiktatur ist kaum im Interesse der Europäer. Ich hatte mich im November im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags gegenüber der Bundesregierung, die auch anwesend war, stark gemacht, dass sie diese Amtseinsetzung ernst nimmt und hochrangig dorthin fährt, um gegen die Bedrohung, die von Bolsonaro ausgeht, ein Zeichen zu setzen, die demokratischen Institutionen zu schützen und die Wahl mit entsprechendem Nachdruck anzuerkennen.
Brasilien gehört zu den BRICS-Staaten und arbeitet darin mit Russland und China zusammen. Könnte das nicht auch eine Rolle spielen, dass man hier Brasilien ins westliche Lager ziehen möchte?
Ja, es gab diesen BRICS-Prozess, den Lula da Silva ins Leben gerufen hat. Das heisst nicht, dass er ein Verbündeter Russlands ist, aber BRICS ist sicher ein internationales Gegengewicht zur einseitigen US-Dominanz. Er hat auch im Vorfeld der Wahl klar gemacht, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine, der auch ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Nato ist, so schnell wie möglich beendet werden muss. Auch würde er alles dafür tun, um zu einem Ende des Krieges zu kommen. Ich denke nicht, dass die Zusammenarbeit mit Russland über das BRICS-Abkommen im Zentrum des westlichen Interesses an Lula da Silva steht, sondern es geht vor allem um die Amazonaspolitik und das EU-Mercosur-Abkommen.
Worum geht es konkret in diesem Abkommen?
Es ist ein klassisches Freihandelsabkommen, das 20 Jahre verhandelt und am 1. Juli 2019 «im Prinzip» angenommen wurde. Allerdings ist der Text weder finalisiert, noch wurde das Abkommen unterzeichnet oder gar ratifiziert. Im Laufe der Amtszeit Bolsonaros wurde es auf Eis gelegt. Jetzt hofft man, dass es verabschiedet werden kann. Das ist allerdings komplizierter, als es sich anhört, weil es in diesem Abkommen Mechanismen gibt, die weiter zur Umweltzerstörung Brasiliens beitragen. Das ist Lula da Silva und sogar Teilen der EU-Kommission bewusst. Sie sagen daher, man müsse noch ein paar Sachen korrigieren in punkto Nachhaltigkeit. Wenn man es allerdings wieder aufmacht, dann wollen so viele Punkte nachverhandelt werden, dass man wahrscheinlich gar nicht zum Abschluss kommt. Es ist die Quadratur des Kreises.
Worin liegt das Problem?
Wenn man es aufmacht, ist die grosse Befürchtung, dass dieses Abkommen nicht mehr erfolgreich zu Ende verhandelt werden kann, weil weitere Interessen z. B. von Argentinien dazukommen würden. Lula da Silva hatte davon gesprochen, dass es koloniale Züge hat. Die schnelle Ratifizierung ist die grosse Hoffnung der europäischen Liberalen und Konservativen, sie wollen das Abkommen schnell unter Dach und Fach bringen. Es gibt aber erst noch eine längere Auseinandersetzung. Für mich ist erst einmal zentral, überhaupt den Text zu kennen. Ich habe auch mit NGOs in Brasilien gesprochen, die das Ganze kritisch begleiten und sagen, sie kennten bis heute den vollständigen Text nicht. Das ist natürlich schon krass. Denn als allererstes sollte man wissen, worüber man urteilt. Ich werde mich jetzt darum bemühen, den konsolidierten Text zu bekommen.
Das ist der Hintergrund, vor dem sich das alles abspielt. Lula da Silva wird bei uns in den Medien sehr positiv dargestellt, es gibt eine Art Umarmungsstrategie. Man möchte sozusagen den Präsidenten ins westliche Lager einbinden.
Wird das erfolgreich sein?
Ich glaube nicht, dass das so einfach sein wird. Brasilien hat eine Militärdiktatur gehabt. Lula da Silva selbst hat darunter gelitten. Er war auch im Gefängnis. Auch viele von der politischen Führung heute, Mitglieder der Arbeiterpartei, wissen, dass die Militärdiktatur von der CIA gesteuert und somit von den USA unterstützt wurde wie damals in Chile. Das schafft automatisch eine gewisse Distanz. Die aussenpolitische Strategie der neuen Regierung ist das, was unter Bolsonaro stillgelegt wurde: Dazu gehört, die regionale Integration, zum Beispiel die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC), wiederzubeleben, die Süd-Süd-Kooperation weiter auszubauen mit Südafrika und anderen Ländern und BRICS weiter voranzubringen. Es werden in den nächsten Jahren wichtige aussenpolitische Weichen gestellt, in denen Lula eine Schlüsselrolle spielen kann. Er wird 2024 den Vorsitz der G-20 übernehmen. 2025 möchte er im Amazonasgebiet die Uno-Klimakonferenz COP abhalten. Es gibt eine Reihe von internationalen Treffen, bei denen Brasilien eine aktive Rolle spielen kann. Auf der Klimakonferenz in Scharm asch-Schaich war Lula da Silva der gefeierte Star, der dort sehr umworben wurde, weil er ein Akteur auf der internationalen Bühne ist, mit dem man Dinge aushandeln kann. Das war unter Bolsonaro nicht möglich.
Diese Entwicklung ist doch sehr interessant. Der Westen hat Lula da Silva einfach fallengelassen, als man ihn der Korruption verdächtigt hat.
Das ist richtig. Die Links-Fraktion hatte im Bundestag die Merkel-Regierung dazu befragt. Die Antwort war, dass das alles nach rechtsstaatlichen Normen abgelaufen sei. Sie haben Lula da Silva fallengelassen, als er im Gefängnis war. Dazu muss man allerdings sagen, dass das SPD-geführte Aussenministerium diese Antwort gegeben hat. Trotzdem hat Martin Schulz, der auch Präsident des Europaparlaments war und SPD-Mitglied ist, ihn im Gefängnis besucht. Das war sicher ein wichtiger Akt, dass er das gemacht hat. Aber die deutsche Regierung hat ihn fallenlassen. In seiner Rede nach seinem Wahlsieg Ende Oktober hat er zentral einer Person für ihre Unterstützung, gedankt, als er im Gefängnis war, und zwar dem US-amerikanischen Journalisten Glenn Greenwald. Er hatte mit seinen Enthüllungen letztlich das Kartenhaus dieses Justizputsches zum Einsturz gebracht.
Welche Bedeutung hat die Wahl von Lula da Silva für Staaten wie z. B. Venezuela oder Kolumbien?
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Man muss wissen, dass der Versuch, in Venezuela die Maduro-Regierung zu stürzen letztlich das Ziel des US-betriebenen Putschversuchs war. Dazu gehören die Anerkennung Guaidós als Präsidenten, die Sanktionen, das Embargo gegen Venezuela etc. Das begann unmittelbar, nachdem Bolsonaro Präsident geworden war. Die beiden grossen Nachbarländer Venezuelas sind Brasilien und Kolumbien. Kolumbien hatte einen rechten Präsidenten. Drei Wochen nach der Amtsübernahme von Bolsonaro hat sich Guaidó zum Präsidenten Venezuelas ernannt. Das Ganze ist meines Dafürhaltens eine US-gesteuerte konzertierte Aktion Brasiliens und Kolumbiens mit ihren Präsidenten gewesen, die bei dem Versuch, die Regierung in Venezuela zu stürzen, aktiv mitgespielt haben. Die USA hatten sich letztlich erhofft, mit Guaidó eine von ihnen abhängige Marionette zu installieren. Was Kolumbien und Brasilien jetzt machen, ist, die Beziehungen zu Venezuela wieder aufzunehmen, zu normalisieren. Sie hatten damals alle diplomatischen Beziehungen abgebrochen. Jetzt wird alles wieder aufgebaut, ohne dass man den engen politischen Schulterschluss mit Maduro sucht.
Warum findet der so nicht statt?
Ich vermute, dass es innenpolitisch sehr schwierig werden könnte. Die Aussenminister haben sich zwar getroffen und die Beziehungen wieder normalisiert. Maduro war aber nicht bei der Inauguration von Lula da Silva und auch nicht bei Gustavo Petro in Kolumbien. Das hängt damit zusammen, dass aus demokratischer Sicht in Venezuela manches auch kritikwürdig ist. Das hat natürlich seine Ursachen auch in den Sanktionen und im Embargo. Aber das zentrale Propagandamotiv der lateinamerikanischen Rechten ist immer, allen linken Bewegungen und Regierungen vorzuwerfen, man wolle venezolanische Verhältnisse schaffen. Das war bei Gustavo Petro in Kolumbien so, und bei Lula da Silva hat man das auch versucht.
Gehört der 8. Januar in diese Kategorie?
Ja, am 8. Januar gab es diesen Putschversuch. 4 000 Bolsonaristen stürmten mit Rückendeckung der lokalen Polizei den Kongress, das oberste Gericht und den Präsidentenpalast und hinterliessen unfassbare Verwüstungen. Ich war zu dem Zeitpunkt noch in Brasilien, wenn auch nicht direkt vor Ort. Das Ganze erinnert sehr an den Sturm aufs Kapitol in Washington. Man muss wissen, dass Bolsonaro bereits vor einem Jahr verlautbaren liess, dass er keinen anderen Wahlsieger als sich selbst anerkennen werde. Das ist für die westlichen Regierungen schwer akzeptierbar. Nach der Wahl am 30. Oktober hat er nicht direkt Lula da Silva als Wahlsieger anerkannt. Er hat ihm auch nicht gratuliert.
Ganz im Unterschied zu Kolumbien. Rodolfo Hernandez hatte Gustavo Petro gratuliert. Bolsonaro hat seine fanatische Anhängerschaft am Leben gehalten, indem er indirekt Wahlbetrug vorgeworfen hat, allerdings ohne irgendwelche Belege dafür. In seinem Twitter-Account steht immer noch «Präsident Brasiliens». Er hat auch die brasilianische Tradition, dass der scheidende Präsident dem neuen Präsidenten die Schärpe übergibt, ignoriert. Er ist wenige Tage vor dieser Zeremonie nach Florida geflogen, dorthin, wo auch Trump ist. Der Verantwortliche im Hauptstadtbezirk Brasilia namens Anderson Torres, der für die Polizei und die ganze Innenpolitik des Bezirks zuständig ist, reiste einen Tag vor dem Putsch nach Florida aus. Er hat wahrscheinlich eine Schlüsselrolle bei diesem Putschversuch gespielt. Es ist anzunehmen, dass der Gouverneur Brasilias auch involviert war und jetzt für drei Monate von seinem Amt suspendiert wird. Er steht unter Verdacht, diesen Putschversuch mit ermöglicht zu haben.
Ist damit dieser Putschversuch vorbei?
Ich habe mit verschiedenen Menschen Gespräche geführt und jetzt aus Brasilien Meldungen bekommen, dass der Kampf noch nicht vorbei ist. Ich bin davon ausgegangen, dass diese Bedrohung jetzt überwunden ist und Ruhe einkehrt. Ich habe den Eindruck, dass Lula da Silva gestärkt daraus hervorgeht. Ich habe aber heute die Meldung bekommen, dass man mit weiteren Attacken dieser Art rechnet. Es ist wichtig, dass Brasilien zur Ruhe kommt und der Präsident sein sehr ambitioniertes Programm in die Tat umsetzen kann.
Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
Schulbücher im Besetzten Palästinensischen Gebiet
hhg Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) und die EU werden von Israel immer wieder unter Druck gesetzt, damit sie im Besetzten Palästinensischen Gebiet (oPt) ihre Unterstützung im Bildungsbereich einstellen. Hauptargument dabei ist der Vorwurf, die palästinensischen Schulbücher seien antisemitisch, würden zu Hass und Gewalt aufrufen, den Terrorismus verherrlichen und den israelischen Staat nicht anerkennen. Als Lehrerin – interessiert am Thema Schulbücher – wollte ich dazu Genaueres wissen und befragte daher Dr. Samira Alayan, die die palästinensischen Schulbücher¹ inhaltlich untersucht hat. Sie ist leitende Dozentin an der israelischen Seymour Fox School of Education der hebräischen Universität Jerusalem und an der David Yellin Academic School.
Palästinensische Schulbücher müssen vor ihrem historischen Hintergrund betrachtet werden, daher vorab ein kurzer historischer Rückblick. Mit der Ausrufung des Staates Israel 1948 im britischen Mandatsgebiet Palästina wurde die ursprüngliche palästinensische Bevölkerung aufgesplittert. Ein Teil² verblieb im neu gegründeten Staat und erhielt die israelische Staatsbürgerschaft. Die Palästinenser im Gazastreifen gerieten unter ägyptische Herrschaft und die Palästinenser in Ostjerusalem und in der West Bank unter jordanische Herrschaft. Dazu kamen die vielen palästinensischen Flüchtlinge, die im Nahen Osten bis heute in Flüchtlingslagern oder verstreut in der ganzen Welt leben.
Nach dem Sechstagekrieg von 1967 besetzte Israel neben dem Sinai und den Golanhöhen auch den Gazastreifen, die West Bank und Ostjerusalem, wo die Palästinenser seither den israelischen Militärbehörden unterstehen.
1993 kam es zwischen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und der israelischen Regierung zu Friedensverhandlungen, den sogenannten Oslo Abkommen. Im Grundsatzabkommen «Prinzipienerklärung über die vorübergehende Selbstverwaltung» (Oslo I) vom September 1993 einigte man sich auf die gegenseitige Anerkennung sowie auf eine friedliche Koexistenz, wobei die PLO das Existenzrecht Israels explizit anerkannte. Geplant war eine Interimsphase der palästinensischen Selbstverwaltung im oPt. Anschliessend sollte sich das israelische Militär zurückziehen und die Zwei-Staaten-Lösung – Israel und Palästina – umgesetzt werden.
1994 wurde gemäss Oslo I die Palästinensische Nationale Autonomiebehörde (PNA) eingesetzt, die auch für den Kultur- und den Bildungsbereich zuständig wurde. Im selben Jahr begann die PNA mit der Entwicklung von Schulbüchern für die palästinensischen Schulen. Bis dahin war im Gazastreifen nach ägyptischem Lehrplan mit ägyptischen Lehrbüchern und in der West Bank und in Ostjerusalem nach jordanischem Lehrplan mit jordanischen Schulbüchern unterrichtet worden. Im folgenden Interview gibt Dr. Samira Alayan Einblick in ihre Forschungsergebnisse zu den palästinensischen Schulbüchern.
Zeitgeschehen im Fokus Nach den Verträgen von Oslo von 1994 rückte die Zwei-Staaten-Lösung in greifbare Nähe. Die Palästinensische Autonomiebehörde übernahm im Besetzten Palästinensischen Gebiet die öffentlichen Bildungseinrichtungen und gab dann auch eigene palästinensische Schulbücher heraus für die Schulen in der West Bank, im Gazastreifen und in Ostjerusalem. Was war das Ziel dieser Schulbücher?
Dr. Samira Alayan Nach Oslo begann 1994 die Arbeit an den palästinensischen Schulbüchern mit dem Ziel, die nationale Identität der Palästinenser zu stärken und die Geschichte Palästinas zu lehren. Das war das wichtigste Anliegen. Schulbücher bilden die Grundlage einer Nation.
…um die junge Generation zu Bürgern des neuen Staates Palästina heranzubilden?
Ja, das war die Vision. Das wichtigste Ziel im palästinensischen Lehrplan war, die nationale Identität zu stärken durch das Wissen über die eigene nationale Geschichte, über die Religion und über die Kultur.
Die meisten Autoren dieser Schulbücher versuchten nach den Verträgen von Oslo, sehr optimistisch zu sein. Sie verfassten – hoch motiviert für positive Entwicklungen – ausgewogene Schulbücher, die an vielen Stellen sowohl den palästinensischen wie auch den israelischen Staat erwähnten und anerkannten.
Sie haben diese Schulbücher wissenschaftlich untersucht. Wie wurden Israel und die Juden darin dargestellt?
Es gibt keine negative Darstellung der Juden. Wir haben keine Probleme mit den Juden, denn wir sind Moslems, und wir respektieren andere Religionen. Aber wir haben ein Problem damit, wenn man unser Recht und unsere Existenz als Nation nicht anerkennt. Wenn man auf die Landkarten schaut, sieht man, dass Israel als Staat in den Geschichtsbüchern erwähnt ist. Die Schulbücher stärken die nationale palästinensische Identität und entsprechen der Philosophie von Oslo.
Sie schreiben, dass die Schulbücher für die palästinensischen Schulen in Ostjerusalem vom israelischen Bildungsministerium kontrolliert werden…
Als ich den Inhalt der Schulbücher analysierte, gingen mir viele Fragen durch den Kopf, daher interviewte ich deren Autoren. Sie berichteten, dass nach dem Jahr 2000 in allen Schulen in Gaza, im Westjordanland und in Ostjerusalem mit diesen Lehrbüchern unterrichtet wurde. Die Schulbücher der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA) für die palästinensischen Schulen in Ostjerusalem werden vom Staat Israel kontrolliert. Alle dortigen öffentlichen Schulen werden von Israel kontrolliert. Für die Gehälter der Lehrer und der Angestellten sowie für die Gebäude ist Israel verantwortlich. Für den Inhalt der Lehrbücher ist die PNA zuständig. Schulbücher sind ein sehr wichtiges Werkzeug und ein sehr starkes Instrument, um die Schüler zu beeinflussen.
Das israelische Bildungsministerium hat sich den Inhalt der Schulbücher für Ostjerusalem angeschaut. Wenn ihnen am Inhalt etwas nicht gefiel, haben sie es gelöscht. Das ist weder professionell noch pädagogisch sinnvoll. Als gebildeter Mensch gibt man den Schülern keine Lehrbücher mit halben Sätzen, ausgelassenen Textstellen oder ganzen weissen Seiten. Aber diese Zensur wird gemacht. Viele Inhalte fehlen. Die Schüler sind nicht dumm. Da in der West Bank und im Gazastreifen nicht zensuriert wird, informieren sie sich dort über die zensurierten Inhalte.
Die Autoren der Schulbücher berichteten mir auch von einer indirekten Zensur. Wenn sie sich hinsetzten, um zu schreiben und über den Inhalt zu entscheiden, sassen auch fünf oder sechs Vertreter der Europäischen Union dabei.
Von der EU?
Ja, von der Europäischen Union. Die EU gibt der PNA eine Menge Geld für die Schulen. Wissen Sie, es gibt keinen Staat Palästina. Die PNA ist abhängig von ihren Geldgebern, welche entscheiden, ob sie ihnen das Geld geben, um die Schulbücher zu produzieren. Die Geldgeber entscheiden für sie, ob sie diesen oder jenen Inhalt schreiben sollen. Sie intervenieren. Es gibt keinen palästinensischen Staat, der ein eigenes Budget und eigene Regeln hat. Es gibt ein palästinensisches Volk, aber keinen palästinensischen Staat. Also haben sie sich an die EU, an die Weltbank zu halten…
Warum die Weltbank?
Ich glaube, es ist eher die EU. Die Autoren der Schulbücher haben mir berichtet, dass die EU-Vertreter, die dabei sind, ihnen sagen, welchen Satz sie ändern müssen, damit er zum Inhalt passt. Sie haben nicht wirklich die Freiheit zu schreiben, was sie möchten.
Wie beurteilen sie das?
Es ist eine Art moderner Kolonialismus. Wir sprechen von Menschen, die unter Besatzung ein Lehrbuch schreiben. Es ist nicht wie in der Schweiz, man sitzt hier und trinkt Kaffee. Es ist ein Volk unter Besatzung. Ein Schulbuch für Schüler zu schreiben, um ihre Identität als Palästinenser zu stärken und sie nicht zu verwirren, ist keine einfache Situation. Man fragt sich, welcher Satz ist zu schreiben und auf welche Weise ist er zu schreiben.
2018 hat die PNA ganz neue Schulbücher herausgegeben. Was hat sich verändert?
Vieles. Nach Oslo waren die Palästinenser optimistisch. Sie hofften, bald ihren Staat zu haben und zusammenzuleben. Seither ist vieles passiert. Im Jahr 2000 hat Israel mit dem Bau der Mauer begonnen, die den wirtschaftlichen Austausch und die Bewegungsfreiheit zwischen Gaza, Ostjerusalem und der West Bank massiv behindert. Der Siedlungsbau, verbunden mit der Enteignung palästinensischen Landes, wurde sehr massiv vorangetrieben.
In der palästinensischen Gesellschaft bildeten sich zwei Gruppen heraus: Aus Europa und Amerika kamen reiche Palästinenser zurück. Diese 10 % kontrollieren 90 % der palästinensischen Gesellschaft, von denen viele sehr arm sind. Innerhalb der palästinensischen Gesellschaft gibt es viele Probleme, und die Regierung ist korrupt. All das führt dazu, dass die Palästinenser nicht mehr in einer positiven und optimistischen Weise denken, mit dem Ziel, ihre Kinder zu Toleranz und Frieden zu erziehen.
Die Entwicklung seit Oslo führte dazu, dass die Palästinensische Autonomiebehörde beschloss, unseren Schülern nur unsere eigene Geschichte zu lehren, ohne irgendetwas anderes zu erwähnen. Meiner Meinung nach ist das keine gute Entscheidung.
2010 hatte die EU beschlossen, das Budget für die Schulbücher der PNA zu streichen, weil sie glaubte, dass die PNA den Staat Israel nicht anerkenne und negative Punkte in den Lehrbüchern zu finden seien. Prof. Nurit Peled-Elhanan³ und ich wurden von der EU eingeladen. Dort habe ich genau das vorgestellt, was ich in der ersten Ausgabe der Schulbücher von 2000 gesehen habe und was meine Forschung ergeben hat. Daraufhin hat die EU der PNA das Geld zugesprochen.
In den Schulbüchern gab es viele Punkte, die verbessert werden sollten. Die EU gab das Geld unter der Bedingung, dass diese Punkte verbessert werden, ohne die Schulbücher grundsätzlich zu verändern. Zudem sollte eine akademische Evaluation mit Akademikern aus der Praxis, aus Palästina und von ausserhalb Palästinas, durchgeführt werden, um objektiv zu sein. Aber die PNA wollte das nicht und ersetzte die gesamten Schulbücher durch ganz neue. 2018 wurden diese in den Schulen eingeführt. Diese Schulbücher sind ganz anders, das Innere der Bücher und das Äussere. Wenn man da Zensur machen will, ist es sehr schwierig. Auf dem Einband ist überall eine palästinensische Flagge, bei allen Büchern; im Geschichtsbuch, auf jeder einzelnen Seite, überall ist eine Flagge von Palästina, eine oder zwei oder drei oder vier, sie halten die Flagge, sie ziehen die Flagge hoch, sie tragen die Flagge. Es ist ein Zuviel des Zeigens an die Adresse der israelischen Seite: Wir sind hier! Aber das Ziel der Schulbücher ist immer noch das gleiche, die palästinensische Identität zu stärken.
Positiv ist, dass sich die neuen Schulbücher mit den Menschenrechten beschäftigen, mit der Gleichheit von Männern und Frauen. Wir sind alle gleich, ob rot, schwarz oder weiss. Es hat auch Bilder von Menschen mit Behinderungen. Man sieht eine Frau im Krankenhaus und auch zu Hause, sie ist Ärztin, aber sie kann auch Mutter sein. Das ist sehr schön. Diese Vielfalt sehen wir nicht in den alten Lehrbüchern.
In der palästinensischen Gesellschaft gibt es auch Christen, nicht nur Muslime. In den alten Büchern sieht man diese Stimmen nicht. Jetzt sieht man sie, man sieht eine Moschee, man sieht eine Kirche. Man sieht einen moslemischen Jungen mit einem Koran, und das christliche Mädchen trägt ein Kreuz. Das ist sehr positiv.
Auf der politischen Ebene wird Israel als Staat in den neuen Schulbüchern nicht erwähnt. Ich fragte einen der Autoren: «Warum erwähnen Sie Israel als Staat nicht?» Er antwortete: «Wir sprechen über das historische Palästina vor 1948. Damals existierte Israel nicht.» Ich entgegnete: «Ihr sprecht über das historische Palästina, aber wir leben heute.» Seine Reaktion war: «Ja, wir leben heute, aber das ist das historische Palästina! Und wir müssen Geschichte lehren, also lehren wir die Geschichte des historischen Palästina.» Im alten Lehrbuch gab es ein Kapitel dazu, im neuen Lehrbuch nicht; keine Erwähnung der Juden im historischen Palästina, keine Landkarte nach 1948 mit dem Staat Israel. Auch der Holocaust wird nicht erwähnt. Die Autoren anerkennen Israel, sie wissen um den Holocaust, aber sie erwähnen ihn nicht. Fragt man die Autoren, warum sie den Holocaust nicht erwähnen, sagen sie: «Das ist nicht der richtige Zeitpunkt. Es ist an der Zeit, unsere Geschichte zu präsentieren. Zur Zeit sind wir unter militärischer Besatzung.» Die Autoren nehmen die Besatzung als Begründung, um viele andere Fakten nicht zu erwähnen.
Mit den neuen Schulbüchern reagiert die PNA auf die schlimmen Entwicklungen seit den Verträgen von Oslo. Das ist eine grosse Tragik. Wenn man darauf wartet, dass sich etwas ändert, und es immer schlimmer wird, und man keinen Ausweg sieht, dann sind neue Schulbücher ein Mittel, um gegen die israelische Besatzung zu kämpfen. «Wir erwähnen Israel nicht, wir ignorieren Israel, das ist unsere Art zu kämpfen», so der Gedanke.
Wie müssten zukünftige palästinensische Schulbücher sein, um auch zu einer Versöhnung zwischen den Menschen beizutragen?
Sie müssen das tun, was die Palästinenser tun, die in Israel leben. Die meisten von ihnen kennen die palästinensische Sichtweise (Narrativ) und die israelische Sichtweise sehr gut. Es stärkt die Schüler, wenn sie beides kennen. Unsere Schüler sind nicht dumm, sie können gut denken, wenn man sie denken lässt und ihnen erlaubt zu denken.
Palästinenser, die als israelische Bürger in Israel leben, werden nach dem israelischen Lehrplan unterrichtet. Weil ich Arabisch und Hebräisch spreche, konnte ich das palästinensische und das israelische Narrativ lesen. Man muss beides kennen. Ein Beispiel ist die Tochter meines Bruders, der auch in Israel lebt. Sie fragt mich vieles, und ich gebe ihr immer ein Buch zu lesen. Ich möchte, dass sie gut Hebräisch und Arabisch spricht. Ich möchte, dass sie weiss, was in der israelischen Gesellschaft, aber auch was in der palästinensischen Gesellschaft vor sich geht. Sie ist schon eine starke Persönlichkeit mit ihren 19 Jahren. Wenn sie mit mir diskutiert, stellt sie mir anspruchsvolle Fragen, die ich nie gestellt habe, weil ich sie nicht hatte.
Das müsste man in den Schulen machen, nicht nach der Schule, weil nicht jede Familie das macht. In den Schulen in Israel und an der Universität habe ich gemäss den israelischen Lehrplänen gelernt, was ich als Mangel empfunden habe. Meine Familie, vor allem mein Vater, sagte mir damals, ich solle mehr lesen, damit ich weiss, dass ich Palästinenserin und Muslimin bin.
Meine Sorge heute ist, dass weder Israel noch die Palästinensische Autonomiebehörde in den Schulen beide Sichtweisen unterrichten. Ich bin der Ansicht, dass sowohl der israelische Student wie auch der palästinensische Student ein Opfer dieses Systems sind. Wenn der israelische Student an die Universität kommt und das erste Mal in seinem Leben neben einer arabischen Frau oder einem arabischen Mann sitzt, weiss er nichts über sie. Er ist ein armer Mensch, obwohl er eine Waffe hat und Soldat ist. Aber innerlich ist er arm. Er weiss nicht, wer dieser Mann ist, der neben ihm sitzt, und er hat Angst vor ihm, weil er nichts über ihn weiss. Und beim palästinensischen Studenten ist es dasselbe. Er meint, der Israeli denke, er sei ein Terrorist. Als Soldat würde er ihn töten. Diese Sichtweisen sind gefährlich. Meine Sichtweise ist eine andere.
Nämlich?
Ich glaube, dass wir optimistisch arbeiten müssen. Wir müssen über den palästinensischen und über den israelischen Staat nachdenken. Sowohl die israelische wie auch die palästinensische Sichtweise müssen unterrichtet werden. Die Schüler sind klug genug. Man muss sie nicht mit einem Narrativ füttern. Man muss sie unterrichten mit Informationen, mit Fakten. Sie brauchen ein Wissen über die Schulbücher hinaus, um später erfolgreich zu sein und auf die Universität zu gehen. Neulich ist ein Schulbuch erschienen. Auf der einen Seite ist die israelische Sichtweise dargestellt, auf der anderen die palästinensische. In der Mitte kann man die eigene Sichtweise aufschreiben. Das ist ein gutes Beispiel. Darin sehe ich die Zukunft.
Frau Dr. Alayan, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Interview Henriette Hanke
Güttinger
¹ Dr. Alayan hat die palästinensischen Schulbücher von der 1. bis zur 12. Klasse untersucht. Samira Alaya: Education in East Jerusalem Occupation, Political Power, and Struggle. New York 2019.
2 Rund 156 000 Personen.
³ Dozentin für Spracherziehung, soziale Semiotik und Multimodalität der Seymour Fox School of Education an der hebräischen Universität Jerusalem und an der David Yellin Academic School.
Lieber getrennte Reihen für Mädchen und Buben als gar kein Unterricht
Oumar Gouro Diall ist Bildungsexperte in Mali. Er arbeitet am Centre international d’expertises et de formation (CIEF) und hat ein von der Deza unterstütztes Programm zur Förderung der Bildungsdezentralisierung in die Wege geleitet. Dieses läuft seit 2006 und wird bis Ende 2022 mehr als 800 000 Kindern den Schulbesuch ermöglicht haben. Das Programm musste sich den bewaffneten Konflikten und mehreren Militärputschs anpassen, die das westafrikanische Land seit zehn Jahren in Atem halten.
Eine Welt Herr Gouro Diall, Kinder in Mali haben kein einfaches Los: Ihren Alltag prägen extreme Armut, Unterernährung, sexuelle Gewalt und die Klimakrise. Hinzu kommt der bewaffnete Konflikt, der das Land nach Unabhängigkeits- und dschihadistischen Aufständen seit 2012 erschüttert.
Oumar Gouro Diall Kinder in Konfliktgebieten leben in einer dramatischen Situation. Manche mussten zusehen, wie ihre Eltern gefesselt, misshandelt oder gar umgebracht wurden. Ihre Mütter und Schwestern wurden vergewaltigt, ihre Häuser geplündert. Der reinste Horror – viele der Kinder befinden sich danach in einem Schockzustand. Wir bringen sie in die nächsten gesicherten Dörfer, geben ihnen Nachhilfeunterricht, spielen, singen, tanzen und treiben Sport mit ihnen, damit sie ihre Traumata abbauen können. Betreut werden sie von Grossmüttern. Und sie erhalten psychosoziale Unterstützung: Ihre Lehrerinnen und Lehrer wurden dafür ausgebildet, schwere seelische Notlagen zu erkennen. Braucht ein Kind zusätzliche Begleitung, übernimmt ein spezialisiertes Zentrum.
Eine vom UNHCR betriebene und geschützte Schule in der Stadt Kaya in Burkina Faso: Im westafrikanischen Land kam es im Zuge der Ausbreitung der Gewalt in der Sahelzone zu einer massiven Vertreibung. (© UNHCR/Benjamin Loyseau) [Burkina Faso leidet unter denselben Problemen wie Mali.]
Im Norden und im Zentrum Malis greifen Dschihadisten Schulen an, die nicht ihre Werte vermitteln. Sie stürmen die Klassenzimmer, terrorisieren die Kinder, verbrennen Schulhefte und töten mitunter sogar Kinder oder Lehrkräfte. Diese unsichere Lage hat zur Schliessung von gegen 2000 Schulen geführt, die Ausbildung von fast 600 000 Kindern unterbrochen und knapp 12 000 Lehrkräfte am Unterrichten gehindert. Wie kann der Unterricht unter Konfliktbedingungen fortgesetzt werden?
Um ein Minimum an Unterricht aufrechtzuerhalten, versuchen wir via die religiösen Anführer Kontakt mit den Terroristengruppen aufzunehmen. In manchen Dörfern mussten wir Zugeständnisse machen: Vor dem Schulunterricht, der um acht Uhr beginnt, ist ab sechs Uhr Koranschule. Auch mussten wir Arabischunterricht einführen. Mädchen und Buben sitzen nun in getrennten Reihen, wie die Dschihadisten es gefordert hatten. Andernfalls findet kein Unterricht statt. Wo die Schulen geschlossen wurden, haben wir gemeinschaftliche Lernräume mit Betreuerinnen und Betreuern aus den Dörfern eröffnet.
Abgesehen von den Ausschreitungen der bewaffneten Gruppen hat auch die Covid-19-Pandemie den malischen Schulen zugesetzt.
Die Schulhäuser waren zwei Monate lang geschlossen. Weil der Internetzugang mehr schlecht als recht funktionierte, konnten wir die Kinder auch nicht zu Hause über Tablets unterrichten. Als die Schulen wieder aufgingen, wurden die Klassen verkleinert und Nachhilfeunterricht organisiert, den Lehrerinnen und Lehrern wurden Präventionsmassnahmen vermittelt und die Gemeinschaften für das Abstandhalten sensibilisiert. Aber auch ohne Gesundheitskrise ist es ein Problem, wenn die Kinder nicht zur Schule gehen: Sie sind weniger geschützt.
Die Schule ist ein wichtiges soziales Netz. Steigt das Risiko sexueller Gewalt, wirtschaftlicher Ausbeutung oder der Anwerbung durch bewaffnete Gruppen, wenn die Schulen geschlossen bleiben?
Ja, salafistische Dschihadisten setzen Vergewaltigung als Waffe ein. Die Mädchen kommen dann nur noch begleitet zur Schule, und die Buben riskieren, unterwegs von terroristischen Gruppen rekrutiert zu werden. Sie versprechen ihnen Geld und das Paradies, wenn sie jemanden umbringen. Wir sensibilisieren die Jugendlichen für die Gefahr, die von den Überredungsversuchen der Dschihadisten ausgeht, und bieten ihnen Ausbildungen an, etwa in Viehzucht, Gartenbau, Baumpflege oder im Bereich Solarenergie. Bisher haben wir damit über 80 Jugendliche erreicht.
Zurück zum Unterricht – wo findet dieser statt?
Oft gibt es in den Dörfern einen freien Raum oder ein ehemaliges Alphabetisierungszentrum. Wir stellen eine Tafel, Schulbänke und Bücher zur Verfügung, erarbeiten einen Plan zur Risikominderung rund um die Schulen und die Schulkommissionen werden in Risikomanagement geschult. Die Armee hingegen engagieren wir nicht, da sie ein Ziel der Terroristen ist. Kinder sind unschuldig, sie müssen aus dem Konflikt herausgehalten werden.
Welche Ansätze und pädagogischen Neuerung haben Sie entwickelt, damit die Kinder weiter lernen können?
Für die 8- bis 12-Jährigen, die nie eingeschult wurden oder die Schule abbrachen, haben wir einen neunmonatigen Schnellkurs entwickelt, nach dem sie direkt in die vierte Klasse wechseln können. Es handelt sich um eine Zusammenfassung der vier ersten Schuljahre, damit Tausende von Kindern überhaupt Zugang zu Bildung erhalten. Um das Verständnis und Lernen zu erleichtern, haben wir einen Lehrmittelkoffer mit 24 Werkzeugen aus lokaler Produktion entwickelt. Die Schülerinnen und Schüler können die Unterrichtsthemen damit sehen und berühren. Im Matheunterricht etwa messen sie mit Holzstangen die Höhe eines Tischs, einer Bank, eines Fensters oder die Distanz zwischen dem Klassenzimmer und einem Baum auf dem Schulhof. Der einst rein theoretische Unterricht ist nun konkreter. Bei allzu formellen Ansätzen verlieren die Kinder ihre Inspiration.
Ist auch das Vermitteln von lokalem Wissen weniger formell?
Ja, wir haben vor Ort vorhandenes Wissen in den Lehrplan aufgenommen. Manche Eltern beklagten sich: «Wir erkennen unsere Kinder nicht mehr!». Sie wollten die Kinder nicht länger zur Schule schicken, weil die Schule ihnen angeblich ihre Werte nicht vermittelt und sie verzieht. Also haben wir mit Viehzüchterinnen, Hirtinnen, Fischern und den Mitgliedern verschiedener Gemeinschaften eine Bestandesaufnahme des Wissens durchgeführt. Sie kommen nun selber in die Klassen und geben ihre Kenntnisse weiter. Die Schülerinnen und Schüler sind begeistert. Die Module wurden vom Staat anerkannt, aber was fast noch wichtiger ist: Die Eltern akzeptieren die Schule und erlauben ihren Kindern, herzukommen.
Für Nomadenkinder aus dem Nigerdelta haben Sie mobile Schulen eingerichtet. Wie funktionieren diese?
Im Jahr 2000 gingen nur zwei Prozent dieser Kinder zur Schule. Die nomadischen Gemeinschaften, die im Lauf der Jahreszeiten ihren Weiden folgen, bleiben zwei, drei Monate im selben Dorf. Während dieser Zeit richten wir dort eine Schule ein. Die Infrastruktur besteht aus lokalen Materialien: Die Felle kommen von den Tuareg, das Stroh von den Bozo und den Fulben. Danach wird die Einrichtung abgebaut, die Lehrerin-nen und Lehrer ziehen mit den Familien und den Kamelen für ein paar Monate weiter an den nächsten Standort. In der Region gibt es inzwischen mehr als 100 mobile Schulen mit Tausenden von Kindern. Der Mädchenanteil ist im Lauf der Jahre stark angestiegen.
Vor welchen Herausforderungen stehen die malischen Schulen?
Zunächst braucht es einen dauerhaften Frieden, der Entwicklung überhaupt erst möglich macht, und dann muss man die Armut reduzieren: Ein hungriger Bauch hat keine Ohren. Anschliessend muss die Grundausbildung der Lehrkräfte überprüft werden. Da der Staat Personen ohne pädagogischen Hintergrund einstellte, um den Lehrermangel zu beheben, hat die Qualität des Unterrichts stark gelitten. Dabei haben die Kinder eine hervorragende Bildung verdient: Ein Kind ist ein Wunder, man muss an seine Gaben glauben.
Interview Zélie Schaller
Zuerst erschienen in: EINE WELT, Nr. 4/2022. www.eine-welt.ch
Wir danken der Deza für die Abdruckgenehmigung.