Fortsetzung Hauptartikel

In erwähnter Erklärung nimmt die direkte Verurteilung und Kritik an der Politik Russlands einen vorherrschenden Raum ein (vgl. Punkt 16ff). Im weiteren werden verschiedene Krisenherde erwähnt, die eine Bedrohung oder wenigstens eine Beunruhigung für die Nato und ihre Mitgliedstaaten darstellen. Der Nahe Osten ist in mehreren Punkten dieser Erklärung Thema (Punkt 32ff) ebenso die schwierige Situation in Afghanistan. Das Land scheint nach 15 Jahren Krieg und militärischer Besetzung in einem desolateren Zustand zu sein denn je zuvor. Die Krisen in Nordafrika, im besonderen in Libyen, scheinen die Nato ebenfalls verstärkt zu beschäftigten. Die Bombardierungen des Landes unter ihrer Führung und damit der USA haben 2011 aus Libyen einen «failed state» gemacht, der seinen inneren Zusammenhalt vollständig verloren hat. Unter dem Vorwand, Zivilisten zu schützen, hat man Präsident Muhamar Al Gaddafi «liquidiert» und das Land mit nahezu 30 000 Luftschlägen in eine einzige Ruine verwandelt. Davon hat es sich bis heute, 5 Jahre später, nicht erholt.
Positiv hervorgehoben werden in der Erklärung die «demokratischen» Fortschritte in Georgien und der Wunsch des Staates, ein Mitglied der Nato werden zu wollen. Was das für das Kräftegleichgewicht in Osteuropa bedeutet, kann man sich nach den Erfahrungen mit der Ukraine, an drei Fingern abzählen. Die Nato scheint das aber nicht zu beeindrucken. Im Gegenteil, einige Punkte dieser Erklärung betreffen die Ukraine, und ihr enges und spezielles Verhältnis zur Nato werden hervorgehoben und sollen weiter ausgebaut werden (vgl. Punkt 29, 88 und weitere). Die Erweiterung der Allianz ist auf keinen Fall abgeschlossen, Mazedonien, Montenegro und Bosnien-Herzegowina werden als Beitrittskandidaten geführt.
Unter der Führung der USA präsentiert sich die Nato als global agierende Einsatztruppe, die ihren ursprünglichen Zweck bei der Gründung 1949, die westeuropäischen Staaten vor der Ausbreitung des Kommunismus zu schützen, längst verworfen hat. Eine kommunistische Bedrohung gibt es seit 25 Jahren nicht mehr, aber die Nato hat sich zur Legitimation neue Betätigungsfelder gesucht und sich von einem Defensivbündnis zu einem Kriegsbündnis gewandelt, das vor allem «Out-of-Area-Einsätze» durchführt. Aufgrund dieser Ausgangslage stellt sich dringender denn je die Frage: Was hat die Schweiz als neutraler Staat bei der Nato und ihren Plattformen zu suchen? Aus diesem Grund stellte Zeitgeschehen im ­Fokus einer Vertreterin von der SP, Nationalrätin Margret Kiener Nellen, Mitglied der Rechtskommission und einem Vertreter der SVP, Nationalrat Luzi Stamm, Mitglied der Aussenpolitischen Kommission, zu dieser Entwicklung einige Fragen. ■

¹    Partnership Interoperability Initiative: www.nato.int/cps/fr/natohq/topics_132726.htm?selectedLocale=en vom 22. Juni 2016
²    Wales Summit Declaration: www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_112964.htm?selectedLocale=en vom 5. September 2014

«Mit der ganzen Welt freundschaftlich handeln, offen sein und uns nicht auf Brüssel einengen»

Nationalrätin Margret Kiener Nellen (Bild thk)
Nationalrätin Margret Kiener Nellen (Bild thk)

Interview mit Nationalrätin Margret Kiener Nellen, SP/BE

«Ganz Europa muss endlich eine atomwaffenfreie Zone werden»

Zeitgeschehen im Fokus: Wie ist eine Teilnahme der Schweiz an einem gegen andere Staaten gerichteten Bündnis aus neutralitätsrechtlicher Sicht zu beurteilen?
Nationalrätin Margret Kiener Nellen: Die Schweiz nimmt an keinem Bündnis teil. Die Schweiz ist weiterhin bündnisfrei, und das ist gut so. Die Bündnisfreiheit hindert die Schweiz aber nicht, mit wechselnden Partnern einen Sicherheitsdialog zu führen. Sicherheit hört im globalisierten 21. Jahrhundert nicht an der Landesgrenze auf. Vielmehr ist die Sicherheit der Schweiz mehr denn je von einer erfolgreichen internationalen Sicherheitskooperation abhängig. Für mich hat die Kooperation im Rahmen der UNO und der OSZE klar Priorität, weil diese im Unterschied zur Nato universell aufgestellt ist und niemanden ausschliesst. Ich habe mich in der OSZE erfolgreich für klare Aussagen zur Abrüstung eingesetzt. Daneben halte ich aber auch den Dialog mit der Nato, mit Russland oder mit anderen Partnern für sinnvoll, so lange sich dieser Dialog konsequent an Frieden, Abrüstung, einem starken Völkerrecht und namentlich den Menschenrechten orientiert.

Wie beurteilen Sie die Rolle der Nato unter der Führung der USA, die immer aggressiver auftritt?
Ich halte die Analyse für falsch, die heutigen Krisen der Nato und den USA in die Schuhe zu schieben. Ich begrüsse beispielsweise, dass die USA in Syrien die Kurden unterstützen, und halte die Annexion der Krim durch Russland für völkerrechtswidrig. Es war aber ein strategischer Fehler, dass die Nato sich nach 1989 nicht zu einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem inklusive Russland weiterentwickelt hat. Auch hat nach meiner Einschätzung das Eingreifen der USA in Afghanistan und in Irak wesentlich zum heutigen Problem des gewalttätigen Dschihadismus beigetragen. Glücklicherweise zieht sich die Nato nun aber wieder aus Afghanistan zurück und die USA auch aus Irak.

Welche Rolle müsste die Schweiz als neutraler Staat im Konzert der internationalen Gemeinschaft spielen?
Eine viel aktivere als heute! In Artikel 54 der Bundesverfassung besitzt die Schweiz eine ausgezeichnete Grundlage für eine aktive Aussenpolitik, heisst es doch dort, der Bund trage «namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen». Damit die Schweiz hier mehr erreicht als in der Vergangenheit, muss sie aber viel stärker als bisher auf den Multilateralismus, die Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Staaten und mit der Zivilgesellschaft setzen. Auch braucht es dafür mehr finanzielle und personelle Ressourcen.

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Wurde das Parlament bzw. die zuständige Kommission über dieses Treffen in Wales informiert und ist bekannt, dass man am Nato-Gipfel in Warschau dieses Jahr die Bedeutung der Ausweitung der Nato bekräftigt und dabei explizit die Interoperabilitätsplattform erwähnt hat?
Ja, selbstverständlich, diese Themen sind regelmässig in der Aussenpolitischen und auch in der Sicherheitspolitischen Kommission traktandiert und werden via Internet auch der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht. Allerdings lese ich die Ergebnisse des Nato-Gipfels in Warschau anders. Zwar haben Länder wie die Ukraine und Georgien seit Jahren den dringenden Wunsch geäussert, der Nato beizutreten. Diese hat sie bisher aber stets klar zurückgewiesen. Ich sehe bei den führenden Westmächten keinerlei Bereitschaft, diese beiden Staaten in die Nato aufzunehmen.

Was ziehen Sie für Schlüsse daraus?
Die Schweiz agiert in diesem Kontext immer noch sehr viel zu zurückhaltend. Sie müsste auf oberster Stufe vertreten sein und die in der Bundesverfassung festgelegten Ziele der Schweizer Aussenpolitik viel offensiver als bisher einbringen. Das strategische Ziel muss nach wie vor sein, in Gesamteuropa unter Einschluss von Russland einen einheitlichen Raum des Rechts und der Sicherheit zu schaffen. Diese Stimme ist inzwischen sehr schwach geworden. Auch auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle und der Abrüstungspolitik vermisse ich ein kräftiges Engagement der Schweiz. Ganz Europa muss endlich eine atomwaffenfreie Zone werden. Dafür setze ich mich persönlich sowohl im Schweizer Nationalrat als auch in der OSZE mit Anträgen und Vorstössen ein.
Frau Nationalrätin Kiener Nellen, vielen Dank für Ihre Antworten.

Interview Thomas Kaiser

Artikel 54 der Bundesverfassung
«Der Bund setzt sich ein für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und für ihre Wohlfahrt; er trägt namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.

thk. Der von Frau Nationalrätin Kiener Nellen zitierte Verfassungsartikel 54 verlangt von den offiziellen Vertretern der Schweiz, dass sie sich zum einen für die Unabhängigkeit des Landes einsetzen und auf der anderen Seite aber im Sinne eines sozialen und weltfriedlichen Anliegens in die Welt hinauswirken sollen. Das ist ein ehrwürdiges Anliegen und nur zu unterstützen. Die damit verbundenen Aufgaben wird die Schweiz aber nur ausführen können, wenn sie, wie Nationalrat Luzi Stamm im Interview sagt, vor allem ihre Neutralität wahrt, denn das ermöglicht ihr bei allen Konflikten dieser Welt, eine Plattform für Friedensgespräche zur Verfügung zu stellen, und dabei, wie der Verfassungsartikel unmissverständlich verlangt, unabhängig bleibt. Die Unabhängigkeit des Landes bedeutet jedoch in erster Linie, sich keinem Militärbündnis anzuschliessen und auf keinen Fall in eine supra­nationale Organisation einzutreten, wie es die EU, die Gasp (Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik der EU) oder die Nato sind. Die neutrale Schweiz als europäischer Staat muss allen Staaten gegenüber offen sein, auch denjenigen, die nicht zur EU gehören. Sich mit allen Staaten über Sicherheitsfragen auszutauschen ist für einen Kleinstaat wie die Schweiz selbstverständlich wichtig, aber noch wichtiger scheint mir, eine Armee zu haben, die im Ernstfall jedem Aggressor die Stirn bieten kann. Das geht nur, wenn man sich an kein Bündnis anlehnt, auch nicht an den vermeintlichen Freund oder die vermeintlichen Freunde. Wie schnell der Wind sich drehen kann, haben wir in den 90er Jahren auf dem Balkan gesehen, und sehen wir heute bei der Auseinandersetzung im Nahen Osten. Nur wenn die Schweiz sich selbst treu bleibt, wird sie den im Artikel 54 festgehaltenen Verfassungsauftrag erfüllen können, andernfalls wird sie zum Anhängsel der Grossmächte, die keine Mühe zeigen, der Schweiz zu sagen, was sie zu tun und zu lassen hat. Während EU-Kommissionpräsident Junckers Besuch bei Bundespräsident Schneider-Ammann versuchte letzterer, in der Pressekonferenz positive Signale auszusenden, während sein Gesprächspartner klar zu verstehen gab, wer hier der Herr im Hause ist, auch wenn er als Gast in ein nicht EU-Land gekommen ist. Während Schneider-Ammann von einem «konstruktiven Dialog» berichtete, meinte Juncker lapidar, man sei auf «keinen grünen Zweig» gekommen. ■

«Rückkehr zur konsequenten Neutralität»

Nationalrat Luzi Stamm (Bild thk)
Nationalrat Luzi Stamm (Bild thk)

Interview mit Nationalrat Luzi Stamm, SVP/AG

Zeitgeschehen im Fokus: Vor zwei Jahren hat die Nato auf ihrem Gipfel in Wales die Interoperabilitätsplattform ins Leben gerufen und eine Erklärung verabschiedet, die unter anderem klar Stellung gegen andere Staaten bezieht und gleichzeitig die Schweiz als Mitglied einer 24köpfigen Staatengruppe erwähnt, die nach Inhalt der Erklärung näher an die Nato herangeführt werden soll. Wie beurteilen Sie das?
Nationalrat Luzi Stamm: Ich nehme das zur Kenntnis und stelle zunächst fest, dass es mehr als eigenartig ist, wie mangelhaft und kümmerlich wir im Parlament über solche Schritte informiert werden. Selbst in der Aussenpolitischen Kommission, in welcher ich seit mehr als 15 Jahren Mitglied bin, wird oft viel zu wenig informiert.

Aus Ihrer Aussage lässt sich schliessen, dass im Parlament und wohl auch in der Kommission keine Diskussion über diesen Schritt geführt und wenn überhaupt nur rudimentär darüber informiert wurde.
Ich erlebe leider zunehmend, dass es internationale Konflikte gibt, zu denen die Schweiz in erschreckendem Masse Stellung nimmt, zum Beispiel im Ukraine-Konflikt gegen Russland. Die Schweiz hat nicht den geringsten Grund, auf internationaler Ebene für oder gegen irgendeinen Staat Stellung zu beziehen. Die historische Rolle der Schweiz ist und war es immer, sich keinesfalls auf die Seite einer der Konfliktparteien zu stellen, wenn sich Machtblöcke bildeten und diese sich möglicherweise gegenüberstanden.

Jetzt ist diese Erklärung vom 5. September 2014 mit klaren Verurteilungen gegenüber Russland gefüllt. Die Schweiz wird darin als assoziiert erwähnt. Was heisst das jetzt betreffend Ihre Ausführungen?
Ich habe dieses Papier heute zum ersten Mal gesehen, und ich stelle fest, dass in Punkt 16 Russland sehr direkt und deutlich kritisiert wird und dass in Punkt 88 geschrieben steht, dass die Schweiz auch mit im Boot sitzt. Allein diese beiden Punkte sind hoch problematisch, denn die Schweiz darf sich keinen offiziellen verbalen Attacken gegen Russland anschliessen.

Gilt das nur Russland gegenüber?
Nein, das muss eine ganz grundsätzliche Haltung sein, die gegenüber allen Staaten gelten muss. Das Gefährlichste, was man in der heutigen Welt machen kann, ist, zu den heissesten und explosivsten internationalen Konflikten einen einseitigen Kommentar abzugeben. Wenn wir zum Beispiel den Krieg im Nahen Osten nehmen, ist es besonders wichtig, dass sich die Schweiz nicht zu den dortigen Kriegsparteien äussert. Wenn unser Land es dennoch tut, verspielt es seine Glaubwürdigkeit als neutraler Staat. Damit wird die traditionelle Rolle der Schweiz torpediert.

Sie haben den Nahen Osten erwähnt. Auch dieser Konflikt findet in dieser Nato-Erklärung an mehreren Stellen Erwähnung, und der syrische Staat wird an mehreren Punkten unter Beschuss genommen.
Kein Mensch weiss letztlich, was sich genau in Syrien abspielt. Wir sind alle durch die Main-Stream-Medien einseitig informiert. Das heisst, wir werden Opfer von Kriegspropaganda via Medien. Ob man von ISLS, von Al Kaida, von Al Nusra-Front, von Salafisten, von «gemässigter syrischer Opposition», von «Aufständischen gegen Assad» oder von wem auch immer spricht: Wir haben doch im Grunde genommen keine Ahnung, wer in Syrien wen bekämpft, wer auf wessen Seite steht, wer die Söldner bezahlt und ob das Ganze nicht westgesteuert ist. Die Schweiz soll sich hüten, in irgendeiner Art und Weise politisch Stellung zu nehmen; wir haben doch keine Ahnung, was da wirklich gespielt wird.

Welche Haltung wäre in dieser Situation sinnvoll?
Alles, was wir jetzt im Nahen Osten oder in der Auseinandersetzung um Russland erleben, kann nur eines heissen: Rückkehr zur konsequenten Neutralität; genau zu dem, was unsere Elterngeneration mit Weitsicht entwickelt hat. Die Schweiz hat sich dadurch weltweit einen grossartigen Ruf geschaffen, so dass wir eine wirkliche Friedensplattform für Vermittlung und Versöhnung bilden könnten. Wenn wir in aktuellen Konflikten Stellung beziehen und uns offiziell äussern, verspielen wir all das, was die Schweiz auf der internationalen Ebene Einzigartiges bieten kann: Einen ­entscheidenden Beitrag zur Kriegsverhinderung und zur Konfliktentschärfung. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen.    

Herr Nationalrat Stamm, vielen Dank für das Gespräch.  

Interview Thomas Kaiser

 

 

TTIP bedroht die bäuerliche Landwirtschaft und damit unsere Ernährung – kein «Andocken» der Schweiz an TTIP

Bild thk
Bild thk

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Seit 2013 verhandeln USA und EU über das neue Freihandelsabkommen «Transatlantic Trade and Investment Partnership» (TTIP). Mit diesem Abkommen sollen Zölle, Zollkontingente und weitere Handelshemmnisse abgeschafft werden, auch in der Landwirtschaft. Im Handel mit Agrarprodukten zwischen den USA und der EU sollen alle Einschränkungen beseitigt werden. Amerikanische Produzenten rechnen mit  lukrativen Gewinnen auf dem zahlungskräftigen europäischen Markt. Bäuerliche Betriebe in den europäischen Ländern werden das  Nachsehen haben. Der Konkurrenz mit der industrialisierten US-Landwirtschaft sind sie nicht gewachsen.¹  Seit unser Bundesrat öffentlich über die «Option Andocken an TTIP»² spricht, ist es auch in der Schweiz notwendig, über mögliche Folgen von TTIP nachzudenken und zu diskutieren.

Zu Beginn der Verhandlungen machten die USA deutlich, welche Vorteile sie von TTIP erwarten –nachzulesen auf der Website des Executive Office of the President of the United States.³ Sämtliche Zölle, Gebühren und andere Abgaben auf Agrar-, Industrie- und Konsumprodukten im Handel zwischen den USA und der EU sollen abgeschafft werden. Insbesondere im Bereich Landwirtschaft – für die USA ist die EU ein wichtiger Markt⁴  – versprechen sich die USA mit TTIP Gewinne in schwindelerregenden Höhen: «Die Vereinigten Staaten sind die weltgrösste Agrarexportwirtschaft. Amerikanische Bauern und Viehzüchter vertrauen in steigendem Ausmass auf Exporte, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. 20 % ihres Einkommens rühren aus Exporten, und diese Exporte unterstützen unsere ländlichen Gemeinden. In der Tat erreichten die amerikanischen Lebensmittel- und Agrargüterexporte 2013 weltweit eine ungeheure Höhe von über 145 Milliarden Dollar. 2013 sandten wir für über 10 Milliarden Dollar Agrargüter in die EU, ein Betrag, der noch viel höher sein könnte und sein sollte. Unser Ziel mit TTIP ist, dass der Verkauf amerikanischer Agrarprodukte einen Umfang in noch nie dagewesener Höhe erreicht durch die Abschaffung von Zöllen und Quoten, welche dem Export im Wege stehen.»

Weder Zölle noch «nicht-tarifäre Handelshemmnisse»

Bei den staatlichen Handelshemmnissen, die mit TTIP beseitigt werden sollen, handelt es sich um Zölle und Zollkontingente sowie um gesetzliche Vorschriften und Verfahren für eingeführte Waren, die sogenannten «nicht-tarifären Handelshemmnisse»⁵. Im Agrarbereich sind dies einerseits sanitäre und phythosanitäre Standards, die für sichere Lebensmittel, den Schutz von Mensch und Tier sowie für den Erhalt von Umwelt und Biodiversität sorgen. Andrerseits sind dies Vorschriften technischer Art zur Kennzeichnung, Verpackung und zum Transport von Lebensmitteln.  

Studien zu den Auswirkungen von TTIP auf die Landwirtschaft

Zu den möglichen Auswirkungen von TTIP auf die Landwirtschaft gibt es erst wenige Studien. Das französische Centre d’Etudes Prospectives et d’Informations Internationales (CEPII) prognostiziert einen stark ansteigenden Handel mit Milchprodukten, Faserpflanzen und Fleisch primär zugunsten amerikanischer Erzeuger.⁶
Eine Studie des EU-Parlamentes⁷ prognostiziert 2014 mögliche Folgen von TTIP so: Agrarexporte aus der EU in die USA nehmen um 56 % zu. US-Agrarexporte in die EU nehmen um 116 % zu. In den baltischen Staaten sinken die Agrar- und die Lebensmittelproduktion um 1,3 %, bei Schweine- und Geflügelfleisch sogar um 9,6 %. Italien und Spanien müssen bei Obst und Gemüse, Frankreich und Spanien bei Getreide, Holland, Belgien, Luxemburg, Österreich, Deutschland und Grossbritannien in der Milchwirtschaft mit Rückgängen und den entsprechenden Auswirkungen auf das Bruttoinlandprodukt rechnen. Eine Senkung nicht-tarifärer Handelshemmnisse für Milchprodukte um 25 % würde die entsprechenden US-Exporte in die EU um rund 2000 % steigern.⁸
Das US-Landwirtschaftsministerium stellt folgende Prognosen zu den Auswirkungen von TTIP auf die Landwirtschaft⁹: Fallen Zölle und zahlreiche nicht-tarifäre Handelshemmnisse weg, werden US-Agrarexporte in die EU massiv ansteigen, während die europäische Produktion und deren Preise kontinuierlich sinken. Nur schon ein Wegfall von Zöllen und Zollkontingenten könnte die US-Agrarexporte in die EU um 5,475 Milliarden Dollar erhöhen, während für Agrarexporte der EU in die USA lediglich ein Anstieg von 747 Millionen Dollar zu erwarten wäre.10

Schlechter Deal für die EU-Bäuerinnen und Bauern
Mit dieser Broschüre des Bundes für Umwelt-  und Naturschutz Deutschland wird ein wichtiger Beitrag geleistet zur Information der Öffentlichkeit über die Auswirkungen von TTIP auf die Landwirtschaft in den USA und in Europa. Neben der Analyse verschiedener Studien werden Unterlagen der geheimen TTIP-Verhandlungen ausgewertet, die an die Öffentlichkeit gelangt sind. Informativ sind auch die ausführlichen Literatur- und Quellenangaben.

TTIP schaltet nationale Parlamente aus

Zentral für TTIP sind die «nicht-tarifären Handelshemmnisse», zu denen die USA die Importbestimmungen zum Schutz von Mensch, Tier und Umwelt zählen. In Zukunft müssen für solche Regulierungen bereits in der Ausarbeitungsphase in- und ausländische Privatpersonen11 zur Begutachtung beigezogen und ihre Kommentare in die Schlussfassung eingearbeitet werden. Solch eine Hinterzimmerdiplomatie bedient Konzerninteressen, die dann – in die Form neuer Regulierungen gegossen – von nationalen Parlamenten devot abzunicken sind. Mit Demokratie hat das nichts mehr zu tun.

Vorsorgeprinzip und Tierschutz abschaffen?

Zu den nicht-tarifären Handelshemmnissen, die die USA mit TTIP beseitigen möchten, gehören sanitäre und phythosanitäre Standards, die auf dem europäischen Vorsorgeprinzip beruhen. Besteht bei einem Stoff oder Produkt der begründete Verdacht, dass Verbraucher oder Umwelt geschädigt werden könnten, werden in der EU präventiv entsprechende vorläufige Standards erlassen. TTIP will das  europäische Vorsorgeprinzip abschaffen und durch das amerikanische Prinzip der «Wissenschaftlichen Bewertung» ersetzen: Zuerst muss ein Schaden entstanden sein. Dann muss die Ursache des Schadens wissenschaftlich untersucht und nachgewiesen werden. Erst dann werden behördlicherseits Massnahmen fällig.12 Mit TTIP wären vorsorgliche Bestimmungen, wie sie in der EU heute gang und gäbe sind, nicht mehr möglich.
Mit der Beseitigung des Vorsorgeprinzips könnte eine Vielzahl von US-Agrarprodukten, die heute noch nicht in die EU exportiert werden dürfen, einen lukrativen Marktzugang in die EU erhalten. Zu denken ist an gentechnisch veränderte Organismen, synthetisch hergestellte Organismen, geklonte Nutztiere, mit Antibiotika, Hormonen oder Pestiziden belastete Agrargüter und Lebensmittel.
Auch für den Tierschutz gilt in den USA ein völlig anderer Ansatz. In der nationalen Gesetzgebung findet man mit Ausnahme derSchlachtung keine Schutzbestimmungen für Nutztiere, auch wenn einzelne Gliedstaaten solche Bestimmungen haben.13

TTIP ist keine Option für die Schweiz

Die TTIP-Verhandlungsinhalte sind für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Trotzdem ist bis heute einiges durchgesickert: Gewinner von TTIP sind exportorientierte Konzerne in den USA und der EU. Auf der Verliererseite steht neben der bäuerlichen Landwirtschaft mit ihren vor- und nachgelagerten Betrieben jeder von uns, da sichere, gesunde Lebensmittel unsere Lebensgrundlage sind. Weder die Landwirtschaft in der EU noch die Landwirtschaft in der Schweiz wird mit ihren Produktions­kosten sowie noch weiter sinkenden Preisen in der Lage sein, mit Produkten aus industrieller US-Landwirtschaft zu konkurrieren. Das macht deutlich, dass TTIP für die Schweiz keine Option ist.

Unsere einheimische Landwirtschaft – unser tägliches Brot

Hinter vollen Gestellen in unseren Läden steht eine grosse Arbeit. Unzählige fleissige Hände in bäuerlichen Familienbetrieben sorgen dafür, dass wir jeden Tag wertvolle, gesunde einheimische Lebensmittel auf unserem Tisch haben. Bäuerliche Familienbetriebe ermöglichen den Städtern auch eine intakte, schöne Landschaft und Natur, in der man sich in seiner Freizeit so gut erholt. Das soll auch so bleiben. Weil wir das in der Schweiz so wollen. Das ist in der Bundesverfassung als Richtschnur für unseren Bundesrat – als Diener des Volkes – festgeschrieben. Das gilt und nichts anderes. ■

Andocken der Schweiz an TTIP
2014 hat Nationalrat Thomas ­Böhni im Parlament eine Interpellation mit folgender Frage eingereicht:  «Gefährdet die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft zwischen der EU und den USA den Schweizer Lebensmittelstandard?» In seiner Antwort vom 15.5.14 spricht der Bundesrates konkret von «Optionen» in Bezug auf die «Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft» und der «Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Schweiz»: «Zu diesen Optionen könnte auch die Möglichkeit zur Aushandlung eines Freihandelsabkommens mit den USA oder ein Andocken an die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) gehören» – so der Bundesrat.
Quelle: vgl. dazu Interpellation 14.3111 von Thomas Böhni vom 18.3.2014

TTIP und Milchwirtschaft
Für die Milchwirtschaft rechnet die Studie des US-Landwirtschaftsministeriums mit steigenden Exporten in die EU. Eine Zunahme von EU-Exporten in die USA wird nur beim Käse erwartet. Sämtliche Studien rechnen mit weiter sinkenden Milchpreisen. Bereits jetzt sind zahlreiche Betriebe in der EU durch die Aufhebung von Milchkontingentierung und Milchpreiszerfall unter Druck geraten und an den Rand des Konkurses gedrängt. Diese Problematik könnte sich durch TTIP verschärfen, so das European Milk Board, die Irish Creamery Milk Suppliers Association und die Confederation Paysanne. Für die EU und insbesondere für  Grossbritannien, Holland, Belgien, Luxemburg und Österreich prognostizieren alle Studien einen Rückgang der Produktion.  
Quelle: vgl. Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, S. 26–29.

TTIP und Rindfleisch
Amerikanisches Rindfleisch stammt meist aus Grossbetrieben mit teilweise über 1000 Tieren, welche in Mastparzellen (Feedlots) mit gemischtem Futter auf der Basis von Getreide gemästet werden. 84 % dieser Tiere erhalten wachstumsfördernde Hormone. Betriebe, die ihre Kühe weiden lassen, sind selten. In der EU stammt  das Rindfleisch zu zwei Dritteln von Tieren aus der Milchwirtschaft, gefüttert mit siliertem Gras oder Mais. Kleinere Höfe betreiben in der Regel Mutterkuhhaltung auf Weideland. Seit 1989 muss in die EU eingeführtes Rindfleisch frei von wachstumsfördernden Hormonen sein.
Bei einem Wegfall von Zöllen rechnen sämtliche Studien für die Rindfleischproduktion in der EU mit gravierenden Folgen. Der Handel mit Rindfleisch zwischen der EU und den USA wird um 300 bis 400 % ansteigen – so die Studie des EU-Parlaments. Mit einem Wegfall der Importbeschränkungen würden vor allem Milchkuhbetriebe in der EU in ihrer Existenz gefährdet mit «potentiell weitreichenden sozialen und ökologischen Konsequenzen für einige EU-Regionen».
Bei einem Fallen der Zollschranken rechnet das US-Agrarministerium mit der Zunahme von Rindfleischexporten in die EU im Wert von 1,5 Milliarden Dollar, was die Rindfleischproduktion in der EU um 1,11 % vermindern dürfte; falls auch die nicht-tarifären Handelshemmnisse wegfielen sogar mit dem Anstieg auf 1,86 Milliarden Dollar für den US-Export und einer Verminderung der EU-Produktion um 1,52 %.
Im Fleischsektor tätige Bauernbetriebe in der EU werden mit TTIP und CETA der Konkurrenz aus den USA und Kanada nicht gewachsen sein. Interbev befürchtet für Frankreich und die EU Umsatzeinbrüche «in Höhe von 40 Prozent bis 50 Prozent» und prognostiziert für Frankreich ein mögliches «Aussterben des gesamten Sektors». Ähnliches befürchtet die Irish Farmers Association für Irland.  
Quelle: vgl. Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, S. 20–25.

¹    Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Friends of the Earth Europe, Schlechter Deal für EU-Bäuerinnen und Bauern Gefahren für die europäische Landwirtschaft durch TTIP, Juli 2016.
²    Vgl. Kästchen: Andocken der Schweiz an TTIP.
³«Executive Office of the President of the United States, Office of the United States Trade Representative, U.S. Objectives, U.S. Benefits In the Transatlantic Trade and Investment Partnership: A Detailed View».
⁴    2012 wurden industrielle Güter im Wert von 253 Milliarden Dollar in die EU exportiert.  2013 wurden täglich Güter im Wert von 730 Millionen Dollar in die EU verschifft. Vgl. Executive Office of the President.
⁵    Bei TTIP soll es zu 80% um nicht-tarifäre Handelshemmnisse und zu 20% um Zölle gehen. Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland, S. 6.
⁶    Centre d’Etudes Prospectives et d’Informations Internationales (CEPII), Fontaigne , Gourdon, & Jean, 2013.
⁷    Europäisches Parlament, Bureau, et al., 2014. Vgl. Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, S. 11.
⁸    Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, S. 10.
⁹    Economic Research Service des US-Landwirtschaftsministeriums (USDA), Beckman, et al., 2015.
¹⁰    Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, S. 13.
11    Dass es sich dabei um Vertreter von exportorientierten Konzernen handeln wird, ist naheliegend. Wirtschaftsinteressen sollen damit zu einem Zeitpunkt bedient werden, wo gewählte Volksvertreter noch keinen Einblick in die geplante Regulierung erhalten haben. Vgl. Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, S. 42.
12    Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, S. 43 – 45.
13    Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, S. 43.

Uno-Menschenrechtsrat übt Kritik an Freihandelsverträgen Extreme Einschränkung der demokratischen Rechte

von Thomas Kaiser

Am ersten Tag der Herbstsession des Uno-Menschenrechtsrats hatte der US-amerikanische Völkerrechtler und Uno-Mandatsträger Alfred de Zayas, als Unabhängiger Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung seine Präsentation. In seinem Bericht nahm er kein Blatt vor den Mund und bemängelte, dass viele Vorschläge und Empfehlungen zur besseren Einhaltung der Menschenrechte, die in den letzten zehn Jahren von Mandatsträgern und anderen Uno-Gremien gemacht wurden, von den Staaten nicht aufgegriffen würden. Der Schwerpunkt seines diesjährigen Berichts lag auf den Auswirkungen der umstrittenen Freihandelsverträge wie TPP, TTIP, Ceta, TiSA usw. auf die Menschenrechte und im ­Besonderen auf den Investor-State ­Dispute Settlements (ISDS), der sogenannten Schiedsgerichtsbarkeit.

Direkte Demokratie als Ausweg

Alfred de Zayas kritisierte die mangelnde Transparenz bei den Verhandlungen. Der demokratische Vorgang kann sich nicht nur darin erschöpfen, dass man alle vier Jahre ein Parlament wählt und dieses sich dann nicht mehr am Volkswillen orientiert. Demokratie ist die permanente Auseinandersetzung mit dem Volk. Implizit hat er hier der direkten Demokratie der Schweiz das Wort geredet, bei der das Schweizer Volk mit einem Referendum eine unheilvolle Entwicklung verhindern oder mit einer Volksinitiative in eine positive Richtung lenken kann. Für de ­Zayas ist auch ganz klar, dass Verträge, wie die oben erwähnten, in einer Volksabstimmung keine Chance hätten, nicht zuletzt deshalb, weil sie eine extreme Einschränkung der demokratischen Rechte zur Folge hätten.

Verträge höchst problematisch

In seinem Bericht erwähnte er einen Vorgang, der zu denken gibt. Zusammen mit 6 weiteren Mandatsträgern der Uno hatte er einen Brief an die 12 Staaten verschickt, die das TPP-Abkommen unterschrieben hatten. Darin verwiesen die Verfasser des Briefes darauf, dass namhafte Wissenschaftler unter anderem aus dem Gesundheitsbereich sowie Wirtschaftsnobelpreisträger, Gewerkschaften und Umweltverbände sowie Konsumentenorganisationen darauf aufmerksam gemacht hätten, dass dieser Vertrag in verschiedener Hinsicht höchst problematisch sei und so nicht ratifiziert  werden dürfe. Die betroffenen Staaten hätten auf das Schreiben reagiert, aber ohne auf die entsprechenden Kritikpunkte auch nur annähernd einzugehen, obwohl de Zayas in seinem Bericht konkrete Situationen angesprochen hatte, wie zum Beispiel in Kanada, das einem Inves­tor mehrere Milliarden Franken «Strafe» bezahlen musste, weil neue Umweltgesetze zu Mehrausgaben des Investors geführt hätten. Keiner der angeschriebenen Staaten ging auf die Bedenken ein, alle ignorierten damit die berechtigten Einwände der Uno-Mandatsträger.

«Responsibility to Act» (R2A)

In mehreren Pressemitteilungen hatte de Zayas bereits im Vorfeld auf das Fehlen einer demokratischen Legitimation aufmerksam gemacht, im besonderen auch deswegen, weil die Verträge hinter verschlossenen Türen ausgehandelt werden und die Bevölkerung bestenfalls nach Abschluss der Verträge etwas über deren Inhalte erfährt. Sein Vorschlag ist denn auch, dass in allen daran beteiligten Staaten Referenden durchgeführt werden müssten. Die Staaten hätten gegenüber ihren Bürgern eine Verantwortung und müssten aus diesem Grund die Verhandlungen über die ausstehenden Verträge abbrechen. Er sprach von der «Responsibility to Act» (R2A), d.h. von der Verantwortung zu handeln, die jeden Staat angehe. Das verpflichtet die Regierungen, im Sinne des öffentlichen Interesses zu handeln. Damit bricht eine Regierung mit dem «business as usual», wenn sie «Vorkehrungen und Korrekturen vornimmt, um den Vorrang der Menschenrechte, den Schutz der Gesundheit und der Umwelt sowie das Recht auf Entwicklung» sicherzustellen. «Ceta, TTIP, TPP und TiSA sind Hindernisse für die Staaten, im Sinn der Verantwortlichkeit im öffentlichen Interesse zu handeln.» Am Ende seines Vortrags gab de Zayas Empfehlungen an die Staaten, indem er sie unter anderem auf den demokratischen Diskurs verpflichtete und empfahl, diese Verträge dem Referendum zu unterstellen. Auch gab er zu bedenken, dass sich der Menschenrechtsrat nicht zu einer «politisierten Arena» entwickeln und der Einsatz für Menschenrechte schon gar nicht als Waffe gegen den politischen Gegner benutzt werden darf. ■

Impressum
Zeitgeschehen im Fokus
Erscheinung: 18mal jährlich
Herausgeber: Verein «Zeitgeschehen im Fokus» | Postfach | 8305 Dietlikon
Redaktion: Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger (hhg), Thomas Kaiser (thk), Reinhard Koradi (rk)
Produktion und Gestaltung: Robert Hofmann (roho), Andreas Kaiser (ak)
Kontakt: redaktion@zeitgeschehen-im-fokus.ch
Online: www.zeitgeschehen-im-fokus.ch
© 2016 für alle Texte und Bilder bei der Redaktion. Abdruck von Bildern, ganzen Texten oder grösseren Auszügen nur mit Erlaubnis der Redaktion, von Auszügen oder Zitaten nur mit ausdrücklicher Kennzeichnung der Quelle.

 

Grosse Zustimmung zum Bericht des Unabhängigen Uno-Experten für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung

Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas  (Bild nm)
Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas (Bild nm)

Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas

Zeitgeschehen im Fokus: Wie haben sich die westlichen Staaten eingebracht?
Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas: Obwohl sie von Anfang an anwesend waren, haben sie es für besser gehalten, das Wort nicht zu ergreifen. Man könnte aber auch sagen, sie haben keine Argumente. Und wenn sie diese bringen würden, könnte ich jenen sehr gut widersprechen. Weil sie mir nicht die Gelegenheit zum Widerspruch geben wollen, nehmen sie überhaupt nicht Stellung. Den belgischen Botschafter habe ich sogar mehrfach angeschaut, keine Reaktion. Auch die Plätze der deutschen Delegation waren besetzt, ohne irgendeine Reaktion. Ich existiere nicht, mein Bericht existiert nicht. Und weil die Megakonzerne die Presse beherrschen, werden sie auch nicht gross darüber berichten.

Nichts zu sagen ist auch eine Stellungnahme...
...ich habe es mir gewünscht, dass sie sich äussern. Ich möchte nicht vor einem Saal sprechen, in dem alle mit mir einverstanden sind. Wir können Fortschritte machen, wenn wir eine echte Diskussion haben. Sie können sagen, wir sind hier aber von Ihrer Argumentation nicht überzeugt, können Sie uns das bitte erläutern.

Kommt so ein Ablauf häufiger vor?
Häufiger als in der Zeit der Menschenrechtskommission von 1946-2006. Damals gab es weniger Blockabstimmungen als heute. Man konnte Norwegen hören mit seiner Meinung, Frankreich mit einer anderen Meinung und Italien hatte wieder eine andere Position. Heute spricht einer dieser Staaten, und alle schliessen sich der Meinung an. Das ist ein erheblicher Verlust. Die guten Ideen, die seinerzeit aus den unterschiedlichen Positionen entstanden sind, können heute nicht mehr entstehen.

Manche Staaten haben Fragen gestellt.
Da waren mehrere Fragen von Staaten wie Bolivien, Ecuador, Nigeria etc., die mir gestellt wurden. Ich hatte dann die Gelegenheit, zahlreiche Punkte zu präzisieren. Dasselbe war der Fall bei Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), auch sie haben wichtige Fragen gestellt wie z. B. die International Laywers Association. Sie hat eine sehr kluge Frage gestellt, nämlich wie Individuen, also CEOs von Körperschaften, verpflichtet werden können, die Menschenrechte zu achten.

Was haben Sie nachher darauf geantwortet?
Ja, da muss man differenzieren. Es gibt bestimmte Handlungen, die a priori illegal sind. Wenn diese die Zerstörung der Umwelt, die Zerstörung der Natur zur Folge haben, gilt das als Verbrechen gegen die Menschheit und nicht nur, wenn sich das gegenüber einer kleinen Gruppe von Menschen abspielt. Das kann vom Internationalen Strafgerichtshof sehr gut untersucht werden. Da haften die Individuen selbst, deshalb habe ich auf die Nürnberger Prozesse hingewiesen, wo man die Führung von Bayer, Krupp und Flick zur Verantwortung gezogen hat. Auch die Hersteller von Zyklon B kamen vor Gericht. Sie sind auch alle verurteilt worden. Das war ein Präzedenzfall. Es herrschte keine Straflosigkeit für Ge­schäftsleute. Geschäftsleute können also auch grössere Menschenrechtsverletzungen begehen.

Wie beurteilen Sie die Reaktionen im Rat?
Erstaunlicherweise waren alle Staaten, die das Wort ergriffen, und die 17 NGOs positiv. Es waren etwa 30–35 Staaten aus allen Teilen der Welt wie China, Russland, Pakistan, Indien, die sonst nicht immer freundlich miteinander umgehen.

Wie war der Gehalt der Stellungnahmen der Staaten?
Ich war beeindruckt von deren Qualität. Es gab sehr substantielle Stellungnahmen und sie hatten offensichtlich meine Berichte gelesen. Sie haben ganze Passagen wiedergegeben, und ich habe darin meinen Stil wiedererkannt. Ich war im Prinzip ganz zufrieden mit der Diskussion, hätte es jedoch begrüsst, wenn sich nicht unbedingt die USA, aber wenigstens Kanada, das im Moment eine weniger ­neoliberale Regierung hat, dazu geäussert hätte. Ich kann mir nur vorstellen, dass bei den Industrienationen Direktiven oder Anordnungen bestanden haben, über meinen Bericht nicht zu diskutieren. Basta! Das hat natürlich dazu geführt, dass keine Kritik und keine richtige Diskussion aufkam. Durch die vielen positiven Stellungnahmen fühlte ich mich etwas geschmeichelt, weil sie sagten, der Bericht sei gründlich, umfassend, solide, humanistisch. Es wurden sehr schöne Dinge über meinen Bericht gesagt. Im Prinzip bin ich zufrieden, aber wichtig ist, dass das ganze auch in den Medien Verbreitung findet.  Dazu brauchen wir auch die Medien und «People Power».
Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Die Sprache ist die Heimat der Menschen

Regierungsrat Martin Jäger  (Bild zvg)
Regierungsrat Martin Jäger (Bild zvg)

Interview mit Regierungsrat Martin Jäger, Vorsteher des Erziehungs-, Kultur- und Umweltschutzdepartements (EKUD) des Kantons Graubünden

Anfangs September wurde die Nachricht verbreitet, dass die ETH-Zürich im Rahmen ihres Sparprogramms ihre finanzielle Unterstützung für das Studienfach Rätoromanisch an der Universität  Zürich von Fr. 100 000 ab 2019 aufgeben wird. Diesen Entscheid der ETH können auch die nicht direkt Betroffenen nur schwer nachvollziehen, ist doch die Mehrsprachigkeit ein fester Bestandteil unserer Schweizer Identität. Wie wird dieser Entscheid aber im betroffenen Kanton Graubünden aufgenommen? «Zeitgeschehen im Fokus» hat bei Martin Jäger, Departementsvorsteher EKUD, nachgefragt.

Zeitgeschehen im Fokus: Vor gut 75 Jahren haben die Schweizer Stimmbürger mit einem Ja-Anteil von 92 % die rätoromanische Sprache zur 4. Landessprache erhoben. Dieser Entscheid war damals bestimmt ein Akt der Solidarität mit einer sprachlichen Minderheit in unserem Land. Andere ordnen dieses Abstimmungsresultat sogar als bewussten Beitrag zur «geistigen Landesverteidigung» in der damaligen Zeit ein. Wie beurteilen Sie heute die Haltung der Schweizer Bevölkerung gegenüber der rätoromanischen Sprache?
Regierungsrat Martin Jäger: Ich bin überzeugt, dass die Schweizer grosse Sympathien für die rätoromanische Sprache haben. Dies ist immer wieder spürbar, zum Beispiel, wenn im Radio oder Fernsehen Rätoromanisch gesprochen wird. Repräsentanten der rätoromanischen Sprache kommen immer sehr gut an.
Historisch können wir im Rahmen dieses Interviews den Weg zur Viersprachigkeit in der Schweiz nicht nachvollziehen. Einflüsse von aussen haben aber bestimmt ein Zusammenrücken bewirkt. Mussolini wollte damals ein «Grossitalien», und es schwirrten Landkarten herum, in der die italienische Schweiz und die Einzugsgebiete der rätoromanischen Bevölkerung in Graubünden bereits als italienisches Staatgebiet markiert waren.

Heute dürfte unter dem Einfluss der Globalisierung das Bewusstsein für die Landesgrenzen nicht mehr so stark vorhanden sein.
Die stärkere Betonung der Regionalität mit ihren unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen sollte eigentlich einen positiven Einfluss auf die Förderung der rätoromanischen Sprache haben.
Ja, die Pendel schlagen auch wieder zurück. Die Sprache prägt unser Leben. Sie gibt uns das Gefühl, zu Hause zu sein. Die zunehmende Fokussierung auf regionale Gepflogenheiten hilft bestimmt, die Sprachenvielfalt in der Schweiz und damit im Kanton Graubünden zu stärken. Regionale Bräuche werden in vielen Vereinen mit viel Engagement gepflegt. Als aktives Mitglied eines Jodelclubs kann ich beobachten, dass Jodellieder respektive Jodelfeste, aber auch Schwingfeste heute wieder sehr populär sind.

Die regionalen Dialekte sind fester Bestandteil unserer kulturellen Vielfalt. Der Entscheid, die Finanzierung des Lehrstuhls zu kürzen, steht da etwas quer in der Landschaft. Doch wie geht es weiter? Was passiert, wenn die Finanzierung des rätoromanischen Lehrstuhls nicht mehr gesichert ist?
Der Lehrstuhl wird nicht verschwinden. Wir werden alles unternehmen, damit er erhalten bleibt. Es ist zuallererst wichtig, dass die Kinder bereits im Kindergarten an die rätoromanische Sprache herangeführt werden. Auf sämtlichen Stufen – vom Kindergarten bis zum Gymnasium – muss die Sprache vermittelt und gepflegt werden. Dazu braucht es die entsprechend ausgebildeten Lehrkräfte. Fundamental ist, dass die ganze Kette vom Kindergarten bis zur Hochschule intakt bleibt. Dabei kommt dem Kindergarten respektive der Kindergärtnerin, eine zentrale Bedeutung zu. In unserem Kanton leben viele Familien, die keinen Bezug zur rätoromanischen Sprache haben. Die Grundlagen zu diesem Bezug müssen im Kindergarten gelegt werden.

Was gedenken Sie zu tun?
Zuerst möchte ich festhalten, dass uns der Entscheid über die Kürzung der Quersubventionierung durch die ETH um Fr. 100 000 empört. Und zwar nicht nur wegen der Kürzung selbst, sondern auch, weil mit uns darüber nie gesprochen wurde. Der Bund ist über die Bundesverfassung und das Sprachengesetz verpflichtet, die Viersprachigkeit in unserem Land zu fördern. Da die ETH das einzige Bildungsinstitut auf Universitätsstufe ist, das dem Bund unterstellt ist, hat sich die Quersubventionierung des Lehrstuhles an der Universität Zürich durch die ETH als praktische Lösung angeboten. Die anderen Universitäten gehören den Kantonen und werden primär von diesen finanziert. Aus dieser Konstellation heraus hat sich die Quersubventionierung des rätoromanischen Lehrstuhls an der Universität Zürich durch die ETH ergeben. Es ist zwar richtig, dass Sprachen nicht zum Kerngeschäft der ETH gehören, daher haben wir uns auch unabhängig vom Entscheid der ETH im Bildungsdepartement bereits Gedanken über die zukünftige Finanzierung des Lehrstuhls gemacht. Eigentlich war schon alles unterwegs, um die Quersubventionierung neu zu regeln, wir wurden im jetzigen Moment aber auf dem linken Bein erwischt.

Wie reagierte die Bevölkerung im Kanton Graubünden auf den Entscheid der ETH?
Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Die einen nehmen diese Kürzung einfach zur Kenntnis, vor allem in den deutschsprachigen Gebieten und den vier Südtälern Graubündens, in «Grigioni italiano», wo italienisch gesprochen wird. Heftiger diskutiert wird dagegen in den romanischen Sprachgebieten.
Romanisch ist nicht einfach eine Sprache. Es gibt fünf verschiedene Idiome, die in den Tälern gesprochen und geschrieben werden. Das Unterengadin und das Val Müstair gehören traditionell zum Einzugsgebiet des Vallader, im Oberengadin wird Puter gesprochen, im Bündner Oberland Sursilvan, im Schams Sutsilvan sowie im Oberhalbstein und im Albulatal Surmiran. Die Sprachen sind derart verschieden, dass sich früher Menschen aus Disentis und aus Scuol nicht verstanden, wenn diese in ihrer Sprache sprachen. Zur Überbrückung dieser Verständigungsprobleme und zur Verbesserung des Rätoromanischen als Amtssprache von Bund und Kanton wurde dann 1982 die überregionale Schriftsprache «Rumantsch Grischun» geschaffen.

Die unterschiedlichen Sprachen prägen ja auch das kulturelle Leben im Kanton Graubünden. Welche kulturelle Bedeutung hat die rätoromanische Sprache in ihrem Kanton?
Historisch gesehen ist Graubünden sehr konfessionell geprägt. Der konfessionelle Einfluss ist zwar in der heutigen Zeit deutlich in den Hintergrund geraten. Trotzdem ist es wichtig, dass die Lehrstühle in Fribourg und Zürich erhalten bleiben. Jeder dieser Lehrstühle repräsentiert letztlich auch unterschiedliche Idiome. Im Kanton gibt es faktisch sieben unterschiedliche Schriftsprachen, die das kulturelle Leben prägen. Die Lehrmittel werden aktuell ebenfalls in sieben Sprachen herausgegeben. Die Sprache ist Heimat der Menschen. Der Mensch denkt, fühlt und drückt sich in seiner Sprache aus. Wird ihm die Sprache genommen, dann wird er emotional verarmen. Daher ist es sehr wichtig, dass die Sprachen in ihrer Vielfalt gepflegt und am Leben erhalten werden.
Noch einmal: Der Staat ist verpflichtet, die Mehrsprachigkeit zu erhalten respektive zu fördern und hat dafür Sorge zu tragen, dass die Sprache als emotionale Grundlage fürs Leben an die nachkommenden Generationen weitergegeben wird.
Vielen Dank Herr Regierungsrat ­Jäger für das sehr interessante Gespräch.

Interview Reinhard Koradi

Aus dem Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften:
(Sprachengesetz, SpG)
vom 5. Oktober 2007 (Stand am 1. Januar 2016)
Art. 3 Grundsätze
1    Der Bund beachtet bei der Erfüllung seiner Aufgaben insbesondere folgende Grundsätze:
a.    Er achtet darauf, die vier Landessprachen gleich zu behandeln.
b.    Er gewährleistet und verwirklicht die Sprachenfreiheit in allen Bereichen seines Handelns.
c.    Er trägt der herkömmlichen sprachlichen Zusammensetzung der Gebiete Rechnung.
d.    Er fördert die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften.
2    Er arbeitet bei der Erfüllung seiner sprach- und verständigungspolitischen Aufgaben mit den Kantonen zusammen.
Art. 22  Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache und Kultur
1    Im Rahmen der bewilligten Kredite gewährt der Bund den Kantonen Graubünden und Tessin Finanzhilfen zur Unterstützung:
a.    von Massnahmen zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache und Kultur;
b.    von Organisationen und Institutionen, die überregionale Aufgaben der Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache und Kultur wahrnehmen;
c.    der Verlagstätigkeit in der rätoromanisch- und italienischsprachigen Schweiz.
www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20062545/index.htm

 

Eidgenössischer Dank-, Buss- und Bettag

Am Sonntag, 18. September, beging die Schweiz den traditionellen Dank-, Buss- und Bettag, der seit über 200 Jahren in der Schweiz gefeiert wird. Nach der Einführung des Gedenktages während der Wirren der Französischen Revolution wurde dieser Tag von Katholiken und Protestanten gemeinsam begangen. Deshalb gilt er auch als Tag der Versöhnung. Gottfried Keller nannte ihn «Gewissenstag». Der Berner Schultheiss (Stadtpräsident) und der Gemeinde-, Stadt- sowie der Grosse Rat der damaligen Republik Bern hatten bereits 1831 beantragt, den Buss- und Bettag für alle Kantone der Eidgenossenschaft im Herbst festzulegen. In ihrem Antrag wird unter anderem die Dankbarkeit über den erhaltenen Frieden und die grosse Bedeutung der Nächstenliebe, wie sie zu den Grundfesten der christlichen Religion gehört, sehr betont. Grundsätze, die in einer Zeit der gewalttätigen Auseinandersetzungen ausserordentliche Bedeutung haben. Aus aktuellem Anlass hat Zeitgeschehen im Fokus den Präsidenten und den Vizepräsidenten der parlamentarierischen Gruppe Christ und Politik zur Bedeutung des Dank-, Buss- und Bettags befragt, was der Tag für sie bedeutet und was er für die Menschen in der Schweiz bedeuten kann.

«Dankbar sein, in einem so schönen Land leben zu dürfen»

Interview mit Nationalrat Jakob Büchler, CVP/SG, Präsident der parlamentarischen Gruppe Christ und Politik

Zeitgeschehen im Fokus: Am 18. September war der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag. Was bedeutet dieser Tag für Sie?
Nationalrat Jakob Büchler: Dieser spezielle Tag hat eine lange Tradition und soll unser Volk wieder daran erinnern, was unsere Aufgabe ist, woher wir kommen, was wir leisten auf dieser Erde und was geschieht, wenn wir diese Welt wieder verlassen. Es geht darum, sich auch mit dem Gedanken zu befassen, dass es auch noch etwas über dem Menschen gibt, den Schöpfer – auch von diesem wunderschönen Land. Wir müssen doch dankbar sein, in einem so schönen Land leben zu dürfen. Im Vergleich zu vielen andern Staaten haben wir es in unserer Schweiz sehr gut. Ich glaube, daran sollte man sich und auch andere erinnern, dass es wichtig ist, dafür Dankbarkeit zu empfinden.

Die Kultur der Dankbarkeit ist in den letzten Jahrzehnten immer mehr verschwunden. Warum ist das so und wieso ist Dankbarkeit und Demut, die das menschliche Leben auch ausmachen, verlorengegangen?
Die junge Generation, die heute lebt, ist eigentlich nur im Überfluss aufgewachsen. Es ist immer alles vorhanden. Die Regale in den Läden sind voll. Wir haben jeden Tag genug zu essen und zu trinken, wir haben ein sehr modernes feudales Leben. Die grosse Mehrheit in unserem Land kann sich alles leisten, auch wenn es natürlich Menschen gibt, denen es nicht so gut geht. Den Wohlstand empfindet man heute als Selbstverständlichkeit. Es ist immer alles vorhanden.
Das sind ein, zwei Generationen, die das jetzt so erleben können...
Ja, früher war das noch ganz anders. Ein schlechter Sommer hatte Hungersnot bedeutet. Heute ist das kein Thema mehr. Wenn die Schweiz zu wenig Brotgetreide oder zu wenig Kartoffeln hat, dann organisieren wir das aus dem Ausland. Das ist in vergangenen Zeiten überhaupt nicht so gewesen, wenn es zu wenig Fleisch oder zu wenig Brot hatte, musste man ganz einfach den Gürtel enger schnallen. Da war es nicht möglich, im Überfluss zu leben, es ging darum, dass jeder über die Runden kommt.

Dieses Bewusstsein ist heute kaum noch vorhanden...
Wenn man sieht, wie mit den Nahrungsmitteln umgegangen wird und diese einfach fortgeworfen werden, dann muss man feststellen, dass sich in der heutigen Gesellschaft durch die anderen Umstände einiges geändert hat. Die jungen Menschen wissen häufig nicht, woher die Nahrungsmittel kommen. Da steckt eine grosse Leistung dahinter. Es braucht eine intakte Natur, es braucht unendlich viele Arbeitsstunden, die geleistet werden müssen, bis das Brot auf dem Tisch steht. Das ist heute alles selbstverständlich. Man lebt in der Mentalität eines Automaten. Oben das Kleingeld hineinstecken und unten kommt das gewünschte Produkt wieder heraus. Wem soll ich da noch danke sagen? Ich habe dafür bezahlt. Ich muss doch nicht noch gross dankbar sein.

Aber auch heute können Engpässe entstehen und dann...
Ja, es braucht so wenig, und die Natur ist durcheinander. Eine Zeitlang weniger Regen oder extreme Temperaturen und schon wird das Wachstum eingeschränkt oder das Gegenteil, viel Regen oder zu tiefe Temperaturen, das sind eigentlich nicht so grosse Veränderungen, können aber grosse Auswirkungen haben. Durch die grosse Mobilität können wir das ausgleichen, aber wenn es an mehreren Orten der Welt klimatische Veränderungen gibt, dann sieht das schon ganz anders aus. Dazu dient der Buss- und Bettag: Er soll wieder einmal zeigen, dass nicht alles selbstverständlich ist. Es ist nicht einfach alles da. Den gedeckten Tisch gibt es nur im Märchenbuch, es ist doch viel mehr dahinter.

Sie haben 5 Kinder und bereits 7 Enkelkinder, wie begehen Sie jeweils den Buss- und Bettag? Wie haben Sie Ihren Kindern diese ethische Haltung vermittelt?
Es wäre falsch, wenn man das nur am Buss- und Bettag machen würde. Ich habe zusammen mit meiner Frau natürlich versucht, dies meinen Kindern in die Wiege zu legen, dass man Ehrfurcht vor den Nahrungsmitteln hat, dass man deren Wert schätzt, dass man Nahrungsmittel nicht wegwirft und dass man dafür dankbar ist, genug zu essen zu haben. Meine Kinder hatten natürlich das grosse Glück, auf einem Bauernhof aufwachsen zu dürfen, die haben gesehen, wie die Milch von der Kuh kommt, wie man Brotgetreide macht, wie man Mais erntet usw. Das konnten sie in ihr Leben mitnehmen. Selbstverständlich ist das auch bei unseren Enkeln so. Sie erleben das auf dem Hof mit. Mein Sohn, der diesen übernommen hat, hat auch drei Kinder, die das alles auch mitbekommen. Sie wissen, wieviel es braucht, bis die Nahrungsmittel auf dem Tisch stehen. Es ist doch ein herrliches Erlebnis, wenn man eigenes Obst ernten und verzehren kann. Das muss man den Kindern vermitteln, dass die Milch nicht aus der Migros kommt, sondern dass da viel Arbeit dahintersteckt, bis die Nahrungsmittel auf dem Tisch stehen. Sich dessen bewusst zu werden und zu realisieren, dass nicht alles selbstverständlich ist, das braucht es heute mehr denn je.

Herr Nationalrat Büchler, vielen Dank für die Ausführungen.

Interview Thomas Kaiser

«Respekt vor dem religiös Andersdenkenden fördern»

Interview mit Nationalrat Eric Nussbaumer, SP/BL, Vizepräsident der parlamentarischen Gruppe Christ und Politik

Was verbinden Sie mit dem Buss- und Bettag?
Nationalrat Eric Nussbaumer: Ich verbinde zuerst den Dank gegenüber meinem Gott, denn es heisst ja Dank-, Buss- und Bettag. Der Dank ist die Basis dieses Tages.

Inwieweit hat dieser Tag heute noch eine Bedeutung?
Er ist immer noch ein staatlich geschaffener Ruhe- und Nachdenktag. Er ist bedeutungsvoll, da er im Kern den Respekt vor dem religiös Andersdenkenden fördern will – eingebettet im Dank gegenüber dem gemeinsamen Gott. Der Tag ist eine staatspolitische Aufforderung, sich immer wieder auf Andersdenkende respektvoll und dankend einzulassen.

Wofür sollte man dankbar sein, und wem gebührt der Dank?
Das muss jeder und jede für sich entscheiden. Ich danke auch dafür, dass viele Mitmenschen den göttlichen Verheissungen heute Raum geben und so für Frieden, Gerechtigkeit und Befreiung real gehandelt wird.

Warum ist Dankbarkeit in der heutigen Zeit so klein geschrieben?
Ist sie nicht. Ich begegne vielen Menschen, die dankbar durchs Leben gehen.

Was braucht es, dass man im Menschen dieses Gefühl der Dankbarkeit und der Demut wecken kann?
Es ist in jedem Menschen geweckt. Die heutige Zeit meint aber allzu oft, man müsse das etwas verstecken und immer nur den starken Mann spielen. Gewinnen oder verlieren ist das Standard-Denkmuster geworden. Leider werden dadurch zu viele Menschen an den Rand gedrängt.

Wie verbringen Sie jeweils den Buss- und Bettag?
Als ganz normalen Sonntag. Dazu gehört wahrscheinlich auch der Besuch des Gottesdienstes in meiner Kirchgemeinde.

Herr Nationalrat Nussbaumer, vielen Dank für Ihre Antworten.

Interview Thomas Kaiser

Der Zürcher Dichter Gottfried Keller  war von 1861 bis 1876 Staatsschreiber des Kantons Zürich und verfasste in dieser Funktion die jährlichen Bettagsmandate. Der Auszug aus dem Bettagsmandat von 1863 ist aktueller denn je.
«Mitbürger! Wieder naht der vaterländische Bettag, an welchem alle Eidgenossen vor Gott, ihren alleinigen Herrn, treten, um ihre Gewissen vor ihm, dem Allwissenden, zu prüfen, die Gebote des Unendlichen zu vernehmen und ihm für seine unwandelbare Güte zu danken.
Möge der Tag ernster Sammlung nach der heissen Arbeit des Sommers, wie nach dem Geräusche der nationalen Feste unserm gesamten Volke willkommen sein, als einem Volke, welches weder über der Arbeit noch über der Freude die Übung geistiger Wachsamkeit aus den Augen setzt. Denn wenn wir die ununterbrochene Bewegung des Völkerlebens und die Lage unseres teuren Vaterlandes mitten darin überblicken, so müssen wir fühlen, dass kein Stillstand, keine träge Ruhe des Geistes für uns möglich ist, ohne uns selbst zu verlieren.
Jenseits und diesseits der Meere brennen alte und neue Kriegsflammen fort, Flammen des Bürgerkrieges und des Völkerhasses, welche als erschütternde Beispiele davon zeugen, wie nah uns noch mitten in unserm Jahrhundert alle Greuel der rohen Gewalttat und Vernichtung stehen, wie schwer es ist, menschliche und christliche Gesittung auch im Streite zu bewahren, die kostbaren Güter der Unabhängigkeit zu erhalten und, wenn sie einmal verloren sind, dieselben wieder zu erringen. …
Uns selbst hat die Vorsehung diesen Frieden bis dahin gnädig bewahrt. Allein der Wechsel der Bedürfnisse, die gewaltigen materiellen Entwicklungen der Zeit, welche fortschreitend neben jenen dunklen Kämpfen die Welt bewegen, sie durchdringen von allen Seiten auch unser Vaterland, vielfach Segen und Leben verleihend, aber auch vielfache Keime zu Eifer und Zwist ausstreuend.
Hier gilt es nun, mitten im Wechsel der Anforderungen zu verharren im Geiste unserer Vorfahren, festzuhalten die Treue am Bunde, die Einfachheit und Reinheit der Sitten, die Redlichkeit der Denkart. …
Nur indem wir die göttlichen Lehren der Gerechtigkeit und Liebe durch unser Gemeinwesen zu verwirklichen trachten, können wir in der Stunde der Verwirrung und Gefahr auf Licht und Schutz von oben hoffen; gleich, wie nur der den Frieden zu bieten vermag, der den Frieden selbst im Herzen trägt …»
Aus Gottfried Kellers «Bettagsmandaten» 1862–1872 (nach der Ausgabe von R. Faesi; Zürich 1951)

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