«Die radikale Zersiedelungsinitiative braucht es nicht»

Interview mit Nationalrat Thomas Egger

Nationalrat Thomas Egger (Bild thk)
Nationalrat Thomas Egger (Bild thk)

Am 10. Februar stimmt die Bevölkerung der Schweiz über die Eidgenössische Volksinitiative «Zersiedelung stoppen – für eine nachhaltige Siedlungsentwicklung» ab. Die Schweiz ist das einzige Land, in dem die Bevölkerung in ausgeprägtem Masse die Möglichkeit besitzt, im eigenen Land die Politik mitzugestalten und direkt auf deren Ausgestaltung Einfluss zu nehmen. (vgl. S. 11) Seit längerer Zeit gibt es jedoch Bestrebungen, dieses Recht und damit die Mitsprache des Volkes einzuschränken. Diejenigen, die die Schweiz näher an die EU heranführen wollen, wissen genau, dass die bestehenden Volksrechte (Initiativ- und Referendumsrecht) mit der zentralistischen, von oben nach unten strukturierten EU nicht kompatibel sind und versuchen daher, die Bedeutung dieser Volksrechte kleinzureden. Diesen Bestrebungen müssen wir Einhalt gebieten. 

Das folgende Interview mit Nationalrat Thomas Egger beleuchtet wichtige Aspekte der Schweizer Raumplanung, die es zu bedenken gilt, wenn am 10. Februar über die Zersiedelungsinitiative abgestimmt wird.

Zeitgeschehen im Fokus Was soll mit der «Zersiedelungsinitiative» erreicht werden?

Nationalrat Thomas Egger Die Initiative verlangt nichts anderes als ein unbefristetes Einfrieren der derzeit in der Schweiz zur Verfügung stehenden Bauzonen. Die Schaffung neuer Bauzonen soll nur noch zulässig sein, wenn anderswo eine mindestens gleich grosse Fläche mit einem ähnlichen landwirtschaftlichen Nutzwert ausgezont wird. Ausserhalb der Bauzonen dürften nur noch standortgebundene Bauten und Anlagen für die bodenabhängige Landwirtschaft bewilligt werden.

Ist es nicht sinnvoll, unserem begrenzten Boden Sorge zu tragen?

Doch. Und dazu hat das Schweizer Stimmvolk sich auch schon ausgesprochen. Denn es hat im Jahr 2013 einer Revision des Raumplanungsgesetzes zugestimmt. Diese Revision hat bereits ein Bauzonenmoratorium eingeführt. Die Revision ist im Mai 2014 in Kraft getreten. Den Kantonen wurde darin Zeit eingeräumt bis maximal Ende April 2019, ihre Richtpläne anzupassen. Solange die Richtpläne nicht angepasst sind, dürfen keine neuen Bauzonen ausgeschieden werden. In den neuen Richtplänen müssen die Kantone aufzeigen, wie gross der Bedarf für die nächsten 15 Jahre ist. 

Worauf stützt sich diese Bedarfsabschätzung?

Sie stützt sich auf die Bevölkerungs- und Wirtschaftsprognosen in den Kantonen. Sie trägt damit der unterschiedlichen Entwicklung in den verschiedenen Kantonen Rechnung. Die meisten Kantone haben ihre Richtpläne inzwischen überarbeitet. Gestützt darauf müssen nun die Gemeinden ihre Zonenpläne anpassen. In Kantonen mit zu grossen Bauzonen müssen diese zurückgezont werden. Der Kanton Wallis muss z. B. rund 1 000 Hektaren Bauland zurückzonen. Die Kantone und Gemeinden nehmen den Auftrag der Raumplanungsrevision also durchaus ernst. Diese Revision sieht auch vor, dass sich die Siedlungen vermehrt nach innen entwickeln sollen, also beispielsweise Baulücken geschlossen werden. Die Grundanliegen der Zersiedelungsinitiative sind damit schon längst aufgenommen, die Kantone und Gemeinden sind an der Umsetzung. 

Welche Punkte der Initiative sind fragwürdig und nicht zielführend?

Die Initiative ist viel zu radikal. Sie friert die Bauzonen auf ewige Zeiten auf dem heutigen Stand ein. Sie lässt damit keine Entwicklung mehr zu. Laut Prognosen wird die schweizerische Bevölkerung bis ins Jahr 2040 auf rund 10 Millionen Menschen anwachsen. Dieses Wachstum ist eine Folge der positiven wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz. In den bestehenden Bauzonen hat es zwar noch Platz für einen Teil dieses Bevölkerungswachstums, diese Reserven sind aber nicht immer am richtigen Ort. 

Was bedeutet das?

Die Folgen des radikalen Bauzonenmoratoriums der Initiative wären dann noch mehr Zersiedelung und Pendlerverkehr, also genau das Gegenteil von dem, was die Ini­tiative eigentlich will. Durch die Verknappung des Bodens würden zudem die Wohnungspreise in die Höhe schnellen. Dabei haben wir schon jetzt vor allem in den urbanen Zentren exorbitante Wohnungspreise. Auch die Wirtschaft würde massiv gehemmt durch die neuen Bestimmungen. 

Inwiefern?

Ein Betrieb kann sich unter Umständen nicht mehr am angestammten Standort weiter entwickeln, weil er keinen Platz mehr hätte. Ein weiterer offener Punkt: Die Initiative lässt die Möglichkeit offen, neues Bauland einzuzonen, wenn gleichzeitig Bauland in die Landwirtschaftszone zurückgezont wird. Eine derartige Kompensation ist schon innerhalb einer Gemeinde schwer zu bewerkstelligen, wenn unterschiedliche Eigentümer betroffen sind. Wie dies aber sogar über die Gemeinde- oder Kantonsgrenzen hinweg geschehen soll, ist im Moment völlig offen und würde zu massiven Vollzugsproblemen führen. 

Inwieweit werden die Forderungen bereits durch die Zweitwohnungsinitiative erfüllt? 

Die Zweitwohnungsinitiative wirkt vor allem in den Berggebieten, zunehmend aber auch in den Städten. So haben Städte wie Bern, Freiburg und Nyon knapp 20 % Zweitwohnungsanteil. Die Zweitwohnungsinitiative hat in den Berggebieten zu einem radikalen Baustopp geführt. Weitere einschränkende Massnahmen braucht es für die Tourismusgemeinden definitiv nicht. Das Stichwort Zweitwohnungsinitiative ist aber auch in einer anderen Hinsicht wichtig: Die Zweitwohnungsinitiative schlug eine vermeintlich einfache Lösung für die Zweitwohnungsthematik vor, nämlich eine Quote von 20 %. Es zeigte sich dann aber, dass die Umsetzung dieser vermeintlich einfachen Lösung unzählige Fragen und Probleme aufwarf, die zum Teil bis heute nicht gelöst sind. 

Ist das bei der Zersiedelungsinitiative auch so?

Es verhält sich ähnlich. Sie schlägt mit dem absoluten Bauzonenstopp eine vermeintlich einfache Lösung vor, wird aber für die Umsetzung unzählige Probleme schaffen. Eine Frage ist nur schon, ab wann diese Initiative greift. Ist sie unmittelbar anwendbar wie damals die Zweitwohnungsinitiative, so wird sich eine lange Phase der Rechtsunsicherheit einstellen, bis über die Ausführungsgesetzgebung die Details geregelt und die offenen Fragen geklärt sind. 

Welche Folgen hat die Initiative für die Berggebiete?

Die Berggebiete wären wie alle anderen Regionen unmittelbar betroffen vom Bauzonenmoratorium. Es könnte kein Bauland mehr eingezont werden. Für die Berggebiete wichtig sind aber auch die Bestimmungen zu den Bauten ausserhalb der Bauzonen. Der Ini­tiativtext sieht vor, dass bestehende Bauten und Anlagen ausserhalb der Bauzonen nur noch «geringfügig» erweitert und «geringfügig» umgenutzt werden können. Damit müssten die Bestimmungen im Raumplanungsgesetz zum Bauen ausserhalb der Bauzonen erneut angepasst werden, und die etablierte Rechtspraxis würde durch die unbestimmten Begriffe über den Haufen geworfen. Aus dem Initiativkontext geht klar hervor, dass die neuen Bestimmungen im Raumplanungsgesetz noch restriktiver umgesetzt werden müssten, als es bereits heute der Fall ist.  

Welche Bedeutung hat das für landwirtschaftliche Betriebe?

Die Landwirtschaft und auch der Tourismus würden durch die Initiative massiv eingeschränkt. Die Initiative will in der Landwirtschaftszone bodenunabhängige Produktionsformen verbieten. Gewächshäuser wären nicht mehr zulässig. Auch eine Fischzucht oder eine Geflügelmast wäre in der Landwirtschaftszone nicht mehr erlaubt. Die Initiative würde somit die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft weiter einschränken und widerspricht damit dem neuen Verfassungsartikel über die Ernährungssicherheit, welchen das Schweizer Stimmvolk im September 2017 mit fast 80 % Ja-Stimmen angenommen hat. 

Inwiefern wäre der Tourismus davon betroffen?

Für den Tourismus würde die Ini­tiative massive Einschränkungen mit sich bringen. Denn bei einer Annahme der Initiative dürften ausserhalb der Bauzonen nichtlandwirtschaftliche Bauten und Anlagen nur noch bewilligt werden, wenn sie im öffentlichen Interesse liegen. Eine SAC-Hütte, ein Bergrestaurant und ein Skilift gehören wohl nicht dazu. Die dringend notwendige Weiterentwicklung des touristischen Angebots würde damit verunmöglicht.

Was wären geeignete Massnahmen, unseren wertvollen Boden zu schützen?

Die Massnahmen wurden bereits ergriffen. Es handelt sich um die laufende Revision des Raumplanungsgesetzes mit der Einschränkung des Siedlungswachstums und der Siedlungsentwicklung nach innen. Für den Erhalt des landwirtschaftlichen Bodens wurde zudem zusammen mit den Kantonen ein stärkerer Schutz der sogenannten Fruchtfolgeflächen – also der besten Landwirtschaftsflächen – aufgegleist. Dieser ist derzeit in der Vernehmlassung. Ebenfalls aufgegleist ist eine zweite Teilrevision des Raumplanungsgesetzes mit neuen Regeln zum Bauen ausserhalb der Bauzonen. 

Hat der Bund hier angemessen gehandelt?

Ja, man darf also zu Recht sagen, dass die Raumplanungspolitik des Bundes bereits etliche Mass­nahmen eingeleitet hat. Diese Massnahmen sind jeweils so ausgestaltet, dass sie im Gegensatz zur Zersiedelungsinitiative den geltenden Kompetenzen von Bund, Kantonen und Gemeinden Rechnung tragen. Diese Massnahmen müssen nun umgesetzt werden. Die radikale Zersiedelungsini­tiative braucht es dazu nicht auch noch. Im Gegenteil, sie würde mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen. Sie muss deshalb am 10. Februar 2019 entschieden abgelehnt werden. 

Herr Nationalrat Egger, vielen Dank für das Interview.

Interview Thomas Kaiser

«Hauptaufgabe der Vereinten Nationen ist es, dem Frieden zu dienen, ihn zu verteidigen und dauerhaft zu sichern»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Vor welchen Aufgaben in Bezug auf eine friedlichere Welt stehen wir im Jahr 2019?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Man muss zum Multilateralismus zurückkehren. Der Alleingang der Vereinigten Staaten, der EU oder der Nato gefährdet den Weltfrieden und ist mit der Uno-Charta und mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nicht kompatibel. Wenn wir den Frieden sichern wollen, müssen wir Konflikten vorbeugen, indem wir die richtigen Prioritäten setzen – Frieden, Recht auf Nahrung, Recht auf Wasser, Selbstbestimmungsrecht, Recht auf Heimat.

Was wäre hier zu tun?

Wenn kein Frieden herrscht, kann man die meisten Menschenrechte nicht ausüben.

Die Uno-Abrüstungskonferenz in Genf muss wiederbelebt werden. Man behauptet, Sozialrechte seien zu teuer, aber man verschwendet Milliarden für Waffen. Man spricht von Finanzkrisen, aber diese liessen sich auch leichter lösen, wenn die Länder ihren militärischen – vor allem ihren nuklearen – Etat erheblich kürzen würden. Der militärisch-industrielle-finanzielle Komplex muss abgebaut werden.

Sie haben mehrmals die Uno angesprochen. Was müsste sie hier tun?

Hauptaufgabe der Vereinten Nationen, des Generalsekretärs António Guterres und der Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, ist, dem Frieden zu dienen, ihn zu verteidigen und dauerhaft zu sichern. Gefahren gibt es genug. Das ständige Säbelrasseln der USA gegen Russ­land, Iran, China und Venezuela destabilisiert die Welt. Diese Drohungen sind nicht nur besorgniserregend – sie sind völkerrechtswidrig, denn Artikel  20 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte verbietet Kriegspropaganda und Artikel 2(4) der Uno-Charta verbietet nicht nur die Ausübung von Gewalt – sondern auch schon deren Androhung.

Wie können diese Auswüchse gestoppt werden?

Die Uno muss den Dialog zwischen allen Parteien fördern. Man muss mit Finanzblockaden und unilateralen Sanktionen Schluss machen. Militärische Interventionen und erzwungener «regime change» müssen von der Staatengemeinschaft deutlich und konsequent verworfen werden. Ferner sollen die Verantwortlichen vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag kommen. Der ist zwar wenig glaubwürdig, wenn die grossen Verbrecher wie Tony Blair, George W. Bush, Donald Rumsfeld, Recep Erdoğan, Benjamin Netanjahu, König Salman von Saudi-Arabien, Mohammed bin Salman und andere nicht belangt werden. Aber wir haben ihn, und er sollte auch gegenüber westlichen Kriegsverbrechern und nicht nur gegen Afrikaner aktiv werden.

An welche Kriegsverbrechen denken Sie?

Zum Beispiel 1999 im Krieg gegen Jugoslawien, 2003 im Krieg gegen den Irak zusammen mit der «Koalition der Willigen». Das waren 43 Staaten, die sich hier beteiligt hatten. Hier konstatieren wir eine regelrechte Revolte gegen das Völkerrecht, das bewusste Verwerfen des Nürnberger Urteils und der Nürnberger Prinzipien – begangen nicht allein durch die Vereinigten Staaten und Grossbritannien, sondern von mehr als 40 anderen Staatsoberhäuptern. Die allgemeine Verwendung von verbotenen Waffen, wie Cluster Bombs, White Phosphorus, Uranmunition, Drohnen usw. – hier sind Kriegsverbrechen in grossem Ausmass begangen worden, unter anderem Bombardierung von Zivilisten und Zerstörung von Kulturgütern – Namen wie Basra, Falludja, Mosul, Guantanamo dürfen nicht vergessen werden. Ferner kennen wir die Verbrechen gegen die Palästinenser in Gaza und im besetzten Palästina, im Libanon, in Libyen, in Syrien und im Jemen.

Wo müsste die Uno dringend eingreifen?

Überall, wo Gewalt angewendet wird. Sicherlich im Jemen, in Syrien, Gaza, Palästina und der Ukraine. Dabei muss man die Ursachen der Kriege erforschen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Man darf nicht nur an die Zentralafrikanische Republik, Kongo, Mali usw. denken. Kriege in diesen Ländern werden nicht in Atomkriege ausarten. Aggressionen gegen den Iran könnten wohl zum Dritten Weltkrieg führen. Prävention ist unerlässlich.

Wie könnte die Friedenssicherung der Uno erfolgreich sein?

Die Uno ist die Organisation der 193 Mitgliedstaaten. António Guterres kann den Frieden ohne die Kooperation der Staatengemeinschaft nicht sichern. Manche Staaten beschweren sich darüber, dass die ständigen Mitglieder das Vetorecht im Sicherheitsrat haben. Ich sage: Gott sei Dank gibt es das «Veto» – sonst würde die Uno zu einer kriegsführenden Organisation korrumpiert werden – und wäre keine friedensstiftende Organisation mehr. Der skandalöse Missbrauch der Resolution 1973 durch Frankreich und andere Nato-Staaten vom 17. März 2011 über «humanitäre Hilfe» für die libysche Bevölkerung beweist, dass Russland oder China das Veto hätten einlegen sollen, anstatt sich bloss der Stimme zu enthalten. Denn anstatt Frieden zu stiften, wurde mit Genehmigung der Uno Libyen ins Chaos gestürzt.

Welche Rolle könnte hier der Menschenrechtsrat konkret spielen?

Der Menschenrechtsrat sollte dem Büro des Hochkommissars für Menschenrechte bessere Prioritäten setzen, vor allem müsste er eine konstruktivere Kooperation der Staaten fördern und entsprechend finanzieren. Man betreibt zu viel «Dämonisierung» von Staaten, anstatt ihnen zu helfen, ihre Probleme zu lösen. Die Praxis des «naming and shaming» war und bleibt kontraproduktiv.

Welche Schwerpunkte sollte die Hochkommissarin für Menschenrechte, Frau Bachelet, ins Auge fassen?

Alle Aspekte der Friedensförderung stärken, nach den Ursachen von Konflikten suchen, präventiv wirken. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat die richtige Philosophie – si vis pacem, cole justitiam – wenn wir Frieden wollen, so müssen wir die soziale Justiz sichern. Man muss viel mehr tun im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, vor allem im Bereich der Erziehung – Ausbildung vom Kindergarten bis zur Universität –, und zwar ohne Diskriminierung. Man braucht eine Erziehung im Geiste der Menschenrechte und über das Menschenrecht auf Frieden. Ferner muss den Steuerparadiesen und der Ausbeutung durch die multinationalen Konzerne bzw. transnationalen Gesellschaften ein Stopp gesetzt werden. Söldner und sogenannte «private security companies» müssen strafrechtlich verfolgt werden. Ausserdem muss man die Religionsfreiheit besser schützen. Die Verfolgung der Christen in vielen Staaten droht bereits ein Völkermord zu werden.

Auf welche Menschenrechte muss heute besonderes Augenmerk gelegt werden?

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist eine zentrale Norm des Völkerrechts und der Menschenrechte. Die Realisierung dieses Rechtes ist eben eine effektive präventive Massnahme, um Konflikte zu vermeiden. Es gibt noch Hunderte von Völkern auf der Welt, denen die Selbstbestimmung verweigert wird, und dies kann in lokale, regionale oder internationale Kriege ausarten. Nur wenn die Völker ihre eigene Zukunft gestalten können, werden wir dauerhaften Frieden haben.

Wie schätzen Sie die allgemeine Weltlage ein?

Eigentlich sehr gefährlich. Die Nato bietet keine Lösung – sie ist ein Teil des Problems. Man muss endlich Russland und China als gleichberechtigte Partner ansehen und sie nicht hochmütig diffamieren und provozieren. Das Russ­land-, China-, und Iran-Feindbild sind künstlich – man hat diese Länder willkürlich zu Feinden erklärt. Wir im Westen müssen uns im Spiegel anschauen.

Was müsste sich auf politischer Ebene ändern, damit ein friedliches Zusammenleben der Völker nicht nur Utopie bleibt?

Demokratien leben von authentischer Volksbeteiligung. Die Völker müssen konsultiert werden – und dies bedarf umfassender Informationen. Unsere Medien aber lügen und manipulieren. Die Medien verbreiten Pseudo-Nachrichten, selektive Nachrichten usw. Nur wenn die Bürger uneingeschränkten Zugang zu wahrhaftigen Informationen bekommen, haben wir eine Chance, den Frieden zu bewahren. Aber die Medien machen mit – nichts ist lukrativer als das Waffengeschäft – und für manche Länder sind Kriege auch sehr lukrativ.

Papst Franziskus hat sich in seiner Friedensbotschaft Urbi et Orbi zum Krieg in Syrien geäussert.

Ja, er hat für die Rückkehr der syrischen Flüchtlinge plädiert. Er forderte die internationale Gemeinschaft auf, sich entschieden für eine politische Lösung im Syrienkonflikt einzusetzen, damit die Flüchtlinge zurückkehren und in Frieden in ihrem Staat leben können. Eine Lösung des schon seit bald 8 Jahren andauernden Konflikts ist dringend nötig und möglich. Hätte man von Anfang an auf eine Lösung im Dialog gesetzt, wäre es nie zu einem Krieg in diesem Ausmass gekommen. Doch die kriegstreibenden Kräfte – der Westen, Saudi-Arabien, die Türkei und Israel – hatten den schnellen Umsturz in Libyen vor Augen und dachten, man könne das in Syrien wiederholen. Diese Rechnung ist nicht aufgegangen und hat Hunderttausende von unschuldigen Opfern hinterlassen.

Sie sind seit einigen Monaten Schweizer. Was kann die Schweiz als neutraler und direktdemokratischer Kleinstaat zur Friedenssicherung beitragen?

Sehr viel. Die Schweiz muss als erstes ihre Neutralität bewahren und sich vor allem von der Europäischen Union und der Nato fernhalten. Die Schweiz kann sich intensiver im Menschenrechtsrat, in der Generalversammlung, im ECOSOC¹ einsetzen und ihre Mediationsdienste anbieten. Obwohl die drei Grundprinzipien der EU positiv zu beurteilen sind – Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte – werden diese Prinzipien tagtäglich von Brüssel unterminiert. Es gibt keine echte Demokratie, in der die Völker direkte Mitsprache haben. Direkte Demokratie wie in der Schweiz gibt es schon gar nicht. Das wäre auch mit der EU, wie sie heute konzipiert ist, unvereinbar. Das muss sich vor allen die Schweiz merken.

Die Schweiz sollte also bei ihren Wurzeln bleiben?

Die Schweiz muss das Beispiel der direkten Demokratie bleiben, an dem sich andere Staaten orientieren können. Man kann die direkte Demokratie natürlich nicht einfach so übernehmen, sondern jeder Staat muss das mit seiner eigenen Bevölkerung entwickeln, eben direktdemokratisch und nicht von oben nach unten. Unter keinen Umständen darf die Schweiz ihre Souveränität und Unabhängigkeit gefährden. Aufgrund der Neutralität ist die Schweiz prädestiniert für Friedensverhandlungen. Sie kann als neutraler Staat konkret zum Frieden beitragen, indem sie sich nicht auf die eine oder andere Seite stellt. Nur durch dieses Prinzip können Verhandlungen erfolgreich sein. Einen neutralen Ort für Friedensverhandlungen braucht es dringender denn je.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Interview.

Interview Thomas Kaiser

¹ ECOSOC: Wirtschafts- und Sozialrat der Uno. Der Wirtschafts- und Sozialrat (Economic and Social Council, ECOSOC) ist gemäss Art. 7 der Charta der Vereinten Nationen eines der sechs Hauptorgane der Uno.

 

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

Art. 20

(1) Jede Kriegspropaganda wird durch Gesetz verboten.

(2) Jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz verboten.

Charta der Vereinten Nationen

Art. 2

(4) Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.

«Iran hat Vorschläge unterbreitet, mit den USA und mit Israel Frieden zu schliessen»

von Matin Baraki*

Würden die USA einen Krieg gegen Iran führen, wird das in diesem strategisch wichtigen Land am Golf Chaos und Zerstörung wie in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien zur Folge haben. Darüber hinaus würde ein Krieg gegen Iran die gesamte Region nicht nur destabilisieren, sondern möglicherweise in Flammen setzen.

Im April 2017 rief US-Präsident Donald Trump den Verteidigungsminister James Mattis an und verlangte, den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad «verdammt nochmal zu töten».¹

Imperialstrategie der USA für Eurasien

Die Region um Iran ist wohl einer der bedeutendsten Konfliktherde im 21. Jahrhundert. Der Kalte Krieg, den die Vereinigten Staaten von Amerika gegen Iran führen, ist in erster Linie mit der geostrategischen Bedeutung des Landes zu erklären. Vorrangig geht es in diesem Raum um die Rohstoffe Erdöl und Erdgas. Zudem ist von Iran aus die gesamte Region – Mittelasien, der Kaukasus, der Nahe und Mittlere Osten sowie Russland – erreichbar. Die USA verfolgen insbesondere seit dem Ende der Sowjetunion mit grossem Interesse die Entwicklung auf dem Gebiet des Rohstoffsektors in und um Iran, im Kaukasus sowie in Zentralasien. Der Staatssekretär im U.S. State Department, Stuart Eizenstat, hob 1997 vor dem US-Kongress hervor, dass «das Kaspische Meer potenziell eine der wichtigsten neuen energieproduzierenden Regionen der Welt»² ist. Der Globalstratege Zbigniew Brzezinski hat das ökonomische Interesse der USA an diesem Raum unmissverständlich formuliert: Wir wollen «ungehinderten Zugang zu dieser dem Westen bisher verschlossenen Region»³ haben! Er bezeichnete die Region als «Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird.»⁴ Brzezinski beruft sich ohne Skrupel auf Hitler und dessen Ansicht, «dass Eurasien der Mittelpunkt der Welt sei und mithin derjenige, der Eurasien beherrsche, die Welt beherrsche.»⁵ Nach seiner Einschätzung ist «eine Dominanz auf dem gesamten euroasiatischen Kontinent noch heute die Voraussetzung für eine globale Vormachtstellung»⁶ der USA. Brzezinski kommt zu dem Schluss, dass das erste Ziel der US-Aussenpolitik darin bestehen müsse, «dass kein Staat oder keine Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen.»⁷ Um diesem Anspruch Geltung zu verschaffen, wurde schon 1997 durch US-Aussenministerin Madeleine Albright die gesamte Region um Mittelasien und Südkaukasus «zur geostrategischen Interessenszone der USA deklariert.»⁸ Iran war stets Bestandteil dieser Strategie, die unter dem US-Demokraten Bill Clinton entwickelt und von den Neokonservativen um Cheney und Bush umgesetzt wurde.

Die Anschläge des 11. September 2001 wurden dann zum Anlass des Krieges zunächst gegen Afghanistan, obwohl dieser schon 18 Monate vorher noch unter US-Präsident Clinton geplant war. Ende September 2006 gab er zu, einen Krieg zunächst gegen Afghanistan geplant zu haben.⁹ Erst im Juni 2001 hatte dann die Bush-Administration ihren regionalen Verbündeten Pakistan über solche Pläne informiert, wie der damalige Aussenminister Pakistans Naiz Naik bestätigte.10

Der Krieg gegen Afghanistan war der Auftakt des militärischen Eroberungskurses der USA in neuer Dimension. Sowohl dieser Krieg als auch der gegen Irak waren Bestandteil der als «Greater Middle East Initiative» (GME) bezeichneten Strategie der Neokonservativen in den USA. Wären die USA in Irak halb so erfolgreich gewesen wie zu Beginn in Afghanistan, hätten sie schon längst Iran, Syrien, Jemen und andere Länder der Region überfallen.

Atomstreit zwischen USA und Iran

Es ist fast in Vergessenheit geraten, dass der Grundstein des iranischen Atomprogramms mit US-amerikanischer Hilfe gelegt wurde. Im Jahre 1959 war der Universität Teheran im Rahmen des Atoms for Peace-Programms von US-Präsident Dwight D. Eisenhower ein Forschungsreaktor geschenkt worden. 1967 wurde aus den USA ein weiterer Forschungsreaktor (Leichtwasserreaktor) mit einer Leistung von 5 Megawatt geliefert und im Tehran Nuclear Research Center (TNRC) in Betrieb genommen. Der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger sagte 1973, dass es gut wäre, wenn Iran Atomenergie nutzen würde, damit die USA von dort billiges Öl geliefert bekommen.

Am 1. Juli 1968 unterzeichnete die iranische Regierung den Atomwaffensperrvertrag, der nach der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde bei den Signatarstaaten am 5. März 1970 für den Iran in Kraft trat.11 Signatarstaaten haben dem Vertrag zufolge das Recht, Kernenergie ausschliesslich für zivile Zwecke einzusetzen. Iran hat sich strikt an diese Regeln gehalten. 1975 unterzeichnete der amerikanische Aussenminister Henry Kissinger das National Security Decision Memorandum 292 zur amerikanisch-iranischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Nukleartechnologie. Es sah den Verkauf von Nukleartechnik im Wert von über 6 Milliarden US-Dollar an Iran vor. Bis in die 1970er Jahre wurden zwischen den USA und Iran diesbezüglich mehrere Abkommen abgeschlossen. Im Jahre 1976 wurde Iran angeboten, eine Anlage zur Extraktion von Plutonium von den USA zu kaufen und zu betreiben. Die Vereinbarung bezog sich auf einen kompletten Nuklearkreislauf. Im Oktober 1976 wurde dieses Angebot von Präsident Gerald Ford zurückgezogen. Da die Verhandlungen mit den USA nicht zum Abschluss gebracht werden konnten, waren es dann westdeutsche Unternehmen, namentlich die Kraftwerk-Union AG, die 1974 einen Vertrag über den Bau des ersten iranischen Kernkraftwerks nahe der Stadt Buschehr abschlossen.12

Schon zu Zeiten von US-Präsident Bill Clinton galten Nordkorea, Iran und Irak als «Schurkenstaaten». Sein Nachfolger George W. Bush nannte sie im Januar 2002 «Achse des Bösen», die den «Weltfrieden bedrohten».13 Erst nach dieser «Einstufung» nahm Iran die Forschung zur militärischen Nutzung der Atomenergie auf. Als der damalige Ministerpräsident Indiens, Atal Bihari Vajpayee, in einem Spiegel-Interview gefragt wurde, warum Indien die Atombombe gebaut habe, fragte er den Journalisten: «Wäre Jugoslawien von der Nato angegriffen worden, wenn das Land die Atombombe gehabt hätte?»

Iran zog aus dem Krieg gegen Jugoslawien den Schluss, dass zum eigenen Schutz die atomare Bewaffnung seiner Streitkräfte notwendig ist. Experten gehen davon aus, dass Iran selbst dann, wenn man ihn in Ruhe forschen lassen würde, mindesten 13 Jahre bräuchte, um Atombomben bauen zu können.

Internationale Atomverhandlungen mit Iran

Im Juli 2016 wurde in Wien ein umfassendes Abkommen verkündet, mit dem der seit 13 Jahren schwelende Atomstreit mit Iran beendet wurde. Dies haben auf einer Pressekonferenz die EU-Aussenbeauftragte Federica Mogherini und der iranische Aussenminister Dschawad Zarif in der UN-City in Wien bekannt gegeben. Das sei ein Zeichen der Hoffnung für die ganze Welt, sagte Mogherini unmittelbar vor der formalen Verabschiedung des Abkommens durch die beteiligten Staaten. «Wir starten ein neues Kapitel der Hoffnung», betonte Zarif. Er sprach von einem historischen Moment. Die Verhandlungen wurden 13 Jahre lang von einer internationalen Sechsergruppe, den Vereinigten Staaten, Russland, der VR China, Grossbritannien, Frankreich und Deutschland mit Iran geführt. Durch das Abkommen sollte das iranische Atomprogramm so eingeschränkt werden, dass sich das Land nicht heimlich oder schnell das Material zum Bau von Atomwaffen verschaffen könne. Im Gegenzug sollten die Wirtschaftssanktionen gegen das Land aufgehoben werden.14 Bekanntlich ist das Gegenteil eingetreten. Die Sanktionen wurden seitens der USA sogar weiter verschärft, obwohl sich Iran strikt an alle Vereinbarungen gehalten hat. Dies bestätigte die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) «insgesamt elfmal seit Mitte 2015, als das Atomabkommen unterzeichnet wurde».15 Die IAEA konnte jederzeit und unangemeldet die iranischen Atomanlagen inspizieren. Selbst die USA-Geheimdienste attestierten mehrfach, dass Iran alle Auflagen erfüllen würde.

Von den Sanktionen sind nicht nur Iran und Europa sondern die ganze Welt betroffen. «Die USA haben mit schierer Macht die Herrschaft des Unrechtes über Europa [und die Welt] etabliert. Denn die Sanktionen sind flagrant illegal»16, weil die internationalen und europäischen Unternehmen nicht US-amerikanischer Rechtssprechung unterliegen. Der Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier ist jedoch «notorisch knieweich.»17 Er hätte die deutschen Firmen schützen müssen. Auch die Politiker in Brüssel, «ansonsten notorisch geschwätzig», schweigen dazu. «Sie haben den Nacken gebeugt»18, kommentiert der Chefredakteur vom «Stern», Hans-Ulrich Jörges.

Nun scheint es, dass die Repräsentanten der Europäischen Union (EU) sich doch zutrauen, durch gezielte Massnahmen auf verschiedene Weise US-Sanktionen gegen Iran zu umgehen. Zum Beispiel wird durch ein altes Abwehrgesetz (Blocking Statute) europäischen Unternehmen die Teilnahme an solchen Sanktionen versagt. Darüber hinaus sollen sie sogar auch noch für mögliche Verluste in den USA entschädigt werden. Die entscheidende Frage bleibt jedoch, ob diese Massnahmen wirksam sein können. Fast alle grossen europäischen Konzerne haben sich schon längst aus dem Iran-Geschäft zurückgezogen. Für sie ist der USA-Markt viel wichtiger als der iranische. Es ist aber wahrscheinlich, dass mittelständische oder Staatsbetriebe die neue Zweckgesellschaft – eine Bank – in Anspruch nehmen werden, weil sie am US-Geschäft nicht so stark beteiligt sind.19 Am Rande der UN-Vollversammlung erklärte die EU-Aussenbeauftragte Federica Mogherini am 25. September 2018 gemeinsam mit dem iranischen Aussenminister Mohammed Dschawad Sarif, dass die EU eine Zweckgesellschaft, nämlich eine Bank, gründen werde, um den Zahlungsverkehr mit Iran aufrechtzuerhalten. Damit sollen US-Sanktionen gegen Iran umgangen werden. Die Zweckgesellschaft solle auch «anderen Partnern in der Welt»20 offen stehen, betonte Mogherini. Diese soll Iran die Abwicklung seiner Geschäfte in harten Devisen ermöglichen. Damit soll sichergestellt werden, dass Firmen aus der EU Geld für Lieferungen nach Iran erhalten können. Ebenfalls bekräftigten die Aussenminister Frankreichs, Grossbritanniens, Deutschlands sowie Russlands und Chinas bei einem Treffen mit ihrem Amtskollegen Sarif, sie wollten die «Freiheit wirtschaftlicher Akteure garantieren, legitime Geschäfte mit Iran zu machen».21

Si-o-se-pol (33-Bogen-Brücke) in Isfahan, Unesco-Weltkulturerbe (Bild ak)

Si-o-se-pol (33-Bogen-Brücke) in Isfahan, Unesco-Weltkulturerbe (Bild ak)

 

Regime Change in Iran?

Das internationale Atomabkommen ist der israelischen und der saudiarabischen Regierung ein Dorn im Auge. Hätte der ehemalige US-Präsident Barack Obama grünes Licht gegeben, hätte die israelische Luftwaffe schon längst die Atomforschungsanlagen Irans zerstört. Der junge, unerfahrene und emotional agierende saudische Kronprinz Mohammad bin Salman rief offen die USA dazu auf, «den Kopf der Schlange», womit Iran gemeint ist, abzuschlagen.22 Nun hat US-Präsident Donald Trump mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und dem saudischen Kronprinzen Salman weitere Befürworter eines Regime Change sogar in seine Administration aufgenommen. Mit John Bolton als nationalem Sicherheitsberater und Mike Pompeo als Aussenminister sind radikale Verfechter für einen iranischen Regime Change in Schlüsselposition ins Weissen Haus eingerückt. Die Annahme der Trump-Administration, dass durch Wirtschaftssanktionen der Druck auf die iranische Bevölkerung zunehmen würde und damit ein Regime Change von innen erfolgen würde, ist nicht nur naiv, sondern auch gefährlich. Der Krieg, den Saddam Hussein in den 1980er Jahren mit US-Unterstützung gegen Iran begonnen hatte, stabilisierte seinerzeit ein in einer tiefen Krise steckendes Mullah-Regime. Bei einer Intervention von aussen würden sich die iranischen Völker zusammenschliessen. Ausserdem wissen die Iraner genau, dass die Kriege der Vereinigten Staaten gegen Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien Chaos und Zerstörung in diesen Ländern brachten. Darüber hinaus würde ein Krieg gegen Iran die gesamte Region nicht nur destabilisieren, sondern möglicherweise in Flammen ersticken.

Die bevorstehende und endgültige Zerschlagung der mit USA, Saudi-Arabien und anderen arabischen Scheichtümern verbündeten Islamisten in Syrien ist die grösste Niederlage des US-Imperialismus nach dem Vietnamkrieg. Dies hat die Trump-Administration Iran nicht verziehen, da neben Russland als Hauptakteur auch Iran bei der Zerschlagung der islamistisch orientierten Gegner der syrischen Regierung eine wichtige Rolle gespielt hat. Da im Weissen Haus Irrationalität vorherrschend ist, könnte es sein, dass US-Präsident Donald Trump23 Iran bombardieren lässt, um die bevorstehenden Kongresswahlen zu gewinnen, meinte der USA-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGPA), Josef Braml.24

Eine Lösung ist möglich – ist sie auch gewollt?

«Die Existenz Israels wird von niemandem in unserer Region bedroht. Sollte jemand Israels Existenz bedrohen, würde dieser Staat, der versucht Israel zu bedrohen, innerhalb von 24 Stunden nicht mehr existieren», so Prof. Dr. Moshe Zuckermann, an der Universität Tel Aviv.25 Die iranische Regierung und der oberste geistliche Führer Irans, Ayatollah Khamenei, haben immer wieder Vorschläge unterbreitet, mit den USA und mit Israel Frieden zu schliessen, was beide Seiten bisher kategorisch ablehnen. Die internationale Gemeinschaft muss die Kriegstreiber dazu zwingen, die Friedensangebote Irans anzunehmen und am Verhandlungstisch zu erscheinen, um die Konflikte zu lösen. 

*Matin Baraki ist ein deutsch-afghanischer Politikwissenschaftler und Dolmetscher. Er studierte in Kabul Pädagogik und arbeitete als Lehrer. 1974 ging er in die BRD und promovierte 1995 an der Philipps-Universität Marburg. Danach nahm er als Politikwissenschaftler Lehraufträge an den Universitäten Marburg, Giessen, Kassel, Münster und der FH-Schule Fulda wahr. 

 

Quelle: International. Die Zeitschrift für internationale Politik. IV/2018

¹ Schreibt die Reporterlegende Bob Woodward in seinem neuesten Buch. Zitiert nach: Cassidy, Alan: Ein Buch, das Angst macht. In: Süddeutsche Zeitung (SZ), 06.09.2018, S. 7.

² Eizenstat, Stuart: Aussage vor dem Unterausschuss für internationale Wirtschaftspolitik, Export und Wirtschaftsförderung des Senate Foreign Relations Committee, 23.10.1997. Zitiert nach: Garnett, Sherman W. u.a.: Der Kaspische Raum vor den Herausforderungen der Globalisierung. Opladen 2001, S. 54.

³ Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Weinheim 1997, S. 203.

⁴ Ebenda, S. 16.

⁵ Ebenda, S. 16.

⁶ Ebenda, S. 64

⁷ Ebenda, S. 283

⁸ Barth, Peter: Der Kaspische Raum zwischen Machtpolitik und Ölinteressen. München 1998, S. 5

⁹ Vgl. Leyendecker, Hans: Ich habe es versucht. In: Süddeutsche Zeitung (SZ), 25.9.2006, S. 2; Uwe Schmitt: Bush veröffentlicht Teile des Geheimberichtes über Terror. In: Die Welt, 28.9.2006, S. 7

10 Vgl. Hahn, Dorothea: Vergebliche Suche nach der «goldenen Brücke». In: TAZ, 3./04.11.2001. Nach dem 11. September hat der Stellvertreter des damaligen US-Aussenministers Colin Powell, Richard Armitage, dem pakistanischen Geheimdienstchef gedroht, sein Land «in die Steinzeit zurückzubomben», sollte die Regierung in Islamabad nicht mit den USA zusammenarbeiten. 

Matthias Rüb: Karzai und Musharraf streiten weiter. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 28.09.2006, S. 9

11 Vgl. PT (Iran [Islamic Republic of]) un.org: Iran (Memento vom 8. Juli 2012 im Webarchiv archive.is)

12 Vgl. Gholam Reza Afkhami: The life and times of the Shah. University of California Press, 2009, S. 354

13 Vom «Schurkenstaaten» zur «Achse des Bösen». In: Stern, 30.1.2002. www.stern.de/politik/ausland/george-w--bush-von--schurkenstaaten--zur--achse-des-boesen--3376168.html

14 Vgl. Löwenstein, Stephan: Ein Zeichen der Hoffnung für die ganze Welt. In: FAZ, 14.07.2016. www.faz.net/aktuell/politik/ausland/atomverhandlungen-im-iran-historisches-abkommen-13701607.html

15 Lüders, Michael: USA wollen den Iran wirtschaftlich in die Kapitulation zwingen. Deutschlandfunk, 01.08.2018, (Interview)

16 Jörges, Hans-Ulrich: Die Unterwerfung. In: Stern, 23.08.2018, S. 16

17 Ebenda.

18 Ebenda

19 Vgl. Die iranische Führung warnt vor Armut. In: FAZ, 05.10.2018, S. 19

20 Krüger, Paul-Anton: Handel auf Umwegen. In: SZ, 26.09.2018, S. 2

21 Ebenda

22 Seit einigen Monaten sind in der iranischen ölreichen Grenzregion Khuzestan, in der die Mehrheit der iranischen Araber lebt, Proteste und Terroranschläge zu beobachten. Die mit Iran verfeindeten Nachbarn, besonders Saudi-Arabien, nutzen die Unzufriedenheit unter den Minderheiten, um das Land zu destabilisieren. Der saudische Kronprinz Muhammad Bin Salman hat im Mai 2017 angekündigt, dass der Kampf gegen Iran in Iran stattfinden werde. Auch die US-Administration setzt nun auf diese Art von Regime Change. Vgl. Terror in Iran. In: FAZ, 24.09.2018, S. 2 und 8.

23 «Trump ist der Kopf einer Gang», schreibt der amerikanische Investigativjournalist David Cay Johnston in seinem neuen Buch, das seit Mitte Januar 2018 auch auf Deutsch vorliegt. Johnston reisst Trump gnadenlos die Maske vom Gesicht: «Ein Trickbetrüger und bösartiger Narziss mit der emotionalen Reife eines Dreizehnjährigen.» Er bezahle seine Schulden nicht, haue Leute übers Ohr, sei ein Meister windiger Geschäftemacherei und pflege beste Verbindungen zur Mafia. Darüber hinaus sei er eine gestörte Persönlichkeit, rachsüchtig, ahnungslos von jeglicher Politik und der internationalen Lage. «In der Präsidentschaft Trump geht es jedoch einzig und allein um Donald Trump. Punkt. Ende.» Es ist keine Beleidigung zu sagen: «Trump ist der Kopf einer Gang. Und diese Milliardärsbande hat klargemacht, dass sie jeden republikanischen Abgeordneten zerstören wird, der sich ihr in den Weg stellt.» Die USA seien zu einer Kakistokratie verkommen, einer Herrschaft der Schlechtesten einer Gesellschaft. «Er hat wiederholt gesagt, dass er Krieg mag und dass er Atomwaffen ‹natürlich› einsetzen werde. Wenn der Einsatz einer taktischen Atomwaffe seine Präsidentschaft retten würde – Trump würde das im Handumdrehen tun», hebt Johnston hervor.

24 Vgl. Braml, Josef: Politikum. WRD 5, 17.09.2018 (Interview)

25 In: Neugier genügt. WDR 5, Köln, 19.10.2018.

Agrarpolitik 22+ erfüllt Verfassungsauftrag nicht 

Interview mit Nationalrat Markus Ritter

Nationalrat Markus Ritter (Bild thk)
Nationalrat Markus Ritter (Bild thk)

Die Agrarpolitik des Bundes steht immer wieder in der Kritik. Nachdem das Parlament die im letzten Jahr vorgestellte Agrarpolitik des Bunderats unter anderem wegen beabsichtigter Zollsenkungen und dem geplanten Ausbau des Freihandels zurückgewiesen hatte, eröffnete Bundesrat Schneider Ammann im Herbst 2018 die Vernehmlassung zur Agrarpolitik 2022+. Nahezu 80 Prozent der Bevölkerung hatten dem Verfassungsartikel zur Ernährungssicherheit zugestimmt und damit der Politik den Auftrag erteilt, den Anbau einheimischer Produkte zu fördern. Inwieweit die AP 22+ diese Forderung erfüllt, erklärt Nationalrat Ritter im folgenden Interview.

Zeitgeschehen im Fokus Inwieweit zeigt der Bericht AP 22+ für die Land- und Ernährungswirtschaft neue Perspektiven auf?

Nationalrat Markus Ritter Die Botschaft zeichnet sich eher durch das Fehlen von Perspektiven aus. Statt stabile Rahmenbedingungen, welche den Landwirten Investitionssicherheit geben, soll beispielsweise das erst 2014 eingeführte Direktzahlungssystem bereits wieder umgebaut werden. Auch bezüglich einer administrativen Vereinfachung wird mit der vorgesehenen Regionalisierung der Massnahmen eher das Gegenteil bewirkt.

Wie können Landwirte Unternehmer sein, bei einem begrenzten Boden einer anspruchsvollen Topographie, unseren klimatischen Bedingungen und den gesetzlichen Auflagen?

Unternehmer sein ist nicht das grösste Problem. International konkurrenzfähig zu sein, ist in unserem kleinen Land und den gesetzlichen Auflagen eine der grössten Herausforderungen. Unsere Produktionskosten sind deutlich höher und wir brauchen deshalb höhere Preise für unsere Produkte.

Wie denken Sie über die Chancen von «Smart-Farming»?

Wir sehen hier Chancen im Bereich Präzision, z. B. der gezielteren Behandlung von Krankheiten oder dem Ausreissen von Unkräutern sowie der Effizienzsteigerung. Allerdings bedingt Smart-Farming wiederum teure Investitionen, die anderweitig eingespart und amortisiert werden müssen.

Welche positiven und negativen Folgen sehen Sie durch die Lockerung des Bodenrechts?

Hier besteht aus unserer Sicht eine grosse Gefahr. Landwirtschaftlicher Boden ist weltweit begehrt und kann leicht zu einem Spekulationsobjekt für finanzkräftige Investoren werden. In der kleinen Schweiz mit ihren begrenzten Flächen und der hohen Finanzkraft ausserhalb der Landwirtschaft müssen wir besonders vorsichtig sein.

Ordnen Sie die in AP 22+ vorgeschlagenen Massnahmen für eine nachhaltige Landwirtschaft als angemessen ein?

Die Botschaft zur AP 22+ beinhaltet verschiedene Massnahmen zur Umsetzung des Aktionsplans Pflanzenschutz und weiteren Umweltanliegen. Von dem her stärkt sie den Aspekt der ökologischen Nachhaltigkeit der Schweizer Landwirtschaft. Doch Nachhaltigkeit umfasst auch noch ökonomische und soziale Zielgrössen. In diesen Bereichen liefert der Vorschlag des Bundesrats wenig bis nichts.

Was bedeutet das für den Verfassungsauftrag der Ernährungssicherheit, wenn laut AP 22+ «Emissionen und der Verbrauch nicht-erneuerbarer Energien in der Schweiz auch mit weniger Inlandproduktion und vermehrtem Import reduziert werden können»?

Die Produktion von Lebensmitteln bedingt Energie-Input und bringt auch gewisse nicht vermeidbare Emissionen mit sich. Wenn wir weniger selber produzieren und mehr importieren, dann fallen diese Effekte einfach im Ausland statt in der Schweiz an. Wir leben aber alle auf der gleichen Welt und die Klimaveränderung ist ein globales Problem. Vermehrter Import anstelle einer eigenen Produktion verschlechtert folglich unsere Ernährungssicherheit ohne Nutzen für die Umwelt.

Wurde der Kritik am Freihandel im Bericht mit den gesetzlichen Vorschlägen Rechnung getragen?

Wir haben vor allem die Verknüpfung der Weiterentwicklung der Agrarpolitik mit der Aussenhandelspolitik im Rahmen der Gesamtschau kritisiert. In der Botschaft zur AP 22+ ist das Thema Freihandel kein Bestandteil, was wir begrüssen. 

Wird die produzierende Landwirtschaft durch die angestrebte Ökologisierung und die Förderung der Biodiversität gestärkt und gefördert?

Es ist gut und richtig, dass wir die Themen Ökologie und Biodiversität ernst nehmen. Die Landwirtschaft hat bereits grosse Flächen dafür ausgeschieden. Es besteht aber noch Potential, was deren Qualität anbelangt. Wir sollten es aber vermeiden, das Produktionspotential unserer Betriebe mit immer neuen Auflagen stetig weiter einzuschränken. Denn alles, was wir nicht selber produzieren, müssen wir importieren.

Inwieweit trägt sie zur Erfüllung des Verfassungsauftrags Ernährungssicherheit bei?

Aus unserer Sicht ist dieser Auftrag mit der AP 22+ nicht erfüllt. Eine Stärkung der einheimischen Produktion können wir nicht ausmachen.

Wird der landwirtschaftliche Zahlungsrahmen auch nach 2025 aufrechterhalten werden?

Wir werden uns auf jeden Fall dafür engagieren.

Herr Nationalrat Ritter, vielen Dank für das Interview.

Interview Zeitgeschehen im Fokus

Kompetent oder gebildet – wie wollen wir unsere Kinder aus der Schule entlassen? 

von Judith Schlenker

Wer sich heute die Schule anschaut und das, was in ihr gelernt wird, dem schwirrt der Kopf vor lauter «Kompetenzen», «Kompetenzrastern» oder «Evaluation von Kompetenzen». Mit dem Vorwurf, man dürfe Kindern nicht die Hirne mit unsinnigem, abfragbarem Wissen vollstopfen, hat man in einem Handstreich den Bildungsbegriff durch den Kompetenzbegriff ersetzt. 

Denn – man höre und staune – Kompetenzen sind kognitive Fähigkeiten zur Lösung bestimmter Probleme, die man gut evaluieren könne. Also doch vollgestopfte Hirne, weil für jedes Problem eine Kompetenz? Der Homo oeconomicus soll also bereits in der Schule an seine spätere Funktion angepasst werden. 

Was ist Bildung?

Wie gut tut es dagegen, sich klar zu machen, was Bildung eigentlich bezweckt. Der österreichische Bildungswissenschaftler Werner Lenz schrieb 2007 dazu: «Lernen bedeutet Vorgegebenes übernehmen, annehmen, aufnehmen und es wieder reproduzieren können. Bildung umfasst die Verarbeitung des Gelernten, die Auseinandersetzung und die kritische Stellungnahme. Bildung beinhaltet Reflexion, Urteil und die Fähigkeit zu entscheiden […]. Bildung bedeutet auch Zusammenhänge erkennen und, da wir soziale Wesen sind, unsere Beziehungen zu anderen Individuen, unsere Stellung in der Gemeinschaft zu reflektieren.» Bildung ist daher nicht auf eine spätere Anwendung ausgerichtet, sondern strebt nach Persönlichkeitsentwicklung und Reifung der Persönlichkeit. Der junge Mensch begreift und versteht die Welt, er bemüht sich aktiv darum, sich die Welt anzueignen, um so seine Individualität oder Persönlichkeit zu entwickeln, die ihrerseits wieder positiv auf die Gemeinschaft zurückwirkt. Bildung hat also etwas zu tun mit der Entwicklung von Persönlichkeit, die sich mit sich selbst, mit den sie umgebenden Menschen, mit der Umwelt, mit der Geschichte, mit der Kultur auseinandersetzt, daran wächst und reift. 

Kompetenzen-Hype

Kompetenzen hingegen sind rein auf die praktische Bewältigung von Problemen ausgerichtet, sie sind zweckgebunden. Der Heidelberger Didaktiker Christian Spannagel sagt in einem Interview dazu: «Ich denke, der Kompetenzbegriff wird zurzeit zu sehr ‹gehyped›. An allen Ecken und Enden werden Kompetenzen formuliert, die erlernt werden sollen, die Kompetenzen werden dann zerlegt in Teilkompetenzen und Unterkompetenzen usw. Was dabei langsam, aber sicher verloren geht, ist der humboldtsche Bildungsbegriff, der in Deutschland eine lange Tradition hat. Daran stört mich beispielsweise, dass über Kompetenzformulierungen das, was erlernt werden soll, bis ins kleinste Detail zerlegt wird (ähnlich wie beim programmierten Unterricht, wenn man so will). Kompetenzen sind analytisch, während der Bildungsbegriff synthetisch ist. Im Bildungsbegriff werden verschiedene Aspekte zusammengeführt und im Sinne einer Persönlichkeitsentwicklung nutzbar gemacht. Damit entsteht eine ganzheitliche Sicht auf den Lernenden und weniger eine analytische Sicht auf Teilkompetenzen.» Christian Spannagel sagt auch klar, dass wir gebildete Menschen in der Gesellschaft brauchen, weil nur dann die Gesellschaft sicherer, menschenfreundlicher und humanistischer sein kann.

Verflachung der Lerninhalte

Wozu ist also in den neuen «Bildungs»plänen in Deutschland oder im Lehrplan 21 in der Schweiz nur noch von Kompetenzen die Rede? Steckt dahinter Methode? Die Kompetenzorientierung führt notwendigerweise zu einer Verflachung der Lerninhalte. Natürlich kann man mittels Kompetenzrastern die Schüler weitgehend alleine (individualisiert!) arbeiten lassen. Aber das hatten wir ja schon in den 70er Jahren, als man meinte, über Sprachlabore eine Fremdsprache vermitteln zu können. Ein Versuch, der ebenso kläglich gescheitert ist wie das programmierte Lernen. Lernen ist ein viel komplexerer Vorgang, als es uns die Kompetenz-Apologeten weismachen wollen. Und für einen Lernprozess bedarf es immer eines Lehrers, der zum einen motivierende und komplexe Lernsituationen zu schaffen in der Lage ist und dem Schüler dabei behilflich sein kann, diese Lernsituationen zu meistern. Wie unspannend ist es dagegen, komplexe Lernsituationen in kleine Häppchen zu zerteilen, die auch in Abwesenheit von Motivation abgearbeitet werden können! Abgesehen davon kann gar nicht jeder Lernstoff so detailliert zerlegt werden, dass er in ein Kompetenzraster passt.

Erziehung zum mündigen Bürger

Wollen wir also den unmündigen Bürger, wenn wir ihn in der Schule nur «kompetent» machen? Spannagel gibt auf die Frage, welche Vorteile er für Firmen darin sieht, gebildete statt kompetente Mitarbeiter einzustellen eine überraschend offene Antwort: «Ich bin mir nicht sicher, ob es aus Sicht einer Firma ein Vorteil ist, gebildete Menschen einzustellen. Kompetente Menschen führen ihre Arbeit aus, gebildete Menschen reflektieren, ob sie diese Arbeit in der Form ausführen wollen, das heisst, es könnte unangenehm werden.» Transponiert auf unsere Schulen heisst dies, dass die «kompetenten» Schüler später wohl auch besser zu manipulieren sind, weil ihnen nicht nur die Reflexion ihres Handelns fehlt. Die Frage ist, ob Eltern das für ihre Kinder wollen können. Es ist an der Zeit, dieser Entwicklung in den Schulen einen Stopp zu setzen. Wir können nicht unsere Kinder dem ökonomischen Denken und ideologiebasierten Theorien opfern. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.

Warum die Schweiz unabhängig bleiben muss

von Thomas Kaiser

Wenn man sich Gedanken darüber macht, wie unser Land in Zukunft aussehen soll, ist es unerlässlich, wichtige Meilensteine in seiner historischen Entwicklung zu kennen und Revue passieren zu lassen. Denn nur wer die Geschichte des eigenen Landes kennt, kann auch eine Vorstellung darüber entwickeln, wie das Land in Zukunft aussehen soll.

Was zeichnet unser Land aus? Warum ist es, wie der ehemalige Schweizer Botschafter, Paul Widmer, in seinem Buch «Die Schweiz als Sonderfall» schreibt, tatsächlich ein Sonderfall? Was ist in der Schweiz anders als in den Nachbarländern, und warum müssen wir das bewahren und dürfen es nicht für irgendeinen Internationalismus und gar eine Mitgliedschaft in der EU preisgeben?

Schon im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit entstanden in einzelnen Kantonen gewisse Freiheitsrechte, die es sonst in Europa kaum oder überhaupt nicht gab. Die Landsgemeinde ist ein Zeuge aus dieser Zeit.

Als in die vordemokratischen Formen der frühen Neuzeit die Ideen der Aufklärung wie Rechtsgleichheit und Gewaltenteilung Eingang fanden, wurde der demokratische Ansatz weiterentwickelt. Es war meist ein zäher Kampf um mehr Mitbestimmung und Rechtsgleichheit, der sich in den Kantonen abspielte und in der gesamten Entwicklung bis hin zu einem direktdemokratischen Staat eine entscheidende Rolle spielte. Die Freiheit wuchs nicht einfach auf den Bäumen, sondern war nur durch ein beharrliches Ringen zu erreichen. Denn eines galt damals wie heute: Wer Macht hat, gibt sie selten freiwillig ab.

Erfolgsgeschichte der Eidgenossenschaft

Im Zeitalter der Nationalstaaten wurde die Gründung des Schweizer Bundesstaates 1848 Wirklichkeit – einer Nation, die über die Sprach-, Kultur- und Konfessionsgrenzen hinweg, dem Willen der Menschen folgend, entstanden ist. Damit setzte sich die Erfolgsgeschichte der kleinen Eidgenossenschaft fort, die mit dem Bund der drei Waldstätte ihren Ursprung genommen hatte. Die Verfassung von 1848 begründete schon den Sonderfall. In keinem der umliegenden Staaten gab es nur annähernd solche demokratischen Rechte. Im Deutschen Reich z. B. arbeitete die Nationalversammlung der Frankfurter Paulskirche eine Verfassung aus, die nie umgesetzt wurde. Die Wahl des preussischen Königs zum deutschen Kaiser durch die Nationalversammlung lehnte der Monarch ab mit der Begründung: «Ihr habt mir gar nichts zu bieten. Das mache ich mit meinesgleichen ab. Gegen Demokraten helfen nur Soldaten.»

Als mit der Revision der Schweizer Bundesverfassung von 1874 das Referendumsrecht auf Bundesebene eingeführt wurde und 1891 das Initiativrecht hinzukam, hatte die Schweiz endgültig die umliegenden Staaten im Ringen um Freiheitsrechte und Demokratie um Meilen hinter sich gelassen. Bis heute besitzt keiner der europäischen Staaten nur annähernd so umfassende demokratische Rechte wie die Schweiz. In Einzelfällen obliegt es oft den Regierungen, ein politisches Geschäft dem Volk zur Abstimmung vorzulegen oder nicht. Beispiel dafür bietet die Abstimmung Grossbritanniens über den Austritt aus der EU. 2013 hatte der britische Premier David Cameron versprochen, das Volk über den Verbleib Britanniens in der EU abstimmen zu lassen. Österreich hingegen kennt das Volksbegehren, das das Parlament verpflichtet, wenn innert einer Woche 100 000 beglaubigte Unterschriften zusammenkommen, über ein bestimmtes politisches Geschäft zu debattieren, jedoch ohne rechtliche Konsequenz.

Die Schweiz ist von unten nach oben aufgebaut

Die europäischen Demokratien sind in der Regel repräsentative Demokratien mit Regierung und Opposition. Mehrheiten entscheiden. Verliert eine Regierungspartei oder eine Koalition die Mehrheit, ist ein Regieren nahezu unmöglich, meist sind Neuwahlen die Folge. Wie anders ist doch das System der Konkordanzdemokratie der Schweiz. Hier geht es um gemeinsame Konsensfindung in politischen Sachfragen, damit sich die grosse Mehrheit der Bevölkerung vertreten fühlt. Die Schweiz ist im Gegensatz zu Frankreich oder Deutschland von unten nach oben aufgebaut und nicht «top down», wie man gerne auf neudeutsch sagt.

Die Schweiz – ein demokratischer Sonderfall

Wenn man diesem Umstand Rechnung trägt, dann zeigt sich schon sehr deutlich, dass die Schweiz ein demokratischer Sonderfall ist und bleibt, der in einem zentralistischen System wie der EU niemals Bestand haben kann, ausser die Bürger verzichten auf ihre Freiheitsrechte, auf die politische Mitsprache mit allem, was dazugehört, letztlich auf ihre Souveränität.

So wünsche ich mir die Schweiz aber nicht in Zukunft. Denn gerade das darf sie nie tun. Aufgrund des politischen Systems haben sich Besonderheiten entwickelt, die unbedingt erhalten und in Zukunft ausgebaut werden müssen. Neben der direkten Demokratie, die unter anderem in Fragen der Aussenpolitik dem Parlament und den Bürgerinnen und Bürgern viel mehr Mitsprache einräumen muss, gilt es, unser Milizwesen zu schützen und nicht neoliberalen Ideen wie der «Private Public Partnership» (PPP) zu opfern. Unter dem Euphemismus der «Professionalisierung» werden bereits demokratisch gewachsene Strukturen umgekrempelt, um sie der Kontrolle und Organisation der Bürger zu entziehen. Wir beobachten das bei sogenannten Gemeinde- und Schulreformen, aber auch bei der «Professionalisierung» des Samariterwesens und anderer Freiwilligenorganisationen. Am Schluss geht es nur noch um Business, aber nicht mehr um die gegenseitige Hilfe der Menschen und die direkte Mitsprache.

Da die Schweiz ausser Wasser kaum natürliche Ressourcen besitzt, muss die Förderung der Bildung weit oben auf der Prioritätenliste stehen. Die Volksschule muss wieder der Kontrolle des Volks unterstellt werden. Abgehobene Pädagogen, Politiker, IT-Berater und Changemanager dürfen nicht unkontrolliert das Schulwesen umkrempeln und zu einem Instrument der Wirtschaft machen. Bildung ist viel mehr, als Arbeitskräfte und Spezialisten für die Wirtschaft zu generieren. Aber heute geht es vor allem um Big Business und den viel gerühmten Wohlstand, der mit allen Mitteln erhalten werden muss. Doch muss die Frage erlaubt sein: Wohlstand für wen und wozu? Damit die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinandergeht?

Erhalt der staatlichen Souveränität

Die Wirtschaft muss dem Menschen und unserem politischen System dienen und nicht umgekehrt. Seit der Bundesrat den Entscheid über den EU-Rahmenvertrag ausgesetzt hat, werden Wirtschaftsfachleute mobilisiert, die für eine Annahme dieses Knebelvertrags werben. Die staatspolitische Frage, wieviel Souveränität uns dabei verloren geht, stellen die Wirtschaftsapologeten nicht. Souveränität wird auf einmal mit «dynamischer» EU-Rechtsübernahme gleichgesetzt. Aber dass sowohl Parlamentarier als auch Bürger in der Folge in vielen Belangen nichts mehr zu sagen haben, wird tunlichst verschwiegen.

Eine weitere wichtige Säule der Schweiz muss die Neutralität bleiben. Sie hat dem Land in stürmischen Zeiten Ruhe und ein gewisses Mass an Sicherheit gebracht. Neutralität muss auch Neutralität bleiben. Es kann keine Annäherung an die EU oder die Nato erfolgen, bzw. es muss einen sofortigen Austritt aus der Nato-Unterorganisation PfP (Partnership for Peace) geben. Auch ein Sitz im Uno-Sicherheitsrat ist mit der Neutralität unvereinbar. Ein neutrales Land muss immer ein Hort des Friedens und des Dialogs bleiben, damit andere Staaten in Krisenzeiten einen Mediator haben. Die Neutralität muss bewaffnet sein, sonst ist sie bald verloren. Denn wer sich nicht verteidigen kann, muss im Ernstfall Allianzen schmieden und verliert dadurch seine Neutralität und Souveränität.

Bild thk

Bürgerinnen und Bürger müssen Frau oder Herr im Hause Schweiz bleiben

Es gibt noch so vieles, was die Zukunft der Schweiz sichert und das Leben in diesem Staat lebenswert macht: Dazu braucht es einen Bundesrat, der nicht führt, sondern ausführt, was Volk und Parlament ihm auftragen, einen Föderalismus, der den Kantonen mehr Verantwortung überträgt, die Gemeindeautonomie, die den Menschen in ihrem direkten Lebensumfeld umfassende politische Mitsprache und Gestaltung garantiert, eine unabhängige Stromversorgung, eine eigenständige Landwirtschaft, die so viel wie möglich produzieren kann, um die Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln sicherzustellen und vieles mehr.

Für die Zukunft ist es wichtig, dass wir Bürgerinnen und Bürger Frau oder Herr im Hause Schweiz bleiben. Unser System ist so aussergewöhnlich, dass es den meisten Menschen, die von aussen in unser Land kommen, nicht verständlich ist. Das Milizwesen, die direkte Demokratie sind nicht nur Organisationsformen, sondern im gewissen Sinne Lebenshaltungen. Deren Erhalt muss unser ganzes Streben gelten.

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