«Das neue Covid-19-Gesetz einzuführen ist unangemessen und übertrieben»

Interview mit Nationalrätin Yvette Estermann

Nationalrätin Yvette Estermann, SPV (Bild thk)
Nationalrätin Yvette Estermann, SPV (Bild thk)

In der Herbstsession will der Bundesrat das Covid-19-Gesetz durch das Parlament bringen. Darin sollen die von ihm unter «Notrecht» erlassenen Bestimmungen in Gesetzesform gegossen werden und bis 2022 Gültigkeit haben. Was sich hinter der Gesetzesvorlage, die im Eilverfahren durchgeboxt werden soll, verbirgt, erklärt im folgenden Interview Nationalrätin Yvette Estermann.

Zeitgeschehen im Fokus Der Bundesrat will in der Herbstsession das Covid-19-Gesetz durchs Parlament jagen. Ist das nötig, so vorzugehen?

Nationalrätin Yvette Estermann Der Bundesrat handelt hier völlig übereilt. Man hat den Eindruck, dass er unter Stress steht, aber in dieser Situation ist mehr Gelassenheit gefragt. Als Bürger kann man feststellen, dass sich der Bundesrat sehr viele Rechte überträgt, ohne klar zu definieren, wann welche Massnahmen zu ergreifen sind. Im Grunde genommen ist das Gesetz ein Blankoscheck bis Ende Jahr 2022.

Was bedeutet hier Blankoscheck?

Der Bundesrat kann bis Ende 2022 jederzeit Massnahmen ergreifen, ohne eine klare Berechtigung zu definieren. Der ganze Vorgang, das Gesetz in aller Eile durchzubringen, ist äusserst fragwürdig. Die Folge davon ist eine Verkürzung der Vernehmlassungsfrist von drei Monaten auf drei Wochen. Das ist nicht seriös.

Wie begründet der Bundesrat dieses Vorgehen?

Er sagt, es sei dringlich. Aber was heisst schon dringlich? Die aktuellen Zahlen und die Folgen der Covid-Erkrankungen hatten nicht die katastrophale Auswirkung gehabt, wie man sie prognostizierte. Jetzt das neue Gesetz einzuführen, ist unangemessen und übertrieben. Dass sich der Bundesrat das Recht herausnehmen will, jederzeit irgendwelche Massnahmen ergreifen zu können, ist verfehlt. Der Bundesrat hätte das viel besser vorbereiten und klar definieren müssen, wie viele Erkrankungen z. B. sein müssen oder welche Todesrate bestehen muss, bevor man so massiv eingreift. Aber darum geht es nicht, sondern darum, sich selbst einen Blankoscheck auszustellen, um alles machen zu können. Da habe ich etwas dagegen.

In einem demokratischen System braucht es die Kontrolle der Exekutive durch das Parlament, und die wird in gewissen Bereichen ausgehebelt.

Ja, es geht genau in diese Richtung. Man hat mich belächelt, als damals das Epidemien-Gesetz beraten und das Referendum dagegen ergriffen worden ist. Ich habe kritisiert, dass der Bundesrat und ein einziges Amt, das Bundesamt für Gesundheit (BAG), zu viel Macht bekommen. Dieser Gesetzesentwurf ist jetzt eine direkte Auswirkung. Nachdem das revidierte Epidemiengesetz in der Referendumsabstimmung angenommen worden war, fühlte sich der Bundesrat bestätigt, dass die Bevölkerung ihm mehr Macht übertragen möchte. So hat er es zumindest damals ausgelegt.

Sie hatten auf diesen ungesunden Machtzuwachs aufmerksam gemacht. Wie waren die Reaktionen darauf?

Man war hier viel zu blauäugig und ist davon ausgegangen, dass so eine Epidemie nie eintreten und das Gesetz damit bedeutungslos bleiben wird. Jetzt, wenige Jahre später, wird Covid-19 zu genau diesem Fall gemacht. Der Bundesrat fühlt sich bestätigt und versucht, mit dem Covid-19-Gesetz das Ganze noch auszuweiten. Der Zeitpunkt der Auseinandersetzung ist auch so gewählt, dass die meisten Leute in den Ferien weilen und mit etwas anderem beschäftigt sind. Das ganze Gesetz bedeutet einen ungeheuren Machtzuwachs, den sich der Bundesrat gibt und in der Folge dem BAG. Wer einmal an der Macht geschnuppert hat, der möchte sie weiter ausbauen. Dem muss man einen Stopp setzen.

Der Vorgang passt auch nicht in unsere fein austarierte Demokratie…

Richtig. Unsere Demokratie lebt davon, dass man auch dem Volk genügend Zeit einräumt, um sich zu den politischen Vorlagen Gedanken machen zu können. Man müsste Veranstaltungen über die Vor- und Nachteile dieses Gesetzes durchführen, aber das ist jetzt alles nicht möglich. Der Bundesrat möchte in der Herbstsession das Gesetz, den Blankoscheck, durchpeitschen. Das ist unserer Demokratie nicht würdig.

Das Gesetz basiert auf den Horrorszenarien, die man am Anfang der Ausbreitung von Covid-19 heraufbeschworen hat. Inzwischen sind wir ein paar Monate weiter. Wie beurteilen Sie das Ganze aus der Retrospektive?

Sicher ist es im nachhinein einfacher, darüber zu urteilen, wenn man die Entwicklung einigermassen überblickt. Das konnte der Bundesrat damals so wenig erkennen wie wir. Aber jetzt wissen wir, dass die vorausgesagten Horrorszenarien nicht eingetroffen sind und man mit einer gewissen Gelassenheit über neue gesetzliche Bestimmungen nachdenken kann und sich genügend Zeit dazu lassen muss, über deren Notwendigkeit zu entscheiden. Wir haben Jahre gehabt, in denen aufgrund einer normalen saisonalen Grippe bis zu 2500 Menschen gestorben sind, und das trotz Impfungen. Deshalb muss ich sagen, die Panikmache, die auch von den Medien mitgetragen wurde, kann ich nicht verstehen.

Sie haben es angesprochen, es bräuchte jetzt eine ruhige und besonnene Diskussion über die ganze Situation. Warum findet diese nicht statt?

Das ist etwas, was mich beunruhigt. Als die Covid-Krise begann, war zu beobachten, dass Infektiologen, Virologen, Epidemiologen oder andere Spezialärzte aus Spitälern, die sich zu Wort meldeten und eine andere Meinung vertraten, zum Beispiel man müsse nicht so weitgehende Massnahmen ergreifen, völlig ausgeschaltet wurden. Es musste nur einer sagen, er fände die Massnahmen nicht richtig oder übertrieben, dann wurde er in den Medien abgekanzelt und man hat nichts mehr von ihm gehört. Nur diejenigen, die Panik verbreitet haben, sind zu Wort gekommen. In einer freien Demokratie müssen alle Meinungen gehört werden, damit sich die Menschen ein umfassendes Bild machen können. Wir haben hier eine Zensur. Meine grösste Kritik an den Medien und am Bundesrat ist, dass man andere Meinungen gar nicht zulässt. Die Menschen können sich nicht umfassend informieren und müssen über verschiedene Kanäle Informationen sammeln, ohne dass man weiss, wie seriös diese Quellen sind.

Es ist interessant, dass Sie hier so klar von Zensur sprechen…

… ja, Sie wissen, ich komme ursprünglich aus der Tschechoslowakei. Dort hatten wir eine starke Zensur, aber jeder wusste es. In der Schweiz haben wir ebenfalls eine Zensur, aber die Menschen wissen es nicht. Der Bundesrat muss alle anhören, auch insbesondere diejenigen, die die Dinge von einer anderen Seite beleuchten. Die Menschheit hat sich nicht wegen Panik und Stress weiterentwickelt, sondern immer dann, wenn man alle Fakten sachlich analysiert und die richtigen Schlüsse daraus gezogen hat. Wenn das nicht geschieht und Erkenntnisse einfach ausgeblendet werden, handelt es sich um Zensur.

Wo stellen Sie das fest?

Nachrichtensender in anderen Staaten berichten über Erkenntnisse und Fakten, die hier unerwähnt bleiben. Das ist nur deshalb, weil die Erkenntnisse nicht ins Konzept passen. Das ist gefährlich, und ich kritisiere das.

Sie hatten vorher erwähnt, dass man bei einer saisonalen Grippe trotz Impfung ungefähr identische Sterberaten wie bei Covid-19 hat, obwohl es hier noch keine Impfung gibt. Wie viel Wert ist ein Impfstoff?

Der Bundesrat hat bereits mit dem neuen Epidemiengesetz die Möglichkeit, Impfungen für obligatorisch zu erklären. Das war einer der Hauptpunkte, warum ich gegen das Gesetz war. In diesem Entwurf bestätigt er nochmal, dass er die Impfungen für obligatorisch erklären könnte, z. B. für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Da bin ich aber ganz anderer Meinung und habe meine Bedenken. Fachleute bestätigen, dass das Virus sich sehr schnell verändert.

Was bedeutet das?

Sie geben Millionen für die Forschung aus, aber bis der Impfstoff entwickelt ist, hat sich das Virus bereits sehr verändert, und die Wirkung des entwickelten Impfstoffs ist minim. Dazu kommt, dass ein Impfstoff immer auch negative Nebenwirkungen hat und gewisse Immunkräfte blockieren kann. Man muss sich immer gut überlegen, gegen welche Krankheit und gegen welches Virus man impfen will. Wo lohnt es sich zu impfen und wo nicht.

Die Diskussion, um das Impfen taucht immer wieder auf…

… ja, ich muss sagen, dass ich hier das Gefühl nicht loswerde, dass es um sehr viel Geld geht. Da sind die Pharmaindustrie und gewisse Kreise, die ein grosses Interesse an der Entwicklung und vor allem am Verkauf von Impfstoff haben. Wir wissen, dass Bill Gates zum Beispiel mit seiner Stiftung die WHO mit mehreren Millionen unterstützt. Dafür wird seine Stiftung von anderen mit Millionen unterstützt. Auch die Schweiz gibt der Stiftung mehrere Millionen. Er hat vor einigen Jahren eine Firma gekauft, die sich mit Impfungen beschäftigt und das unterstützt. Ob mit der Impfung eine Wirkung erzielt werden kann oder nicht, ist offen, trotzdem kann man viel Geld damit verdienen. Das ist völlig falsch.

Hatten wir nicht schon ähnliche Vorgänge?

Ja, ein gutes Beispiel ist die Schweinegrippe. Hier hat der Bund für ungefähr 80 Millionen Impfdosen gekauft, von denen zwei Drittel vernichtet wurden, weil man sie nie gebraucht hat. Das ist bedenklich. Wenn man den Bundesrat auf diese Problematik anspricht, bekommt man freche Antworten. Es ist unwürdig, wie man mit uns Parlamentariern umspringt. Es ist auch unstatthaft, dass man sich von denjenigen leiten lässt, die mit dem Impfen grosses Geld verdienen wollen. Impf­obligatorium kommt schon gar nicht in Frage, da die nachgewiesene Wirkung bei ca. 50 % liegt. Laut einer Umfrage von «20 Minuten» lässt sich ein Drittel der Befragten impfen. Im Zusammenhang mit Covid-19 sind es mehr, die sich das überlegen. Rund ein Viertel ist dagegen, weil die Risiken zu gross sind.

Würde das revidierte Epidemiengesetz nicht ausreichen und dem Bund genügend Kompetenzen geben, auf eine Epidemie zu reagieren?

Es verleiht genug Kompetenzen. Das ganze Gesetz, das jetzt durchgepeitscht wird, ist unnötig, und vor allem nicht dringlich. Das Epidemiengesetz deckt alles ab, das haben wir in den letzten Monaten gesehen, aber die Laufzeit ist auf ein halbes Jahr begrenzt. Der Bundesrat möchte sich jetzt einen Blankoscheck geben lassen, damit er bis Ende 2022 machen kann, was er will. Dagegen habe ich etwas. Das Epidemiengesetz passt mir zwar immer noch nicht, aber das wurde per Referendum bestätigt, das muss man akzeptieren. Das ist der demokratische Vorgang. Aber das Gesetz ist völlig ausreichend. Das neue vom Bundesrat ausgearbeitete Gesetz braucht es auf keinen Fall.

Frau Nationalrätin Estermann, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

L’État, c’est le Bundesrat? Nein! L’État, c’est le peuple

von Thomas Kaiser

hhg. Für den September plant der Bundesrat, seine notrechtliche Machtfülle bis Ende 2022 vom eidgenössischen Parlament absegnen zu lassen. Sollen unsere Volksvertreter, die sich im Frühjahr widerstandslos in den Hausarrest abordnen liessen nun auch noch «L’État, c’est le Bundesrat» brav abnicken? Angesichts dieser politischen Narretei haben sich Bürgerinnen und Bürger aus allen Kantonen der Schweiz – von links bis konservativ – zusammengesetzt und den Verein «Freunde der Verfassung» gegründet, der sich an der Präambel der Schweizerischen Verfassung und an der Rechtsstaatlichkeit orientiert. Als erste Aufgabe bereitet der Verein bereits jetzt das Referendum gegen das geplante Covid-19-Gesetz vor für den Fall des Falles … Unter www.notrecht-referendum.ch stellt man erfreut fest, wie das Immunsystem hierzulande von unten her bereits arbeitet. So ist es eben: L’État, c’est le peuple …

 

Aus den Unterlagen des Vereins «Freunde der Verfassung»:

Der Bundesrat will die notrechtlichen Kompetenzen, die er sich während der Pandemie angeeignet hat, nachträglich legitimieren und bis Ende 2022 verlängern. Dies muss verhindert werden.

Am 19. Juni hat der Bundesrat den Entwurf für ein Bundesgesetz über die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen des Bundesrates zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie in die Vernehmlassung geschickt.

Er beantragt dem Parlament, dieses Covid-19-Gesetz für dringlich zu erklären. Die Folge: Es tritt sofort nach der Verabschiedung in Kraft. Ein Referendum hat keine aufschiebende Wirkung. Die Abstimmung kann bis zu einem Jahr später stattfinden.

Das Wichtigste in Kürze

Das Gesetz ist unnötig. Der Bundesrat erhält keine neuen Kompetenzen. Aber er könnte sich mit dem neuen Erlass auf ein Gesetz stützen, anstatt befristete Verordnungen erlassen zu müssen.

Die unpräzise Formulierung der Massnahmen ermöglicht dem Bundesrat die Einführung einer erweiterten Impfpflicht.

Das Gesetz ermöglicht Ausnahmen bei der Heilmittelprüfung. Dies kann insbesondere bei vorschnell auf den Markt gebrachten Impfstoffen gravierende gesundheitliche Folgen haben.

Das Vorgehen

Das Ziel ist ein mächtiges und schnelles Referendum, das bis zum Beginn der Herbstsession mit 50 000 Unterstützerinnen und Unterstützern vorbereitet ist.

Damit wollen wir das Parlament dazu bewegen, das Gesetz zurückzuweisen (oder ihm mindestens die Dringlichkeit zu verwehren).

Falls das Gesetz in der Session im September verabschiedet wird, starten wir mit all den Menschen, die sich als Unterstützer eingetragen haben, eine flächendeckende, schnelle Unterschriftensammlung. 

Quelle: www.notrecht-referendum.ch

Die Schweiz muss Schweiz bleiben

von Thomas Kaiser

Die diesjährige Bundesfeier stand auch im Zeichen von Covid-19. Corona hier, Corona dort. Man kann es eigentlich nicht mehr hören. Der Bundesrat lobte einmal mehr die Schweiz, wie gut sie es in der «Corona-Krise» gemacht habe, wobei er vor allem sich selbst meinte und Volksnähe zeigte. Aber er liess es sich auch nicht nehmen, für seine politischen Ziele zu werben. Der Vorsteher des Departements für auswärtige Angelegenheiten, Ignazio Cassis, trat als Redner auf und bekam mit einem zusätzlichen Interview im SonntagsBlick am 2. August erneut eine Möglichkeit, seine Positionen darzulegen. 

Seine 1. Augustrede hielt er in seinem Heimatkanton.¹ Dabei benutzte er den Auftritt als Plattform unter anderem für den Abstimmungskampf gegen die Begrenzungsinitiative. Er lobbyierte für den bilateralen Weg mit der EU und unterstellte alles, was damit zusammenhängt, einer einfachen Formel: Wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen, müssen wir uns mit der EU ins Einvernehmen setzen. Grundsätzlich ist gegen ein entspanntes Verhältnis zu unseren Nachbarstaaten auf keinen Fall etwas einzuwenden, wenn sich die Staaten gleichberechtigt begegnen. Aber das ist bei der EU nicht der Fall. Ins Einvernehmen zu setzen heisst für die Schweiz, sich der europäischen Gerichtsbarkeit unterziehen und die eigene Rechtsprechung an die EU anpassen zu müssen. 

Unser Land nicht an die EU verkaufen

Soll das tatsächlich die Zukunft für unser direktdemokratisches Land sein, dessen Markenzeichen nicht die Anbiederung, sondern die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit ist? Hätten sich vor 150 Jahren die Schweizer dem Deutschen Reich derart angedient, gäbe es die Schweiz, wie wir sie heute kennen, nicht. Sind unsere Bundesräte tatsächlich bereit, unser Land an die EU zu verkaufen? So weit darf es nicht kommen! 

Der Wohlstand, den wir in der Schweiz geniessen, kann nicht allein auf den Handel mit der EU zurückgeführt werden, sondern ist vor allem ein Resultat unseres politisch-gesellschaftlichen Systems und der darin enthaltenen Freiheiten. Aber gerade das passt nicht in das System der EU. Föderalismus, Neutralität, direkte Demokratie, Konkordanz, alles grundsätzliche Einstellungen und innere Werthaltungen, die mit einem Zentralismus à la Brüssel überhaupt nicht  zusammenzubringen sind.

Lieferungen in andere Länder blockiert

Dass die Schweiz trotz politischer Unterschiede mit ihren Nachbarländern Handel treibt, treiben will, liegt in den geographischen Gegebenheiten begründet und hat primär nichts mit der EU zu tun. Auch wenn diese Nachbarstaaten sich entschieden haben, ihre Souveränität an Brüssel abzutreten, kann das niemals der Weg unseres Landes sein. Denn eines ist offensichtlich: Haben die verschiedenen Völker der EU eine andere Vorstellung vom Zusammenleben, bedingt durch ihre Kultur und Geschichte, werden sie von den Dominatoren der EU sehr schnell in ihre Schranken gewiesen. Die grossen Industrienationen bestimmen, und die kleinen Staaten müssen sich unterordnen.

Wieviel oder wenig Solidarität unter den einzelnen Ländern herrschte, war während der Corona-Zeit allen ersichtlich. Das ging so weit, dass man Lieferungen in andere Länder blockierte oder den Handelsfluss verzögerte. Auch die Schweiz war davon betroffen. In einer Krise kommt zuerst das eigene Land. Nichts von grosser Solidarität über die Landesgrenzen hinweg, sondern die eigene Nation ist die erste. Hier ist man nicht sehr weit von Donald Trump entfernt. Zwar hätte der Bundesrat diese Vorfälle am liebsten alle unter den Tisch gekehrt, auch unsere Medien haben sehr zurückhaltend darüber berichtet, aber es war zu augenfällig. Der Bundesrat und gewisse Medien möchten in Hinblick auf die Begrenzungsinitiative oder eine Abstimmung zum Rahmenabkommen verhindern, dass die Bevölkerung ein negatives Bild von der EU bekommt und realisiert, wie wenig die Schweiz bei einer immer stärkeren Anlehnung an die Union noch zu sagen hat. Denn dadurch bestünde die Gefahr, dass die Bevölkerung der Initiative am Ende noch zustimmt oder beim Rahmenvertrag ein Nein in die Urne legt.

Will Cassis Schutz bei der EU suchen?

Wenn Bundesrat Cassis, der immer vom «Drücken des Reset-Knopfs» gegenüber der EU gesprochen hat, worauf bis heute alle noch warten, die Bedeutung der Schweiz als Vermittler und Brückenbauer bezeichnet, was sie ohne Zweifel als neutraler, unabhängiger Kleinstaat sein könnte, er aber gleichzeitig dafür plädiert, sich mehr an die EU anzulehnen, versucht er die Quadratur des Kreises. Entweder versteht er nicht, was Neutralität bedeutet, oder er weiss, dass die Schweizer Bevölkerung die Neutralität als einen wichtigen Grundwert unseres Staates befürwortet, auf dem das humanitäre Engagement bis hin zum Internationalen Komitee vom Roten Kreuz beruht, und versucht so, möglichst keinen Unmut zu wecken. In Tat und Wahrheit ist der Bundesrat zu wenig eigenständig, schielt immer mit einem Auge nach Brüssel und sucht dort die Bestätigung für seine Politik. Das ist unseres Staates nicht würdig.

Ein Blick in die Geschichtsbücher

Als das Deutsche Reich nach der Annektion Österreichs 1938 und der gewaltsamen Errichtung des Reichsprotektorats Böhmen-Mähren 1939 immer mächtiger wurde und Hitlers vorläufiges Ziel, die Errichtung des Grossdeutschen Reichs, immer deutlichere Konturen annahm, wurde es für die Schweiz zunehmend bedrohlicher. Bereits existierten im Deutschen Reich Karten, auf denen grosse Teile der Schweiz ins Grossdeutsche Reich eingegliedert waren».² Jetzt war eine entschiedene Haltung des Bundesrats gefragt. Bundesrat Obrecht hat sich im März 1939 wie folgt geäussert: «Das Ausland muss es wissen: Wer uns ehrt und uns in Ruhe lässt, ist unser Freund. Wer dagegen unsere Unabhängigkeit und unsere politische Unversehrtheit angreifen sollte, dem wartet der Krieg. Wir Schweizer werden nicht zuerst ins Ausland wallfahrten gehen.»³ Damit war gegenüber dem Deutschen Reich eine aufrechte Haltung und klare Position eingenommen. Hiermit soll nicht gesagt sein, dass die EU mit Hitlerdeutschland zu vergleichen sei, sondern diese entschiedene Haltung, die hier Bundesrat Obrecht gegenüber dem bis an die Zähne bewaffneten Nachbarstaat an den Tag legte, stünde unserem Bundesrat gut an. Stattdessen wird laviert, das Schweizer Volk wird mit bedrohlichen Szenarien manipuliert, ähnlich wie während des Lockdowns.

Die Souveränität mit aller Entschlossenheit verteidigen 

Solidarität und gegenseitige Hilfe sind sicher herausragende Qualitäten und zeichnen die Schweiz aus. Aber diese allein genügen nicht, um sich als unabhängiger Staat behaupten zu können. 

Im bereits erwähnten Interview mit dem SonntagsBlick⁴ beteuert Bundesrat Cassis ebenfalls die Bedeutung der Beziehung zur EU und erwähnt irgendwelche politische Studien zu den bilateralen Verträgen, ohne die Quellen zu nennen. Für einen Bundesrat eher mager. Auch beklagt er, dass die Welt immer unsicherer werde. Diese Aussage klingt so, als ob die Welt bisher sicher gewesen und in letzter Zeit, vielleicht meint er seit seinem Amtsantritt im September 2017, immer unsicherer geworden sei. Mag sein, dass Herr Cassis die Welt so wahrnimmt, aber das ist unhistorisch und geht an der Realität vorbei. Auch stellt sich die Frage, welche Schlüsse man aus dieser Feststellung ziehen will, vielleicht doch ins «Ausland wallfahrten [zu] gehen» und sich «den westlichen Grossmächten anzudienen», oder sich auf die eigenen Fähigkeiten zu besinnen und eigenständig seinen Platz in der Welt einzunehmen – bereit zu sein, die Souveränität mit aller Entschlossenheit zu verteidigen.

Völkerrechtswidrige Angriffskriege

Die Welt war noch nie sicher. Immer bestimmten Auseinandersetzungen, Friedensschlüsse und friedliche Phasen und erneute Auseinandersetzungen die Geschichte.⁵ Auch wenn man nach dem Ende des Kalten Krieges von der «Friedensdividende» oder sogar «vom Ende der Geschichte» philosophierte, sah die Realität doch ganz anders aus – als ob es vor dem Kalten Krieg in der Welt friedlich zu- und hergegangen wäre. Weder vor dem Kalten Krieg noch nach dieser Epoche war es friedlich. Schon 1991, also noch vor der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes, eröffnete die USA den Krieg gegen seinen ehemaligen Verbündeten, Saddam Hussein. Weitere Kriege folgten, selbst in Europa. Im Jahre 1999, nach 50 Jahren Existenz der Nato, eröffnete sie einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Serbien, und bereits 2001 begann Bush seinen Krieg gegen den Terror, mit ebenfalls völkerrechtswidrigen Angriffskriegen, deren Auswirkungen wir bis heute spüren (vgl. Interview Alfred de Zayas,  S.6). Im Jahre 2008 forderte Michail Gorbatschow, «Obama soll neuen Kalten Krieg beenden»!⁶ Bis heute ist das nicht geschehen.

Aggressive Aussenpolitik Trumps

Wenn man von einer zunehmenden Unsicherheit sprechen kann, dann betrifft es unter anderem die unberechenbare Aussenpolitik Trumps und die Kündigung der Abrüstungsverträge mit Russland. Doch daran scheint Cassis nicht zu denken, wenn er vorschlägt, sich wirtschaftlich weniger in China zu engagieren. Er beklagt die Verletzungen der Menschenrechte in China, aber nicht die aggressive Aussenpolitik Trumps, das ständige Drohen mit Sanktionen, wenn ein Staat sich nicht der Politik der USA unterwerfen will, was einen schweren Verstoss sowohl gegen die Menschenrechte als auch gegen die Uno-Charta darstellt. Selbst unser Land war mit diesem Vorgehen der USA schon konfrontiert. 

Uno-Verbot über Kernwaffen unterschreiben

Aber etwas Bedeutendes könnte Bundesrat Cassis für den Frieden und eine sicherere Welt tun: den «Uno-Vertrag über das Verbot von Kernwaffen»⁷ unterschreiben und vom Parlament ratifizieren lassen, wie es die Motion vom heutigen Ständerat Carlo Sommaruga verlangt.⁸ Das wäre ein konkretes Engagement für eine sicherere Welt, anstatt sich mit einem Sitz im Uno-Sicherheitsrat auf die Brust zu klopfen und am Schluss mit den Wölfen zu heulen oder passiv zu beklagen, dass die Welt immer unsicherer werde.

Wenn wir die Freiheit und Unabhängigkeit im Land erhalten wollen, müssen Bundesrat und Parlament eine eigenständige auf die internationale Lage, auf die Bedürfnisse der Schweiz und der Menschen im Land ausgerichtete Politik betreiben, anstatt nach den Mächtigen zu schielen und das Volk mit medienwirksamen Lobhudeleien und Angstszenarien zu lenken. 

¹ www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/reden/reden-der-bundesraete.msg-id-79958.html
²alt.zebis.ch/Unterricht/schublade/2dw5RFJGwSrF42xXqqg5RgrxvRtABa/docs/Vom%20Klassenkampf%20zur%20Konkordanz%20%96%20Die%20Schweiz%201918-1959.pdf
³ www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/aktuell/reden---interviews/reden/archiv/reden_christoph_blocher/2004/2004-06-05.html
www.eda.admin.ch/dam/eda/de/documents/das-eda/departementsvorsteher/interviews-bric/200802_Sonntagsblick.pdf
⁵ Daniele Ganser; Imperium USA – Die skrupellose Weltmacht

www.news.ch/Gorbatschow+Obama+soll+neuen+Kalten+Krieg+beenden/325103/detail.htm
www.icanw.de/wp-content/uploads/2017/07/a-conf-229-17-8.pdf
www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-9-10-vom-8-juli-2020.html#article_1062

Die Vielzahl der Flüchtlinge ist eine Konsequenz der wiederholten militärischen und wirtschaftlichen Aggressionen des Westens

Zum neuen Buch Jean Zieglers «Die Schande Europas»¹

Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas und Prof. Dr. Jean Ziegler  (Bild zvg)

Prof. Dr. Alfred de Zayas und Prof. Dr. Jean Ziegler  (Bild zvg)

 

Zeitgeschehen im Fokus In seinem neuesten Buch «Die Schande Europas» beschreibt Jean Ziegler den Umgang mit Flüchtlingen im Mittelmeerraum und deren katastrophale Situation im Lager Moria auf Lesbos. Die Beschreibungen sind erschütternd und gehen unter die Haut. Als Leser ist man geneigt zu sagen: «Kommt zu uns, wir helfen euch.» Was Menschen dort erleben müssen, ist unwürdig und schreit nach sofortiger Änderung. Die Empörung des Autors ist greifbar.

Prof. Dr. Alfred de Zayas Die Empörung des Autors ist absolut berechtigt. Sie haben es gesagt, die Lage der Menschen in Lesbos ist infra-human (untermenschlich), das zeigt Jean Ziegler ungeschminkt auf. Im Auftrag des Konsultativ-Komitees des Menschenrechtsrates ist Ziegler im Mai 2019 nach Lesbos gereist und hat dort mit der Hilfe der Nichtregierungsorganisationen Medico International und Pro Asyl Untersuchungen und Interviews durchgeführt (S. 9–10*). Er beschreibt die Reise des Hochkommissars Filippo Grandi nach Athen, die Parlamentsdebatten, die Folgen des Hurrikan Sorbas (S. 64), auch das Elend, wie vom Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge festgestellt, sowie die Menschenrechtsverletzungen. Man kann nicht gleichgültig gegenüber dieser menschlichen Tragödie bleiben.

Hier braucht es menschliche Reaktionen. Bei Ziegler findet man sie.

Ziegler beruft sich auf ein kluges Wort von Benjamin Franklin: Er war US-Botschafter in Paris kurz vor der französischen Revolution. Als ein junger Rebell ihm vorhielt, dass die US-Unabhängigkeitserklärung und der Hinweis auf die Menschenrechte keine Sanktionen vorsahen, antwortete Franklin «Da irren Sie, denn hinter der Erklärung steht eine erhebliche Macht – die Macht der Schande und der Empörung» (S. 131–132). Der junge Rebell hiess Danton, und man kann heute auch an jene Macht appellieren, die Macht der Moral und der Ethik. Aber wie damals haben weder der Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge noch die Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, (S. 127) ausreichende Mittel und auch keine langfristige Lösung des Problems. 

Was braucht es in dieser Situation?

Ich denke dabei sofort an das 2011 erschienene Buch des französischen Widerstandskämpfers und Uno-Diplomaten, Stéphane Hessel (1917–2013), den ich persönlich kannte und der seinerzeit die junge Generation aufforderte, Mut zu zeigen und sich gegen die sozialen Ungerechtigkeiten in Europa und der ganzen Welt einzusetzen. Von seinem Buch «Empört Euch»² verkaufte er über eine Million Exemplare. Man muss die Macht der Empörung mobilisieren.

Gibt es Beispiele dazu?

Es folgten die «Occupy Bewegung» an der Wall Street sowie andere Protestbewegungen gegen die Folgen der Finanzkrise von 2008. Es gab damals Demonstrationen in Spanien (Podemos), Griechenland (Syriza), und die entsprechenden italienischen, französischen und portugiesischen Protestbewegungen, die sich auf Hessel beriefen. Die Proteste haben aber kaum etwas bewirkt. Man hat sich wohl empört, aber die Empörung hat die Probleme nicht gelöst, und die Uno hat nicht eingelenkt.

Das war geschehen, bevor die grosse Flüchtlingswelle kam. Wie ist es heute?

Nun, wir sehen die Flüchtlings- und Migrationswellen, die zynische Erpressung der EU durch die Türkei, die Geschäfte und Profite, die europäische Konzerne und Nichtregierungsorganisationen mit der Flüchtlings- und Migrationstragödie betreiben, die menschenverachtenden Praktiken der Schlepper-Banden usw.³ Wir wissen, dass die Situation der Flüchtlinge und Migranten erschreckend ist. Man muss etwas tun. 18 000 Menschen waren in den Lagern auf Lesbos und warteten auf die Weiterreise nach Europa, als Jean Ziegler im Oktober 2019 die Insel besuchte. Heute sind es bis 21 000.

Gibt es in Europa irgendwelche Empörung über diese Zustände, wie Sie sie oben beschrieben haben?

Ich beobachte vor allem Indifferenz, Gleichgültigkeit, aber auch eine politische Instrumentalisierung der Krise durch opportunistische Politiker, die keine Lösung haben, aber überall Lippenbekenntnisse zu den Menschenrechten liefern. Papst Franziskus spricht von der Sünde der Indifferenz, der Gleichgültigkeit. Man will nicht darüber nachdenken, man will nicht darüber sprechen. Hier leistet Zieglers Buch einen wichtigen Beitrag, eine Diskussion anzustossen. Wo bleibt der Geist der Bergpredigt⁴, wo ist die menschliche Barmherzigkeit geblieben? Noch lange, bevor wir mit Covid-19 beschäftigt wurden, hatte Papst Franziskus über das «Virus der Indifferenz» gesprochen. 

Was meinte er damit?

Es sagte, dass «in einer Welt, die leider vom Virus der Gleichgültigkeit heimgesucht wird, Werke der Barmherzigkeit das beste Gegenmittel sind. Sie erziehen uns in der Tat zur Aufmerksamkeit für die elementarsten Bedürfnisse der ‹Geringsten unserer Brüder›, in denen Jesus gegenwärtig ist.»⁵ Gegenüber dieser Gleichgültigkeit bildet Zieglers Werk einen Kontrapunkt. 

Was können wir tun? Sind wir aufgefordert, uns wie der barmherzige Samariter zu verhalten und zu helfen?

Gewiss, aber wir haben es nicht mit einem einzelnen Opfer zu tun wie in der biblischen Parabel⁶, sondern mit Millionen von Menschen, die in ihren Ländern nicht mehr leben können oder leben wollen, weil die Zustände auch dort katastrophal sind. Jean Ziegler beschreibt das. Sie wollen nach Europa in der Hoffnung auf ein besseres Leben und stellen fest, dass es hier in Europa ein Alptraum ist. Ziegler hat bereits diese Umstände in anderen Büchern dargelegt, etwa in «Das Imperium der Schande»⁷, «Wir lassen sie Verhungern»⁸ oder «Was ist so schlimm am Kapitalismus?»⁹.

Ziegler erwähnt in seinem neusten Buch auch Zahlen zu den weltweiten Flüchtlingen.

Ja, er hält fest: «Niemals in näherer Geschichte waren so viele Menschen auf der Flucht». (S. 47) Und tatsächlich sind 26  Millionen Flüchtlinge und 47  Millionen «Internally displaced Persons» (Binnenflüchtlinge) heimatlos geworden.10 Ziegler befürwortet die Aufnahme durch Europa von so vielen Flüchtlingen und Migranten wie möglich. Das ist angesichts des herrschenden Elends eine verständliche Reaktion. Persönlich denke ich, dass dies keine langfristige Lösung darstellt.

Warum nicht?

Weil damit vielleicht kurzfristig einigen geholfen werden kann, aber die Ursachen damit nicht bekämpft werden.

Welche Ursachen gilt es zu bekämpfen?

Hier muss man deutlich sagen, dass die Zerstörung der Lebensgrundlage in Ländern im Nahen Osten, in Asien und Afrika, die Verwüstung der wirtschaftlichen und sozialen Infrastrukturen u. a. als Konsequenz der Aggressionskriege der USA im Verbund mit der Nato die Hauptursache darstellen. Hinzu kommen die Massnahmen der israelischen Regierung gegenüber den Palästinensern und insbesondere die Bombardierung von Zivilisten in Gaza, die illegale Blockade usw. Aber man darf auch die Konsequenzen der Sanktionspolitik der USA und der EU gegenüber Syrien und anderen Ländern nicht vergessen, wirtschaftliche Sanktionen, die das Elend vermehrten und direkt zu Migrationsbewegungen geführt haben. Schliesslich darf man die neoliberale und neokoloniale Politik des Westens und des Internationalen Währungsfonds, die so viel Leid verursacht hat, nicht ausser acht lassen.

An welche Länder denken Sie da?

Man könnte sie aufzählen, aber die Liste wäre lang. Es sind die Heimatländer von einem Teil der Flüchtlinge: Afghanistan, Syrien, Irak, Libyen, Jemen, Somalia usw.  

Aber es kommen auch Menschen aus anderen Ländern …

Ja, sie sind nicht nur Opfer der militärischen Aggression wie in den bereits erwähnten Ländern, sondern Opfer der Aggressionen der transnationalen Körperschaften, die durch die sogenannten Freihandelsverträge die wirtschaftlich schwachen Länder in den Ruin treiben. 

Darin sind häufig auch die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) verwickelt. 

Wie geschieht das?

Weltbank und IWF bieten den schwachen Ländern Kredite an und verlangen nachher von den Ländern Reformen, das heisst, alles soll privatisiert werden. Der betroffene Staat muss sein «Tafelsilber» verscherbeln, damit er den benötigten Kredit bekommt. Auch werden die einheimischen Märkte z. B. mit billigen Agrarprodukten aus der EU und den USA überschwemmt, die aufgrund von Subventionen billiger sind als die afrikanischen Produkte und dadurch den einheimischen Markt regelrecht zerstören. Damit wird den Menschen die Perspektive genommen, es kann sich kein Markt mit einheimischen Produkten entwickeln, der für die Entstehung eines Mittelstandes und die Stabilisierung eines Landes äusserst wichtig ist. Meine Berichte an die Generalversammlung und den Menschenrechtsrat sind einschlägig. Dort habe ich diese Mechanismen detailliert beschrieben und auf diese schwerwiegende Problematik aufmerksam gemacht.11 Naomi Klein hat diesen Skandal in ihrem Buch «The Shock Doctrine» (Die Schock Strategie) deutlich angeprangert.12

Was wäre ein sinnvoller Lösungsansatz?

Man muss zunächst die Ursachen genau erforschen und dann die Politik, die das verursacht hat, korrigieren. Das sollte man möglichst schnell in die Wege leiten, damit das Leiden der betroffenen Menschen so schnell wie möglich gelindert werden kann. Die Urheber müssen benannt und es müssten geeignete Massnahmen dagegen ergriffen werden.

Die Hauptursache sind doch illegale Kriege und die ständige Bombardierung von Zivilisten …

… seit Jahrtausenden weiss man, dass Kriege Flüchtlings- und Migrationsbewegungen auslösen; daher das Aggressionsverbot der Uno-Charta in Artikel 2 Absatz 4. Darum liegt die Haupttätigkeit der Uno auf der Friedenserhaltung. Man muss vor allem präventiv wirken, um Konflikte zu lösen, bevor sie zu regionalen oder internationalen Kriegen ausarten. Dort, wo Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit begangen worden sind, soll der Internationale Strafgerichtshof (ICC) tätig werden.13 

Gibt es für Länder eine völkerrechtliche Verpflichtung, Migranten aufzunehmen? 

Artikel 13 der Universalen Erklärung der Menschenrechte besagt: «Jeder Mensch hat das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl seines Wohnsitzes innerhalb eines Staates. Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschliesslich seines eigenen, zu verlassen.»

Was bedeutet das für den einzelnen Menschen?

Dies bedeutet, die Bewegungsfreiheit gilt innerhalb eines bestimmten Staates. Die Ausreise ist zwar erlaubt, aber keine Bestimmung des Völkerrechts garantiert ein Recht auf Einreise, die gemäss der Souveränitätslehre ein Vorrecht jedes Staates darstellt, denn der Staat ist ontologisch dazu verpflichtet, für das Wohlergehen, Stabilität  und den sozialen Frieden im Land zu sorgen.

Es gibt also keine Bestimmung, die das Recht auf Migration garantiert?

Weder der Uno-Pakt über bürgerliche und politische Rechte noch der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, noch die Europäische Menschenrechtskonvention erkennen ein Recht auf Migration an. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 auch nicht. Die Uno-Konvention zum Schutz der Rechte der Migranten schreibt bestimmte Rechte von Migranten fest, nachdem diese im Lande sind. Aber auch sie schafft kein Recht auf Migration. Nur 54 Staaten haben diese Konvention im übrigen ratifiziert, aber – nota bene – Belgien, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Niederlande, Österreich, Polen, Schweden, Ukraine, Ungarn, USA sind nicht dabei.

Was sollen die Europäer tun?

Neben Soforthilfe an die Heimatlosen in den Lagern, soll man eine langfristige Strategie ausarbeiten, um den Menschen in Syrien, Libyen, Irak, Afghanistan ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Niemand will Flüchtling sein, niemand wird emigrieren, wenn die Bedingungen im eigenen Lande gut sind, wenn die soziale und wirtschaftliche Lage eine Zukunft ermöglicht. Darum geht es um eine heimatorientierte Soforthilfe. 

Was müsste in diesem Zusammenhang als erstes geschehen?

Es braucht ein sofortiges Ende der Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, ein Ende der militärischen Aggressionen der EU, Nato, USA, Grossbritanniens, Israels – vor allem in Syrien, Libyen, Irak und Afghanistan. Auch die Sanktionen gegen diese Staaten, die deren Wirtschaft gelähmt, Arbeitslosigkeit und Elend verursacht haben, so dass die Menschen gezwungen werden, ihre Länder zu verlassen, müssen ein Ende haben. Die «Interventionen» durch westliche Staaten haben die Infrastruktur dieser Länder buchstäblich verwüstet. 

Dafür müssten sie doch die Verantwortung übernehmen?

Nach dem völkerrechtlichen Prinzip der staatlichen Verantwortung für völkerrechtswidriges Handeln (state responsibility for internationally wrongful acts) besteht eine Verpflichtung, Wiedergutmachung zu leisten. Es ist also die Verpflichtung – eine juristische und moralische! – der USA, der Nato, der Europäer, Israels, der Türkei usw. diese verwüsteten Landschaften wiederherzustellen. Es ist also unsere Verpflichtung, als europäische Bürger – und als Christen – dafür zu sorgen, dass diese Menschen wieder eine Heimat haben. So steht es in Euripides Medea: «Es gibt kein höheres Übel doch als den Verlust der Heimat.»14 Darum müssen wir uns dafür einsetzen, dass sie «in Sicherheit und Würde» in die Heimat zurückkehren können, wie es in etlichen Uno-Resolutionen heisst. 

Kommen wir zurück auf Lesbos, wie sieht es heute dort aus?

Nach Medienberichten sind zwischen 15 000 und 21 000 Flüchtlinge und Migranten heute noch auf Lesbos.15 Im Mai und Juni 2020 wurden verstärkt Flüchtlinge von den griechischen Inseln auf das Festland und in andere europäische Staaten umgesiedelt.16 Derzeit kommen relativ wenige Flüchtlinge in Lesbos an. Nach den Statistiken des Uno-Hochkommissariats für Flüchtlingswesen (UNHCR) stammten im Jahr 2019 etwa 40 % der Flüchtlinge und Migranten aus Afghanistan, und 28 % aus Syrien. Die Flüchtlingslager auf den Inseln haben ihre Kapazitäten bei weitem überschritten. Vor allem Lesbos und Samos sind mit der Anzahl der Flüchtlinge völlig überfordert. Die Kapazitäten der Flüchtlingszentren auf dem griechischen Festland sind ebenfalls nahezu erschöpft. Durch Covid-19 hat sich die Lage dort wahrscheinlich verschärft. Das ist natürlich eine zusätzliche Sorge, denn bereits sind Covid-19 Infektionen gemeldet worden.17 

Jean Ziegler hat auch in seinen Büchern immer wieder auf das soziale Elend und die Verantwortung der Industrienationen aufmerksam gemacht.

Im Buch «Das Imperium der Schande» hat Ziegler, damals Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, die Verschuldung und den Hunger als «Massenvernichtungswaffen» bezeichnet. Er beschreibt den Kampf gegen Armut und Unterdrückung und prangert den Mangel an Solidarität mit den Opfern an. Im Kapitel V, «Die Refeudalisierung der Welt», schreibt er: «Menschenrechte, schön und gut, aber der Markt ist besser!» Mit anderen Worten, die westlichen Demokratien geben Lippenbekenntnisse zu den Menschenrechten ab, während sie weiterhin Profite aus den Entwicklungsländern ziehen. Tatsächlich, wir sehen das «Imperium der Schande» oder die «Schande Europas» nicht nur auf Lesbos. 

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

1 Jean Ziegler: Die Schande Europas, 2020
2 Stéphane Hessel: Empört Euch, 2011
3 www.solothurnerzeitung.ch/schweiz/schweiz-gruendet-task-force-zur-bekaempfung-von-schlepperbanden-129489209
4 Matthäus V, 1–9
5 www.bistum-trier.de/news-details/pressedienst/detail/News/mittel-gegen-das-virus-der-gleichgueltigkeit/
6 Lukas X, 25–37
7 Jean Ziegler: Das Imperium der Schande, 2007
8 Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern, 2012
9 Jean Ziegler: Was ist so schlimm am Kapitalismus?, 2019
10 www.unhcr.org/figures-at-a-glance.html
11 www.ohchr.org/EN/Issues/IntOrder/Pages/WorldBankPolicies.aspx
www.ohchr.org/EN/Issues/IntOrder/Pages/IMFPolicies.aspx)
12 Naomi Klein: Die Schock Strategie – Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, 2007/2009
13 vgl. Zeitgeschehen im Fokus Nr. 9/10 vom 08.07.2020, 
14 Euripides (480–407 v. Chr.): Medea
15 www.tagesschau.de/ausland/moria-fluechtlinge-101.html
16 greece-moments.com/fluechtlinge-griechenland
17 www.nau.ch/news/ausland/coronavirus-nun-auch-auf-der-fluchtlings-insel-lesbos-angekommen-65675855. https://www.theguardian.com/global-development/2020/may/14/coronavirus-cases-among-refugees-on-lesbos-spark-fresh-calls-for-evacuation

* Die Seitenzahlen beziehen sich auf die französische Ausgabe des Buches von Jean Ziegler

 

Elon Musk bekennt sich zum «Lithium-Coup» in Bolivien 

Elon Musk, CEO des in den USA ansässigen Autoherstellers Tesla, hat seine Beteiligung an dem, was Präsident Morales als «Lithium-Coup» bezeichnet hat, zugegeben. «We will coup whoever we want! Deal with it!», so die Antwort von Elon Musk auf eine Anschuldigung auf Twitter, die US-Regierung habe einen Putsch gegen Präsident Evo Morales organisiert, damit Musk sich das Lithium Boliviens verschaffen könne.

Die ausländische Plünderung von Boliviens Lithium, den weltweit grössten Vorkommen, wird allgemein als eines der Hauptmotive für den Putsch vom 10. November 2019 angesehen. Lithium, ein wesentlicher Bestandteil der in Tesla-Fahrzeugen verwendeten Batterien, entwickelt sich zu einem der weltweit wichtigsten natürlichen Rohstoffe für Elektroautos, Computer und für die Industrie.

Die Putsch-Verwaltung von Jeanine Añez hat bereits ihren Plan angekündigt, zahlreiche multinationale Unternehmen in den Salar de Uyuni einzuladen, die ausgedehnten Salinen von Potosí, die das kostbare Weichmetall beheimaten. Der rechtsgerichtete Vizepräsidentschaftskandidat, Samuel Doria Medina, schlug ein brasilianisch-bolivianisches Projekt vor, bei dem Lithium der Stadt Uyuni verwendet werden soll. Unterdessen heisst es in einem Brief der Aussenministerin des Putschregimes, Karen Longaric, an Elon Musk vom 31. März: «Jede Firma, die Sie oder Ihr Unternehmen unserem Land zur Verfügung stellen können, wird dankbar willkommen geheissen».

Soziale Bewegungen haben wiederholt davor gewarnt, dass Lithium und andere natürliche Ressourcen von den Putschbehörden an ausländisches Kapital abgetreten würden, entgegen den Plänen von Evo Morales‘ «Movement Towards Socialism» (MAS), das Lithium innerhalb Boliviens zu verarbeiten, anstatt den Rohstoff in den globalen Norden zu exportieren. Diese Pläne bedeuteten eine Absage an die neokolonialen Beziehungen, die lateinamerikanische Länder oft mit den imperialistischen Ländern hatten. Die ehemalige MAS-Regierung Boliviens beaufsichtigte die Produktion von Batterien und des ersten Elektroautos durch das staatliche Unternehmen «Yacimientos de Litio Bolivianos» (YLB) in Partnerschaft mit der deutschen Firma «ACISA». In diesem Geschäft hielt der bolivianische Staat die Mehrheitsbeteiligung. Diese Zusammenarbeit sowie zahllose andere staatliche Projekte wurden von den illegitimen Putsch-Behörden gestoppt und Neuwahlen dreimal verschoben. Dagegen wehren sich die Bevölkerung von Uyuni und die sozialen bolivianischen Bewegungen. Im ganzen Land protestieren sie auch gegen die fortlaufende Privatisierung und gegen die erneute Plünderung der natürlichen Ressourcen Boliviens durch rücksichtsloses und ausbeuterisches ausländisches Kapital. ν

Quelle: www.telesurenglish.net/news/elon-musk-confesses-to-lithium-coup-in-bolivia-20200725-0010.html,
25. Juli 2020

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

 

«Bruder Reporter, sehen Sie, wie unser Volk leidet!» 

Behörden aus Chayanta, Norte Potosí, protestieren dagegen, dass das Lithium Boliviens den indigenen Völkern geraubt wird.

«Wie viel Lithium … wie viele unserer Bodenschätze hat man aus Potosí exportiert, und wir in Potosí, was ist mit uns? Wir haben nichts dafür bekommen. Die Vereinigten Staaten bereichern sich daran, Spanien hat sich bereichert, aber Potosí, Bolivien … was ist mit uns? Bruder Reporter, sehen Sie, wie unser Volk leidet! Hier ist die Armut erbärmlich. Es gibt viel zu viel Armut. Vielleicht sind wir innerhalb unserer Gemeinschaft nicht weit genug gekommen, der Lebensstandard ist bedauerlich. Aber wir werden das Lithium verteidigen, Bruder, denn das Lithium gehört Bolivien, das Lithium gehört Potosí, es gehört seinen indigenen Völkern.»

KAWASACHUN NEWS vom 24. Mai 2020

 

«Als kleines Land hätten wir bald den Preis des Lithiums bestimmen können»

Evo Morales: «Wir als Staat hatten mit der Industrialisierung von Lithium begonnen. Als kleines Land mit 10 Millionen Einwohnern hätten wir bald den Preis des Lithiums bestimmen können (…). Sie wissen, dass wir mit 16 000 Quadratkilometern (über 6100 Quadratmeilen) die grössten Lithiumreserven der Welt haben». 

Telesur, 26. Dezember 2019

Frieden am Persischen Golf – auf der Grundlage der Uno-Charta und des Völkerrechts

Zum neuen Buch «Krise am Golf»¹ von Fritz Edlinger und Matin Baraki

von Andreas Kaiser

Die Region im Nahen Osten um den Persischen (auch: Arabischen) Golf ist seit langem im Brennpunkt verschiedener, oft gegensätzlicher Interessen, und zwar nicht nur derjenigen der unmittelbar am Golf liegenden Staaten, sondern auch weit(er) entfernter Mächte. In erster Linie sind die USA und in ihrem Schlepptau Teile der EU zu nennen, aber auch China und Russ­land spielen entscheidende Rollen. Die Golfregion war in den letzten Jahrzehnten Schauplatz dreier entsetzlicher Kriege mit Millionen von Toten und Geflohenen, und seit Washington das mühevoll ausgehandelte Atomabkommen mit dem Iran vor rund zwei Jahren völkerrechtswidrig verlassen hat, bleibt die Region ein «brodelnder Krisenherd». (S. 221)* Fritz Edlinger und Matin Baraki bringen in ihrem vor kurzem erschienen Buch  Licht in dieses komplizierte Geflecht von Allianzen, Konkurrenzen und Feindschaften zu bringen. 

Fritz Edlinger, Generalsekretär der Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen (GÖAB), Herausgeber der Zeitschrift «International» und seit über 40 Jahren für den Frieden im Nahen Osten engagiert, und der afghanische Politikwissenschaftler Matin Baraki, der in Deutschland lehrt, vereinen in ihrem Band 15 Autoren – allesamt ausgewiesene Fachexperten – , die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven das Geschehen am Golf, wo «sich die Welt ein Stelldichein [gibt] und die ohnedies bereits in Überfülle vorhandenen lokalen und regionalen Konflikte um ein Vielfaches [potenziert]», (S. 7) in Vergangenheit und Gegenwart beleuchten. 

Matin Baraki, Fritz Edlinger (Hg.): Krise am Golf. Wien 2020, ISBN: 978-3-85371-466-9

Matin Baraki, Fritz Edlinger (Hg.): Krise am Golf. Wien 2020, ISBN: 978-3-85371-466-9

 

Thematische Vielfalt

Die thematische Breite der Aufsätze erstreckt sich von der Analyse des Begriffs Sicherheit, die von verschiedenen Staaten unterschiedlich interpretiert wird, über die Geschichte und Problematik des Golfkooperationsrates (GCC), über Interessen und Politik des Iran, Saudi-Arabiens, Russ­lands und der USA, über Chinas Seidenstrasseninitiative bis hin zum Islam «als Ideologie der arabischen Expansion». (S. 233ff.) Ebenso werden die Rolle Israels, die Bedeutung des Syrienkonflikts und die Lage Afghanistans bezüglich ihres Zusammenhangs zur Golfregion dargelegt. Dabei lassen es die Autorinnen und Autoren nicht bei einer Analyse bewenden, sondern machen auch konkrete Vorschläge, wie die involvierten Staaten zu einem Ausgleich der Interessen und damit zu einer friedlichen Koexistenz kommen könnten, oder sie beschreiben Initiativen einzelner Staaten, die genau dieses Ziel verfolgen. So erwähnt z. B. Robert Fitzthum den Vorschlag des russischen Vize-Aussenministers Mikhail Bogdanov aus dem Jahr 2019 «zur Errichtung einer inklusiven kollektiven Sicherheitsorganisation». (S. 160) Er gibt der Hoffnung Ausdruck, «dass alle Beteiligten von militärischen Schritten Abstand nehmen und zu diplomatischen Lösungsversuchen […] zurückfinden». (S. 160)

Nur schon die Themenbereiche des Buches belegen die Komplexität der Lage am Golf. Das Konfliktpotenzial lässt sich auch daran ablesen, dass hier rund 60 % der weltweiten Ölreserven lagern – «was seit über einem Jahrhundert kleptokratische Interessen der Weltmächte weckt» (S. 8) –, und durch die Strasse von Hormus zwischen Iran und Oman täglich Supertanker über 20 Millionen Barrel Öl in alle Gegenden der Welt transportieren. (S. 198) 

Der Golfkooperationsrat (GCC)

Aber der Öl- und Gasreichtum sind nicht der einzige Grund für Konflikte. Genauso wichtig ist die geostrategisch exponierte Lage der Region. Diese führte dazu, dass sich die USA als «Schutzmacht» der Golfstaaten etabliert und «exorbitante Geschäfte» ihrer Rüstungsindustrie ermöglicht haben. (S. 87) Ein Mittel für die USA, ihre «Teile und herrsche»-Strategie durchzusetzen, ist der Golfkooperationsrat (GCC).(S. 87) Sechs unmittelbar an den Golf grenzende Monarchien, nämlich Kuwait, Saudi-Arabien, Bahrein, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Oman gründeten im Jahre 1981 unter Federführung Saudi-Arabiens diese Organisation in der Absicht, der befürchteten Ausbreitung der schiitischen Revolution Irans etwas entgegenzusetzen und «eine künftige arabische Dominanz in der Region sicherzustellen». (S. 84) Daher ist die Sicherheitspolitik ein Hauptthema dieser Organisation, und hier liegt auch ihr grösstes Konfliktpotenzial. Spätestens seit dem «Arabischen Frühling» 2011 zeigten sich deutlich unterschiedliche Auffassungen von Sicherheit und spalteten den GCC in zwei Fraktionen. Vereinfacht ausgedrückt sahen die Herrscher in Saudi-Arabien und in den Emiraten ihre Sicherheit durch die Unruhen des Arabischen Frühlings bedroht, während Katar sie durchaus als Chance wahrnahm. (S. 22 ff.) Ausserdem ist der grosse Einfluss Saudi-Arabiens immer wieder ein Streitpunkt. 

Auch in der Beziehung zum Iran, der vor allem aufgrund der Einmischung anderer Mächte zur führenden Regionalmacht wurde, (S. 220) bestehen grosse Unterschiede. Während Saudi-Arabien dessen vermehrten Einfluss in der Region äusserst eifersüchtig beobachtet, sind andere Golfmonarchien an einem guten Verhältnis und an der Zusammenarbeit mit dem Iran interessiert – wie auch umgekehrt. Hinzu kommen weitere Differenzen, die  – so die Analysen von Andreas Krieg und Fritz Edlinger – den GCC als einen «zahnlosen Papiertiger» (S. 86) erscheinen lassen, der schon längst fast ausschliesslich von US-amerikanischer Hilfe abhängig ist. 

Diese Ausführungen können nur einen kleinen Einblick in die Vielschichtigkeit der Konfliktursachen ermöglichen. Viele weitere Aspekte werden von den Autoren thematisiert. Dazu gehört auch ein Ausblick auf mögliche friedliche Konfliktlösungen.

Kaum kaschierte Machtinteressen

Frieden wird es nur geben können, wenn die beteiligten Akteure kompromissbereit sind und auf der Grundlage des Völkerrechts ehrlich verhandeln. Danach sieht es leider nicht aus, wie Karin Leukefeld in ihrem Beitrag aufzeigt. Machtinteressen werden mit schönen Worten vernebelt, sie verbergen aber nur schlecht ihre Verlogenheit. «Europäische Schutzmission» ist ein solcher Ausdruck, der z. B. eine Beteiligung Deutschlands an einem Militäreinsatz am Persischen Golf bezeichnet. Als Leser fragt man sich: Wer oder was soll denn da geschützt werden? Menschen in einem Krisengebiet? Hungernde? Flüchtlinge auf hoher See? Kinder? Kulturgüter? Etwa das Klima? Nein, nichts dergleichen. Die Worte Wolfgang Ischingers, des Chefs der Münchner Sicherheitskonferenz, der deutsche Truppen am Persischen Golf sehen möchte, machen allerdings die Interessenlage deutlich: «Kaum ein Land hängt von der Freiheit der internationalen Schifffahrt so stark ab wie der Exportweltmeister Deutschland.» (S. 198) Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, bläst ins gleiche Horn. Er behauptet, «die Sicherheit des freien Seeweges in der Strasse von Hormus liege im europäischen Interesse.» (S. 198) Will sagen: Wir Europäer schützen unsere Interessen und nehmen uns das Recht, sie in der Golfregion auch militärisch durchzusetzen. Ehrliche Verhandlungsführung und Kompromissbereitschaft? – Fehlanzeige. Übrigens: Die Strasse von Hormus ist von Berlin rund 5800 km entfernt!

Positive Ansätze

Erfreulicherweise gab und gibt es immer wieder Ansätze, die beteiligten Interessengruppen an den Verhandlungstisch zu bringen. Der iranische Präsident Rouhani schlug vor der Uno-Vollversammlung in New York 2019 eine «Koalition für Hoffnung» vor, um einen regionalen Frieden zu erreichen, und im selben Jahr trat Russland mit einem langfristigen Friedensplan hervor, der, auf den Prinzipien der Uno-Charta beruhend, «die Sicherheit für den gesamten Raum des Mittleren Ostens gewährleisten [könne].» (S. 199) Für die Autorin ist «die Position Russlands das komplette Gegenteil zu dem Auftreten der US-amerikanischen Anti-Iran-Hardliner wie Mike Pompeo.» (S. 201) Bezeichnenderweise zeigten sich die Vertreter der europäischen Staaten kaum interessiert und diskutierten lieber ihre militärischen Pläne für die Region! (S. 198) 

Russland ist für den Iran zu einem Partner geworden, von dem er sich offensichtlich fairer und gleichwertiger behandelt fühlt. Eine ebenso immer wichtigere Rolle spielt China: «[…] der Iran gehört heute zu den wichtigsten Ölexporteuren nach China», schreibt Karin Leukefeld und fährt fort: «China finanziert Projekte im iranischen Energiesektor. Für das Projekt der neuen Seidenstrasse sind neben Russland und den zentralasiatischen Staaten sowohl der Iran als auch Irak, Syrien und die Golfstaaten wichtige Stationen auf dem Weg ins östliche Mittelmeer und nach Europa. Diese Entwicklung bietet der Region mehr Chancen auf selbstbestimmte, nationale Entwicklung als westliche Bevormundung.» (S. 209) So verliert der Westen immer weiter an Einfluss, was für die lokalen Akteure neue Chancen bedeuten dürfte. Gegen diese Entwicklung nur militärische Antworten bereitzuhalten, ist ein armseliges Zeugnis verfehlter westlicher Aussenpolitik. Mit dem Niedergang der westlichen Bevormundung «könnten neue Beziehungen zwischen den souveränen Staaten entstehen» (S. 210) – auf der Grundlage der Uno-Charta und des Völkerrechts wären sie tragfähig. 

All das und noch vielmehr erfährt man aus diesem Buch, das zu lesen sich unbedingt lohnt.

¹ Matin Baraki, Fritz Edlinger (Hg.): Krise am Golf. Wien 2020, ISBN: 978-3-85371-466-9

* Die Seitenzahlen beziehen sich auf das besprochene Buch

 

Landwirtschaft: «Wir müssen unser Schicksal in die eigene Hand nehmen und Akteure werden»

Westschweizer Bäuerinnen und Bauern gründen die Genossenschaft «Faire Milch»

Interview mit Anne Chenevard, Präsidentin der Genossenschaft «Faire Milch», Lausanne

Die Landwirtschaftspolitik des Bundes hat in den letzten 20 Jahren dazu geführt, dass die Zahl der Schweizer Milchproduzenten von 44 000 auf knapp 19 000 reduziert wurde. Seit 2009 ist der Milchpreis kontinuierlich gesunken. Im Jahre 2017 hat die Schweizer Bevölkerung dann mit grosser Mehrheit dem Bund den Auftrag gegeben, die Grundlagen für die landwirtschaftliche Produktion in der Schweiz zu sichern. In der Umsetzung des Volkswillens lässt sich der Bund allerdings Zeit. Alleine im letzten Jahr hat die Schweiz weitere 20 000 Milchkühe verloren. In der Romandie haben sich deshalb 2018 vierzehn Milchbäuerinnen und Milchbauern zusammengeschlossen und die Genossenschaft «Faire Milch» gegründet, um diesem Abwärts­trend etwas entgegenzusetzen. Wir haben Anne Chenevard, Präsidentin der Genossenschaft «Faire Milch», auf ihrem Hof in der Gemeinde Corcelles-le Jorat oberhalb von Lausanne besucht und sehr viel Wissenswertes zur Situation der Schweizer Milchwirtschaft, aber auch zur Schweizer Landwirtschaftspolitik im globalen Kontext erfahren.

«Für mich ist es absolut zentral, dass der Bauer Nahrungsmittel für die Bevölkerung produziert, er muss zur Ernährungssicherheit beitragen. Wir müssen autonom bleiben mit dem, was wir bei uns produzieren können. Wir dürfen nicht von Importen abhängen.» (Bild sl)

«Für mich ist es absolut zentral, dass der Bauer Nahrungsmittel für die Bevölkerung produziert, er muss zur Ernährungssicherheit beitragen. Wir müssen autonom bleiben mit dem, was wir bei uns produzieren können. Wir dürfen nicht von Importen abhängen.» (Bild sl)

 

 

Zeitgeschehen im Fokus Wie war die Ausgangssituation, die 2018 zur Gründung der Genossenschaft «Faire Milch» geführt hat?

Anne Chenevard Die Gründung dieser Genossenschaft geht auf den Milchstreik von 2009 zurück. Zur Erinnerung: 2009 wurde die Milchkontingentierung aufgehoben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Bund bestimmt, wieviel Milch pro Betrieb jährlich produziert werden durfte. So hatte man stabile Preise, es gab keine Überproduktion, da jeder nur soviel produzierte, wie das Land brauchte. 2009 hat der Bundesrat entschieden, sich nicht mehr in den Markt einzumischen, und hat das Milchkontingent aufgehoben. Der Bund verfolgt eine liberale Politik und will, dass jeder Markt, ob im Bereich Landwirtschaft, Medikamente u.a. sich selbst reguliert. Die Aufhebung der Milchkontingente führte jedoch rasch zu einer Überproduktion, da sich die Bauern gesagt haben, super, melken wir, was wir können. Dies führte zu einem rapiden Preiszerfall. Wir sind dafür an erster Stelle selber verantwortlich. Anstatt nur für den eigenen Profit zu schauen, hätten wir uns zusammentun müssen, um von uns aus die Milchproduktion zu regulieren. Das ist leider nicht gelungen. 

Wieviel bekam der Produzent für einen Liter Milch vor 2009, und wieviel bekommt er heute? 

Vor 2009 bekam der Bauer mehr als 1 Franken pro Liter Milch, heute sind es im Schnitt noch 50 Rappen. Die Preise gingen nach der Aufhebung der Kontingentierung in den Keller, und es gab in der Folge die Milchstreiks. Sie erinnern sich, es gab Umzüge mit Traktoren, die Bauern verschütteten die Milch auf den Feldern etc. Dasselbe passierte auch in Belgien, in Frankreich und in anderen Ländern; es war eine Bewegung über die Landesgrenzen hinaus. 

Man hoffte, mit diesen Aktionen die Bevölkerung, aber vor allem auch die politisch Verantwortlichen, auf die katastrophale Situation der Milchproduzenten aufmerksam zu machen und sie dazu zu bewegen, die Aufhebung der Kontingente zu überdenken. Doch nichts ist geschehen! Die Preise sanken weiter bis auf 50 Rappen pro Liter heute. Um unsere Produktionskosten zu decken, bräuchten wir aber mindestens 1 Franken. 

Das ist nachvollziehbar, die Tiere müssen ja gefüttert und gepflegt werden, das hat alles seinen Preis…

Ja, und dazu kommt, dass wir in der Schweiz sehr strenge Normen haben. Wir können die Tiere nicht halten wie in Polen oder in Brasilien. Die Tiere müssen Platz haben, und sie müssen raus können. All das erhöht natürlich unweigerlich den Milchpreis, und das gilt genauso für das Fleisch. Der Preiszerfall hat dazu geführt, dass wir innerhalb von 20 Jahren die Hälfte der Milchproduzenten verloren haben. Allein letztes Jahr haben 520 Milchproduzenten aufgehört. Sei es, dass sie nun Fleisch produzieren, sei es, dass sie ihre Felder extensiv bewirtschaften, d.h. auf Biodiversitäts- und Brachflächen setzen, da der Bund dafür viel Geld gibt, und sonst einer anderen Arbeit nachgehen. Wenn ich aufhören würde zu melken und meine Felder extensiv bewirtschaftete, würde ich mit weniger Arbeit viel mehr verdienen. Aber ich würde keine Nahrungsmittel mehr produzieren und nicht mehr zur Ernährungssicherheit beitragen. Für mich ist es absolut zentral, dass der Bauer Nahrungsmittel für die Bevölkerung produziert, er muss zur Ernährungssicherheit beitragen. Wir müssen autonom bleiben mit dem, was wir bei uns produzieren können. Wir dürfen nicht von Importen abhängen. Ich habe für die Ernährungssouveränität gekämpft. 2018 hat das Schweizer Volk über eine diesbezügliche Initiative von «Uniterre» abgestimmt. Die Westschweizer stimmten ihr mehrheitlich zu. Leider ist es uns nicht gelungen, auch die Deutschschweizer zu überzeugen. 

Welche Konsequenz zogen Sie aus der für die Milchproduzenten fast ausweglos scheinenden Situation? 

Wir haben uns gesagt, nun müssen wir, die Milchproduzenten, reagieren. Wir müssen unser Schicksal in die Hand nehmen und Akteure werden. Wir können nicht darauf warten, dass Politiker oder die Gewerkschaft für uns handeln. 

Man muss sich von der Basis her organisieren… 

Genau. Projekte, die von der Basis kommen, sind pragmatisch, brauchen kein Geld – ja, wir haben kein Geld, das vom Himmel fällt und das wir verschwenden können – wir müssen gut organisiert sein, wir müssen klar kommunizieren, was wir wollen und dürfen nichts aufgeben. Wir haben also am 20. Juni 2018 die Genossenschaft «Faire Milch»  gegründet. Wir waren 14 Bäuerinnen und Bauern hauptsächlich aus der Westschweiz. Damit hat alles begonnen. 

Mit welchem Ziel haben Sie die Genossenschaft gegründet?

In unserem Land soll der Schweizer Bauer für seine Milch einen fairen Preis von aktuell 1 Franken bekommen. Milch ist ein wertvolles und vielseitig verwertbares Grundnahrungsmittel, für das der Produzent angemessen bezahlt werden muss. Die Genossenschaft hat sich zum Ziel gesetzt, in der Schweiz sowie im Ausland eine gesunde und nachhaltige Landwirtschaft zu fördern, welche die Natur und die Lebensbedingungen der Produzentinnen und Produzenten achtet. Die Genossenschaft soll dem Gemeinwohl dienen und ist nicht gewinnorientiert. 

Wer kann Genossenschafter werden? 

Im Prinzip jeder Milchproduzent, der den ökologischen Leistungsnachweis (ÖLN) erbringt. Zudem muss er an zwei der drei folgenden Bundesprogrammen teilnehmen: GMF, das heisst, er füttert seine Kühe vorwiegend mit Gras und Heu und reduziert Soja, RAUS: er lässt seine Tiere regelmässig an die frische Luft oder BTS: er hält seine Kühe in einem Freilaufstall. Ich habe z. B. noch einen Anbindestall, aber meine 40 Kühe sind meistens auf der Weide und werden vorwiegend mit Gras und Heu gefüttert. Ich erfülle also zwei der drei Normen. 

Jeder Genossenschafter verpflichtet sich zudem, mit Stand­aktionen in den Verkaufsläden die faire Milch den Kunden bekannt zu machen. Beim Eintritt in die Genossenschaft muss er einmalig einen Anteilschein erwerben, der im Verhältnis steht zur Milchmenge, die er der Genossenschaft liefert. Ich habe z. B. 3500 Franken für den Anteilschein bezahlt, im letzten Jahr jedoch bereits 8000 Franken gewonnen dank dem höheren Verkaufspreis der fairen Milch.

Warum haben Sie die Form der Genossenschaft gewählt?

Weil in einer Genossenschaft jedes Mitglied eine Stimme hat. Es gibt keine Hierarchie, der Vorstand ist nicht bezahlt, und jedes Mitglied engagiert sich im eigenen Interesse für die gemeinsamen Ziele. Die Genossenschaft ist glaubwürdig, sie ist transparent, es gibt Statuten, und sie ist im Handelsregister eingetragen. Sie ist in der Schweiz weit verbreitet und gehört irgendwie zu unserem Wesen. 

Welche Schritte unternahm die Genossenschaft nach der Gründung 2018?

Wir gingen auf den Milchverarbeiter «Cremo» zu und konnten ihn davon überzeugen, unsere Milch zu verarbeiten und abzufüllen. Es ist wichtig zu verstehen, dass unsere faire Milch auf dem Preis des A-Segments (siehe Kasten) basiert, d.h. der Milch, die für den Schweizer Markt bestimmt ist und für die die Milchkäufer rund 65 Rappen bezahlen. Wenn «Cremo» die faire Milch an die verschiedenen Vertreiber weiterverkauft, schlägt sie 35 Rappen drauf, um 1 Franken zu erhalten. Diese 35 Rappen werden an den Konsumenten weitergegeben. «Cremo» seinerseits gibt diese 35 Rappen pro Liter Milch der Genossenschaft zurück, die sie an die Genossenschafter im Verhältnis zu ihren Anteilen verteilt. 

In einem zweiten Schritt konnten wir auch die Käserei Le Grand Pré in Moudon gewinnen, aus fairer Milch verschiedene Weichkäse herzustellen. Dann haben wir Manor gefunden, der als erster sich einverstanden erklärte, unsere Produkte zu verkaufen. 

Am 23. September 2019 haben wir dann unsere Produktepalette lanciert, zuerst bei Manor, dann in zahlreichen kleinen Lebensmittelläden, die sich dafür interessiert haben. Auch Spar, Pam und Edelweiss verkaufen mittlerweile faire Milch. Insgesamt haben wir nun etwa 300 Verkaufsstellen in der Romandie und in der Deutschschweiz. 

Zu welchem Preis kann der Kunde faire Milch kaufen?

Wir möchten, dass der Liter Milch unter 2 Franken verkauft wird. Im Manor bezahlt man 1.80, die kleinen Lebensmittelläden verkaufen sie oft für 1.95 und bei Spar, Pam und Edelweiss kostet sie 1.90. Das ist für den Konsumenten ein erschwinglicher Preis. Natürlich kann es sich nicht jede Familie leisten, immer faire Milch zu kaufen, aber es reicht uns schon, wenn das einmal im Jahr ist. Wir möchten, dass der Konsument die Wahl hat und das Produkt kaufen kann, das seinen finanziellen Mitteln, aber auch seiner Überzeugung entspricht. Die Grossverteiler Coop und Migros haben dafür bis jetzt kein Gehör, aber wir verlieren die Hoffnung nicht. 

Was könnten Kunden tun, damit Ihre Hoffnung in Erfüllung geht? 

Wir haben z. B. viele Kunden, die dem Kundendienst von Coop und Migros schreiben und fragen, warum sie keine faire Milch im Sortiment hätten, wieviel sie den Bauern für die Milch bezahlten etc. Ich bin beeindruckt, wie viele Konsumenten mir telefonieren, Mails oder Postkarten schicken, jemand hat mir ein Buch geschickt, das mir gefallen könnte, ich bin beeindruckt von den Kommentaren, die wir auf Facebook bekommen. Die Grossverteiler behaupten immer, dass der Konsument nicht mehr bezahlen wolle, aber das ist eine Lüge, das ist unehrlich. Ich bin überzeugt, wenn der Konsument weiss, dass der Aufpreis direkt dem Bauern zugute kommt und nicht den Zwischenhändlern, dann macht er mit. Natürlich nicht alle. Nicht alle sind dazu in der Lage. 

Welche Bilanz ziehen Sie aus den ersten 10 Monaten seit der Lancierung ihrer Produkte? 

Wir rechneten mit dem Verkauf von 200 000 bis 400 000 Liter pro Jahr. Dieses Jahr werden wir bereits 1 200 000 Liter verkaufen, das ist zwischen vier- bis sechsmal mehr, als wir uns erhofft haben. Das ist unglaublich, wir sind ausserordentlich zufrieden. 

Mittlerweile haben wir auch den Grossisten Aligro gewonnen und viele Kantinen von Firmen, Schulen, Altersheimen und auch das Universitätsspital Lausanne. Auch viele Restaurantbesitzer nehmen unsere Milch – aus Solidarität, aber auch weil sie gerne mit fairer Milch für ihr Restaurant werben: «Venez boire un bon chocolat chaud au bon goût d’équité.» Es ist eine Win-win-Situation. 

1 Franken pro Liter ist für den Bauern existenziell … 

Ja, absolut, für mich werden es dieses Jahr voraussichtlich 20 000 Franken zusätzlich sein für dieselbe Arbeit. Ich ändere nichts an meiner Arbeit, ich melke meine Kühe wie gewohnt und verdiene 20 000 Franken mehr, das ist unglaublich!

Gibt es auch in der Deutschschweiz und im Tessin Bauern, die faire Milch produzieren?

Ja, wir haben mittlerweile auch Produzenten in der Deutschschweiz und im Tessin. Da der Verkauf bereits in den ersten drei Monaten  (Oktober – Dezember 2019) sehr gut ging, haben wir am 1. Januar 2020 25 neue Genossenschafter aufgenommen, wir sind nun 39, darunter auch Produzenten aus der Deutschschweiz (St. Gallen, Luzern, Bern, Basel, Zürich) und dem Tessin. Es ist super, in der ganzen Schweiz vertreten zu sein. 

Wir haben noch ungefähr 70 weitere Produzenten, die auf der Warteliste sind. Im Moment können wir sie noch nicht aufnehmen. Am 1. Januar 2021 werden wir voraussichtlich 15 weitere aufnehmen. Wir möchten jedes Jahr neue Mitglieder aufnehmen, aber immer in Relation zur verkauften Milch. Wachstum um jeden Preis ist nicht unsere Devise. 

Das ist eine Erfolgsgeschichte, die ermutigt. Die Genossenschaft für faire Milch ist ein Modell für eine andere Wirtschaft. 

Genau, es ist eine andere Form von Wirtschaft, es ist eine partizipative Wirtschaft. Jeder trägt seinen Teil dazu bei, sei es der Konsument, der akzeptiert, mehr zu bezahlen, sei es der Verarbeiter, der gewisse Regeln, die wir Produzenten vorgeben, akzeptiert, sei es der Verkäufer, der seine Marge reduziert, damit das Produkt für den Konsumenten erschwinglich bleibt, alle tragen ihren Teil dazu bei, im Wissen um die Bedeutung einer landeseigenen Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. 

Wir wollen aufbauen und nicht ständig zerstören. Es nützt nichts, zu demonstrieren, wir wollen gemeinsam etwas aufbauen und brauchen dazu Partner, die mit uns zusammenarbeiten. Das ergibt eine Kette, in der alle profitieren: Der Konsument kann sicher sein, dass die Milch, die er kauft, ohne Antibiotika produziert wird, nicht vom andern Ende der Welt kommt, dass die Tiere gut behandelt werden, er kann den Hof besuchen und sieht, dass die Kühe sauber sind, dass sie raus können, nicht nur Soja fressen, und all das hat natürlich seinen Preis. Und jeder muss sich bewusst sein, dass wir Partner sind, um dieses Wissen, diese Exzellenz zu erhalten. Die Schweizer Milch ist wirklich von hoher Qualität. Es existiert ein echtes Savoir-faire, das wir von Generation zu Generation weitergeben. Wenn wir dem nicht Sorge tragen, wenn immer mehr Bauern aufgeben, drohen wir es zu verlieren. Es ist ein materielles und immaterielles Erbe, das nicht mehr weitergegeben würde. Wir sind ein Glied einer grossen Wirtschaftskette. Wenn unser Glied leidet, so hat das Auswirkungen auf andere. «Cremo» z. B. sagt, wenn wir nicht mehr genug Milch haben im Land, dann können wir schliessen. Denn, wenn man beginnt, Milch zu importieren, wird man bald auch Käse, Butter und Joghurt importieren. Oder ein anderes Beispiel: Meine Kühe, wenn sie nicht mehr genug Milch produzieren können, enden sie in der Metzgerei. Ihr Fleisch wird zu Hackfleisch verarbeitet. Dieses Fleisch wird gebraucht, es gibt aber bereits zu wenig, weil es nicht mehr genug Kühe hat. Das wird zu einem Problem für die Fleischindustrie. Es fehlt auch an Kälbern, letztes Jahr hatten wir 20 000 Milchkühe weniger, d. h. auch 20 000 Kälber weniger. Ein grosser Teil der Kälber stammt von Milchkühen. Man vergisst gerne, dass auch andere Sparten betroffen sind, wenn die Milchwirtschaft leidet. Wir sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, da viele Berufe von uns abhängen. Unsere Initiative zeigt, dass man etwas tun kann. Wir Produzenten können nicht das ganze Problem lösen, aber es ist unser Beitrag. Die Politik, die Grossverteiler müssen ihren Beitrag leisten.  Alle müssen sich angesprochen fühlen, auch die Konsumenten können mit ihrem Kaufverhalten viel zur Verbesserung der Situation beitragen. 

Anne Chenevard, herzlichen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg. 

Interview
Henriette Hanke Güttinger und Susanne Lienhard

 

Freihandel und Wachstum – nicht um jeden Preis!

Anne Chenevard: «Auf der politischen Ebene endet der Diskurs oft an unserer Grenze. Man kümmert sich nicht um die Auswirkungen unserer Politik in anderen Ländern. Nehmen wir das Beispiel des Mercosur-Abkommens. Wir werden Rindfleisch aus Lateinamerika importieren, um unsere Industrieprodukte dort verkaufen zu können. Was sind aber die Folgen dieses Freihandelsabkommens für die dortige Bevölkerung? Ein brasilianischer Bauer ist durch die Schweiz gereist, um darüber aufzuklären: In seiner Region ist z. B. eine riesige Produktionseinheit für intensive Rinderhaltung von 2,7 Millionen Hektaren geplant, das entspricht 2,5 mal der Schweizer Landwirtschaftsfläche. Das heisst, man wird dort Wald abholzen, um Soja anpflanzen zu können, um die Millionen Rinder zu füttern. Die Bewohner werden enteignet und verjagt, man zündet ihre Häuser an, man vergewaltigt die Frauen, um ihnen Angst zu machen, damit die Leute ihr Land verlassen und in die Stadt ziehen. Das Rindfleisch, das hier produziert wird, ist alleine für den Export nach China und Europa bestimmt, für die Brasilianer bleibt nichts. Das ist das Mercosur-Abkommen: Wir werden unsere Industrieprodukte verkaufen und im Gegenzug Landwirschaftsprodukte des Mercosur kaufen. Unter anderem Fleisch, das aus dieser Art Produktionseinheiten stammt. Das ist nicht tolerierbar, stellen Sie sich vor, Fleisch zu essen, das unter obigen Bedingungen produziert wurde! Der Bundesrat will natürlich unsere Industrieprodukte verkaufen, aber zu welchem Preis? Wo liegt der goldene Mittelweg? Darf man wirklich die Landwirtschaft und die Menschen am anderen Ende der Welt auf dem Altar des Freihandels und des Wachstums opfern? Das sind dringende Fragen, die Antworten verlangen.» 

 

 

Warum die Schweiz 3000 Tonnen Butter importieren will

In den Medien war zu lesen, dass die Schweiz tonnenweise Butter importieren muss. Haben wir nicht genug eigene Milch für die Butterproduktion?

Anne Chenevard: «Das ist ein organisierter Mangel. Wir hätten genügend Milch. Wir sind sehr erbost darüber. Es gibt viele Produzenten, die frustriert sind und nicht zuletzt deshalb aufhören werden. Es ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Die Milch wird aktuell in zwei Segmente aufgeteilt. Die Milch des Segmentes A ist für die inländische Versorgung und diejenige des Segmentes B für den Export. Qualitativ ist es dieselbe Milch, nur bekommt der Produzent für A-Milch netto 65 Rappen, für B-Milch 30 Rappen weniger. Wieviel Milch der Produzent als A und wieviel als B-Milch verkaufen kann, obliegt der Willkür des Abnehmers. Ein Teil des B-Segmentes wird zu Weichkäse verarbeitet, der auf dem europäischen Markt zu 3 Franken pro kg verkauft wird. Dies ist nur möglich, weil der Bund eine Verkäsungszulage von 15 Rappen pro verarbeitetem Liter Milch bezahlt. Wir zerstören mit diesem subventionierten Billigkäse nicht nur die Käseproduktion in anderen Ländern, sondern verbrauchen dafür auch viel Milch, die für den Schweizer Produzenten keinerlei Mehrwert hat. Nur ein paar wenige  Händler verdienen mit diesem Exportkäse, aber auf Kosten der Milch- und Käseproduzenten hier und im Ausland. 

Wir verlangen, dass diese Milch für die inländische Butterproduktion verwendet wird und dass man uns dafür fair bezahlt, d. h. den Preis für A-Milch. Es mangelt in der Schweiz nicht an Milch, aber sie muss in den richtigen Kanal gelenkt werden.»

 

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