«Sanktionen sind die Ursache, dass Menschen sterben»

Interview mit Prof. Dr. Dr. hab. Alena Douhan*, Völkerrechtlerin und Uno-Sonderberichterstatterin

Prof. Dr. Alena Douhan  (Bild ohchr.org)
Prof. Dr. Alena Douhan (Bild ohchr.org)

Zeitgeschehen im Fokus In den Medien hören wir ständig von den Sanktionen gegen Russland. Aber man spricht nie darüber, wie die Zivilbevölkerung darunter leidet. Wie beurteilen Sie das Regime der Sanktionen?

Prof. Dr. Alena Douhan Als Professorin für Völkerrecht beurteile ich das von zwei Seiten. Es muss eine rechtliche Analyse stattfinden, denn die Länder, auch der EU, betrachten die rechtliche Grundlage gar nicht. Man darf nicht mit illegalen Mitteln auf das Verhalten der anderen Länder reagieren. 

Sie haben vor wenigen Wochen den Iran besucht. Was für einen Eindruck haben Sie bei Ihrem Besuch gewonnen? 

Es war mein vierter Besuch in einem Staat. Vor dem Iran besuchte ich Venezuela, Katar und Simbabwe. Ich muss sagen, jedes Land hat seine eigene Art, wie es mit den Sanktionen umgeht. Der Iran ist ein Land, das unter sehr schwerwiegenden Sanktionen leidet. Dabei geht es nicht nur um die Sanktionen der USA, sondern auch um die anderer Länder. Das Besondere an der Situation des Iran ist, dass er 10 Jahre lang bis zum August 2020 unter Sanktionen des Uno-Sicherheitsrats stand. Diese Sanktionen gibt es heute nicht mehr. Es gibt aber Staaten, die nach wie vor diese Sicherheitsratssanktionen befolgen. Dann gibt es weitere Sanktionen, die sich nicht an den Sicherheitsrat anlehnen. Sie sind begründet mit Menschenrechtsverletzungen, die zum Beispiel Frauenrechte oder Rechte der LGBTQ-Community betreffen. Das macht es für mich kompliziert, die Auswirkungen dieser unterschiedlichen Sanktionen zu beurteilen. Wenn man mich fragt, wie ich die Auswirkungen der Sanktionen der Europäischen Union einschätze, dann kann ich das im Einzelfall nicht beantworten, sondern ich betrachte die Auswirkung der Sanktionen, die von verschiedenen Ländern verhängt wurden. Gleichzeitig scheinen die humanitären Auswirkungen der Sanktionen noch grösser zu sein – durch Übererfüllung der Vorschriften.

Wie haben Sie sich im Iran ein Bild von der Lage verschaffen können?

Ich habe mit allen Betroffenengruppen gesprochen, mit staatlichen und nichtstaatlichen, und habe den starken Eindruck erhalten, dass die Sanktionen massive Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben. Ich traf Verantwortliche in Spitälern, besuchte Krankenhäuser und Universitäten sowie Wirtschaftsunternehmen. Ich sprach mit allen 17 Uno-Vertretungen im Iran sowie mit Botschaftsvertretern sowohl aus Ländern, die die Sanktionen befürworten als auch solchen, die dagegen sind. Ich war an verschiedenen Orten im Iran wie z. B. in Isfahan. Dort habe ich direkt mit von den Sanktionen Betroffenen gesprochen.

Was war Ihr Haupteindruck?

Was mich nachhaltig beeindruckt hat, waren die Auswirkungen der Sanktionen auf das Gesundheitswesen. Ich sprach mit Notfallpatienten, mit solchen, die an genetischen Krankheiten, und mit einigen, die an Krebs litten. Ich sprach auch mit Mitgliedern von Patientenorganisationen, die sich um Menschen mit schweren Krankheiten kümmerten wie z. B. verschiedene Arten von Hauterkrankungen, gynäkologische Krankheiten sowie Blutkrankheiten, schwere Formen von Diabetes usw. Alle diese Personen leiden unter diesen Krankheiten, und es stehen nicht einmal die geeigneten Medikamente zur Verfügung.

Ist das Fehlen der Medikamente ein Resultat der Sanktionen?

Die Auswirkungen der Sanktionen sind nicht immer eindeutig festzustellen. In manchen Fällen ist es unklar, in manchen offensichtlich. In den Fällen, bei denen es um die Gesundheit geht, ist es sehr klar. Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Eine Zeitlang hat der Iran versucht, Medikamente für Menschen mit ernsten Erkrankungen selbst zu produzieren. Er hat diese den Menschen zur Verfügung gestellt, die besonders arm waren. Der Iran hat versucht, alle Komponenten dafür einzukaufen. Als die Sanktionen verhängt wurden, verlor der Iran in der Hauptsache den Zugang zu den Rohmaterialien.

Woher kommen die Arzneimittel?

Die Verfügbarkeit von Arzneimitteln ist ein weiterer Punkt. Nachdem die Sanktionen 2010 verhängt und 2018 wieder eingeführt worden waren, unternahm der Iran grosse Anstrengungen, die Produktion dringend benötigter Medikamente weiterzuführen. So wie aus den Berichten zu entnehmen war, produzierte der Iran 90–95 % seiner Medikamente selbst. Das Problem bestand darin, dass man zwar die Medikamente im Land hätte herstellen können, aber dazu bräuchte es Rohmaterialien.

War die Herstellung von Medikamenten weiterhin möglich?

Die Beschaffung von einzelnen Komponenten zur Herstellung der Arzneien ist ein spezielles Thema. Denn die Länder, die bisher Iran mit den entsprechenden Substanzen versorgt hatten, verweigerten dies aufgrund der erneuten Sanktionen. Das war der Grund, warum sich das Land nach Alternativen umsehen musste, und dabei Gefahr lief, Grundsubstanzen für die Produktion von Arzneimitteln zu bekommen, die von minderer Qualität waren. Sie waren nicht zertifiziert, und auch wenn der Iran mit den erhaltenen Grundsubstanzen Medikamente herstellen konnte, waren diese von minderer Qualität. 

Konnten über diesen Weg alle benötigten Medikamente produziert werden?

Trotz allen Anstrengungen konnten nur 90–95 % der Medikamente im eigenen Land hergestellt werden. Die fehlenden 5–10 % mussten aus dem Ausland importiert werden. Was heute aber geschieht, ist, dass die Arzneimittelfirmen sich weigern, Medikamente in den Iran zu schicken, trotz der Klarstellung, dass es sich um eine humanitäre Ausnahme handelt. 

Die humanitäre Ausnahmeregelung funktioniert aus verschiedenen Gründen nicht: Um die humanitäre Ausnahmeregelung zu aktivieren, muss man von OFAC (Office of Foreign Assets Control) eine Lizenz bekommen. Das ist sehr problematisch und kostet extrem viel Geld. Wenn man eine Lizenz bekommt, gilt sie jedoch nur für einen Monat. 

Was bedeutet das?

Ich habe mit Uno-Institutionen gesprochen wie Unicef oder UNFPA [Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen], und sie bestätigten, dass es ein grosses Problem sogar für einzelne Uno-Institutionen darstellt, eine Lizenz von OFAC zu bekommen, um die Beschaffung von Medikamenten zu garantieren. 

Auch wenn die Lizenz vorhanden ist, sagen die Pharmafirmen in der Regel nein. Sie haben Angst, dass sie dann auch unter die Sanktionen fallen, wenn sie mit dem Iran handeln.

Wenn sich eine Firma entscheidet, die Medikamente zu liefern, ist das dann grundsätzlich möglich?

Sind Firmen bereit, mit dem Iran zusammenzuarbeiten, gibt es ein Problem. Das betrifft den Geldtransfer. Sogar die Unicef, die im Iran tätig ist und mit einer schwedischen Pharmafirma zusammenarbeitet, kann die Bezahlung aus dem Iran an Schweden nicht garantieren. So musste die Zahlung auf einem Umweg über Deutschland ausgeführt werden. 

Wenn bis hierhin noch alles funktioniert hat, dann besteht nur das Problem der Auslieferung. Alle Transportgesellschaften im Iran stehen unter Sanktionen. Jeder, der Waren in den Iran liefert, kann durch sekundäre Sanktionen bestraft werden. Jede Transportversicherung steht unter den Sanktionen gegen den Iran. Ich habe mit all diesen Organisationen gesprochen. Wir haben die Dokumente gesehen, die klar zeigen, dass man die Medikamente nicht an den Iran verkaufen will. Ich habe mit der schwedischen Regierung und mit den Pharmaunternehmen gesprochen, denn wir haben klare Indizien, dass ein Zusammenhang besteht mit den Sanktionen. Aufgrund der fehlenden Medizin haben wir im Iran eine zunehmende Verschlechterung des Gesundheitszustands der Bevölkerung. Die steigende Todesrate kann man nicht nur bei Intensivpatienten wie Diabetikern, Krebskranken und vielen anderen feststellen, sondern auch bei weniger gefährlichen Krankheiten. Die Todesfälle haben sich verdreifacht. 

Gibt es hier konkrete Beispiele, woran man das Problem erkennen kann?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Bei der Krankheit Thalassemia gab es im Durchschnitt 25–30 Todesfälle pro Jahr. Die durchschnittliche Lebenserwartung für diese Menschen liegt bei 45 bis 50 Jahren, wenn die benötigte Medizin vorhanden ist. Als die Sanktionen 2018 wieder in Kraft gesetzt wurden, stiegen die Todesfälle in den letzten drei Jahren auf 130–170. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt jetzt unter 20 Jahren. Es gibt verschiedene Organisationen, die sich um die Probleme kümmern und auf die gleichen Zahlen kommen. 

Sind alle Menschen von den Entwicklungen im Gesundheitswesen betroffen? 

Die sogenannte Mittelklasse im Iran ist es gewohnt, private medizinische Versorgung zu beanspruchen. Sie ist in der Lage, mehr zu bezahlen. Doch das hat sich jetzt geändert, sie kann die privaten Leistungen nicht mehr bezahlen.

Was bedeutet es für den Iran, dass er vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten ist?

Er ist z. B. nicht in der Lage, irgendwelche Zahlungen an internationale Organisationen zu tätigen. Wenn er nicht in der Lage ist, die entsprechenden Beiträge zu leisten, verliert er in internationalen Gremien sein Mitspracherecht. Damit wird der Iran von sämtlichen Gesprächen und der Möglichkeit, an Gesprächen teilzunehmen und Lösungen für Probleme zu entwickeln, ausgeschlossen. Ich habe mit einigen Uno-Agenturen gesprochen, die den Iran darin unterstützen, Lösungen für die Zahlungsprobleme zu entwickeln, aber bisher gibt es keine Möglichkeit. Der Iran kann auch seine Beiträge für die Uno nicht bezahlen wie z. B. für die WHO oder die Unicef.

Was bedeutet das für den Austausch auf diplomatischer Ebene? 

Er ist sehr eingeschränkt. Dazu kommt, dass die iranischen Botschaften in den einzelnen Staaten, die die Sanktionen übernommen haben, nicht in der Lage sind, ihrem Botschaftspersonal Löhne zu bezahlen, weil der Iran keine Konten eröffnen kann. Iran ist vom Swift ausgeschlossen, und deshalb kann man im Land selbst auch nicht mit einer Kreditkarte bezahlen. 

Was bedeutet das für den Handel?

Alle Staaten, die internationale Zusammenarbeit mit dem Iran nicht nur auf diplomatischer Ebene pflegen wollen, sind völlig eingeschränkt. Auch auf der Ebene des einzelnen bestehen Einschränkungen der Handlungsfreiheit. Wegen des Ausschlusses vom Swift ist niemand in der Lage, eine Reise in den Iran, ein Hotel oder einen Flug zu buchen. Sie können nichts dergleichen machen. Auch die Zusammenarbeit im Bereich von Wissenschaft, Kunst und Sport ist nicht möglich. Es gibt keine Möglichkeit der Mitgliedschaft in internationalen Gremien und somit auch keine Zusammenarbeit zwischen Berufsgruppen. Die Iraner können sich nicht an einer internationalen Diskussion beteiligen. Iranische Sportler können nur eingeschränkt an internationalen Wettkämpfen teilnehmen, weil sie keine Reise und keine Übernachtung in einem Hotelzimmer buchen können. 

Sind diese Sanktionen mit den Menschenrechten vereinbar?

Es gibt klare Hinweise, dass einige Menschenrechte durch die Sanktionen verletzt werden, z. B. der uneingeschränkte Handel oder die Möglichkeit des wissenschaftlichen Austauschs in allen Bereichen. Ich habe mit vielen Studierenden gesprochen, und für sie ist es unverständlich, warum sie von der internationalen Zusammenarbeit ausgeschlossen sind. Es ist ein Unding, die wissenschaftliche Zusammenarbeit zu verbieten, denn das ist ein Grundelement für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung eines Landes. Das sind wesentliche Bestandteile der wirtschaftlichen und kulturellen Rechte. Iran ist ein eindeutiges Beispiel, bei dem diese Rechte verletzt werden. 

Wie sieht es mit dem Recht auf Nahrung aus?

Die Situation im Iran ist nicht so schlecht, denn das Land kann vieles selbst produzieren. Die Lage ist im Iran viel besser als in Venezuela. Iran hat eine effektive Wirtschaft, denn es ist ein reiches Land. 

Haben Sie auch mit Bürgerinnen und Bürgern sprechen können?

Ja, ich konnte erfahren, wie normale Menschen von den Sanktionen direkt betroffen sind. Ein Iraner erzählte mir, dass er mit seiner Frau entschieden hat, auf ein weiteres Kind zu verzichten, da aufgrund der Teuerung im Land das eine zu grosse finanzielle Belastung wäre. Das Land hat kaum Einnahmen, die von aussen kommen, denn niemand reist in das Land. Neben dem eingeschränkten Angebot an Waren und den geringen Einnahmen leiden die Menschen unter der extremen Inflation. Der Staat und die Firmen können die Löhne nicht im gleichen Masse erhöhen und müssen versuchen, die Kosten zu reduzieren, so werden die Menschen ärmer und ärmer. 

Hat Iran neben den Sanktionen nicht noch eine grosse Anzahl von Flüchtlingen zu versorgen?

Ja, im Iran gibt es 5,5 Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan und seit dem August 2021 kommen täglich 5 bis 10 Tausend Flüchtlinge dazu. Alle übrigen Nachbarländer von Afghanistan haben die Grenzen geschlossen. Man kann das auf der Web-Seite des UNHCR nachschauen. Dort findet man die Statistiken. Ein zusätzliches Problem ist für den Iran die Tatsache, dass die meisten Flüchtlinge (90 Prozent) keine Papiere oder kein gültiges Visum haben. Vor meiner Reise in den Iran war der Uno-Hochkommissar für Flüchtlingswesen, Filippo Grandi, im Iran. Er hat die Anstrengungen des Iran sehr gewürdigt. 

Wie wird der Iran mit dieser riesigen Belastung fertig?

Zum Beispiel gewährt der Iran den Flüchtlingen unabhängig davon, ob sie Papiere haben oder nicht, freien Zugang zu medizinischer Erstversorgung und zur Schulbildung. Das wird alles vom Staat bezahlt und bedeutet eine extreme Belastung. Wenn jeden Tag fünf- bis zehntausend Menschen in das Land kommen, dann heisst das doch, jeden Tag müssten eine neue Schule und ein neues Spital gebaut werden. Der Sonderberichterstatter für Afghanistan hat bestätigt – und das ist auch mein Eindruck –, dass mehr als die Hälfte der Flüchtlinge Jugendliche seien, denn in der Regel hat eine Familie fünf Kinder. Neben der Knappheit an Medikamenten, dem Zuwachs an Patienten, die die private Versorgung nicht mehr finanzieren können, und der grossen Zahl an Flüchtlingen ist das Gesundheitswesen enorm belastet. 

Wie kann der Iran das finanzieren?

Das ist ein riesiges Problem. Aufgrund der Mindereinnahmen, bedingt durch die Sanktionen, kann der Staat kaum noch Unterstützung leisten. Auch wächst die Zahl der Sozialfälle, die auf staatliche Unterstützungsgelder angewiesen sind. Vor knapp zwei Monaten, gerade in der Zeit, als ich den Iran besucht hatte, gab es dort grosse Proteste gegen die Änderung des staatlichen Unterstützungssystems. Grundnahrungsmittel haben sehr niedrige Preise. Das hat sich jetzt geändert. Der Staat hat die Preise erhöht. Aber die Allerärmsten bekommen noch finanzielle Unterstützung, damit sie sich die Waren leisten können. Andere Menschen, die das früher bekommen haben, wurden nicht mehr berücksichtigt. Die Folgen waren Proteste im ganzen Land.

Wenn Sie mit den Staaten sprechen, die die Sanktionen verhängt haben und ihnen erzählen, was Sie mit eigenen Augen gesehen haben, was bekommen Sie für Reaktionen?

Eine der häufigsten Rückmeldungen von den Staaten, die Sanktionen verhängt haben, ist, dass sie nicht glauben, dass die Lage im Land so schlimm sei. Sie hätten von anderen Quellen nicht gehört, dass die Auswirkungen so stark seien. Bei meinem Besuch in Venezuela habe ich gesehen, wie desaströs diese Sanktionen für die Menschen sind, denn Venezuela hat keine eigene Nahrungsmittelproduktion. 

Ich versuche, sehr genau zu sein und jede Tatsache zu überprüfen, um spezifische Auswirkungen auf Gesundheit, Ernährung, Zugang zu Wasser, sanitäre Einrichtungen, Strom, Bildung und Entwicklung zeigen zu können. Meine Absicht ist es, alle Staaten daran zu erinnern, dass jeder Mensch auf der ganzen Welt grundlegende Menschenrechte geniesst und alle Massnahmen nur in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht ergriffen werden können.

Auf welche Quellen stützen Sie sich?

Um Informationen zu sammeln, spreche ich bei Länderbesuchen mit verschiedenen Interessenvertretern: Regierungen, Krankenhäusern, Universitätsprofessoren, Nichtregierungsorganisationen, internationalen und nationalen humanitären Organisationen, Uno-Agenturen, lokalen Vereinigungen, Botschaften, Opfern von Menschenrechtsverletzungen. Einen Monat vor dem Besuch des Landes rufe ich öffentlich dazu auf, einen Beitrag zu leisten. Alle Informationen werden gesammelt und überprüft.

Leider haben einige Gesprächspartner nicht die Absicht, Informationen, die für die Arbeit des Mandats relevant sind, weiterzugeben, sondern starten stattdessen Verleumdungskampagnen und verbreiten Falschnachrichten.

Wer war in diese Richtung aktiv?

UN-Watch oder andere NGOs ausserhalb des Iran, die sich «Menschenrechte im Iran» nennen, bezeichneten mich als Marionette von China oder vom Iran. Als ich aus Iran zurückgekommen war, waren die Verunglimpfungen so stark, dass sich Michelle Bachelet und der Präsident des Menschenrechtsrats der Sache angenommen haben. Dass ich aus Belarus komme, war ein gefundenes Fressen, meine Integrität in Frage zu stellen. Ich bin eine Professorin für Völkerrecht und habe noch nie einer Partei angehört. Ich mache in den Ländern Untersuchungen nach wissenschaftlichen Kriterien und habe keine politische Agenda. Über die Vorgänge habe ich den Koordinierungsausschuss für Sonderverfahren und das Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte informiert.

Bezogen sich die Angriffe auf Ihren Bericht?

Nein, niemand von denjenigen, die mich angegriffen haben, hat den Bericht gelesen. Das Ziel war, den Fokus von meinen Erkenntnissen weg auf mich und meine Person zu lenken. Das ist etwas, was ständig gemacht wird. Man politisiert die Diskussion, anstatt sich mit den konkreten Inhalten auseinanderzusetzen. Ich versuche immer wieder darauf hinzuweisen, dass wir uns mit den rechtlichen Fragen beschäftigen sollten und nicht mit Politik. Es geht um völkerrechtliche und humanitäre Aspekte. Wenn es irgendwelche Probleme gibt, muss man rechtliche Mittel ergreifen. Es geht um die Anwendung rechtlicher Mittel und nicht darum, ein Land zu bestrafen, wenn es einem anderen nicht Folge leistet. 

Nach all den Dingen, die Sie erzählt haben, stellt sich mir die Frage, ob diese Sanktionen und deren verheerende Folgen auf die Wirtschaft, auf die Politik und damit auf die Zivilbevölkerung mit den Menschenrechten vereinbar sind. 

Das ist eine wichtige Frage, und ich hoffe, ich kann sie zusammenfassend beantworten. Wir müssten mehr über die einseitigen Zwangsmassnahmen sprechen als über die politischen Probleme. Aber dieser Bereich ist so stark politisiert. Das zeigt sich in der Anzahl der verhängten Sanktionen über «bad guys», die aber vor allem die Bevölkerung betreffen. 

Gegen Ende der 90er Jahre war der Sicherheitsrat sehr aktiv im Erlass von Sanktionen, z. B. gegen Sierra Leone oder den Irak. In diesem Zusammenhang entschied der Sicherheitsrat, die Sanktionen auf mögliche Verletzungen der Menschenrechte zu untersuchen. Sanktionen des Sicherheitsrats sind immer legal. Die Auswirkungen waren aber so katastrophal, dass sie die umfassenden Sanktionen gestoppt haben. Es gab auch kaum Sanktionen, die die Öffentlichkeit bedrohten. Das ist in der letzten Zeit bei den Sanktionen gegen den Iran oder gegen Russ­land nicht mehr beachtet worden. Das ist der Grund, warum ich meine, man sollte beginnen, die rechtlichen Aspekte einzuhalten.

Es ist kaum bekannt, dass die Sanktionen verheerende Auswirkungen auf die jeweilige Bevölkerung haben. Woran liegt das?

Die Medien berichten kaum darüber. Man unterdrückt die Informationen, aber die Menschen wollen es auch nicht hören. Es ist etwas sehr Unangenehmes. Aber es ist für die Betroffenen Realität. Sanktionen sind die Ursache, dass Menschen sterben. Das ist der Grund, warum ich sehr besorgt bin über das Konzept zur geplanten Verhinderung von Desinformation. Die EU hat entschieden, ein Gesetz gegen «Desinformation» auf den Weg zu bringen, was ein Verstoss gegen den internationalen Pakt über bürgerliche, politische und kulturelle Rechte darstellt sowie das Recht auf freie Meinungsäusserung in Frage stellt. Ich sehe darin eine grosse Gefahr für die Meinungs- und Pressefreiheit. 

Müsste man nicht eher ein Gesetz erlassen, das verbietet, durch Sanktionen Menschen in die Armut zu treiben?

Ja, es gibt keinen Mechanismus für die Auswertung von einseitigen Zwangsmassnahmen. Im März dieses Jahres organisierte ich eine Expertenkonsultation mit Nichtregierungsorganisationen und eine andere mit Wissenschaftlern, auf denen man sich dafür eingesetzt hat, dass es einen Kontrollmechanismus geben müsste, um die einseitigen Zwangsmassnahmen zu kontrollieren. Das wäre dringend nötig, damit verbindliche Indikatoren geschaffen werden können, die die Auswirkungen der Sanktionen überprüfen. Auch gibt es keine Möglichkeiten, sich gegen einseitige Zwangsmassnahmen zu wehren. Iran hat einzelne Fälle an den Internationalen Gerichtshof überwiesen, Venezuela an den Internationalen Strafgerichtshof. Aber es ist nahezu unmöglich, einen Fall von einseitigen Zwangsmassnahmen an ein Uno-Organ zu überweisen. Iran könnte sich zwar an ein nationales Gericht wenden, z. B. in den USA. Das ist jedoch zu weit entfernt und extrem teuer. Ich arbeite daran, wie man einen Mechanismus in Gang setzen könnte, der es erlaubt, gegen einseitige Zwangsmassnahmen im Rahmen der Uno juristisch vorzugehen und den Opfern zu ihrem Recht zu verhelfen.

Frau Professor Douhan, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

* Prof. Dr. Alena Douhan (Belarus) ist seit März 2020 Uno-Sonderberichterstatterin über die negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen auf die Wahrnehmung der Menschenrechte.
Sie ist Professorin für Völkerrecht, Direktorin des Friedensforschungszentrums an der Belarussischen Staatlichen Universität und assoziiertes Mitglied des Instituts für Friedens- und Konfliktvölkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum. Von 2016 bis 2019 war sie Vizerektorin der Internationalen Universität MITSO in Belarus. Ihre Lehr- und Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Völkerrecht, Sanktions- und Menschenrechtsrecht, internationales Sicherheitsrecht, Recht der internationalen Organisationen, internationale Streitbeilegung und internationales Umweltrecht. Alena Douhan hat über 150 Artikel und Bücher zu verschiedenen Aspekten des Völkerrechts veröffentlicht.

20. Juli 2022

Westliches Messen mit zweierlei Mass

von Dr. phil. Helmut Scheben

Der Jemen ist nicht die Ukraine. Aber an beiden Orten ist Krieg – verbunden mit menschlichem Leid. Wie aber reagieren die Politiker, wie die Medien, wie die Menschen in Berlin, Paris, London, oder auch in Zürich? Wenn zwei das gleiche tun …

Donald Trump erklärte seinen Anhängern die Beziehung zwischen den USA und Saudi-Arabien mit dem ihm eigenen Biertisch-Humor: «Ich sagte zu König Salman: König, wir beschützen dich. Du würdest keine zwei Wochen ohne uns überleben. Du solltest für dein Militär bezahlen.» Trumps erste Auslandsreise ging 2017 nach Saudi-Arabien, wo er mit den Prinzen einen traditionellen Säbeltanz aufführte, nachdem er einen Deal über Waffenlieferungen im Wert von mehr als hundert Milliarden Dollar abgeschlossen hatte. Trump twitterte damals: «jobs, jobs, jobs».

Zu dieser Zeit bombardierte die saudische Luftwaffe schon seit zwei Jahren Tag für Tag den Jemen. Die Golfmonarchie führt an der Spitze einer Militärallianz arabischer Länder seit 2015 einen Krieg gegen Jemen. Laut Angaben aus Riad war das Kriegsziel, den Aufstand der vom Iran unterstützten Huthi-Miliz «Ansar Allah» zu beenden und den geflohenen jemenitischen Präsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi wieder in Amt und Würden zu bringen. In Wirklichkeit geht es dem saudischen König Mohammed Bin Salman aber um weit mehr als Verfassung und Rechtmässigkeit in Jemen.

Saudi-Arabien betrachtet das kleine südliche Nachbarland als seinen Hinterhof, in dem es aus geostrategischen Gründen für Ordnung zu sorgen hat. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts haben die Saudis sechsmal in Jemen militärisch interveniert. Bei der jüngsten Intervention leisteten vor allem die USA, Grossbritannien und Frankreich Unterstützung.

Jemen war schon vor dem Krieg das ärmste Land der arabischen Welt. Es fördert zwar Gas und Öl, aber die Vorkommen werden auf nur 0,2 Prozent der weltweit nachgewiesenen Reserven geschätzt. Jemen liegt aber an der Meerenge von Bab-al-Mandab, einem strategischen Nadelöhr zwischen Rotem Meer und dem Golf von Aden, und dort werden täglich vier Millionen Barrel Oel durchgeschleust. Die freie Durchfahrt ist unverzichtbar für die Golfmonarchien. Der Westen nimmt also in Jemen die bekannten «vitalen Interessen» wahr. In einer überparteilichen Studie zuhanden des US-Kongresses wurden Ende letzten Jahres die Gründe für den Krieg aufgeführt. In Jemen agierten «internationale Terroristengruppen», heisst es da, und ein gescheiterter Staat Jemen wäre nicht nur eine Gefahr für die Schifffahrt, sondern würde überdies dem Iran erlauben, «die Grenzen von Saudiarabien zu bedrohen».

Die aufständischen Huthi-Milizen haben seit 2014 einen grossen Teil des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Ihre führenden Köpfe wurden im Iran in der islamischen Hochschule von Quom ausgebildet. Sie bekämpfen die Regierung Hadi, aber auch die sunnitischen Moslembrüder und die saudischen Wahabiten, die einen fundamentalistischen Islam im Jemen verbreiten. Es geht indessen, wie im gesamten Mittleren und Nahen Osten, nicht um «Religionskriege» zwischen Schiiten und Sunniten, sondern um politische Machtkämpfe, die entlang ethnisch-konfessioneller Grenzen ausgetragen werden.

Die Huthis gehören zu den Haschemiten, einer Elite von politischen Führern und Religionsgelehrten, die sich auf direkte Abstammung vom Propheten Mohammed beruft. Bis zur Ausrufung der Republik im Jahr 1962 hatte dieser Stammesadel über Jahrhunderte die politische Macht inne. Westliche Regierungen geben sich überzeugt, dass die Huthis – trotz Waffenembargo und Seeblockade der jemenitischen Küsten – vom Iran mit Raketen und Kampfdrohnen beliefert werden. Teheran weist jede Beteiligung an dem militärischen Geschehen in Jemen kategorisch zurück.

Jemen war lange ein zweigeteiltes Land, der Norden unter türkisch-osmanischer, der Süden unter britischer Kolonialherrschaft. In den 1960er Jahren strahlte der «blockfreie» Nationalismus des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser auf die arabische Welt aus und warf Öl auf den Flächenbrand der Unabhängigkeitsbewegungen. 1962 triumphierte im Norden eine Republik Jemen über die alte, halbfeudale Stammesgesellschaft. 1967 wurde im Süden eine «Demokratische Volksrepublik» ausgerufen. Der Norden war westlich orientiert, der Süden wurde ein Brückenkopf der Sowjetunion. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion fand – fast gleichzeitig mit dem Mauerfall in Deutschland – eine Wiedervereinigung statt, die ähnlich wie in Deutschland die weitgehende wirtschaftliche Übernahme des sozialistischen Südjemen durch den kapitalistischen Norden nach sich zog.

Jemen, ein zerrissenes Land

Zu dieser Zeit war Ali Abdullah Saleh schon zwölf Jahre lang Präsident des Nordjemens, und niemand ahnte, dass er sich mit seinem Clan weitere zwei Jahrzehnte an der Macht halten würde. Seit den Aufständen gegen die osmanische und britische Kolonialherrschaft im letzten Jahrhundert war der Jemen ein zerrissenes Land, in dem die Machtkämpfe mit militärischer Gewalt ausgetragen wurden und politische Allianzen und Fronten ständig wechselten. Gewaltsame Erhebungen, Putsch und Mord waren in all diesen Jahren beinah die normale Form des Regierungswechsels. Die Stämme und ihre Kultur, ihre Formen der Rechtsprechung und Konfliktbewältigung haben bis heute mehr Gewicht als staatliche Justiz, Polizei und Verwaltung.

Saleh schaffte es 33 Jahre lang, die Clans und Interessengruppen gegeneinander auszuspielen und Loyalitäten zu erkaufen. Als 2011 der sogenannte «Arabische Frühling» den Jemen erreichte, brach die von Saleh gelenkte Machtbalance zusammen, und alle Versuche, unter Vermittlung des Golfkooperationsrates und der Uno eine Reformregierung und einen friedlichen Übergang zu etablieren, schlugen fehl. Das war der Moment, in dem die Huthis ihre politische und militärische Offensive begannen. Sie konnten 2014 innerhalb kurzer Zeit die Hauptstadt Sanaa einnehmen und dringen ständig weiter nach Süden vor.

Im Jemen wird – trotz aller Dementis auf beiden Seiten – in einem Stellvertreterkrieg der Machtkampf zwischen den USA und dem Iran der Ayatollahs ausgetragen. Die saudischen Kampfjets und Helikopter aus den USA sind in dieser Hinsicht nicht mehr und nicht weniger als das militärische Werkzeug westlicher Geostrategie. Saudi-Arabien führt einen Präventivkrieg, der es täglich 200 Millionen Dollar kostet, um zu verhindern, dass der Feind Iran über seinen Einfluss auf die Huthis in die Nähe der saudischen Grenze kommen könnte. Klingt diese Art von Argumentation seit dem 24. Februar 2022 nicht irgendwie bekannt?

In London oder Paris wurden aber bislang keine jemenitischen Flaggen an den Balkonen gesichtet. In Zürich wurden keine Konten saudischer Geschäftsleute gesperrt. Keine Schulklassen singen in Berlin auf der Strasse, um Geld für den Jemen zu sammeln, und keine Parlamentarierin ist in den Jemen gereist, um vor den Ruinen der Luftangriffe Betroffenheit darzustellen. Der Westen ist eben stets bereit, die Konflikte, die man Russen oder Chinesen anlasten kann, mit grosser Empörung zu bewirtschaften. Bei den eigenen Kriegen nimmt man es weniger genau mit der Empörung. 

Zuerst erschienen bei globalbridge, https://globalbridge.ch/westliches-messen-mit-zweierlei-mass/

Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.

20. Juli 2022

«Putin ist nicht von Europa abhängig»

von Thomas Kaiser

Eine Tageszeitung titelte: «Europa ist Putin nicht ausgeliefert.» Dieser Titel erstaunt nicht, passt er doch zum gängigen Narrativ in der westlichen Medienwelt. Man wirft Putin in verschiedenen Zeitungen Erpressung vor und beschuldigt ihn, «Erdgaslieferungen als Waffe» zu benutzen. Die westlichen Spekulationen, ob Nord-Stream 1 nach den notwendigen Wartungsarbeiten werde in Betrieb genommen wird bzw. ob die in Kanada revidierte Turbine, die dort blockiert ist, wieder eingesetzt werden könne, gehören zur medialen Stimmungsmache. Die Berichterstattung über die aktuellen Entwicklungen im (Wirtschafts-)Krieg zwischen Russland und der EU bzw. Nato lassen den Schluss zu, dass alle bestehenden Krisen das Resultat der russischen Aggression sind. Doch das ist kaum an der Realität orientiert. 

Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine verkündete der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz als erstes, die Pipeline Nord-Stream 2, deren Fertigstellung schon seit 2019 mit Sanktionen der USA¹ massiv behindert wurde, werde nicht in Betrieb genommen. Die nötigen Zertifikate würden nicht erteilt.² Relativ schnell waren die fossilen Brennstoffe ins Zentrum des Wirtschaftskriegs gerückt, der seit Jahren, unter Donald Trump verstärkt, von den USA gegen ­Russland geführt wird. Die Ukraine in der Person Präsident Selenskijs, sekundiert von den USA, verlangte auch prompt nach dem Beginn des Krieges von Europa, keine Gas­importe aus Russland weiter zuzulassen.³ Zu diesem Zeitpunkt verteidigte die Grüne Kriegstreiberin und ihres Zeichens deutsche Aussenministerin, Annalena Baerbock⁴, den für Deutschland lebensnotwendigen Gasimport aus Russland. Ein paar Wochen später, Ende April, erfolgte dann die Kehrtwende: «Was wir mehr denn je tun müssen, ist, unsere Energieimporte von Russland ein für alle Mal zu beenden.»⁵ Wenige Wochen später wird sie noch deutlicher: «Nie mehr Gas aus Russland».⁶ 

Russland ruinieren

Zwar scheint man bei der Grünen Regierung in Deutschland die Konsequenz der eigenen Worte unterschätzt zu haben, denn seit einigen Tagen herrscht Panik im deutschen Energieministerium. Wird Nord-Stream 1 nach den regulären Wartungsarbeiten wieder hochgefahren oder erfüllt sich Baerbocks sehnlichster Wunsch, kein Gas mehr aus Russland zu beziehen, schneller als sie selbst erwartet hat? Die Folgen sind nicht nur weiter steigende Preise für fossile Brennstoffe und «Frieren für die Ukraine», sondern, wie Wirtschaftsapologeten voraussagen, ein massiver Wirtschaftseinbruch, der ganz Europa in den Abgrund reissen könnte.⁷ 

Als Beobachter der Entwicklungen fragt man sich je länger, je mehr, was hier eigentlich gespielt wird. Deutschland ist eine parlamentarische Demokratie, und die Aufgabe der amtierenden Regierung besteht wie in allen Demokratien darin, ein Land zum Wohle der Bevölkerung zu regieren und Schaden von Land und Bevölkerung fernzuhalten. So lautet der Amtseid in Deutschland für Bundespräsident und Bundeskanzler denn auch: «Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.»⁸

«Frieren für die Ukraine»

Wie ist dieser Schwur, den der Bundeskanzler als Verantwortlicher für die Politik im Land geleistet hat, damit zu vereinbaren, dass aus undurchdachter und emotional geprägter Politik, die Bevölkerung schon heute darauf eingeschworen wird, sich auf einen kalten und ungemütlichen Winter einzustellen. Dabei geht es keinesfalls um das Wohl des eigenen Landes, sondern um das «Frieren für die Ukraine», wie der Grüne Minister Robert Habeck grossspurig verkündete.⁹ Mit anderen Worten, Deutschland und seine Bevölkerung werden bewusst in eine Krise geführt – für einen fremden Staat. Was es den Ukrainern bringen soll, wenn Deutschland und in dessen Gefolge weitere EU-Staaten in eine massive Wirtschaftskrise schlittern werden, ist dabei natürlich nicht erklärt.

Logik des Kalten Kriegs

Russland unter Putin, und diese Auffassung kennt man noch aus der Zeit des Kalten Krieges, sei an allen Fehlentwicklungen, die in Europa immer deutlicher zu beobachten sind, schuld: angefangen bei den hohen Benzinpreisen und aufgehört bei der Inflation. Dass letztere vor allem mit der Corona-Politik der letzten zwei Jahre zusammenhängt, wird tunlichst verschwiegen. Dass Putin seine fossilen Brennstoffe als Waffe einsetzen würde, ist doch eine Verdrehung der Realität. Putin begann zweifelsohne den offenen Krieg, den der Westen schon seit Jahren verdeckt geführt hatte. Die Antwort darauf waren massive Sanktionen, wie man diese auch schon 2014 gegenüber Russland erlassen hatte, mit dem Ziel, die Krim in die Ukraine zurückzuholen – ohne Erfolg. Die Aussage eines deutschen Admirals: «Die Halbinsel Krim ist weg, sie wird nicht zurückkommen.»10 löste am Anfang diesen Jahres eine massive Empörung aus und führte nicht zuletzt zu seinem Rücktritt. Doch geändert hat dies an den bestehenden Realitäten nichts.

Die Bundesregierung hat Nord-Stream 2 gestoppt und damit eine auf Jahrzehnte hinaus gesicherte Gasversorgung gekappt. Diesen Schritt hat Deutschland vollzogen und nicht Russland. Man hat das Erdgas als Waffe benutzt, um Russ­land in die Knie zu zwingen. «Das wird Russland ruinieren», verkündete Baerbock vollmundig schon kurz nach Kriegsbeginn.11 Zu wenig Gas für den Winter war also keine Drohung des russischen Präsidenten, sondern ein von der Bundesregierung heraufbeschworenes Szenario, falls Deutschland kein Gas mehr aus Russland importieren würde. 

Verhandlungen mit Putin dringend geboten

Anstatt endlich den Weg von Verhandlungen zu gehen, wird der Krieg weiter geschürt und am Laufen gehalten. Dabei hätte es in den vergangenen Wochen mehrmals die Gelegenheit gegeben, mit Putin in Verhandlungen zu treten. Doch das Denken in Kriegskategorien und die Logik der Waffen haben das verhindert. Jeden Tag sterben Ukrainer im Kampf gegen Russland, damit das eigentliche Ziel des Westens erfüllt wird: «Putin darf seinen Krieg nicht gewinnen.»12 Joe Bidens angeblicher Versprecher, dass Putin gestürzt werden müsse, gibt unverhohlenen Einblick in das US-amerikanische Kriegsziel.13 Das ist zynisch, denn tatsächlich sterben die Ukrainer für den Westen, damit der Nato-Krieg gegen Russland weitergeführt werden kann.

Wo bleibt die Vernunft? 

Wo sind die vernünftigen Stimmen? Wo ist die Schweiz mit ihrem Potential in der Friedensvermittlung und Mediation? Man hört nichts. 

Es sind Sommerferien. Man darf wieder fliegen: auf die Malediven, in die Karibik, auf Gran Canaria, auf die Seychellen etc. Der Krieg läuft weiter und hat immer noch das Potential zum ganz grossen Krieg. Wird nicht vermittelt, sterben die Menschen weiter. Wie war es doch in der Juli-Krise 1914? Die Grossmächte setzten auf Konfrontation, während die Bevölkerung an den Stränden des Atlantiks, des Mittelmeers sowie der Nord- und Ostsee unbeschwert die Ferien genoss. Das jähe Erwachen mit Generalmobilmachung und Kanonendonner holte die ahnungslosen Menschen in die brutale Realität eines fürchterlichen Kriegs, der über vier Jahre dauerte, Europa zerstörte und 20 Millionen Tote zurückliess. Damals hatte die Diplomatie versagt, weil die Regierungen und das Militär auf Krieg eingestellt waren, um das Machtgerangel in Europa zu beenden und um mit «allen Kriegen für immer Schluss zu machen». Weit gefehlt. 

Wenn nicht ernsthaft nach einer Lösung im Sinne der kollektiven Sicherheit gesucht wird, kann es am Ende der Sommerzeit auch für die europäische Bevölkerung ein böses Erwachen geben. Der Westen lebt in einer Scheinillusion, dass er den Lauf der Welt bestimmen könne, wie er es spätestens seit der Kolonialzeit getan hat. Das entpuppt sich mehr und mehr als Trugschluss. Asiatische und afrikanische Staaten lassen sich nicht länger am Gängelband des Westens führen. Sie haben einen anderen Blick auf die Welt und vor allem haben sie Jahrzehnte erlebt, was es heisst, von den Europäern bevormundet und gedemütigt zu werden. Auf gut deutsch gesagt, haben sie «die Schnauze voll».

Die am Anfang zitierte Überschrift müsste daher lauten: «Putin ist nicht von Europa abhängig.» Diese Sichtweise würde die Tür für ernsthafte Friedensgespräche öffnen.

¹ www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fwirtschaft%2F2019-12%2Fnord-stream-2-gaspipeline-usa-donald-trump-nord-stream-2-gaspipeline-usa-donald-trump-russland-sanktionensanktionen

² www.nzz.ch/international/nord-stream-2-kanzler-scholz-stoppt-zertifizierungsverfahren-ld.1671116 

³ www.welt.de/politik/ausland/article237675731/Ukrainischer-Praesident-Selenskyj-ruft-Deutsche-zu-Boykott-von-russischem-Gas-auf.html

www.tagesschau.de/ausland/europa/baerbock-importstopp-gas-oel-101.html

www.tagesspiegel.de/politik/wir-koennen-dies-nicht-ungeschehen-machen-baerbock-gesteht-fehler-in-der-energiepolitik-mit-russland-ein/28265456.html

www.stern.de/politik/ausland/baerbock--deutschland-wird--fuer-immer--auf-russische-energie-verzichten-31848158.html

ch.marketscreener.com/boerse-nachrichten/nachrichten/Studien-Gas-Engpasse-treffen-Deutschland-besonders-stark--40840535/

⁸ GG Art 56 / 64

report24.news/robert-habeck-moechte-frieren-fuer-die-ukraine-notfalls-auch-gesetzlich-durchsetzen/

10 www.swissinfo.ch/ger/alle-news-in-kuerze/-krim-ist-weg----marine-inspekteur-tritt-nach-welle-der-empoerung-ab/47285474

11 www.tagesspiegel.de/politik/das-wird-russ­land-ruinieren-usa-eu-und-grossbritannien-sanktionieren-putin-und-lawrow/28105948.html

12 www.zdf.de/nachrichten/politik/scholz-davos-ukraine-krieg-russland-100.html

13 weltwoche.ch/daily/bidens-angeblicher-versprecher-enthuellte-die-wahren-plaene-der-usa-kein-russland-keine-friedensloesung-kein-unabhaengiges-europa/

 

Pro memoria

«Ich behaupte, dass wir die erste Rasse der Welt sind und dass es um so besser für die menschliche Rasse ist, je mehr von der Welt wir bewohnen. Ich behaupte, dass jeder Acker, der unserem Gebiet hinzugefügt wird, die Geburt von mehr Angehörigen der englischen Rasse bedeutet, die sonst nicht ins Dasein gerufen worden wären. Darüber hinaus bedeutet es einfach das Ende aller Kriege, wenn der grössere Teil der Welt in unserer Herrschaft aufgeht… Die Förderung des britischen Weltreiches, um die ganze zivilisierte Welt unter britische Herrschaft zu bringen, die Wiedergewinnung der Vereinigten Staaten, um die angelsächsische Rasse zu einem einzigen Weltreich zu machen. Was für ein Traum! Aber dennoch ist er wahrscheinlich. Er ist möglich. 

Da Gott offenkundig die englisch sprechende Rasse zu seinem auserwählten Werkzeug formt, durch welches er einen Zustand der Gesellschaft hervorbringen will, der auf Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden gegründet ist, muss er offensichtlich wünschen, dass ich tue, was ich kann, um jener Rasse so viel Spielraum und Macht wie möglich zu geben. Daher, wenn es einen Gott gibt, denke ich, dass das, was er gern von mir getan haben möchte, ist, so viel von der Karte von Afrika britisch rot zu malen als möglich und anderswo zu tun, was ich kann, um die Einheit zu fördern und den Einfluss der englisch sprechenden Rasse auszudehnen.»

Cecil Rhodes, Premierminister der Kapkolonie in Südafrika, 1877

20. Juli 2022

«Mit dem Eintritt in die Nato erhöhen Schweden und Finnland das Risiko, in einen nuklearen Konflikt verwickelt zu werden»

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild zvg)
Jacques Baud (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Sie haben für die Nato gearbeitet und kennen die Mechanismen dieser Organisation sehr genau. Was bedeutet die «Nato-Norderweiterung» für die aktuelle Lage?

Jacques Baud In Wirklichkeit hat sich die Situation trotz der emphatischen Äusserungen nicht geändert. Man muss verstehen, dass die Ankündigung der Kandidaturen von Schweden und Finnland im wesentlichen politischen Charakter hat, denn der Gipfel von Madrid hat lediglich die Kandidaturen dieser beiden Länder akzeptiert. Ich möchte daran erinnern, dass gemäss Artikel 10 des Washingtoner Vertrags die Nato neue Mitglieder einlädt und nicht die neuen Mitglieder sich für den Beitritt zum Bündnis entscheiden. Die Nato brauchte einen «kleinen Erfolg». Die Streitkräfte, die sie acht Jahre lang in der Ukraine finanziert und ausgebildet hat, sind gegenüber Russland gescheitert. Das Problem ist nicht die Entschlossenheit der ukrainischen Soldaten, die sicherlich tapfer sind, sondern die Unfähigkeit der Generalstäbe, einen Krieg in einem europäischen taktisch-operativen Umfeld zu führen. Das ukrainische militärische Versagen ist daher sehr weitgehend auch ein Versagen der Nato. Hinzu kommen die westlichen Sanktionen gegen Russland, die sich tendenziell gegen unsere eigenen Volkswirtschaften richten. Die Situation hat bereits die Regierungen Bulgariens, Estlands, Grossbritanniens, Frankreichs und ­der Niederlande beeinflusst – und es ist wahrscheinlich noch nicht das Ende dieser Entwicklung.

Wie lange wird es gehen, bis die beiden Staaten definitiv in die Nato aufgenommen werden?

Es wird bis zum nächsten Nato-Gipfel im Jahr 2023 dauern. Dann werden die Verbündeten entscheiden, ob sie den tatsächlichen Beitritt von Schweden und Finnland akzeptieren oder nicht. Ich denke jedoch, dass ihr Beitritt planmässig erfolgen wird.

Welche Rolle spielt die Türkei, die einen Beitritt verhindern wollte?

Es muss daran erinnert werden, dass die Aufnahme neuer Mitgliedsländer nur mit Einstimmigkeit der Verbündeten erfolgen kann. Mit anderen Worten: Jede Stimme zählt. Die Türkei ist ein treuer Verbündeter des Bündnisses, der sich aber nicht scheut, seine nationalen Interessen geltend zu machen. Während meiner Zeit bei der Nato hatte ich viel mit den Türken zu tun. Man kann mit ihrer Politik einverstanden sein oder nicht, aber man muss zugeben, dass sie wahrscheinlich die konsequentesten Mitglieder sind und am ehrlichsten ihre Interessen innerhalb des Bündnisses behaupten. 

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Ja, als die USA ihre Operation im Irak durchführen wollten, war die Türkei dagegen, weil sie spürte, dass dies Auswirkungen auf die Situation der Kurden und damit auf die eigene nationale Sicherheit haben würde. Doch die Amerikaner hörten nicht auf sie. Heute beruft sich die Türkei auf ihre nationale Sicherheit. Schweden und Finnland haben immer eine sehr kurdenfreundliche Haltung eingenommen und sehr viele Flüchtlinge aufgenommen, darunter auch Mitglieder der PKK, der kurdischen Arbeiterpartei, die in vielen Ländern als terroristische Bewegung eingestuft wird. Übrigens betrachtet sogar die Europäische Union die PKK als terroristische Organisation.¹ Für die Türkei ist dies eine Frage der nationalen Sicherheit. Es war daher ziemlich vorhersehbar, dass die Türkei als Gegenleistung für ihre Stimme ihre eigenen Sicherheitsinteressen einfordert. Was für die nordischen Länder gilt, gilt auch für die Türkei. 

Warum hat die Türkei vorerst ihr Veto zurückgezogen?

Zunächst einmal war zu erwarten, dass die Türkei ihr Veto nicht einlegen würde, denn für die Nato stand zu viel auf dem Spiel. Es war klar, dass sie unter Druck gesetzt werden würde, die Kandidatur der beiden Länder zu akzeptieren. Die Türkei ist bereits Gegenstand von Sanktionen seitens der USA, weil sie es «gewagt» hat, russische Luftabwehrraketen zu kaufen. Die USA verhängen automatisch Sanktionen gegen alle Länder, die russisches Militärmaterial kaufen. Das ist der CAATSA Act². Aus diesem Grund wurde die Türkei aus dem F-35-Programm herausgenommen und erhält auch keine Ersatzteile mehr für ihre F-16-Flugzeuge. Es war daher ein leichtes, die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Zustimmung einzutauschen. Aber es zeigt auch, dass die westliche Einheit durch die Androhung von Sanktionen erreicht wird …

In den westlichen Medien wird der zukünftige Beitritt der beiden Staaten in die Nato als ein grosser Zuwachs an Sicherheit und militärischer Schlagkraft gefeiert. Stimmt diese Einschätzung?

Nein, dies wird keine radikale Veränderung sein. Schweden wollte in den frühen 1960er Jahren Atomwaffen haben. Die USA ihrerseits wollten das Monopol auf diese Waffen behalten. Um Schweden zum Verzicht zu bewegen, boten die USA ihm an, im Falle eines Angriffs den Schutz durch ihren Atomschirm zu garantieren. Mit anderen Worten: Seit den 1960er Jahren genoss Schweden den gleichen nuklearen Schutz wie die Nato-Mitglieder, ohne im Konfliktfall die gleichen Verpflichtungen zu haben. Schweden hat seine Sicherheit also nicht wesentlich verbessert.

Und welchen Vorteil hat die Nato?

Für die Nato bietet der Beitritt Schwedens den Vorteil, die vollständige Kontrolle über die Passagen von der Ostsee zum Atlantik zu haben. Dies ist jedoch nur ein relativer Gewinn, da Dänemark wirklich die Schlüsselposition hat, und eine militärische Zusammenarbeit zwischen Dänemark und Schweden, insbesondere bei der Kontrolle des Seeweges, gut funktioniert. Es sei daran erinnert, dass Schweden jahrelang behauptete, es sei Ziel russischer geheimer U-Boot-Aktionen. Daraufhin kam es zu einer intensiven Zusammenarbeit bei der U-Boot-Bekämpfung rund um die Ostsee, um russische U-Boot-Geheimwaffen zu entdecken. Sie fanden jedoch nie etwas: In Wirklichkeit handelte es sich um Heringsflatulenzen, die denselben Signalton wie U-Boote erzeugten!

Auch wenn es für die beiden Seiten wenig bringt, hat es doch eine Wirkung nach aussen.

Der Beitritt von Schweden und Finnland ist sicherlich ein politisches Signal. Die Nato sieht ihn natürlich als Erfolg. Die Realität ist jedoch differenzierter. Für die beiden nordischen Länder bedeutet dies meiner Meinung nach keine Verbesserung ihrer Situation. Sie haben die gleichen Vorteile wie zuvor, aber mit zusätzlichen Verpflichtungen. Aber auch hier ist Vorsicht geboten. Es ist unwahrscheinlich, dass die USA ihre Atomwaffen nur zum Schutz von Helsinki oder Stockholm auf russischem Territorium einsetzen würden. Stattdessen würden sie sie wahrscheinlicher gegen angreifende Kräfte auf schwedischem oder finnischem Territorium einsetzen. Anders gesagt: Mit dem Eintritt in die Nato haben diese beiden Länder das Risiko erhöht, in einen nuklearen Konflikt verwickelt zu werden.

Müssen die beiden Staaten nicht auch Konzessionen machen? 

Auf diplomatischer Ebene müssen Schweden und Finnland mit einem Verlust ihrer Glaubwürdigkeit rechnen, die sie dank ihres neutralen oder bündnisfreien Status insbesondere in der aussereuropäischen Welt genossen.

In Bezug auf ihre Aussen- und humanitäre Politik ist der Preis, den die Türkei verlangt, sehr hoch, denn es geht um nicht weniger als die Aufweichung der schwedischen und finnischen Kurden-Politik. Wir wissen nicht, ob sie ihre Versprechen an die Türkei umsetzen werden, aber es ist wahrscheinlich, dass sie dies tun müraine. Hat es diese jemals gegeben oder war das Ganze reine Propaganda?

Unsere Medien kommen langsam dazu, uns eine differenziertere Realität zu präsentieren, als sie es seit Februar getan haben. Die Ironie dabei ist, dass unsere Medien, indem sie die Rhetorik der ukrainischen Regierung nie in Frage stellten und ihre Propaganda erneut verbreiteten, sehr stark zu dem Übervertrauen beigetragen haben, das sie in die Niederlage führte. Wie ich von Anfang an gesagt habe, tragen unsere Medien eine erschütternde Verantwortung für den Verlauf des Krieges und die ukrainische Niederlage.

Wie meinen Sie das ?

Unsere Medien haben nie versucht, der Ukraine zu helfen, sondern Russland zu bekämpfen. Ein norwegischer Forscher hat enthüllt, dass ein als «Swiss-French conspiracy theorist» bezeichneter Journalist mit einigen Medien zusammenarbeitet, die mich in der französischsprachigen Schweiz «auf die schwarze Liste» gesetzt haben, und Anders Breivik³ inspiriert hat, der ein Vorbild ist und von allen militanten Gruppen in der Ukraine als Held gefeiert wird.

Warum zieht der Krieg sich so lange hin, und warum macht die Ukraine keinen Versuch, mit Russland zu einer Verhandlungslösung zu kommen?

Der Westen und die ukrainische extreme Rechte hindern Selenskij buchstäblich daran, ein Abkommen mit Russland zu schliessen. So ging Boris Johnson am 9. April nach Kiew, um Selenskij zu sagen: «Wenn Sie mit Russland verhandeln, hören wir auf, Ihnen Waffen zu liefern!».

Lässt sich aus dem Vorgehen der Russen erkennen, was das Endziel dieser Operation sein soll?

Nein, das wissen wir nicht. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Ziele Russlands nicht quantitativ, sondern qualitativ sind. Mit anderen Worten: Es geht nicht um Gebietsgewinne, sondern darum, die Bedrohung für die russischsprachige Bevölkerung im Donbas und auf der Krim zu beseitigen. Etwas zynisch ausgedrückt könnte man sagen, dass die Russen nicht vorrücken müssen, um ihre Ziele zu erreichen, sondern nur das ukrainische Militär auf sich zukommen lassen müssen. Ukrainischen Offiziellen zufolge verliert die Ukraine jeden Tag 1 000 Mann (getötet, verwundet, gefangen oder Deserteure). Die Briten haben ein Ausbildungsprogramm für neue Soldaten begonnen und versprechen, 10 000 Männer in 120 Tagen auszubilden. Im Klartext: Sie werden in 120 Tagen das ausbilden, was die Ukraine in zehn Tagen verliert. Der Westen hilft der Ukraine nicht: Er treibt sie in die Katastrophe.

«Der Spiegel» schreibt, «Putins Soldaten begehen schwerste Kriegsverbrechen»: Wissen Sie Genaueres darüber oder gehört das in die Ecke der Propaganda?

Ich weiss es nicht, denn es reicht nicht aus, jemanden zu beschuldigen, man muss es auch beweisen. Da es keine parteiübergreifenden, internationalen und unparteiischen Untersuchungen gibt, sind diese Anschuldigungen grundlos. Abgesehen davon ist es sehr wahrscheinlich, dass das russische Militär Kriegsverbrechen begangen hat. Dies geschieht in allen Kriegen und ist nahezu unvermeidlich. Nur die europäischen Armeen scheinen sie nicht zu begehen. Aus zwei Gründen: weil sie ihre eigenen Soldaten nicht vor Gericht stellen und weil das Abschlachten einer arabischen Familie nicht als Verbrechen gilt. Übrigens können Sie selbst feststellen, dass Julian Assange längere Gefängnisstrafen verbüsst hat als die Urheber der Kriegsverbrechen, die er angeprangert hat! … Das sagt alles über die sogenannten «Werte», die wir verteidigen!

Wenn man die westlichen Medien liest, hat man unweigerlich das Gefühl, nur die Russen begehen Kriegsverbrechen.

Das Problem ist, dass unsere Medien NIEMALS die ukrainischen Kriegsverbrechen erwähnen. Wie zufällig werden russische Kriegsverbrechen erwähnt, während in der Ostukraine die Russen sehr oft als Befreier begrüsst werden. Die deutsche Journalistin Alina Lipp, die im Donbas tätig ist, wurde von der deutschen Justiz verurteilt, weil sie es gewagt hatte, dies zu sagen. Die Behauptung, die Ukraine sei ein demokratisches Land, das keine Kriegsverbrechen begeht, dient dazu, unsere blinde Unterstützung für den Krieg gegen Russland zu rechtfertigen.

Letzte Woche war in Lugano die sogenannte Wiederaufbaukonferenz. Bundespräsident Cassis wollte sich damit in Szene setzen. Das Medienecho scheint eher gering. Welchen Sinn hat eine solche Konferenz? 

Ich denke, die Idee einer solchen Konferenz ist gut. Das Problem ist, dass sie völlig verfrüht ist. Wie man Geber ernsthaft mobilisieren kann, um den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren, bedeutet nichts, solange man kein klares Bild davon hat, wie die Dinge letztlich aussehen werden. Wird der Wiederaufbau von Mariupol finanziert werden? Russland hat bereits mit dem Wiederaufbau von Städten begonnen, die durch den Krieg beschädigt wurden. In Mariupol sind die Schulen seit Mai wieder geöffnet, und die Russen haben bereits mit dem Wiederaufbau der zerstörten Wohnhäuser begonnen. Russland hat sowohl die Bank- als auch die Telefondienste wieder aufgenommen. Dies wird sicherlich für Propagandazwecke verwendet, aber für die Einwohner ist es ein konkretes Ergebnis.

Wie ist solch eine Konferenz mit der Neutralität der Schweiz vereinbar?

Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass die Schweiz mit der Organisation einer solchen Konferenz ihrer Rolle gerecht wird. Das Problem hierbei ist, dass diese Konferenz in diesem speziellen Fall im Wesentlichen parteiisch ist und ihr eigentlicher Zweck in den Bereich der Propaganda fällt.

Gibt es im Moment Länder, die sich um eine Verhandlungslösung im Ukraine-Konflikt bemühen oder spricht nur noch die Logik der Waffen? 

Das fragen sich wahrscheinlich alle Ukrainer. Aber vergessen Sie nicht, dass Wolodymyr Selenskij im Mai 2019 von seinen eigenen Partnern mit dem Tod bedroht wurde, wenn er mit Russland Frieden schliessen würde. Übrigens sagen auch unsere Medien und führenden Politiker, dass man nicht mit Wladimir Putin verhandeln sollte.

Herr Baud, vielen Dank für das Interview.

Interview Thomas Kaiser

¹ eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32021R0138&from=EN

2 congress.gov/115/plaws/publ44/PLAW-115publ44.pdf

³ www.qub.ac.uk/Research/GRI/mitchell-institute/FileStore/Filetoupload,818003,en.pdf

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges (UNHCR-Zaire/Kongo, 1995–1996). Er arbeitete für das DPKO (Departement of Peacekeeping Operations) der Vereinten Nationen in New York (1997–99), gründete das Internationale Zentrum für Humanitäre Minenräumung in Genf (CIGHD) und das Informationsmanagementsystem für Minenräumung (IMSMA). Er trug zur Einführung des Konzepts der nachrichtendienstlichen Aufklärung in Uno-Friedenseinsätzen bei und leitete das erste integrierte UN Joint Mission Analysis Centre (JMAC) im Sudan (2005–06). Er war Leiter der Abteilung «Friedenspolitik und Doktrin» des Uno-Departements für friedenserhaltende Operationen in New York (2009–11) und der Uno-Expertengruppe für die Reform des Sicherheitssektors und die Rechtsstaatlichkeit, arbeitete in der Nato und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

20. Juli 2022

«Das einzige, was den Krieg stoppen könnte, sind Verhandlungen»

«Dass die Sanktionen Russland ruinieren würden, wie Annalena Baerbock grossspurig verkündet hat, ist illusorisch.»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Die Energiefrage ist besonders in Deutschland Thema. Was für ein Szenario ist dort zu erwarten?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Die Bundesregierung hat zusammen mit der EU umfangreiche Wirtschaftssanktionen gegen Russland eingeleitet. Die fertig gebaute Gas-Pipeline Nord-Stream 2 wurde gestoppt, und man liess verlautbaren, auch kein Öl sowie kein Gas mehr aus Russland importieren zu wollen. Seitdem explodieren die Öl- und Gaspreise. Russland verkauft jetzt mehr Öl nach Indien oder China und profitiert von den hohen Preisen. In Indien werden aus dem Öl Benzin und Diesel raffiniert und nach Europa verkauft. Die bisherige Bilanz von diesen Wirtschaftssanktionen, manche sprechen von Wirtschaftskrieg, ist also vernichtend.

War das Ziel der Sanktionen nicht, Putin zum Einlenken zu bewegen bzw. Russland so unter Druck zu setzen, dass der Krieg beendet wird?

Ja, die Sanktionen sollten zu einem Ende des Krieges führen. Es zeigt sich schon seit längerem, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde. Der Krieg geht weiter. Dass die Sanktionen Russland ruinieren würden, wie Annalena Baerbock grossspurig verkündet hat, ist illusorisch, aber, dass sie Deutschland ruinieren werden, immer realistischer.

Warum wird im Moment die Bevölkerung in Deutschland immer stärker auf ein Schreckensszenario im Winter eingeschworen ?

Es geht um die Gaspipeline Nord-Stream 1. Siemens hat eine Turbine in einem Werk in Kanada repariert. Kanada hat sich aufgrund der dortigen Sanktionen gegen Russland geweigert, die Turbine an Russland zurückzugeben. Diesen Vorgang hat Gasprom zum Anlass genommen, vor einigen Wochen die Durchleitung von Gas auf 40 % zu senken. Das hat in Deutschland vor allem die Alarmstimmung ausgelöst.

Wie erklärt das Gasprom?

Sie sagen, es gebe technische Probleme, weil die Turbine fehle. Das kann aber auch eine Art Protest sein, der politisch motiviert ist. Möglicherweise wäre es technisch schon möglich. Am 11. Juli begannen die jährlichen Wartungsarbeiten an Nord-Stream 1. Dafür wird die Gasdurchleitung auf Null gestellt.

Diese Wartungsarbeiten sind regulär?

Ja, das sind die jährlichen Arbeiten, die gemacht werden müssen, und das dauert in der Regel 10 Tage. Es geht jetzt in Deutschland die Panik um, dass möglicherweise nach den Tagen die Pipeline nicht wieder in Betrieb genommen wird oder sich die Wartungsarbeiten in die Länge ziehen. Das Ganze aus politischen Gründen. Wir befinden uns wie gesagt in einem Wirtschaftskrieg.

Wenn Kanada die Lieferung der Turbine verweigert, hat das also starke Auswirkungen.

Ja, die kanadische Regierung hat allerdings die Turbine mittlerweile freigegeben, dagegen klagen allerdings ukrainische Verbände, die in Kanada eine sehr starke Lobby besitzen und wo der ukrainische Weltkongress seinen Sitz hat. Wahrscheinlich kommt auch die Skandalwebseite «Mirotworez» aus Kanada.

Was ist das für eine Webseite?

Das ist eine Art Pranger, wo die «Feinde der Ukraine» mit Namen und Adresse aufgelistet werden und fast unverhohlen die dort aufgelisteten Menschen zum Abschuss freigegeben werden.

Wer steht auf dieser Liste?

Viele Journalisten und Politiker, die aus Sicht der Macher Feinde der Ukraine sind. Darunter Gerhard Schröder, Sahra Wagenknecht, Gregor Gysi und auch mein Name steht darauf – unter der Rubrik «Fegefeuer». Ich habe oft Anfragen an die Bundesregierung dazu gemacht. Die Bundesregierung sagte, dass die Web-Seite unakzeptabel sei, und protestierte dagegen scharf. Aber sie sagte auch, es gebe keine Handhabe, weil man nicht wisse, wo der Server stehe. Zudem sei es eine private Web-Seite, die nicht im Einflussbereich der ukrainischen Regierung stehe.

Ist das realistisch?

Tatsache ist, dass sich die ukrainische Regierung auf diese Web-Seite stützt. Bei einer Anfrage, die ich vor drei Jahren gemacht habe, sagte der Vertreter der Bundesregierung, dass der Server in Kanada stehe. Die Abschrift der mündlichen Antwort enthält aber diese Passage nicht mehr. Es scheint ein offenes Geheimnis zu sein. Auch der ukrainische Weltkongress sitzt in Kanada. Es spricht tatsächlich viel für Kanada.

Es ist schon erstaunlich, wie massiv der Einfluss der Ukraine auf das ganze Geschehen ist.

Dazu hat die kanadische Regierung gesagt, dass das Ende von Nord-Stream 1 die deutsche Wirtschaft in den Abgrund reissen würde. Das würde dazu führen, dass man im Winter zu wenig Heizmaterial habe und die Menschen frieren müssten. Dennoch verlangt die Ukraine, dass die Turbine nicht ausgeliefert werden dürfe. Das ist die umgekehrte Solidarität.

Wie reagieren die deutschen Stellen darauf?

Ich hatte Anfang Juli ein Gespräch mit dem Staatssekretär vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Dr. Patrick Graichen, der dafür zuständig ist. Er hatte mir berichtet, dass Nord-Stream 1, die jetzt mit 40 % Auslastung arbeitet, auf Null gestellt wird und nach den Wartungsarbeiten am 21. Juli wieder in Betrieb genommen werden soll. Kein Mensch weiss, ob das tatsächlich stattfindet. Auf meine Frage, ob es noch irgendwelche Kontakte auf der Arbeitsebene, also nicht auf der hohen politischen Ebene, mit Russ­land gebe, war die Antwort nein. Es gibt keine Gesprächskanäle mehr nach Russland.

Was geschieht, wenn es technische Probleme gibt?

Die Kommunikation wird nur über die Firmen geführt. Das machen sie über Uniper, die Firma, die das Gas importiert, die im Moment vor dem Konkurs steht und um Staatsgelder bettelt, und auf der russischen Seite Gasprom. Diese beiden Firmen haben Gesprächskontakte, aber auf der politischen Ebene, die eine Art Steuerung sein müsste, gibt es überhaupt keine Gespräche mehr. Das ist unsäglich. Nach meiner Einschätzung haben wir weniger Gesprächskanäle als im Kalten Krieg. Und es scheint auch kein Bedürfnis zu sein, diese wiederherzustellen, um die Lage besser einschätzen zu können. Es gilt die Devise «Russ­land ruinieren», was zu einem Bumerang für Deutschland werden kann. Minister Habeck hat von einem «Alptraum­szenario» gesprochen, das uns bevorstehen könnte.

Ist das nicht selbstverschuldet?

Ja, man scheint sehenden Auges in diese Katastrophe, in dieses Alptraumszenario hineinzulaufen mit grossspurigen Tönen wie «Wir ruinieren Russland» oder «Wir kappen die Energieverbindungen», obwohl wir viel mehr davon betroffen wären als die Russen, die ihre Energie in Länder wie Indien oder China verkaufen. Die Gasspeicher in Deutschland sind weniger gefüllt als normal, nur zu gut 60 %, und wenn die Pipeline nicht wieder in Betrieb genommen wird, gibt es im Winter ein echtes Problem. Man beginnt schon langsam, uns auf das Szenario einzustimmen.

Wie?

Zum Beispiel in unseren Abgeordnetenbüros gibt es Waschbecken, um sich frisch zu machen. Um Energie zu sparen, wird jetzt das warme Wasser abgestellt, und die Zimmertemperaturen werden gesenkt. Verstehen Sie das nicht als ein Beklagen, ich habe keinen Grund und bin durch meine Tätigkeit als Abgeordneter privilegiert. Aber wenn sie das schon im Bundestag durchführen, was heisst das dann für die Bevölkerung?

Man kann es fast nicht glauben, aber das ist dann tatsächlich «frieren» für eine gescheiterte Politik in Bezug auf die Ukraine, und zwar nicht erst seit dem Krieg.

Der grosse Immobilienkonzern Vonovia, der 500 000 Wohnungen verwaltet und 50 % der Wohnungen mit Gas beheizt, will seine Wohnungen in der Nacht auf 17 Grad absenken, anstatt der gewöhnlichen 20. Das geschieht durch eine Voreinstellung, die nicht geändert werden kann. Das heisst: «Frieren für den geopolitischen Kurs der Bundesregierung». Sehr viele werden auch ihre Rechnung nicht mehr bezahlen können. Auch wenn man von politischer Seite das etwas abdämpft, wird das langfristig auf die Bevölkerung durchschlagen. Das wird ein grosses soziales Problem.

Wir haben jetzt die Auswirkungen auf einzelne angeschaut. Was heisst das für die Wirtschaft?

Die Gefahr besteht, dass industrielle Kernanlagen in Deutschland, z. B. in der chemischen Industrie, wegen der hohen Energiepreise möglicherweise ausgelagert werden. Vielleicht bestehen die Pläne schon länger, und man nimmt das jetzt zum Anlass. Damit geht es um die Existenz des Wirtschaftsstandortes Deutschland, der in den letzten Jahrzehnten noch nie so unter Druck gekommen ist. Wirtschaftsinstitute rechnen mit einer Rezession von bis zu 12 %, wenn Nord-Stream 1 nicht mehr angestellt wird. Das wäre der tiefste Wirtschaftseinbruch in der Nachkriegsgeschichte. Das steht ja wirklich im totalen Widerspruch zu den grossmäuligen Aussagen von Baerbock und Habeck.

Gibt es irgendwelche Alternativen?

Die Bundesregierung sucht danach, aber es gibt nicht wirklich Alternativen. Man hat mit Norwegen verhandelt, das ab 2024 etwas mehr Gas liefern kann, was aber bei weitem nicht ausreicht. Katar kann ab 2026 ein bisschen mehr liefern. Aus den USA soll vermehrt Fracking-Gas kommen. Man investiert Milliarden, um Terminals zu bauen, damit Schiffe mit Flüssiggas gelöscht werden können. Das wird dauern und bietet keine wirkliche Alternative, weil dieses Gas erstmal durch den Transport viel teurer und zum zweiten in der Ökobilanz noch viel schlechter ist. Man fährt jetzt sogar unter unserer Grünen Regierung die Braunkohlekraftwerke wieder hoch.

Wo ist denn da der Klimaschutz?

Man hat uns immer erzählt, und wahrscheinlich stimmt das auch, dass der Klimawandel mit allen Mitteln bekämpft werden müsse. Es gehe darum, die Pariser Ziele zu erreichen. Ich frage mich natürlich jetzt, warum das gar keine Rolle mehr spielt, wenn es um Geopolitik geht. Es scheint plötzlich eine höhere Priorität zu geben als den Klimawandel. Der Kampf gegen Russland ist also wichtiger als der Klimawandel. Das ist erschütternd und birgt unglaublichen gesellschaftlichen Sprengstoff. Auch muss man feststellen, dass die Sanktionspolitik, wie erwartet, völlig gescheitert ist. Man hat sie gemacht, um Russland zu schwächen. Russland ist davon nicht geschwächt worden. Man hat sie erlassen, um den Krieg zu stoppen. Das ist misslungen. Das einzige, was den Krieg stoppen könnte, sind Verhandlungen. Das will man nicht, sondern einen langen Abnutzungskrieg führen und in Kauf nehmen, dass die eigene wirtschaftliche Basis in Frage gestellt wird.

Man kann es fast nicht glauben. Auch in der Schweiz redet man von möglichen Engpässen. Die Schweiz besitzt keine eigenen unterirdischen Gasspeicher, sondern hat ein Abkommen mit Frankreich.

Man muss sich dabei vor Augen halten, dass Nord-Stream 2 fertig ist und sofort genügend Energie liefern könnte. Aber darüber zu reden, ist ein absolutes Tabu. Wer es dennoch tut, bekommt das Wort «Putinknecht» entgegengeschleudert. Und das, obwohl es vor allem im deutschen Interesse ist und nicht im russischen. Die Russen könnten einfach nach Indien und China liefern. Hier findet auch eine Art Hybris statt, weil man glaubt, dass die eigene Blase der Nato-Staaten die «Internationale Gemeinschaft» sei. Die internationale Gemeinschaft ist aber sehr viel grösser, und die Kräfteverhältnisse verschieben sich eher zu Lasten der Nato-Staaten. Man hat es am G 20 Gipfel gesehen. Man hat Indonesien aufgefordert, Lawrow auszuladen – vergeblich. Wir sollten die eigene Aussenpolitik überdenken und nicht so zu tun, als ob wir der Mittelpunkt der Welt wären und die ganze Welt sanktionieren können, wenn uns etwas nicht passt. Der Diskurs wird nicht mehr rational geführt, sondern ist von einer moralisierenden Emotionalität geprägt. Das ist ähnlich wie bei Corona. Da hatten wir entsprechende Mechanismen.

Der Konflikt in der Ukraine schreit nach einer diplomatischen Lösung und müsste dringend beendet werden. Das kann doch nicht noch Wochen so weitergehen, und die Menschen sterben. Wie könnte man den Dialog zwischen den Konfliktparteien wieder in Gang setzen?

Ein Format dafür wäre die OSZE. Die OSZE ist aufgrund der Struktur mit ihren 57 Mitgliedstaaten, darunter auch Russland, dafür prädestiniert. Es gibt verschiedene Ebenen, eine Minister- und eine parlamentarische Ebene. In Birmingham fand vom 2. bis 6. Juli die Jahresversammlung auf der parlamentarischen Ebene statt. Die britische Regierung hat aber den belarussischen und den russischen Abgeordneten die Visa verweigert und damit einen direkten Dialog zwischen den Konfliktparteien verhindert.

Mit welcher Begründung?

Die Abgeordneten würden den Krieg unterstützen. Doch konkret über den Krieg hat es weder in der Duma noch im belarussischen Parlament eine Abstimmung gegeben. Belarus ist zudem keine direkte Kriegspartei, sondern nur indirekt beteiligt. In der russischen Duma wurde über die Anerkennung von Donezk und Lugansk abgestimmt, aber nicht über den jetzt stattfindenden Krieg. Es gab sogar einige Abgeordnete, die öffentlich geäussert haben, dass sie zwar für die Anerkennung von Lugansk und Donezk gestimmt hätten, damit die Angriffe dort aufhören, aber sie hätten nicht für den Angriff auf Kiew gestimmt. Es gab also durchaus auch Widerspruch aus den Reihen der Abgeordneten, der aber in letzter Zeit ruhiger geworden ist. Der Druck in Russland ist natürlich auch gross.

Ist das nicht ein Verstoss gegen die Statuten der OSZE?

Ja, in den Statuten steht ganz klar, dass die Abgeordneten zu den Versammlungen reisen können müssen. Aber es schien so, dass es keinen der Anwesenden gross gestört hat. Vielleicht war der eine oder andere damit nicht einverstanden, aber es hat sich niemand getraut, etwas zu sagen. Wenn man unter vier Augen Gespräche geführt hat, gab es Kritik daran, dass man mit den russischen Abgeordneten nicht sprechen könne, denn genau für direkte Gespräche sei so ein Forum da, aber in den offiziellen Debatten habe ich keinen Widerstand dagegen wahrgenommen.

Sie hatten doch eine Anfrage gemacht.

Ja, ich hatte den britischen Abgeordneten John Whittingdale dazu befragt, der den Ausschluss kommuniziert und die Eröffnungsrede hielt, in der er behauptete, dass die russischen Abgeordneten in der Duma für den Krieg gestimmt hätten, obwohl es diese Abstimmung ja nie gab. In seiner Antwort sagte er mir, dass die russischen und belarussischen Abgeordneten ihr statuarisches Recht durch die Unterstützung ihrer Regierung verwirkt hätten. Da stellt sich natürlich die Frage, wer das Recht hat, das zu definieren.

Wie war die Stimmung an der Konferenz?

Die ganze Sitzung war sehr stark von der grössten Delegation, die der USA, dominiert, die dort mit scharfen Anklagen gegen die russische Seite auffuhr, aber ohne Lösungsvorschläge. Man übertraf sich darin, den Krieg mit noch schärferen Worten zu verurteilen. Diejenigen, die sich überlegten, wie man wieder in Verhandlungen mit Russland kommen kann, waren deutlich in der Minderheit und in der Defensive. Das war sehr klar.

Es gab solche Stimmen?

Ja, aber eher am Rande. Ich war auf der Rednerliste und wurde so weit nach hinten geschoben, dass ich nicht mehr zu Wort kam. Diese Stellungnahmen hörte man vor allem in bilateralen Gesprächen. An solchen Tagungen führt man natürlich viele Gespräche. Es gab bei einer Resolution etwa einen Änderungsantrag, der das atomare Erstschlagsrecht explizit ausschliessen sollte. Und dieser ist mit nur einer Stimme Mehrheit gegen die Stimmen der meisten US-Abgeordneten angenommen worden. Wenn einer der Abgeordneten, die gegen die Option des atomaren Erstschlagrechts anders gestimmt hätte, wäre nach dieser Resolution der OSZE der atomare Erstschlag sogar legitim.

Auch wenn das jetzt in dem Sinne positiv ausgegangen ist, ist es schon erschreckend, wie die Logik der Abschreckung überhandgenommen hat.

Das Konzept der kollektiven Sicherheit, das ja in der OSZE entwickelt wurde, ist etwas fundamental anderes als das Konzept der militärischen Abschreckung. Die kollektive Sicherheit geht davon aus, dass Sicherheit dann gewährleistet ist, wenn sich mein Gegenüber genauso sicher fühlt wie ich mich. Am Treffen in Birmingham war das Konzept «Sicherheit durch Abschreckung» klar vorherrschend, was auch Grundlage der Nato ist. 

Wichtig war auch ein weiterer Änderungsantrag. Dieser verlangte, dass bei Verletzung der territorialen Integrität eines Staates, den Abgeordneten des verletzenden Staates die Akkreditierung entzogen werden kann, wie das bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarats möglich ist. Bis jetzt gibt es das in der OSZE nicht. Die Parlamentarische Versammlung der OSZE kennt bislang kein Ausschlussverfahren.

Ist der Antrag auf Zustimmung gestossen?

Dieser Änderungsantrag ist angenommen worden, muss aber in der konkreten Ausgestaltung noch rechtsverbindlich formuliert und im «Standing Committee» im Oktober in Sofia angenommen werden. Damit dies geschehen kann, braucht es Einstimmigkeit minus eine Stimme. Es darf höchstens eine Delegation dagegen stimmen, damit der Antrag angenommen wird, aber das scheint eher aussichtslos.

Was nährt Ihren Optimismus?

Ich habe mit einigen Delegationen gesprochen, die diese Ausschlussmöglichkeit nicht wollen. Eine weitere Frage bleibt natürlich, was geschieht im Oktober in Sofia. Wenn sich dort das «Standing Committee» trifft, dann ist es keine Veranstaltung im grossen Stil wie in Birmingham. Es ist nicht klar, ob Bulgarien die Visa für die russischen und belarussischen Abgeordneten erteilen wird. Richtig spannend wird es dann im Dezember. Dort findet das OSZE-Ministertreffen in Lodz statt, da Polen dieses Jahr den Vorsitz im OSZE-Ministerrat hat. Da wird sich die Frage stellen, ob Lawrow einreisen darf und ob er es überhaupt will. Wenn die Visa auch dort noch verweigert werden, was kann man dann in der OSZE erreichen, wenn die andere Seite nicht am Tisch sitzt? Sie können Resolutionen erlassen, die dreimal so scharf sind wie die von Birmingham und das russische Vorgehen verurteilen, aber damit ist die Funktion, den Dialog zu fördern und diplomatische Lösungen zu suchen, weg.

War das nicht auch im Europarat ein Problem, dass die Russen nach 2014 nicht mehr zugelassen waren?

Europarat und OSZE funktionieren unterschiedlich. Beim Europarat stehen rechtsverbindliche ­internationale Konventionen im Mittelpunkt, etwa die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) mit ihrem Gerichtshof in Strassburg (EGMR). Die OSZE hat diesen rechtsverbindlichen Charakter nicht. Deshalb gibt es dort auch weniger Sanktionsmöglichkeiten, etwa durch Ausschluss einer nationalen Abgeordneten-Delegation.

Die weitreichende Sanktionierung der russischen Abgeordneten 2014 im Europarat, etwa durch Stimmrechtsentzug, führte zu der absurden Situation, dass sich die Regierungen des Europarates weiterhin trafen, nicht aber die Abgeordneten. Mittlerweile ist Russland aber vollständig aus dem Europarat ausgetreten und damit einem Ausschluss zuvorgekommen.

Nun soll die Ausschlussmöglichkeit für Abgeordnetendelegationen auch im letzten verbliebenen Dialogformat OSZE geschaffen werden. Ich halte es für völlig falsch, dies gerade auf der parlamentarischen Ebene einzuführen.

Könnten Sie das genauer erläutern?

Auf Parlamentsebene hat man noch unterschiedliche Meinungen. Nach dem Antrag in Birmingham würde es so weit kommen, dass den russischen und belarussischen Abgeordneten die Berechtigungen entzogen werden könnten. Auf Ministerebene ist man immer etwas zurückhaltender, solche Massnahmen zu ergreifen. Es kann aber sein, dass auch hier die Berechtigung entzogen wird. Die Botschafter der OSZE treffen sich jeden Donnerstag in Wien. Das ist auf Regierungsebene. Meines Wissens gibt es diese Treffen noch.

Kann man zusammenfassend sagen, dass die OSZE eigentlich die Chance verpasst hat, den Dialog aufzunehmen und mit ihrem Verhalten noch mehr Öl ins Feuer gegossen hat?

Aktuell wird die OSZE immer weiter ins Abseits gedrängt. Eigentlich ist die OSZE prädestiniert, Voraussetzungen für Gespräche und Verhandlungen zu schaffen. Gerade diese Möglichkeit hat sie mit dem Ausschluss der russischen und belarussischen Delegationen in Birmingham verpasst.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

20. Juli 2022

Das Bauernopfer

Holländische Landwirte protestieren gegen die Vernichtung ihrer Lebensgrundlage für Klimaziele

von Ernst Wolff* 

Bauern versorgen uns alle mit Lebensmitteln. Wenn sie mal nicht mehr wollen oder können, steht es schlecht um unsere Ernährung. In den Niederlanden demonstrieren Landwirte seit Wochen, blockieren mit ihren Fahrzeugen Grenzübergänge, Zufahrtstrassen und sogar die Zugänge zu Supermärkten. In dem europäischen Land kam es damit erstmals seit langem zu Versorgungsengpässen – und der Grund liegt nicht in der Ukraine. Vielmehr war es die Verlautbarung einer Frau mit der originellen Berufsbezeichnung «Stickstoffministerin», die den Zorn der Bauern zum Kochen brachte. Die Regierung forderte eine Verminderung der Stickoxid- und Ammoniakemissionen zur Erreichung ehrgeiziger Klimaziele und nahm kaltschnäuzig die Existenzvernichtung von etwa 30 Prozent der Viehzüchter in Kauf. Statt mit Verständnis reagierten die Behörden auf die Not der Landwirte mit Polizeibrutalität.

Die seit Wochen stattfindenden Bauernproteste in den Niederlanden weiten sich kontinuierlich aus. Nachdem zunächst Zufahrtstrassen und später auch Grenzübergänge blockiert wurden, nahmen die Demonstranten in der vergangenen Woche, also Anfang Juli, Häfen und die Distributionszentren der grossen Supermarktketten ins Visier. Unter anderem hinderten sie beladene LKW daran, ihre Waren in die Supermärkte zu liefern und lösten damit die ersten Versorgungsengpässe bei frischen Produkten wie Brot, Gemüse, Obst und Milch aus.

Zudem verschärften sich die Konfrontationen mit der Polizei. Auf einer Autobahnauffahrt bei Heerenveen im Norden des Landes schossen Polizisten am Dienstagabend, dem 5. Juli, auf einen Traktor, an dessen Steuer ein Sechzehnjähriger sass. Ein im Internet kursierendes Video beweist, dass die Darstellung der Polizei, sie habe in Notwehr gehandelt, nicht stimmt.

Die Mainstream-Medien in Deutschland haben die Entwicklung drei Wochen lang fast komplett ignoriert, können die Vorfälle aber wegen der über das Netz bekannt gewordenen Eskalation nicht mehr übergehen. 

Was hat die Proteste ausgelöst?

Ausgelöst wurden die Proteste durch Aussagen von Christianne van der Wal, die seit Januar 2022 im vierten Kabinett von Premierminister Mark Rutte den neu geschaffenen Posten der «Ministerin für Natur und Stickstoff» bekleidet.

Van der Wal schlug dem niederländischen Parlament am 10. Juni ein Gesetz zur Erreichung der Klimaziele vor. Es verlangt bis 2030 eine Verminderung der Stickoxid- und Ammoniakemissionen um 50 Prozent, in der Nähe von Naturschutzgebieten um bis zu 70 Prozent und an einigen Orten sogar um bis zu 95 Prozent. Die Provinzregierungen sollen ein Jahr Zeit erhalten, um die Pläne zur Erreichung dieses Ziels auszuarbeiten.

Die Folgen wären dramatisch. Nach offiziellen Schätzungen der Regierung würden etwa 30 Prozent der Viehzüchter ihre Betriebe aufgeben müssen. «Ich weiss, dass dies enorme Folgen für die Landwirte hat, die seit langem in Unsicherheit leben», rechtfertigte van der Wal im Parlament ihren Plan. «Das ist schrecklich. Gleichzeitig haben wir keine andere Wahl. Die Natur kann nicht warten.» 

Van der Wals Parteikollege, Premierminister Rutte, kam ihr zu Hilfe. «Es ist einfach furchtbar», sagte er. «Vor allem, wenn es sich um Betriebe handelt, die in der Familie weitergegeben werden und die mit Stolz fortbestehen wollen.» In einer Erklärung des Parlaments hiess es offiziell: 

«Die ehrliche Botschaft ist, dass nicht alle Landwirte ihren Betrieb weiterführen werden und dass diejenigen, die dies tun, anders wirtschaften müssen.»

Es war vor allem der herablassende Ton und die Gleichgültigkeit, mit der die Regierenden die Existenzvernichtung von mehreren tausend hart arbeitenden Landwirten kommentierten, die unter ihnen eine Welle der Empörung auslöste.

Was steckt dahinter?

Was aber steckt hinter diesem Grossangriff auf den landwirtschaftlichen Mittelstand der Niederlande? Wieso werden gerade in der gegenwärtigen ohnehin angespannten wirtschaftlichen Lage solche Pläne verfolgt, und das in einem Land, das sich in der Vergangenheit nie um Grenzwerte bei den Emissionen geschert hat?

Um diese Frage zu beantworten, muss man zuerst einmal nach Brüssel schauen, wo die EU bereits seit längerem an der Verwirklichung ihrer vermeintlichen Klimaziele arbeitet. Die verfolgt sie allerdings offensichtlich nicht im Interesse der EU-Bürger und auch nicht im Interesse der Umwelt, sondern zugunsten der Lobbyisten der grössten Industrien der Welt, und zu denen zählen auch die Agrar- und die Agrochemiebranche.

Bereits 2019 hat das höchste Gericht der Niederlande auf Druck der EU entschieden, dass die EU-Stickstoffnormen nicht überschritten werden dürfen, allerdings ohne Erfolg. Inzwischen aber ist der Druck erheblich verschärft worden. Die EU-Kommission unter Leitung von Ursula von der Leyen hat Ende 2019 den «Green Deal» verabschiedet, der eine schrittweise Reduktion der Emissionen auf null bis zum Jahr 2050 vorsieht. 

Die Massnahmen, die zur Erfüllung dieser hochgesteckten Normen notwendig sind, werden zwar nicht, wie offiziell behauptet, entscheidend zur Rettung des Weltklimas beitragen, wohl aber zur Zerstörung von mehr als 15 000 Landwirtschaftsbetrieben in den Niederlanden.

Da es sich bei den Niederlanden zurzeit um den weltweit zweitgrössten Exporteur von Agrarprodukten handelt, braucht man kein Hellseher zu sein, um zu wissen, wer die von Regierungsseite erzwungenen Produktionsausfälle kompensieren wird. Die USA als grösster Exporteur stellen gerade im Bereich der Viehproduktion vier Riesenkonzerne – Cargill, Tyson Foods, JBS, and National Beef Packing, die nur auf die Gelegenheit warten, das Geschäft der in den Konkurs getriebenen Betriebe zu übernehmen. Bei dreien dieser vier zählen übrigens die Mega-Vermögensverwalter BlackRock und Vanguard zu den grössten Aktionären. 

Der Druck dieser Lobbyisten setzt damit im Grunde nur einen Trend fort, der bereits seit vielen Jahren andauert, nämlich die immer höhere Konzentration von Geld und Marktmacht in immer weniger Händen. Im Jahr 2000 verfügte Holland noch über mehr als 100 000 landwirtschaftliche Betriebe, 2021 waren es noch ganze 52 000.

Die Agenda des Great Reset

Der Blick nach Brüssel reicht aber noch nicht aus, um das Tempo und die Härte zu verstehen, die die Regierung in Den Haag in der Auseinandersetzung mit den Landwirten vorlegt. Dafür aber bringt ein Blick nach Davos mehr Licht ins Dunkel.

Das World Economic Forum (WEF) hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einer der wichtigsten Machtzentralen der globalen Elite entwickelt. Dort treffen sich nicht nur die reichsten und mächtigsten Menschen der Welt, dort wird seit 1992 auch ein grosser Teil der führenden Konzernchefs und Politiker unserer Zeit ausgebildet. Nach Aussage von WEF-Gründer Klaus Schwab ist es dem WEF in den vergangenen Jahren gelungen, «einige der wichtigsten Kabinette der Welt zu durchdringen». 

Weniger bekannt dürfte die Tatsache sein, dass Mark Rutte vom WEF nicht nur offiziell als «Contributor» (Mitwirkender) geführt wird, sondern neben dem kanadischen Premier Justin Trudeau zu Klaus Schwabs Favoriten zählt und sich seiner Organisation und deren aktueller Agenda, dem Great Reset, mit Haut und Haar verschrieben hat.

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Rolle, die er im Januar 2021 auf der virtuellen Jahrestagung des WEF gespielt hat. Dort sind nämlich die Food Innovation Hubs (Zentren zur Innovation im Nahrungsmittelbereich) ins Leben gerufen worden. 

Nach Aussagen des WEF handelt es sich dabei um eine wichtige Multi-Stakeholder-Plattform, die Technologie und breitere Innovationen nutzen soll, um lokale Ökosysteme im Zuge der Transformation des globalen Lebensmittelsystems zu stärken. Rutte hat damals zugesagt, diese Initiative über mehrere Jahre zu finanzieren und ihr globales Koordinationssekretariat in den Niederlanden einrichten zu lassen. 

Die Rolle dieses Koordinationssekretariats wird nach offiziellen Angaben darin bestehen, «die Bemühungen der regionalen Zentren zu koordinieren und sich mit globalen Prozessen und Initiativen wie dem UN-Gipfel für Ernährungssysteme abzustimmen.»

Für wen und in wessen Interesse das Sekretariat tatsächlich arbeiten wird, erschliesst sich einem, wenn man einen Blick auf die offiziellen Partner der Organisation wirft. Dazu gehören neben der niederländischen Regierung die Rabobank, Unilever, PepsiCo, Master Card und der grösste Agrochemiekonzern der Welt, Syngenta, der 2017 vom chinesischen Staatskonzern Chemchina übernommen wurde. 

Diese üblichen Verdächtigen werden wohl kaum dafür sorgen, dass der Hunger auf der Welt eingedämmt wird und dass die verarmten Kleinbauern in Afrika, Asien und Südamerika, deren Lebensgrundlage seit Jahren systematisch von den transnationalen Grosskonzernen zerstört wird, wieder auf die Beine kommen. Da sowohl bei Unilever als auch bei PepsiCo und Master Card BlackRock und Vanguard die grössten Aktionäre sind, dürfte einmal mehr klar sein, wer hier im Hintergrund die Fäden zieht.

Die Zauberformel der Zukunft: Laborfleisch

Es gibt aber noch einen weiteren Grund für das enorme Tempo bei der Existenzvernichtung der Viehzüchter in den Niederlanden, der der Allgemeinheit bisher weitgehend verborgen geblieben ist. Es handelt sich um den grössten Umbruch des globalen Fleischmarktes durch die Entwicklung von Laborfleisch. 

Alle grossen Fleischhersteller der USA tätigen zurzeit die höchsten Investitionen in genau diesem Bereich, und das ist kein Wunder. 

Wenn es gelänge, dass weltweit benötigte Fleisch künstlich herzustellen, würde das in der Branche einen Goldrausch auslösen. Die Kosten für die Aufzucht und Unterhaltung der Tiere, für Weiden und Ställe, für das Futter, den Transport und die Schlachtung würden allesamt wegfallen.

Das einzige Problem besteht momentan darin, dass die Herstellung von Laborfleisch im Massenmassstab noch nicht marktreif ist. Daran aber arbeiten zahlreiche Start-Ups im Hintergrund und es dürfte wohl nur eine Frage der Zeit sein, wann das erste Laborfleisch – begleitet von einer von den Fleischherstellern selbst gesteuerten globalen Kampagne gegen die Massentierhaltung – in die Läden kommt.

Allerdings wird es in der Anfangsphase noch teurer als herkömmliches Fleisch sein. Was kann den Herstellern da Besseres passieren, als dass eine Regierung wie die niederländische rechtzeitig dafür sorgt, dass Tausende von Konkurrenten in diesem Bereich in den Konkurs getrieben werden …? 

Zuerst erschienen in Rubikon am 09.07.2022:

Quelle: www.rubikon.news/artikel/das-bauernopfer-2

Wir danken für die Abdruckgenehmigung.

* Ernst Wolff ist Journalist und Spiegel-Bestseller-Autor («Weltmacht IWF») und beschäftigt sich seit vierzig Jahren mit der Wechselbeziehung von Politik und Wirtschaft.

20. Juli 2022

Ernährungs- und Versorgungssicherheit

von Hans Bieri*

Die sichere Versorgung mit Lebensmitteln auf eigenem Boden und durch eine eigene produzierende Landwirtschaft

Die Schweizerische Vereinigung Industrie und Landwirtschaft (SVIL) hat sich stets klar und unmissverständlich gegen eine Dezimierung der produktiven Landwirtschaft gewandt.

Seit den 80er Jahren gerät die landwirtschaftliche Eigenversorgung jedoch immer mehr unter Druck:

Die WTO verlangte eine Öffnung des Agrarfreihandels. Die warnenden Stimmen, welche die Landwirtschaft weiterhin nicht in die Freihandelsverhandlungen einbeziehen wollten, wie das im bisherigen GATT während Jahrzehnten der Fall war, wurden in den Wind geschlagen samt den historischen Erfahrungen mit Versorgungskrisen. Neu galt in der WTO, dass der Abbau der Handelschranken auch die Versorgungsicherheit im Ernährungsbereich erhöhe, was sich nun immer deutlicher als Irrtum zeigt, den man hätte vermeiden können.

Boden- und Kulturlandverlust rücken von zwei Seiten her vor: einerseits infolge der zu hohen Einwanderung mit daraus folgendem Siedlungswachstum (Arbeitsplätze, Wohngebiete, Versorgungsinfrastrukturen) und andererseits infolge von Rückbau von Kulturland für den Naturschutz.

Das Hofsterben wegen zu tiefen Einkommen und Bodenverlust geht weiter.

Von den Schutzorganisationen wurde eine Ökologiedebatte einseitig der Landwirtschaft aufgezwungen, anstatt zuerst die aus der Gesamtwirtschaft stammenden Konfliktursachen anzugehen. Grüne Reformkreise meinen, man könne das Ökologieproblem durch Herunterfahren der Produktion und eine davon getrennte Naturpflege lösen. Bei gesamthaft unveränderten Direktzahlungen und Produktionsleistungen wurde die Landwirtschaft gezwungen, zusätzliche nicht entschädigte Pflegeleistungen zu erbringen.

Dazu kommt, dass die ökologische Kritik keinen Zusammenhang zwischen der Siedlungsdichte der Schweiz und der schwindenden Artenvielfalt erkennen will, sondern diesen Konflikt allein der Landwirtschaft anlastet. Immer mehr wurde die Agrarpolitik auch zum Objekt für erweiterte Ansprüche an die Lebensumwelt. Dabei werden der Landwirtschaft immer einschneidendere ökologische Vorschriften gemacht, ohne dass die gesamtwirtschaftlichen Ursachen angegangen werden. Auch die Labelorganisationen konzentrieren sich allein auf die Vermarktung ihrer Alleinstellungsmerkmale, ohne den gesamtwirtschaftlichen Grundkonflikt der Unterbezahlung der Landwirtschaft anzugehen.

Wegen dieser Vielfalt der Konflikte hat das Parlament die AP 22 abgebrochen und den Bundesrat beauftragt, auf den Sommer 2022 ein überarbeitetes Konzept vorzulegen.

Nun kommen zum bereits strapazierten Verhältnis zwischen Bevölkerungszahl und Bodengrundlage zusätzliche Unsicherheiten bei der Versorgung durch Importe hinzu. Waren bisher die globalen Versorgungsketten gegen alle Warnungen das Hauptargument für Deregulierung und Freihandel, so sind nun heute die Versorgungs- bzw. Lieferketten der wunde Punkt, der sich in deutlichen Preissteigerungen bei Rohstoffen zeigt.

Damit ist auch die Versorgungslage für die Schweiz – mit einem Selbstversorgungsgrad von knapp 55 % und einem hohen Importanteil – vor dem Hintergrund dieser sich steigernden Wirren mehr als unsicher geworden. Aus diesen Gründen ist der Ruf nach einem Plan Wahlen 2.0 (analog dem Programm von 1941), die Kartoffel- und Brotgetreidefläche zu erweitern und die Ernährung anzupassen, politische Vorsorge. Das heisst heute, eine notprogrammmässige Wiederausdehnung der Ackerfläche, Rückgewinnung der Extensivierungsflächen und keine weiteren Gewässerausweitungsprojekte, welche der Landwirtschaft, nach Aussage der Schutzorganisationen selbst, bis 50 000 ha bestgelegene und bewässerbare Flächen entziehen.

Es geht jetzt um die sichere Versorgung bei gestörter Zufuhr, worauf sich die Agrarpolitik pragmatisch auszurichten hat.

Die gleichen Überlegungen gelten auch für den geforderten Absenkpfad in der Landwirtschaft. Eine Reduktion der Hilfsstoffe führt zu einem Produktionseinbruch, was in der sich abzeichnenden Krise der falsche Moment ist. Deshalb ist es auch falsch, der Landwirtschaft einen Absenkpfad zusätzlich zum bisherigen ohnehin laufenden Anpassungsprozess aufzulasten, bei erst noch steigenden Energie- und Rohstoffpreisen.

Um Hilfsstoffe durch eine ökologische Intensivierung ersetzen zu können, muss der heutige Industrialisierungsdruck auf die Landwirtschaft behoben werden. Denn dieser ökonomische Druck verhindert die ökologische Intensivierung. Dies bedingt jedoch einen längerfristigen Rekultivierungsprozess. Massnahmen, welche die Produktion abwürgen und «kambodschanische Verhältnisse» [Rückfall in Armut und Hunger] riskieren – oder umgekehrt, unsere Lebensgrundlage den ökonomisch erzeugten Konflikten anzupassen, sind verfehlt.

Gegen die Selbstversorgung wird neuerdings angeführt, die Hilfsstoffe wie Dünger, Diesel und Futtermittel müssten ohnehin importiert werden, was eine Selbstversorgung so oder so illusorisch mache. Eine solche Argumentation trägt lediglich dazu bei, den aktuell tiefen Selbstversorgungsgrad in dieser Krise weiter zu senken, anstatt zu erhöhen. Denn gerade Kraftstoffe und Dünger aus fossiler Quelle sind problemlos in ausreichender Menge lagerbar.

Denn dass vor wenigen Jahren im Landesversorgungsgesetz die Lagerhaltung gegenüber früher deutlich reduziert wurde, scheint auf der Linie jener «Politik» zu liegen, welche heute Versorgungsengpässe in menschenverachtender Weise herbeiführt.

Die Ambivalenz der ökologischen Kritik an Landwirtschaft und Industrie und die Gefahr einer globalen Hungersnot?

Immer drängender stellt sich die Frage, welcher Agenda «grüne Politik» folgt. Gerade in der jetzigen Krise, in der die Eigenproduktion gesichert und erweitert werden sollte, kritisieren diese Kreise die produktive Landwirtschaft und wollen auch die Zufuhr fossiler Energie und Hilfsstoffe unterbinden.

Nicht nur die Düngerproduktion wird tangiert, auch die Getreidepreise schnellen wegen unterbrochener Lieferketten sowie wegen bisher nie dagewesener Eigentumsübergriffe im Zahlungswesen (Sanktionen) in die Höhe. Der Weizenpreis von 20 Dollar pro 100 kg im Jahre 2020 stieg bis vor dem 24. Februar 2022 auf 34 Dollar pro 100 kg. Die USA halten sich inzwischen als Nettoimporteur mit ihren selbstgedruckten Dollars am Weltgetreidemarkt schadlos. Aktuell steigt der Preis weiter auf 45 Dollar pro 100 kg und somit wird die Ernährung für Millionen von Menschen nicht mehr bezahlbar. Covid hat die Lieferketten zerbrochen, Indien hat Hitzewellen, auch in Europa drücken fehlende Niederschläge die Erträge. Westliche Sanktionen blockieren schockartig den fossilen Energieverbrauch von der Düngemittel- bis zur Industrieproduktion. Wenn man all diese auf der Geld- und Rechtsebene inszenierten Störungen zusammenrechnet, kommt es zu verheerenden Versorgungsengpässen.

Dagegen betrug der Exportanteil weltweit von Russland und der Ukraine zusammen vor der Krise etwa 3 % der Weizenproduktion. Nicht die Produktionsmenge ist das Problem sondern die Explosion der Preise durch Sanktionen und Störung der Logistik.

Und als ob das nicht genug wäre, wird aus Gründen der «Ökologie» ein Energieversorgungsnotstand und eine Zerstörung der Wirtschaft «in Kauf genommen».

Wem dient ein solches Vorgehen, das offen eine Versorgungskrise ansteuert?

Nur die Industrie kann langfristig die Entropie senken. Die gesuchte «ökologische Wende» kann deshalb gerade nicht bei der Verteuerung der Energie beginnen. Die Reduktion des Rohstoffverbrauches ist das langfristige Produkt einer KMU-getragenen Technologieentwicklung, die nun durch die Sanktionspolitik geschädigt wird. Diese Zusammenhänge übersehen die Schutzorganisationen!

Was die Welternährung angeht, so sind die entstandenen Abhängigkeiten in der Getreideversorgung des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas die Folge vorangegangener globalpolitischer Kriege. Im Irak und dann auch in Syrien wurde eine reiche Getreidekultur zerstört, was auch in diesen Ländern die Abhängigkeit von Getreideimporten erhöhte. Dies hat wiederum die Spezialisierung Osteuropas auf die Produktion von Nahrungsmittelrohstoffen erhöht.

Es ist keine fortschrittliche Politik, diese international entstandenen gegenseitigen Interdependenzen als Angriffsfläche für Sanktionen zu missbrauchen, um internationale Notsituationen und politisch verwertbare Schockstrategieen auf den Weg zu bringen. Sollen die Konsumenten leidvoll erfahren, wie es ist, wenn der Gashahn zugedreht wird und die Düngerproduktion unterbrochen wird? Wie erklärt sich die langjährige Opposition gegen Nord-Stream 2? Geht es um «Ökologie und Klima» oder doch um den Zugriff auf Gasressourcen bzw. um die Frage, wem diese «regelbasiert» künftig gehören sollen?

Der ökologische Konflikt gerät auf diesem Weg immer mehr zum ohnmächtigen Anhängsel im wirtschaftlichen Konflikt um die Ressourcengrundlagen. Durch die Zerstörung selbstversorgender Volkswirtschaften werden international störanfällige Abhängigkeiten und enorme Angriffsflächen für Interventionen, Sanktionen etc. geschaffen. Die Energieembargos verschärfen die internationalen Krisen.

Mit Versorgungs- und Hungerkrisen wird jedes gesellschaftliche Leben in die Abhängigkeit von globaler Verhaltensregulierung gebracht. Dies ist offensichtlich der Versuch, die bisherige koloniale Vorherrschaft fortzusetzen. Dass ein Energieembargo allen Ernstes als Beitrag zur Nachhaltigkeit verstanden wird, zeigt dabei den fortschreitenden wirtschaftlichen und politischen Realitätsverlust.

Die emanzipatorische Kraft der Industrie und ihre Fähigkeit, das Entropieproblem zu lösen, wird durch diese angeblich «ökologische» Energiepolitik zerstört. Es ist ein Rückfall in eine unmündige Gesellschaft, welche das Leben, die Stoff- und Energieflüsse obrigkeitlich und opferreich regelt. Dieser durch den Great Reset geförderte Prozess führt zur Ökodiktatur.

Es sei denn, Europa bringt die revolutionäre Kraft auf zu einem eidgenössischen Europa von Lissabon bis Wladiwostok gegen die sich immer stärker ausbreitende imperiale Refeudalisierung unter transatlantischen Vorzeichen.

* Hans Bieri ist Architekt ETH/SIA und Raumplaner und befasst sich seit seinem Eintritt 1973 in die SVIL, Schweizerische Vereinigung Industrie und Landwirtschaft (früher Innenkolonisation) mit deren Gründungsthemen. Diese betreffen die Ernährungsfrage und die Frage der Raumentwicklung. Er setzt sich als Geschäftsführer der SVIL dafür ein, dass die Landwirtschaft in der Industriegesellschaft einen festen Platz behält und die Versorgungssicherheit nicht weiter geschwächt wird, kurz, für eine souveräne und weiterhin neutrale Schweiz.

20. Juli 2022

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