Schweizer Nationalfeiertag am 1. August: Direkte Demokratie ist mehr, als seine Meinung kundzutun

von Thomas Kaiser

Zum 1. August wurden landauf, landab Reden gehalten, in denen die Besonderheiten wie die Sprachenvielfalt, der Föderalismus, die direkte Demokratie, die Neutralität und als Zentrales die Souveränität hervorgehoben und den Bürgerinnen und Bürgern ins Gedächtnis gerufen wurden.

Es ist nicht so, dass die Schweizerinnen und Schweizer nicht wüssten, was ihr Land ausmacht. Die Besonderheiten gehören zur Schweiz, und man nimmt sie wohl als gegeben, ohne genauer darüber nachzudenken. Vielleicht vergisst man auch, welch steinigen Weg die Urväter der Schweiz haben gehen müssen, bis unser Land so geworden ist, wie wir es heute schätzen und von dessen Vorzügen wir profitieren. Teilweise waren es bittere Erfahrungen, die aber, und das zeichnet die Schweiz aus, zu richtigen Schlüssen führten. Auch gerät leicht in Vergessenheit, dass eine Demokratie – insbesondere, wenn sie sich von allen Staaten, die sich als Demokratien bezeichnen, abhebt – nicht für immer und ewig so bleibt. Es gab und gibt Bestrebungen, die demokratische Mitsprache und Entscheidungsfähigkeit der Bevölkerung sowie die Souveränität, die Neutralität oder den Föderalismus einzuschränken. Gewisse Kreise, mehrheitlich aus dem linken Spektrum, wollen unser System nivellieren und den umliegenden Staaten, allesamt Mitglieder der EU, anpassen. 

Es ist also nur zu unterstützen, wenn in den Reden auch unserer Bundesrätinnen und Bundesräte auf Besonderheiten der Schweiz aufmerksam gemacht wird. So weit so gut.

Man könnte diese Reden auch Schönwetterreden nennen, obwohl ein grosser Teil der Schweiz während des 1. Augusts mit heftigen Regenfällen zu kämpfen hatte. Nicht dass die Betonung der staatlichen Besonderheiten unbedeutend wäre, aber wie ernst sind die Aussagen gemeint? Wie orientiert sich die Politik an diesen Grundsätzen?

Schöne Worte

Viola Amherd repräsentiert als Bundespräsidentin die Schweiz nach aussen. Was sie sagt oder noch mehr, wie sie handelt, geschieht im Namen unseres Staats. Doch vergleicht man ihr Handeln mit ihren Worten, dann sind ihre Ausführungen sehr weit von ihrem politischen Handeln entfernt – oder vielleicht doch nicht? In ihrer 1. August-Rede betonte sie: 

«1874 hat unser Land mit einer Verfassungsrevision das Referendum und damit die direkte Demokratie eingeführt. Die direkte Demokratie basiert auf der Idee, der Stimme des Einzelnen möglichst viel Gewicht zu geben. 

Nicht nur wir in der Schweiz verstehen dieses politische System als Erfolgsmodell. 

Es ist aber nicht selbstverständlich, dass dies so bleibt. 

Die Demokratie braucht uns Bürgerinnen und Bürger, die sie pflegen, die in ihr mitwirken. Sie überträgt auf jede und jeden einzelnen die Verantwortung, die Stimme auch zu nutzen, die sie uns gibt. Wir können diese Stimme nutzen, um unsere Meinung kundzutun. Und wir müssen sie auch nutzen, um zu einer gemeinsamen Verständigung zu kommen und zusammen Ziele zu erreichen. Polarisierung ist nicht die Lösung für die Herausforderungen unserer Zeit. Wir können die Herausforderungen nur zusammen lösen.»¹

Wer möchte spontan gegen diese Worte etwas einwenden? Nur nebenbei: Dass die direkte Demokratie nicht nur aus dem Referendumsrecht besteht, sondern auch aus dem Initiativrecht, scheint der Bundespräsidentin wohl untergegangen zu sein.

Wohin rollst du, Äpfelchen?

Viola Amherds Trachten besteht darin, die Schweiz in die Nato zu führen. Sie richtet die Verteidigung des Landes auf das transatlantische Kriegsbündnis aus. Damit ist sie nicht die erste Magistratin, die dieses Ansinnen verfolgt, aber sie verfolgt es konsequent. «Interoperabilität» heisst das Zauberwort. Das bedeutet nichts anderes, als sich der Nato militärisch anzupassen, und wenn es sein muss, mit ihr in die Schlacht zu ziehen. Eine souveräne Verteidigung unseres Landes wird so nicht mehr angestrebt. Damit wäre die Neutralität beerdigt. Wer sich derart in einem essentiellen Aspekt, wie ihn die Selbstverteidigung darstellt, anderen Staaten ausliefert, schwächt die Unabhängigkeit eines Staates massiv. Gerät unser Land immer mehr in die Abhängigkeit der Nato, dann wird auch die direkte Demokratie in Mitleidenschaft gezogen und am Ende gar ad absurdum geführt. Es bestimmen nämlich die mächtigen Staaten in der Nato, wohin das Äpfelchen rollen soll.

Der Bundesrat hat dem Willen des Volkes zu folgen

Direkte Demokratie heisst doch vor allem, unterschiedliche Standpunkte auszudiskutieren und dort, wo sich die Politik nicht einigen kann, das Volk zu rate zu ziehen und sich an seinen Bedürfnissen zu orientieren. Dass das Ergebnis möglicherweise den Zielen des Bundesrats entgegensteht, hat doch nichts mit «Polarisieren» zu tun. Der Bundesrat hat dem Willen des Volkes zu folgen. Nur eine Diskussion über alle Standpunkte kann die bestmögliche Lösung bringen, auch wenn die Positionen noch so weit auseinanderliegen. Gemeinsame Ziele zu erreichen, ist grundsätzlich etwas Positives, aber wer definiert denn die Ziele?

Viola Amherd geht es um eine verstärkte Anlehnung an die Nato, deren einziger Lösungsansatz darin besteht, den Krieg in der Ukraine auf Biegen und Brechen weiterzuführen, koste es so viele Tote, vor allem auf ukrainischer Seite, wie es wolle.

Der letztes Jahr gewählte Bundesrat Beat Jans (Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements) verfolgt das Ziel, die Schweiz möglichst eng an die EU heranzuführen, den Föderalismus auszuschalten und die Schweiz so auf einen zukünftigen Beitritt vorzubereiten, was ein Ende der direkten Demokratie bedeutet.

Bundesrat Ignazio Cassis (Vorsteher des eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten) will die Neutralität zu einer Windfahne degradieren, damit sich die Schweiz in Zukunft immer auf die Seite der Mächtigen stellen kann. Dadurch beraubt er das Land eines wesentlichen Teils seiner Identität.

Sollen das die gemeinsamen Ziele sein, die Viola Amherd in ihrer Rede beschwor?

Wenn man diese aber nicht teilt, und andere Vorschläge präsentiert, was in unserer direkten Demokratie gewünscht sein müsste, wird sich Frau Amherd kaum darüber freuen. Nach ihrer Auffassung ist man dann jemand, der polarisiert. Wenn die direkte Demokratie für sie bedeutet, dass das Volk alle Ideen des Bundesrats abnickt, dann wäre es um unsere einzigartige Demokratie geschehen.

«Die Demokratie braucht uns Bürgerinnen und Bürger»

Was ist also zu tun? So widersprüchlich und unglaubwürdig ihre Rede auch sein mag, Viola Amherd gibt selbst die Antwort: «Die Demokratie braucht uns Bürgerinnen und Bürger, die sie pflegen, die in ihr mitwirken. Sie überträgt auf jede und jeden einzelnen die Verantwortung, die Stimme auch zu nutzen, die sie uns gibt. Wir können diese Stimme nutzen, um unsere Meinung kundzutun.»

Machen wir es, wie von Viola Amherd gefordert, «die Stimme auch zu nutzen», um einem drohenden Verlust von Föderalismus, direkter Demokratie, Neutralität und Souveränität entgegenzuwirken. 

¹ www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/reden/reden-der-bundesraete.msg-id-101877.html

veröffentlicht am 6. August 2024

Mehr Neutralität oder mehr Nato?

von Prof. Dr. Wolf Linder

Es ist kurzsichtig, die Neutralität kleinzureden. In einer zunehmend multipolaren Welt steigen die Kriegsrisiken, wenn sich alle Länder einem der grossen Machtblöcke anschliessen. 

 Lange lag die schweizerische Neutralität in der Tiefkühltruhe. Sie schien uns selbstverständlich, doch war sie wenig beachtet. Selbst politisch Interessierte wussten kaum mehr über die Neutralität, als dass sie zur schweizerischen DNA gehört. 

Das änderte schlagartig mit dem Ausbruch des Kriegs zwischen Russland und der Ukraine. Schweden und Finnland gaben ihre Neutralität auf. Die schweizerische Regierung übernahm Wort für Wort die Sanktionen der EU gegen Russland. Eine unklare Botschaft von Aussenminister Cassis liess aufhorchen: Hatte die Schweiz ihre Neutralität aufgegeben, wie ausländische Stimmen frohlockten? 

Über Nacht wurde die Neutralität kontrovers. Eine Volksinitiative zur Verankerung der Neutralität in der Verfassung wurde erfolgreich lanciert und eingereicht. Sie hält an der traditionellen Neutralität (bewaffnet, dauernd, keine Beteiligung an militärischen ­Konflikten und Bündnissen) fest. Darüber hinaus möchte sie die Übernahme von politischen Sanktionen einschränken, dafür die Rolle der Schweiz in der Vermittlung in internationalen Konflikten stärken. 

Ein stark besetztes Prominenten-Komitee will das Gegenteil: Keinen Verfassungsrang für die Neutralität. Die heutige Neutralität und militärische Selbstverteidigung seien durch die neuesten Entwicklungen überholt. Als Teil der westlichen Wertegemeinschaft sollten wir darum die sicherheitspolitische Partnerschaft mit der Nato stärken. Beide Positionen lassen sich auf die Grundfrage zuspitzen: Mehr Neutralität oder mehr Nato? Drei Konflikte werden die Auseinandersetzung prägen. 

Glaubwürdigkeit bewahren 

Erstens die Glaubwürdigkeit der Neutralität: Viele Politikerinnen und Kommentatoren nehmen die Ukraine als Ausgangspunkt ihrer Argumente. Das ist doppelt falsch. Sie nehmen ein einziges Zeitereignis als Grundlage für eine langfristige Strategie. Und sie stellen Europa ins Zentrum all ihrer Überlegungen. Das war adäquat für die Realität im 20. Jahrhundert. Aber Europa ist nicht mehr die Welt, und schon gar nicht der Nabel der Welt. Europas Anteil an der Weltbevölkerung beträgt heute weniger als 9 Prozent, am globalen Bruttoeinkommen noch 14 Prozent. Weniger als 45 Prozent der Weltbevölkerung leben in (zumeist unvollständigen) Demokratien, der Rest unter autoritären oder hybriden Regimes. 

Für eine allseitige Unparteilichkeit muss Neutralität deshalb glaubwürdig sein auch ausserhalb Europas: Für den Nahen Osten, für Asien, Afrika, Südamerika oder die BRICS-Staaten, für «arme» Länder, und auch gegenüber Nicht-Demokratien. Neutralität macht nur Sinn, wenn sie universell verstanden wird und glaubwürdig ist ­gegenüber allen Staaten, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Staatsformen, Weltanschauungen und Kulturen. 

Anders als die von US-Präsident George W. Bush 2002 ausgerufene «Axis of Evil» unterteilt Neutralität nicht in die «Guten» und die «Bösen». Neutralität folgt weder der persönlichen Gesinnung noch der tagespolitischen Stimmungslage, sondern der Verantwortung für die längerfristigen Folgen für das ganze Land. Unsere Vorväter haben das gewusst, als im ersten Weltkrieg die Deutschschweizer eine starke Sympathie für die Deutschen, die Romands dagegen für die Franzosen bekundeten. Der Bundesrat stand über den beiden Sympathielagern und erliess die Mobilmachung zum Schutz des Landes. Das verhinderte 1914 die Spaltung des Landes und diente dem Ziel der Unabhängigkeit. An eine ähnliche Unterscheidung hält sich auch das IKRK: Solidarität mit den Kriegsopfern, aber keine ­Solidarität mit einer der Kriegsparteien. 

Selbstverständlich sind wir ein Teil der westlichen Welt. Das heisst aber noch lange nicht, dass wir uns heute der militärischen Machtpolitik Europas anschliessen sollen. Vielmehr liegt die Grundorientierung schweizerischer Neutralität im universellen Friedensvölkerrecht, wie sie in der Uno-Charta niedergelegt ist. Darin verpflichten sich Uno-Mitglieder zum Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt, welche sich gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates richtet. 

Das ist die Grundlage einer Neutralität, die sich weltweit in den Dienst der Vermittlung, Verhinderung und Beilegung von Konflikten stellen kann. Das bedeutet weder Nichtstun noch Schweigen in Konflikten. Neutralität verdient sich ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie ihre Stimme bei friedensgefährdenden Rechtsverletzungen gegenüber allen Seiten erhebt – auch bei jenen, die von der «westlichen Wertegemeinschaft» begangen werden. 

Problematische Sanktionen 

Zweitens: Friedensvermittlung und wirtschaftlicher Ausgleich anstelle von Sanktionen. Politische Sanktionen in ihren vielfältigen Formen sind Wirtschaftsstrafen. Sie sollen sich gegen Staaten richten, die internationales Recht verletzen. Häufig sind die eigentlichen Gründe aber politischer Natur. Nicht selten werden Sanktionen von Grossstaaten gegen unerwünschte Regimes und arme Länder des Südens verhängt. 

Politische Sanktionen nehmen Überhand und sind oft willkürliche Machtausübung des Starken gegen den Schwachen. Und sie treffen statt der Regierung vor allem die armen Bevölkerungsschichten. Ihr Ziel eines Machtwechsels ist aber mit Sanktionen kaum zu erreichen – wie das Beispiel Kuba zeigt. Und dies trotz dem langen Arm der US-Regierung – etwa indem sie die Schweizer Banken auf die schwarze Liste setzten, wenn sie die Zahlung von einigen hundert Dollars für ein kubanisches Hilfswerk annahmen.

Eine allseitig neutrale Schweiz sollte Sanktionen nur dann übernehmen, wenn sie sich auch auf eine allseitige Zustimmung und Legitimation stützen können. Das sind die Massnahmen der Vereinten Nationen, nicht aber jene von Einzelstaaten oder der EU. 

Diese Zurückhaltung ist richtig. Denn das Instrument der Sanktionen bleibt grundsätzlich fragwürdig, führt zu neuen Feindseligkeiten und verlängert Konflikte. Es birgt das Risiko von Wirtschaftskriegen, wie heute zwischen dem Westen und China. Stattdessen sollte sich die Schweiz auf das besinnen, was sie in ihrer Neutralitätspolitik seit vielen Jahrzehnten mit vielen, aber unspektakulären «Guten Diensten» getan hat: aktiv vermitteln und auf eine friedliche Konfliktlösung zwischen verfeindeten Staaten hinwirken. 

Die Schweiz tut gut daran, Wirtschaftsbeziehungen zu allen Ländern möglichst offen zu halten. Ihre Handelsverträge – nicht die Neutralitätspolitik – sind der Ort, wo sie ihre Verhandlungswünsche nach Demokratie und Menschenrechten, ihre Ideen für eine autonome und effektive Wirtschaftsentwicklung armer Länder einbringen kann. Das kann sich die Schweiz aus ihrer starken Position durchaus leisten und ist mehr als kluge Aussenhandelspolitik. Denn der wirtschaftliche Ausgleich zwischen Nord und Süd bietet bessere Chancen für eine friedlichere Zukunft als Sanktionen. 

Keine Annäherung an die Nato

Drittens: Eine Annäherung an die Nato ist keine empfehlenswerte Option. Das Manifest gegen die Neutralitätsinitiative schliesst sich jenen Kräften an, die eine weitere Annäherung an die Nato vorantreiben. Sie wären bereit, für mehr Sicherheit den Schlüssel zum Haus der schweizerischen Sicherheitspolitik abzugeben. Allerdings gibt es militärische Fachleute, die den Nutzen erweiterter Zusammenarbeit oder einer Nato-Mitgliedschaft bezweifeln – und zwar für beide Teile. 

Ebenso ist zu fragen, ob sich die vielen Prominenten des Manifests bewusst sind, wem sie die Schlüssel zum eigenen Haus abgeben wollen. Denn die Nato, gegründet als Organisation kollektiver Verteidigung westeuropäischer Staaten unter dem Schutzschild der USA, hat sich seit 1949 grundlegend verändert. Sie verteidigt nicht nur Bündnisstaaten, sondern verfolgt im westlichen Interesse auch militärische Ziele «out of area» bis hin zu Afghanistan und auch ohne Uno-Mandat. Die Mehrheit der Schweizer Stimmbürgerschaft dürfte an solch fragwürdigen Interventionen unter dem Vorwand der «Selbstverteidigung» des Westens keine grosse Freude haben. 

Und weil ein eigentlicher Nato-Beitritt quer steht zur Neutralität, wagen es die Befürworter nicht, ihn offen zu verlangen. Man wählt kleine, unauffällige Schritte, die den Namen «Interoperabilität» usw. tragen. Es könnte durchaus so kommen wie heute mit der EU: Dort hat die Schweiz als Nicht-Mitglied zwar nichts zu sagen, ist aber im Geschäft mittendrin und folgt der Politik aus Brüssel oft getreulicher als manches EU-Mitglied. Damit solches eher nicht passiert, ist es richtig, die schweizerische Neutralität in der Verfassung zu verankern. 

Heute die Neutralität kleinzureden, ist kurzsichtig. Die Kriegsrisiken steigen weltweit. Die Ukraine zeigt exemplarisch, dass viele Konflikte verhindert oder friedlich hätten gelöst werden können, wenn die Option «Neutralität» beizeiten und ernsthaft in Betracht gezogen worden wäre. In der multipolaren Welt wird das Kriegsrisiko grösser, wenn alle Länder sich einem der grossen Machtblöcke anschliessen. Dagegen hat der Frieden weltweit grössere Chancen, wenn mehr Länder unabhängig und neutral bleiben oder werden. Darum hat Neutralität Zukunft und Vorteile nicht nur für unser Land. 

 

Worum es in der Neutralitätsinitiative geht

Die Neutralität der Schweiz ist über 200 Jahre alt und ihre legalen Prämissen sind seit 1907 in den Haager Abkommen klar definiert. Diese Bestimmungen sind eine gute, zeitlose und völkerrechtliche Grundlage unserer Aussenpolitik. Die Schweiz nimmt nicht Teil an den Kriegen anderer Staaten, flankiert von einer strengen Kriegsmaterial-Gesetzgebung. In der neuen multipolaren Weltordnung brauchen wir eine Neutralität, die Sicherheit schafft und sich am Weltfrieden orientiert. Innenpolitsch wird die Neutralität zwar in der Verfassung erwähnt, aber nicht definiert. Die Initiative holt dies nach und gibt der Aussenpolitik eine klare Richtung vor. Sie signalisiert dem Ausland, was von der Schweiz zu erwarten ist. Die Bundesverfassung wird um folgenden Artikel ergänzt:

 

Art. 54a Schweizerische Neutralität

Die Schweiz ist neutral. Ihre Neutralität ist immerwährend und bewaffnet.

Die Schweiz tritt keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis bei. Vorbehalten ist eine Zusammenarbeit mit solchen Bündnissen für den Fall eines direkten militärischen Angriffs auf die Schweiz oder für den Fall von Handlungen zur Vorbereitung eines solchen Angriffs.

Die Schweiz beteiligt sich nicht an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten und trifft auch keine nichtmilitärischen Zwangsmass­nahmen gegen kriegführende Staaten. Vorbehalten sind Verpflichtungen gegenüber der Organisation der Vereinten Nationen (Uno) sowie Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen anderer Staaten.

Die Schweiz nutzt ihre immerwährende Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung.

Dieser Verfassungstext umschreibt nicht die Gesamtheit der Schweizer Neutralität, dient aber als Leitlinie für ein aktives und am Weltfrieden orientiertes Neutralitätsverständnis.

Quelle: www.neutralitaet-ja.ch

 

veröffentlicht am 6. August 2024

«Orbán sucht einen Weg aus der Sackgasse, in die sich die Europäer manövriert haben»

«Helmut Schmidts Ziel war nicht eine strategische Eskalation, sondern ein Gleichgewicht der Kräfte auf einem möglichst niedrigen Niveau»

Interview mit General a. D. Harald Kujat

General a. D. Harald Kujat (Bild wikimedia)
General a. D. Harald Kujat (Bild wikimedia)

Zeitgeschehen im Fokus Kann man aufgrund des Nato-Gipfels (9. bis 11. Juli) ableiten, wie es im aktuellen Krieg in der Ukraine weitergehen könnte?

General a. D. Harald Kujat Der Schwerpunkt des Washingtoner Nato-Gipfels war erwartungsgemäss die Ukraine-Politik. Allerdings nicht mit dem Ziel, einen Weg zum Ende der Kampfhandlungen und zu einem Verhandlungsfrieden zu finden. Es ging vielmehr um die weitere finanzielle und materielle Unterstützung mit dem erklärten Ziel eines militärischen Siegs der Ukraine sowie um deren Forderung nach einem Nato-Beitritt. Beides sollte «trump-sicher» geregelt werden. Deshalb wurde lange über die richtige Wortwahl diskutiert. Schliesslich einigte man sich darauf, dass die Mitgliedsstaaten die Ukraine auf ihrem irreversiblen Weg zu einer vollen euro-atlantischen Integration, einschliesslich der Nato-Mitgliedschaft unterstützen werden. Allerdings wurde auch betont, die Nato werde dann in der Lage sein, eine Einladung auszusprechen, wenn alle Alliierten zustimmen und alle Bedingungen erfüllt sind. Nicht alle Nato-Staaten sind dazu bereit. Auch Präsident Biden hatte noch am 4. Juni in einem Interview des Time-Magazins gesagt, die Ukraine werde nicht Teil der Nato; die USA würden ihre Beziehungen zur Ukraine wie zu anderen Staaten gestalten, denen sie Waffen liefern, damit sie sich verteidigen können. 

Zu den beschlossenen Massnahmen gehört die Aufstellung einer Nato-Dienststelle für die Koordinierung der Unterstützung beispielsweise durch Waffenlieferungen und der Ausbildung ukrainischer Soldaten neben dem weiter bestehenden Unterstützungskommando «Security Assistance Group Ukraine» der US-Armee in Wiesbaden. Offenbar soll die amerikanische Dienststelle wie bisher die ukrainischen Streitkräfte bei der Operationsplanung unterstützen und sie mit Informationen versorgen. Damit geht allerdings die Hauptverantwortung für die Ukraine auf die Nato, vor allem auf die europäischen Nato-Länder über. Der Ukraine-Krieg wird europäisiert. Das bedeutet, dass die Europäer auch die Verantwortung für eine militärische Niederlage der Ukraine übernehmen müssten. 

Ausserdem wurde ein Finanzpaket in Höhe von 40 Milliarden Euro für das nächste Jahr beschlossen. Angekündigt wurde zudem die Lieferung weiterer Luftverteidigungssysteme und das baldige Eintreffen der ersten F-16-Kampfflugzeuge; beides zwar wichtige Verstärkungen der ukrainischen Defensivfähigkeit, die jedoch die strategische Lage nicht zugunsten der Ukraine wenden werden. Alle Entscheidungen haben im Übrigen ein Haltbarkeitsdatum: der 5. November, der Tag, an dem der nächste Präsident der USA gewählt wird.

Die Ukraine hat wohl nicht alle Wünsche erfüllt bekommen. Wie hat Selenskyj reagiert?

Für Selenskyj war bereits der letzte Gipfel in Vilnius eine grosse Enttäuschung, weil bezüglich der Mitgliedschaft nichts Konkretes entschieden wurde. Das löste eine harsche Kritik Selenskyjs an die Adresse der Nato aus. Diesmal war der ukrainische Präsident zurückhaltender und positiver. Er scheint realisiert zu haben, dass er mehr erreichen kann, wenn er die Nato-Mitgliedsstaaten nicht kritisiert. Aber auch diesmal ist weder eine konkrete Zusage erfolgt noch der Beginn von Beitrittsverhandlungen angekündigt worden.

Die Formulierung, die Nato-Mitgliedschaft sei «irreversibel», soll über dieses magere Ergebnis hinwegtäuschen und zugleich die ukrainische Nato-Mitgliedschaft als ungefährdet darstellen. Aber das ist natürlich naiv. Wenn Trump als Präsident diese Entscheidung revidieren möchte, kann er das selbstverständlich jederzeit. Das bedeutet, dass die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nach wie vor unsicher ist, zumal sie auch bei weitem nicht die Voraussetzungen für eine Aufnahme in die Nato erfüllt. Für die Ukraine ist das erneut ein sehr unbefriedigendes Ergebnis. Aber es entspricht der politischen Realität und der sich ­abzeichnenden militärischen Entwicklung. Beides läuft darauf hinaus, dass es doch noch zu Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland kommen wird.

Gab es noch weitere Forderungen der Ukraine an die Nato?

Ja, interessant ist, dass darüber anscheinend nicht gesprochen wurde. Beispielsweise die Frage, ob Nato-Staaten Kampftruppen schicken werden, falls sich eine militärische Niederlage der Ukraine abzeichnet. Diese Diskussion ist bereits von Präsident Macron öffentlich angestossen worden. Macron hat wiederholt die Entsendung französischer Landstreitkräfte in die Ukraine thematisiert; allerdings hat er die Begründung für das Eingreifen westlicher Truppen mehrfach variiert. Zuletzt sagte er: «Wenn die Russen die Frontlinie durchbrechen sollten, wenn es eine ukrainische Bitte gibt – was bis heute nicht der Fall ist –, dann sollten wir uns die Frage berechtigterweise stellen.» 

Ebenfalls blieb eine Reaktion der Nato auf die ukrainische Forderung aus, 150 000 Rekruten in unmittelbarer Nähe der Front auszubilden. Angesichts des grossen Risikos, dem Nato-Ausbilder in Reichweite russischer Waffen ausgesetzt wären, müssten Schutzmassnahmen ergriffen werden – beispielsweise durch bodengestützte Luftverteidigung. Dadurch könnten die Soldaten direkt in Kampfhandlungen mit den russischen Streitkräften verwickelt werden. Bisher lehnen es die USA kategorisch ab, US-Kampftruppen in die Ukraine zu verlegen. Aber der amerikanische Vorsitzende der «Joint Chiefs of Staff», General Brown, erklärte, der Einsatz von Nato-Ausbildern sei unvermeidlich: «Mit der Zeit werden wir dort ankommen.» Nicht nur der Bundeskanzler, auch der italienische und der ungarische Aussenminister haben eine militärische Beteiligung ihrer Streitkräfte am Ukrainekrieg ausgeschlossen. Innerhalb der Allianz wächst zudem die Zahl der Staaten, die nicht mit dem bisherigen Kurs einverstanden sind. 

Am Rande des Nato-Gipfels wurde die Stationierung amerikanischer Mittelstrecken-Raketen in Deutschland bekanntgegeben.

Am 10. Juli wurde in einer kurzen bilateralen Erklärung mitgeteilt, dass die USA 2026 mit der zeitweisen Verlegung weitreichender Systeme in Deutschland beginnen werden, die später dauerhaft stationiert werden sollen. Es handelt sich um eine Entscheidung der USA, landgestützte Standard Missile (SM-6) Flugabwehrraketen mit einer Reichweite bis zu 460 km, konventionelle Tomahawk-Marschflugkörper, die auch mit einem nuklearen Gefechtskopf ausgerüstet werden können, mit einer Reichweite von 2500 km und später noch in der Entwicklung befindliche Hyperschallgleitflugkörper (Dark Eagle) mit einer Geschwindigkeit von mehr als Mach 5 und einer Reichweite von deutlich mehr als 2500 km, in Deutschland zu stationieren. Mit diesen Waffensystemen wird die sogenannte «2nd Multi-Domain Task Force» ausgerüstet. Der Verband wird seit 2021 in Wiesbaden aufgestellt und soll 2026 voll einsatzbereit sein; weltweit werden fünf Verbände dieses Typs disloziert.

Wie hat Russland darauf reagiert?

Der stellvertretende russische Aussenminister Sergej Rjabkow erklärte, dass dieser Schritt von Russ­land erwartet wurde und bereits «kompensierende Gegenmassnahmen» entwickelt werden. Dies sei ein weiterer handfester Beweis für die extrem destabilisierende Politik der USA im Bereich des von ihnen einseitig gekündigten INF-Vertrages. Russland werde sein einseitiges Moratorium bezüglich der Stationierung von bodengestützten Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen sorgfältig überdenken, ebenso die potenziellen Massnahmen. 

Die Nato hatte die Bedeutung des INF-Vertrages für die europäischen Sicherheit auf dem Gipfeltreffen Anfang Juni 2018 ausdrücklich gewürdigt: «Der Vertrag über die Beseitigung von Flugkörpern mittlerer und kürzerer Reichweite (INF-Vertrag) hat massgeblich zur euro-atlantischen Sicherheit beigetragen, und wir treten weiter uneingeschränkt für den Erhalt dieses wegweisenden Rüstungskontrollvertrages ein.» 

Nur wenige Monate später, am 1. Februar 2019, wurde der am 1. Juni 1988 in Kraft getretene, auf unbegrenzte Dauer geschlossene Vertrag von der US-Regierung Trump einseitig gekündigt. Russ­land hat den Vertrag einen Tag später ebenfalls aufgegeben, jedoch im Juni 2020 seine Absicht erklärt, seine internationalen Verpflichtungen einzuhalten. Putin erklärte jetzt allerdings: «Wenn die USA diese Pläne in die Tat umsetzen, fühlen wir uns nicht länger an den kürzlich einseitig erklärten Stopp der Stationierung von Kapazitäten für Angriffe kurzer und mittlerer Reichweite gebunden.» Er betonte weiter, dass mit den amerikanischen Systemen, die auch mit nuklearen Gefechtsköpfen ausgerüstet werden könnten, wichtige Ziele in Russland in Reichweite gerieten.

Ist die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland mit dem Nato-Doppelbeschluss vergleichbar?

Nein, das kann man so nicht sagen. Mit dem Nato-Doppelbeschluss wurde verhindert, dass in der Nato zwei Zonen unterschiedlicher Sicherheit entstehen. Denn während die USA mit der Sowjetunion ein interkontinentalstrategisches Gleichgewicht auf einem niedrigeren Niveau verhandelten, entstand durch die sowjetische SS 20-Aufrüstung ein eurostrategisches Bedrohungspotential. In der Verbindung beider Entwicklungen entstand die Gefahr, dass die Nato-Strategie und damit die Verteidigung Europas undurchführbar würde. Der INF-Vertrag hat diese Gefahr durch die Vernichtung aller relevanten nuklearen Trägersysteme auf eine historisch einmalige Weise beseitigt. Beide Seiten haben sich jedoch jahrelang Vertragsverstösse vorgeworfen.

Zwar war das umfassende Verifikationsregime des INF-Vertrags 2015, zehn Jahre nach der Vernichtung aller vertragsrelevanten Flugkörper, ausgelaufen, durch seine Reaktivierung hätten jedoch alle Vorwürfe verifiziert und der Vertrag erhalten werden können. Das war offensichtlich nicht beabsichtigt. Denn bereits 20 Monate nach dem Ende des Vertrages, im April 2021 haben die USA die Aufstellung des Verbandes in Deutschland angekündigt, der mit den neuen Mittelstrecken-Flugkörpern ausgerüstet werden soll, und diesen bereits im September des gleichen Jahres aktiviert. Es besteht somit kein Zusammenhang zwischen dem Angriff Russlands auf die Ukraine und der Stationierung amerikanischer Mittelstreckensysteme in Deutschland. Die offizielle Begründung lautet, dass eine Fähigkeitslücke der Nato in Europa geschlossen und die Abschreckung erhöht werden soll.

Was bedeutet das aus der Sicht Russ­lands?

Russland betrachtet den Aufbau eines eurostrategischen Angriffspotentials der USA in Deutschland ebenso wie zuvor das Nato-Ballistic-Missile-Defence-System mit amerikanischen Aegis-Startrampen nicht als Verstärkung der Verteidigungsfähigkeit der Nato, sondern als eine nationale Massnahme der USA, durch die Stationierung in Europa einen geostrategischen Vorteil zu erlangen, um das russisch-amerikanische interkontinentalstrategische Gleichgewicht zum Nachteil Russ­lands zu verändern. Deutschland rückt damit in das Spannungsfeld der beiden nuklearstrategischen Grossmächte und wird im Vergleich zu den Nato-Verbündeten als strategisches Vorfeld der USA besonders exponiert. Eine derartige sicherheitspolitische und strategische Singularisierung Deutschlands in der Allianz zu verhindern, war eine unumstössliche Maxime aller bisherigen Bundesregierungen.

Heisst das nicht, dass die heutige Bundesregierung anders handelt als die damalige?

Helmut Schmidt hat einen gesamtstrategischen Ansatz verfolgt, indem er militärische Sicherheit mit einem Angebot zur Abrüstung verband. Sein Ziel war nicht eine strategische Eskalation, sondern ein Gleichgewicht der Kräfte auf einem möglichst niedrigen Niveau. Er bestand darauf, dass die Sicherheit der Nato unteilbar sei, dass es keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit geben darf. Diese Forderung bezog sich zunächst auf die Rüstungskontrollverhandlungen über interkontinentalstrategische Angriffswaffen, die die USA mit der Sowjetunion führten, während sie die eurostrategische Aufrüstung mit SS 20-Raketen ignorierten. Später forderte er, dass das Prinzip unteilbare Sicherheit auch für die Stationierung amerikanischer nuklearfähiger Tomahawk-Marschflugkörper und Pershing II-Raketen gelten müsse. Deshalb sollte das damit verbundene Risiko auf mehrere Staaten verteilt werden. Die Stationierung der Tomahawks erfolgte dementsprechend in Belgien, Deutschland, Grossbritannien, Italien und in den Niederlanden. 

Schmidt war überzeugt, dass die Abschreckung eines potenziellen Gegners nur durch ein Kontinuum militärischer Fähigkeiten erreicht wird, möglichst insgesamt auf der Grundlage eines Gleichgewichts der militärischen Kräfte. Allerdings ergänzt durch stabilisierende politische und rüstungskontrollpolitische Massnahmen zur Verbesserung des gegenseitigen Vertrauens, der Berechenbarkeit und der Vorhersehbarkeit des politischen Handelns. Er hielt eine Komponenten-Abschreckung für wirkungslos. 

Als deutscher Bundeskanzler übernahm Schmidt Führungsverantwortung für die Sicherheit ganz Europas, indem er den französischen Präsidenten Giscard d'Estaing und den britischen Premierminister Callaghan von seiner Risikobeurteilung überzeugte. Anfang Januar 1979 forderten sie den amerikanischen Präsidenten Carter bei einem Treffen auf der Karibikinsel Guadeloupe auf, das Prinzip der unteilbaren Sicherheit zu achten und durch die Nato angemessene, nicht-eskalatorische Massnahmen gegen die eurostrategische Aufrüstung der Sowjetunion zu ergreifen. Die Folge war der Nato-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 mit der Entscheidung, ein Nato-Mittelstreckenpotential aufzubauen, falls die Sowjetunion ihr eurostrategisches Potential nicht abbaut. 

Die Bundesregierung wäre angesichts dieser Vorgeschichte gut beraten, die sicherheitspolitische und strategische Logik zu erklären, die sie veranlasst hat, die amerikanische Entscheidung ohne eine öffentliche Diskussion der politischen, geostrategischen und rüstungskontrollpolitischen Konsequenzen zu akzeptieren. Wegen der potenziell existenziellen Bedeutung der Stationierung amerikanischer Tomahawk- Marschflugkörper und Pershing II-Raketen in Deutschland im Rahmen des Nato-Doppelbeschlusses, hat der Deutsche Bundestag am 22. November 1983 über die Stationierungsentscheidung abgestimmt. Der damalige Bundeskanzler Kohl hatte bis zuletzt gehofft, dass in den Genfer INF-Verhandlungen eine Vereinbarung zustande käme, die die Stationierung überflüssig macht.

Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund Orbáns Friedensinitiative?

Dass der ungarische Ministerpräsident Orbán, sowohl mit ­Selenskyj als auch mit Putin und Xi Jinping, Möglichkeiten erörterte, den Krieg mit einem Waffenstillstand und einem Verhandlungsfrieden zu beenden, zeigt, dass er einen Weg aus der Sackgasse sucht, in die sich die Europäer durch ihr unrealistisches und strategieloses Agieren manövriert haben. Anstatt sein Bemühen um europäische Handlungsfähigkeit im Interesse der Sicherheit aller Europäer zu würdigen und zu unterstützen, wurde Orbán kritisiert, er habe kein Mandat, beziehungsweise seine Gespräche seien nicht abgestimmt gewesen. Es entstand sogar eine öffentliche Erörterung darüber, ob und wie man Orbán die Ratspräsidentschaft entziehen oder ihn zumindest boykottieren könne. Ein bemerkenswertes Verhalten, wenn man bedenkt, dass die Europäische Union 2012 den Friedensnobelpreis erhalten hat, weil sie «aus einem Kontinent des Krieges einen Kontinent des Friedens gemacht» habe. Zuspruch erhielt Orbán dagegen vom slowakischen Ministerpräsidenten Fico: «Ich möchte dem ungarischen Ministerpräsidenten meine Bewunderung dafür aussprechen, dass er, ohne zu zögern, nach Kiew und nach Moskau gereist ist. Wenn mein Gesundheitszustand es zugelassen hätte, wäre ich gerne mitgekommen.» Orbán schloss seine Friedensmission unmittelbar nach dem Nato-Gipfel mit einem Besuch bei Donald Trump ab und schrieb danach: «Wir haben über Wege gesprochen, Frieden zu schliessen. Die gute Nachricht des Tages: Er wird es lösen.» Trump bestätigte dies auf seiner Internetplattform: «Danke Viktor. Es muss Frieden geben, und zwar schnell.»

Halten Sie Orbáns Friedensinitiative für einen gangbaren Weg?

Ich halte diesen Ansatz für realitätsnah und rational, weil er nicht nur mit den Präsidenten der beiden kriegführenden Staaten sprach, Putin und Selenskyj, sondern auch mit dem chinesischen Staatschef Xi Jinping. China ist eine Weltmacht mit grossem Einfluss und ein enger Verbündeter Russlands. Die Chinesen haben bereits im Frühjahr 2023 den gegenwärtig einzigen realistischen Vorschlag veröffentlicht, wie dieser Krieg mit einem Verhandlungsfrieden beendet werden könnte. Wichtig ist auch Orbáns Begegnung mit dem US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump. Danach hat Orbán geschrieben, das positive Ergebnis sei gewesen, dass Trump diesen Krieg beenden wolle. 

Orbáns Mission sehen Sie also als Erfolg, als einen Hoffnungsschimmer, den Krieg zu einem Ende zu bringen?

Es ist offensichtlich, dass Orbán etwas in Bewegung gesetzt hat, denn seine Initiative wird mit Misstrauen und Nervosität verfolgt. Allein die Tatsache, dass der möglicherweise zukünftige amerikanische Präsident eine solche Zusage macht, die zwar nicht politisch bindend ist, aber eine moralische Verpflichtung darstellt, muss man als grossen Erfolg werten. Das ist auch ein wesentlicher Grund für die negativen Reaktionen aus der Europäischen Union und von einigen europäischen Staaten. Für die Brüsseler Bürokraten und für einige europäische Politiker ist es sehr unangenehm, dass Orbán nicht nur das Ziel verfolgt, die Kampfhandlungen zu beenden und eine Ausweitung des Krieges auf den europäischen Kontinent zu verhindern, sondern auch demonstriert, dass Europa handlungsfähig wäre, wenn es denn handeln wollte. Dass Europa unfähig und unwillig ist, eigenverantwortlich und proaktiv Sicherheit und Frieden auf dem europäischen Kontinent zu gestalten, ist auch dem Ausfall deutscher ­Aussen- und Sicherheitspolitik geschuldet. Deutschland hat zu Zeiten der Bundeskanzler Willy Brandt, Helmut Schmidt und ­Helmut Kohl eine wegweisende, konstruktive Rolle in Europa übernommen. In den internationalen Beziehungen war Deutschland ein anerkannter rationaler, berechenbarer und ausgleichender Akteur, insbesondere auch in der Nordatlantischen Allianz und im transatlantischen Verhältnis. 

Inwieweit hat der Vorstoss Orbáns eine Wirkung auf die die beiden kriegführenden Staaten?

China hatte im Februar des vergangenen Jahres vorgeschlagen, Friedensverhandlungen ausgehend von dem in Istanbul erreichten Ergebnis aufzunehmen. Darauf ist Putin eingegangen, indem er die Vereinbarungen von Minsk und Istanbul als Grundlage für Verhandlungen bezeichnete. Er hat die Ukraine aufgefordert, zuerst das Verbot aufzuheben, mit Russland zu verhandeln, und verlangt, was er als «Anerkennung der entstandenen Realitäten» bezeichnet: Den vollständigen Abzug der ukrainischen Truppen aus den von Russland annektierten Regionen Donesk, Luhansk, Saporischschja und Cherson innerhalb der ehemaligen Verwaltungsgrenzen. Sobald sich die Ukraine dazu bereiterklärt und mit dem Abzug beginnt sowie offiziell notifiziert, dass sie ihre Pläne für einen Nato-Beitritt aufgibt, werde Russland die Kampfhandlungen einstellen und sei bereit, mit den Verhandlungen am nächsten Tag zu beginnen. 

Selenskyj glaubt, er hätte mit seiner Serie von Friedenskonferenzen die Initiative gegenüber Russland auf dem Gebiet von Verhandlungen gewonnen. Spätestens auf der letzten Konferenz in der Schweiz ist jedoch klar geworden, dass dies eine Sackgasse ist. Offensichtlich hat die Initiative Orbáns Selenskyj unter Zugzwang gesetzt. Denn der ukrainische Aussenminister hat versucht, China für Selenskyjs 10 Punkte-Plan zu gewinnen, und Selenskyj hat Putin zur Teilnahme an der nächsten Konferenz eingeladen. Beides war erwartungsgemäss erfolglos. Inzwischen hat Selenskyj angekündigt, bis Ende November einen Plan für die Lösung des Konflikts auszuarbeiten. Zugleich hat er jedoch erklärt, er könne nicht auf die Forderungen nach einem Waffenstillstand eingehen, solange Russland ukrainisches Territorium besetzt halte. 

Wann werden die Verhandlungen erfolgreich sein?

Verhandlungen werden geführt, um aus unterschiedlichen Positionen einen Kompromiss zu formen, um aus verschiedenen, oft gegensätzlichen Interessen einen Interessensausgleich zu erreichen. Der Vorzug des chinesischen Vorschlags besteht darin, dass er einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen ohne Vorbedingungen ermöglicht und so die Voraussetzungen für eine friedliche Lösung schafft. Orbán hat die Lage richtig eingeschätzt. Er sagte, verhandeln müssen die beiden Kriegsparteien, aber wir müssten etwas zustande bringen, dass wir auf die Kontrahenten so Druck aufbauen können, dem die beiden nachgeben müssen. Dieser Schritt muss noch geschehen, aber ich denke, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er erfolgt.

Herr General Kujat, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

 

veröffentlicht am 6. August 2024

«Wir haben in Deutschland ein Problem mit der Meinungsfreiheit»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko, BSW (Bild thk)
Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko, BSW (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus In Deutschland wurde das Compact Magazin und weitere Compact-Presseerzeugnisse unter anderem wegen angeblicher Volksverhetzung von der Regierung verboten. Wissen Sie Genaueres darüber?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Ganz unabhängig davon, was man politisch von Compact hält, ist diese martialische Inszenierung des Verbots eines Medienorgans besorgniserregend. Die Pressefreiheit ist in Deutschland in Artikel 5 des Grundgesetzes umfangreich geschützt. Hier wurde dieser Schutz umgangen durch einen Rückgriff auf das Vereinsrecht. Es geht nicht nur um die Zeitschrift, sondern um Online-Plattformen, Videokanäle und vieles mehr, alles ist eingestellt beziehungsweise beschlagnahmt worden. Ich halte das für höchst problematisch, nach dieser Konstruktion könnten in Zukunft weitere unliebsame Medien verboten werden.

Was hat es für eine Bedeutung, dass das Innenministerium auf das Vereinsrecht zurückgegriffen hat?

Die Meinungs- und Pressefreiheit wird in Deutschland grundgesetzlich sehr weit gefasst und gilt auch im Falle nicht-demokratischer Aussagen. Grenzen setzt das Strafrecht etwa im Falle der Volksverhetzung. 

Wenn man weiss, dass Volksverhetzung ein Straftatbestand ist, kann man strafrechtlich dagegen vorgehen. Compact ist noch nie strafrechtlich verurteilt worden. Hier geht es mutmasslich um einen Angriff auf die Pressefreiheit in Deutschland. Es wäre einer der grössten Angriffe auf die Pressefreiheit seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Parallel dazu ist die linke Zeitung Junge Welt ebenfalls unter Druck gesetzt worden. Hier läuft auch ein Prozess, ob die Zeitung vom Verfassungsschutz beobachtet werden darf. Diese Beobachtung soll möglicherweise als Legitimationsgrund herangezogen werden, um am Schluss die Junge Welt zu verbieten. Ich finde das sehr besorgniserregend, weil der Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes, der die Meinungsfreiheit schützt, sehr weit gefasst ist. Wenn man sich die Pressemitteilung der Ministerin anschaut, dann sind das Meinungen, die darin vorgeworfen werden.

Was sind die konkreten Vorwürfe, ausser die bereits erwähnte Volksverhetzung?

Es sind unglaubliche Vorwürfe. Compact würde etwa gegen Jüdinnen und Juden hetzen. Ich kann nicht beurteilen, ob das so ist. Vielleicht kann man es nicht ausschliessen, aber dann müsste das Strafrecht wirksam werden. Volksverhetzende Äusserungen sind strafbar, womit die Meinungsfreiheit auch ihre Grenzen hat. Das Ganze scheint sehr subjektivis­tisch. Dass die Regierung ein oppositionelles Medienorgan aufgrund dessen Auffassung direkt verbieten darf, ist sehr fragwürdig.

Hat das Innenministerium als Teil der Regierung, möglicherweise einen Rechtsbruch begangen?

Das müssen Gerichte entscheiden. Sicher wird Compact rechtlich dagegen vorgehen. Damit wird sich dann das Bundesverfassungsgericht oder das Bundesverwaltungsgericht beschäftigen müssen. Ich bin natürlich kein Jurist, aber ich kann aus meinem Blickwinkel sagen, dass ich es für äusserst problematisch halte, wie das Innenministerium vorgegangen ist.

Wie ist es vorgegangen?

Am 16. Juli 2024 verbot das Bundesinnenministerium unter Nancy Faeser die Compact-Magazin GmbH, die Conspect Film GmbH, alle zugehörigen Kennzeichen und Symbole (Logos) sowie verschiedene Online-Auftritte dieser Gruppe. Alle Einnahmen wurden konfisziert. Youtube entfernte zwei Kanäle, die mit der Compact-Magazin GmbH in Verbindung standen. In Brandenburg, Hessen, Sachsen und Sachsen-Anhalt wurden Liegenschaften der Firmen, Wohnungen von Akteuren, Geschäftsführern und Anteilseignern durchsucht, um Vermögenswerte und Beweismittel zu beschlagnahmen. Einige regierungsnahe Medien wurden vorab informiert und waren etwa bei der frühmorgendlichen Hausdurchsuchung des Chefredakteurs Jürgen Elsässer vor Ort.

Kann das Vorgehen der Regierung aufgrund der deutlichen Kritik von Compact an ihrer Politik den Ausschlag gegeben haben?

Das wird sicher auch eine Rolle spielen. Compact ist, soweit ich das weiss, sehr kritisch gegenüber deutscher Beteiligung am Ukraine-Krieg, an den Waffenlieferungen und an der Eskalation des Kriegs. Das spielt sicher eine erhebliche Rolle. Die grosse Gefahr ist aber, dass hier ein Präzedenzfall geschaffen wird, der dann erlaubt, ein Medium anhand bestimmter Kriterien – nicht juristischer – zu verbieten, wobei der eigentliche Verbotsgrund die Kritik am Krieg darstellt. Das erscheint natürlich nicht als einer der offiziellen Gründe. Zwei Tage vor dem 16. Juli hatte Compact ein Interview mit der Pressesprecherin des Kremls, Marija Sacharowa, veröffentlicht. 

In verschiedenen Kreisen, die Compact nicht unbedingt nahestehen, wird diese Verbindung zu dem Interview und Compacts Haltung zum Ukrainekrieg gezogen.

Ja, auch ich sehe hier schon einen Zusammenhang, aber nicht, dass nach dem Interview die Entscheidung getroffen wurde. Das Ganze ist schon von längerer Hand vorbereitet. Es kann aber gut sein, dass das Interview die Aktion ausgelöst hat. Das sind autoritäre Mass­nahmen. Sie werden immer mit «wehrhafter Demokratie» begründet. Das rechtfertigt aber nicht – wie wir aktuell sehen können – einen autoritären Staat aufzubauen.

Wird in den letzten Jahren nicht offensichtlicher, dass der Staat immer mehr in die öffentliche Meinung eingreift?

Doch, ich denke, das kann man so sagen. Wir haben in Deutschland tatsächlich ein Problem mit der Meinungsfreiheit, zum einen staatlicherseits, zum andern aber auch gesellschaftlich. Es besteht die Tendenz, Meinungen, die aus einem eng definierten Korridor herausragen, in einer Art und Weise gesellschaftlich zu sanktionieren, wie das vor einigen Jahren noch undenkbar war. Es sei dabei an die vielen Professoren erinnert, die um ihren Job bangen müssen oder ihn bereits verloren haben, weil sie sich gegenüber der Bundesregierung kritisch zur Corona-Politik, kritisch zur Haltung im Ukraine-Krieg oder auch zum aktuellen Vorgehen Israels in Gaza ge­äussert haben. In den letzten Jahren haben also Dutzende Professoren ihren Job verloren, was im Kontext einer gewissen politischen Position steht, die sie eingenommen haben. Die bekanntesten Beispiele sind Ulrike Guérot oder auch Patrik Baab.

Was hat man ihnen vorgeworfen?

Im Falle von Ulrike Guérot waren es Plagiatsvorwürfe. Patrik Baab wurde Legitimierung durch beobachtende Anwesenheit bei den Referenden in den ukrainischen Oblasten vorgeworfen, nach denen eine Mehrheit den Anschluss an Russ­land wünschte. Beide haben sich öffentlich deutlich kritisch zur Ukraine/Russland-Politik der Bundesregierung geäussert. Das ist eine gefährliche Tendenz, in der sich die Gesellschaft in Deutschland im Augenblick befindet. In diesen Kontext ordne ich auch den Schlag gegen Compact ein und das kürzliche Urteil gegen die Junge Welt.

Worum ging es bei dem Urteil?

Die Junge Welt hat gegen die Beobachtung durch den Inlandsgeheimdienst und der Veröffentlichung im so genannten Verfassungsschutzbericht geklagt. Das hat weitreichende Folgen für die Zeitschrift, zum Beispiel werden sie daran gehindert, Exemplare an den Bahnhöfen auszulegen oder Ähnliches.

Stellen Sie als Parlamentarier, der viel Kontakt zu der Bevölkerung hat, fest, wie die Menschen auf diese Entwicklung reagieren?

Es gibt Menschen, die sehr sensibel reagieren. Natürlich gibt es jetzt keine Massendemonstrationen für Compact oder die Junge Welt, aber ich empfinde, dass es eine hohe Sensibilität bei diesen Dingen gibt, die teilweise überlagert sind durch einen als identitär verstandenen Kampf gegen rechts. Das sind Menschen, die Sorgen haben, dass die AfD zu stark wird oder in den USA Donald Trump an die Macht kommt. Das Problem daran ist, dass sie wegen dieser Themen von der Bundesregierung missbraucht werden können.

In den letzten Jahren werden oppositionelle Bestrebungen, beispielsweise das Hinterfragen der Pandemiepolitik oder gegen die Unterstützung eines endlosen Kriegs in der Ukraine zu sein etc. als «rechts» diffamiert – geframt, wie es so schön auf Neudeutsch heisst. Das verhindert eine öffentliche Kritik an diesen Themen und einen offenen Diskurs.

Ein Dialog mit politisch Andersdenkenden ist so nicht mehr möglich…

In Orwells Buch 1984 gibt es den Begriff des Gedankenverbrechens. Das ist bereits der Fall, wenn man kritische Gedanken gegenüber dem Staat, dem «Big Brother», hegt und dann Denunzianten bereitstehen, die einen dieses Verbrechens überführen. Im Roman 1984 verrieten sogar die eigenen Kinder ihre Eltern. So weit ist es heute natürlich nicht, aber es gibt eine Tendenz in diese Richtung. Heute kann es sein, dass die berufliche Karriere zu Ende ist, weil man vor ein paar Jahren den falschen Tweet geliked hat. Über Twitter, heute X, ist es auch sehr leicht möglich, zu denunzieren. Zum Beispiel halte ich in meiner Funktion als Bundestagsabgeordneter irgendwo eine Rede, und ein Kritiker braucht dann nur vermeintliche Vorgesetzte zu informieren. Eigentlich ist die Bevölkerung mein Vorgesetzter, ihm bin ich Rechenschaft schuldig. Was ich mit den Vorgesetzten meine, sind Leute, die einen Einfluss haben, zum Beispiel auf meine Position innerhalb der Partei, sie werden über Twitter informiert, und so entsteht ein Denunziationsklima. Die Diskussion dreht sich dabei nicht um die Sache, sondern man attackiert den Menschen und setzt sich nicht mit seiner Auffassung auseinander.

Wir haben doch im Moment in einem grösseren Rahmen einen ähnlichen Ablauf mit Victor Orbán, der die ungarische Ratspräsidentschaft genutzt hat, eine Friedensinitiative zu starten, indem er mit Putin, Selenskyj und anderen gesprochen hat. Von der Leyen als Kommissionspräsidentin hat Orbán quasi dafür bestraft. Dies geht in die Richtung, über die wir gerade gesprochen haben. Sehen Sie das auch so?

Ich empfinde die Reaktion der Kommissionspräsidentin unerträglich. Die Reise von Orbán zeigt in aller Deutlichkeit das Fehlen einer diplomatischen Initiative, die von der EU aus kommt, weder von den Staats- und Regierungschefs noch von der Kommission, und das schon seit über zwei Jahren. Victor Orbán ist der erste Staatschef, der eine diplomatische Initiative gestartet hat. Wie man das am Ende bewerten muss und ob möglicherweise eine gewisse Selbstinszenierung eine Rolle gespielt haben mag, sei einmal dahingestellt. Tatsache ist, es ist die erste diplomatischen Initiative seit Beginn des Krieges. Eine Reise zu unternehmen und Selenskyj in Kiew, Putin in Moskau, Xi Jinping in Peking und Donald Trump, den möglichen US-Präsidenten, der den Krieg in der Ukraine sofort beenden möchte, in Florida zu treffen, um damit die Positionen für einen Frieden in der Ukraine bei massgeblichen Persönlichkeiten auszuloten, ist zu unterstützen und zeigt ein überlegtes Vorgehen. Dass Ursula von der Leyen, die als Kommissionspräsidentin überhaupt kein aussenpolitisches Mandat hat, trotzdem versucht, Orbán innerhalb des EU-Gefüges zu isolieren, ist schon sehr schlimm. Aber noch schlimmer ist, dass das EU-Parlament diese Kommissionspräsidentin für eine weitere Amtszeit bestätigt hat und ihr Vorgehen gegenüber Orbán nicht in der Kritik stand, genauso wenig wie die Tatsache, dass sie am Tag vor der Wahl vom EuGH wegen Intransparenz bezüglich der Corona-Impfstoffe verurteilt wurde. Da diskutieren die Abgeordneten stundenlang, ohne diese beiden unglaublichen Vorgänge anzusprechen. Bestenfalls haben es einzelne versucht, aber ohne Widerhall, und Ursula von der Leyen wird erneut gewählt. Das Parlament hat sich mit diesem Votum völlig unglaubwürdig gemacht.

Wie kann man sich dieses Abstimmungsergebnis erklären?

Das läuft über die Parteienfamilien. Da ist die EPP, die Partei von der Leyens, in Deutschland die CDU. Sie sprechen mit den anderen Parteifamilien, den Sozialdemokraten, den Liberalen, den Grünen … Dann werden für die Wiederwahl Deals ausgehandelt und Versprechen bzw. politische Zusagen gegeben. So werden die Parteien bzw. ihre Vertreter eingebunden. Besonders schlimm waren die Grünen, die sich nach der Wahl brüsteten, sie hätten noch ganz viele Stimmen für Ursula von der Leyen organisiert.

Wo ist die Partei angelangt?

Die Grünen werden von manchem als extremistische Mitte bezeichnet. Sie sind auch unter dem Vorwand des Kampfs gegen rechts besonders aktiv und bestrebt, den Schulterschluss mit Parteien wie CDU oder FDP zu suchen und sind bereit, alles dafür zu machen. Das ist genau die gleiche Parteienfamilie, die den Krieg in der Ukraine immer weiter eskalieren will.

War neben der Wahl von von der Leyen die Kriegsstimmung im Parlament fühlbar?

Es gab nicht nur die Wahl der Kommissionspräsidentin in dieser konstituierenden Woche in Strassburg, sondern auch eine Resolution zur Ukraine, das ist, wie Michael von der Schulenburg (BSW) zu Recht gesagt hat, eine Kriegsresolution gewesen, die den Krieg immer weiter eskalieren lassen will, ohne jede Option, aus dem Krieg herauszukommen. In der Resolution wird von einem irreversiblen Beitritt der Ukraine zur Nato gesprochen. Darin wird der Nato-Gipfel in Washington bejubelt und so weiter. Man muss sich die Resolution einmal durchlesen, mit welcher verbalen Schärfe sie verfasst ist. Sie wurde mit ungefähr 80 Prozent angenommen.

Das sind mehr Stimmen als bei der Wahl von Ursula von der Leyen.

Es ist ungeheuerlich. Sogar in der Linksfraktion hat eine relative Mehrheit zugestimmt. 18 Abgeordnete haben dafür gestimmt, 13 haben sich enthalten, darunter zwei Deutsche, und 16 waren dagegen. Die sechs neu gewählten BSW-Abgeordneten, die zur Zeit fraktionslos sind, haben alle dagegen gestimmt.

Nach diesen Zahlen könnte man die Hoffnung verlieren, wären da nicht doch noch gewichtige Personen, die immer wieder den Finger darauf halten, auch in den USA.

Ja, zum Beispiel, was macht Europa, falls Trump tatsächlich die Wahl in den USA gewinnt? Wenn er sie gewinnt, was durchaus wahrscheinlich ist, hat er angekündigt, den Krieg sofort zu beenden. Wenn das tatsächlich der Fall ist, was machen dann die Kriegstrommler in Europa? Man muss sehr genau beobachten, wie sich das entwickelt. Ich kann mir vorstellen, dass einzelne bereits beginnen, in diese Richtung zu schreiben und Narrative aufgebaut werden. Dass die NZZ schreibt, dass es für die Ukraine kaum möglich sein wird, den Krieg zu gewinnen, was wohl der Realität entspricht, ist möglicherweise der anstehenden politischen Änderung in den USA geschuldet.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

veröffentlicht am 6. August 2024

Die Rolle der NGOs und der Menschenrechte

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Nichtregierungsorganisationen (NGOs) kommen in der letzten Zeit immer mehr in den Geruch, von Staaten oder einflussreichen Thinktanks gesteuert zu werden. Was ist der ursprüngliche Sinn einer NGO?

Professor Dr. Alfred de Zayas Die Zivilgesellschaft sind wir. Eine gesunde Demokratie lebt von einer wohl informierten und aktiven Gesellschaft, von Menschen wie wir, die von unseren Regierungen und von allen Institutionen Transparenz und Rechenschaft erwarten. In der Tat müssen wir alle darauf achten, dass sich unsere Regierungen nicht so ganz allmählich in Oligarchien beziehungsweise Diktaturen verwandeln. Die Gefahr ist gross. Darum sind NGOs notwendig, und sie können eine wichtige Rolle in unserer Demokratie spielen. Die Realität aber ist, dass inzwischen viele NGOs – vor allem Menschenrechts-NGOs – unterwandert worden sind, nicht nur durch die CIA, den MI 6, den Mossad und so weiter, sondern ganz einfach und banal von den Lobbys der grossen Konzerne, vor allem von militärisch-industriellen-finanziellen Interessen. Deshalb nennen wir viele dieser Organisationen nicht NGOs, sondern «Gongos» beziehungsweise Regierungs- oder regierungsnahe Organisationen. Es sind nämlich die Donatoren, die Stifter, die die Musik bestimmen, die unter anderem die Prioritäten des Büros des Hochkommissars für Menschenrechte diktieren – wie man auf Englisch sagt: «follow the money». Allerdings sollte man nicht verallgemeinern. Die meistens NGOs sind natürlich keine Agenten, und ihre zum Teil dubiosen Aktivitäten sind anders zu erklären, ohne dabei eine Agententätigkeit offiziell zu übernehmen. Andere sind Opportunisten und versprechen sich daraus erhöhte Visibilität beziehungsweise Popularität. Es gibt sicherlich auch NGOs, die «geheimdienstliche» Aktivitäten gezielt betreiben, die direkt in den Diensten der CIA, des MI 6 oder des Mossad stehen. In meinen Berichten an die Generalversammlung und an den Menschenrechtsrat habe ich immer wieder die Rolle der Zivilgesellschaft beziehungsweise der NGOs gepriesen, aber auch davor gewarnt, dass sie allzu häufig instrumentalisiert werden, um die geopolitischen Ziele der Stifter zu verfolgen. Ich habe nämlich verlangt, dass ein «Code of Conduct» beziehungsweise ein Verhaltenskodex festgelegt wird. Unter anderem ist es notwendig zu wissen, woher die Finanzierung der NGOs kommt. Viele NGOs haben «Konsultativstatus» bei ECOSOC und dem Menschenrechtsrat, wo sie oft Desinformation und Diffamierung betreiben. Diese NGOs müssten ihren «Konsultativstatus» verlieren. Es muss eine Aufsichtsbehörde geschaffen werden, die über das Verhalten der NGOs urteilt. Wir Sonderberichterstatter haben auch einen «Code of Conduct» – die Resolution 5/2 des Menschenrechtsrats.¹

Welche NGOs sind das, die ihren Status missbrauchen?

Ich darf keine Namen nennen, denn das könnte juristische Konsequenzen nach sich ziehen. Stellen Sie sich vor, ich sage Wahres, und das Resultat ist nicht, dass die Probleme angepackt und gelöst werden, sondern dass ich als Lügner bezeichnet werde, dass eine zivilrechtliche oder eine Strafanzeige gegen mich erhoben wird und dass ich deswegen 40 000 Franken für juristische Beratung ausgeben muss. Auch wenn ich am Ende gewinne, bin ich diffamiert worden, erleide berufliche Nachteile und habe ein Jahr meines Lebens verloren, um mich gegen frivole Anschuldigungen zu verteidigen. Das Leben eines Whistleblowers ist gefährlich. Gerade deshalb habe ich als Sonderberichterstatter immer wieder verlangt, dass Gesetze angenommen werden, die die Arbeit von Whistleblowern ermöglichen und sie vor Zivil- und Strafprozessen schützen. Ich meine eine «Charter of Rights of Whistleblowers». Natürlich weiss ich von mehreren ehemaligen Mitgliedern von NGOs, unter anderem von Amnesty-International-Mitarbeitern, die unter Protest gegen «Missstände» gegangen sind. Dies hier zu diskutieren, wäre ein Minenfeld.

Wie unabhängig agieren NGOs, insbesondere die kleineren?

Die kleineren NGOs sind häufig unabhängig. Die Mitglieder sind engagierte Menschen, die ohne Gehalt arbeiten. So zum Beispiel das Geneva International Peace Research Institute,² die International Human Rights Association of American Minorities,³ der Legal Pact for the Future in San Francisco.⁴ Ich sitze im Direktorium von diesen und anderen NGOs. Sie haben meistens sehr wenig Geld, und weil sie unabhängig bleiben wollen, bekommen sie kein Geld von Regierungen oder vom Militärestablishment. Darum brauchen wir viel mehr unbezahlte Freiwillige.

Es gibt die bekannten und grossen NGOs wie Amnesty International (AI) oder Human Rights Watch (HRW). Inwieweit haben sie einflussreiche Geldgeber?

Ich beschreibe die Probleme der Unabhängigkeit der NGOs im Kapitel 6 meines Buches «The Human Rights Industry».⁵ Tatsächlich stehen viele in dieser Kategorie von «Nobel»-NGOs im Dienste der Interessen Washingtons und Brüssels – nicht der Welt. Auf der guten Seite haben AI und HRW für die Freilassung Julian Assanges plädiert. Andererseits haben beide einseitige, unprofessionelle Berichte über Kuba, Nicaragua, Syrien, Venezuela verfasst, sie haben das Narrativ Washingtons ­kritiklos übernommen und sogar die unilateralen Zwangsmassnahmen (fälschlicherweise als «Sanktionen» bezeichnet – obwohl die USA keine juristische oder moralische Legitimierung haben, andere Staaten zu «bestrafen»), obwohl solche unilateralen Zwangsmassnahmen von der Generalversammlung und dem Menschenrechtsrat Jahr für Jahr als völkerrechtswidrig bezeichnet werden, und obwohl die Uno-Sonderberichterstatter Dr. Idriss Jazairy und Professorin Alena Douhan in etlichen Berichten bewiesen haben, dass solche Massnahmen Zehntausende Menschen töten und deshalb als Verbrechen gegen die Menschheit im Sinne des Artikels 7 des Statuts von Rom gelten. Zweifellos sind AI und HRW mitschuldig am Tod von etlichen Menschen in Ländern, die unter US-«Sanktionen» leiden. Professor Jeffrey Sachs (Columbia) und Marc Weisbrot vom Center for Economic and Policy Research haben dies in einem ausführlichen Bericht von 2019 in Bezug auf Venezuela bewiesen.⁶

Inwieweit leisten NGOs einen wichtigen Beitrag in der Beachtung von Menschenrechten?

Einige NGOs ja, andere nicht, andere unterminieren das System und instrumentalisieren die Menschenrechte als Waffen gegen bestimmte Staaten, während sie andere Staaten schützen. Das grosse Problem ist und bleibt, dass diese Organisationen «selektiv» arbeiten unter Anwendung von Doppelmoral. Besonders ärgerlich ist die Praxis dieser NGOs, nur auf Konfrontation und «naming and shaming» abzustellen, anstatt nach den Ursachen der Probleme zu fragen und konkrete Lösungsvorschläge zu formulieren. 

Wie lässt sich die Doppelmoral direkt erkennen?

Man kann sie daran erkennen, welche Staaten diese NGOs kritisieren, und welche nicht, welche Propaganda sie betreiben – auf ihren Webseiten und in ihren Stellungnahmen im Uno-Menschenrechtsrat. 

Wie wirkt sich die Doppelmoral aus?

Nehmen wir zum Beispiel das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das diese Organisationen für Kosovo verlangen. Sie begrüssten, dass EU und Nato die Unabhängigkeit Estlands, Lettlands, Litauens, der Ukraine, Sloweniens, Kroatiens, Bosniens sofort anerkannten, obwohl dies das Ende der territorialen Integrität der Sowjetunion und Jugoslawiens bedeutete. Dieselben NGOs haben die Angriffe der Nato auf Serbien in 1999 gutgeheissen, die die territoriale Integrität Jugoslawiens zerstörten, obwohl die Nato-Bombardierungen illegal waren und Artikel 2(4) der Uno-Charta verletzten. Es waren die EU und die Nato, die das Prinzip der territorialen Integrität ad acta legten, wenn es um die Zerstörung Serbiens ging. Aber dieselben, EU, Nato, und ihre NGO-Vasallen, wollen von der Selbstbestimmung der russischen Bevölkerung auf der Krim und im Donbas nichts wissen. Nach ihrer Weltanschauung existiert das Selbstbestimmungsrecht nur für die Freunde Washingtons und Brüssels, aber nicht für die Bevölkerung von Abchasien, Südossetien oder Transnistrien. Gleichzeitig bestehen diese NGOs auf dem Prinzip der territorialen Integrität der Ukraine, Georgiens und Moldawiens. Immer wieder kommen sie auf das Prinzip der «territorialen Integrität», das sie selber verworfen hatten. Und wenn man auf das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes im Fall Kosovo hinweist, behaupten sie, dass das Kosovo keinen Präzedenzfall darstelle, dass das Kosovo «sui generis» sei. Die intellektuelle Unredlichkeit ist atemberaubend.

Was beinhaltet das Gutachten des IGH in Bezug auf den Kosovo?

Das Gutachten des IGH vom 22. Juli 2010 ist deutlich genug: Das Prinzip der territorialen Integrität kann das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht aufheben.⁷ Im Gegenteil, das Selbstbestimmungsrecht ist «ius cogens» und hat Vorrang.⁸ Besonders einschlägig ist Absatz 80. Deshalb können die EU-Staaten und die Ukraine das Selbstbestimmungsrecht der russischen Mehrheit in der Krim und im Donbas nicht negieren. Ja, die Ukraine hat ein Recht auf territoriale Integrität, und sie hätte es auch weiterhin behaupten können, wenn sie keine menschenverachtenden Gewaltmassnahmen gegen die russischen Mehrheiten in der Ost-Ukraine entfacht hätte. Es entstand eine Situation der «remedial secession» (Sezession als Abhilfe – genauso wie in Kosovo), denn der Putsch vom 22. Februar 2014 gegen die demokratisch gewählte Regierung von Viktor Janukowitsch und die Bombardierung von Lugansk und Donezk durch die illegale Putsch-Regierung in Kiew verursachte den Krieg um die Selbstbestimmung. Genauso wie die Ukraine sich einseitig von der Sowjetunion trennen konnte, hatten die russischen Mehrheiten in der Ost-Ukraine dasselbe Recht, sich von der West-Ukraine zu lösen. Seit dem Maidan-Putsch trägt die Regierung in Kiew die Verantwortung dafür, dass die russischen Mehrheiten in der Ost-Ukraine ihre Unabhängigkeit verlangten. Man darf die Vorgeschichte nicht ausblenden. Diese russischen Mehrheiten haben von 1991 bis 2014 friedlich in der Ukraine gelebt. Der von den USA und der EU geförderte Putsch hat alles geändert. Die russischen Mehrheiten fühlten sich – zu Recht! – direkt bedroht, wurden von der illegalen Putsch-Regierung in Kiew drangsaliert, diskriminiert und schliesslich bombardiert. Darum haben die Volksvertreter auf der Krim und im Donbas – ähnlich wie die Albaner im Kosovo – die Unabhängigkeit erklärt. Die Uno, die EU und die OSZE sind zu den Volksabstimmungen eingeladen worden. Sie kamen aber nicht. Das Prinzip «ex iniuria non oritur ius» (aus Unrecht entsteht kein Recht) ist hier einschlägig. Die Ukraine und die EU haben sich verkalkuliert. 

Es gibt doch auch ein Urteil des IGH zu dem Bau der Mauer im Westjordanland?

In seinem Gutachten vom 9. Juli 2004 kam der IGH zum Schluss, dass der Bau der Mauer durch die israelische Armee im Westjordanland, einschliesslich in und um Ostjerusalem, gegen humanitäres Recht und fundamentales Menschenrecht verstösst, und dass «Israel auch verpflichtet ist, die Verletzung seiner internationalen Verpflichtungen zu beenden, die sich aus dem Bau der Mauer in den besetzten palästinensischen Gebieten ergeben».⁹ Der IGH bekräftigte, dass Israel verpflichtet ist, den bisher entstandenen Schaden wiedergutzumachen, und verwies auf den Grundsatz, dass «…die Wiedergutmachung so weit wie möglich alle Folgen der illegalen Handlung auslöschen muss…». Durch den Bau wurden landwirtschaftliche Flächen und dadurch die Lebensgrundlage von Zehntausenden Palästinensern zugunsten illegaler israelischer Siedlungen zerstört. Der IGH hat auf Antrag der Uno-Generalversammlung ein neues, schärferes Gutachten verabschiedet. Dieses Gutachten wurde bis heute von Israel total ignoriert. Die EU hat nichts unternommen, um Israel zu zwingen, Wiedergutmachung an die Palästinenser zu leisten.

Was steht im zweiten Gutachten vom 19. Juli 2024?

Das Gutachten10 wurde am 30. Dezember 2022 von der Generalversammlung gemäss Artikel 96 der Uno-Charta angefordert.11

Am 19. Juli 2024 beschloss das Gericht:

«die fortgesetzte Anwesenheit des Staates Israel im besetzten palästinensischen Gebiet ist rechtswidrig;

der Staat Israel ist verpflichtet, seine rechtswidrige Anwesenheit im besetzten palästinensischen Gebiet so schnell wie möglich zu beenden;

der Staat Israel ist verpflichtet, alle neuen Siedlungsaktivitäten unverzüglich einzustellen und alle Siedler aus dem besetzten palästinensischen Gebiet zu evakuieren;

der Staat Israel ist verpflichtet, den Schaden wiedergutzumachen, der allen betroffenen natürlichen oder juristischen Personen im besetzten palästinensischen Gebiet entstanden ist;

alle Staaten sind verpflichtet, die Situation, die sich aus der rechtswidrigen Anwesenheit des Staates Israel im besetzten palästinensischen Gebiet ergibt, nicht als rechtmässig anzuerkennen und keine Hilfe oder Unterstützung bei der Aufrechterhaltung der Situation zu leisten, die durch die fortgesetzte Anwesenheit des Staates Israel im besetzten palästinensischen Gebiet entstanden ist;

internationale Organisationen, einschliesslich der Vereinten Nationen, sind verpflichtet, die Situation, die sich aus der unrechtmässigen Anwesenheit des Staates Israel im besetzten palästinensischen Gebiet ergibt, nicht als rechtmässig anzuerkennen; und

die Vereinten Nationen und insbesondere die Generalversammlung, die das Gutachten angefordert hat, sowie der Sicherheitsrat sollten die genauen Modalitäten und weiteren Massnahmen prüfen, die erforderlich sind, um die unrechtmässige Anwesenheit des Staates Israel im besetzten palästinensischen Gebiet so schnell wie möglich zu beenden12

Was könnten die NGOs tun, um diese Gutachten zu unterstützen?

Die grossen NGOs sollten die Texte der beiden Gutachten breit streuen. Sie sollten auch die Politiker ihrer jeweiligen Länder dazu bewegen, konkrete Massnahmen zu ergreifen, um den Völkermord in Gaza zu beenden und Rechenschaft von Israel zu erzwingen. Das Prinzip «ubi ius, ibi remedium» (wo Recht ist, muss es auch Reparation geben) bedeutet, dass Israel das geklaute Gebiet zurückgeben muss und Wiedergutmachung an die Palästinenser in Milliardenhöhe zu leisten muss.

Russland hat vor einigen Jahren ein Gesetz erlassen, das verlangt, NGOs genauer zu kontrollieren. Jüngst hat Georgien das auch getan. Was denken Sie darüber?

Eigentlich hat Russland den amerikanischen Foreign Agents Registration Act von 1938 (und zusätzliche US-Anordnungen und Praktiken) kopiert. Zweifelsohne sind einige NGOs «foreign agents» beziehungsweise trojanische Pferde und dürfen mit Recht so bezeichnet werden. Das neue Gesetz in Georgien ist völlig legitim. Man hat etliche Beispiele von NGOs in Lateinamerika, Afrika und Asien, die vom National Endowment for Democracy und USAID finanziert werden und eine zersetzende Tätigkeit – keine menschenrechtliche – an den Tag gelegt haben. Viele solcher NGOs sind da, um die Staaten zu destabilisieren – eine graduelle Arbeit, die in «colour revolutions» (farbige Revolutionen) mündet. So war es auch 2013 und 2014, als die amerikanischen und europäischen NGOs den Maidan-Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten der Ukraine, Viktor Janukowitsch, vorbereiteten. Die Beweise sind im amerikanischen Kongress sogar diskutiert – und gelobt – worden.

Was bräuchte es, damit NGOs ihre originäre Aufgabe wahrnehmen?

Zunächst müssen wir wissen, wer ist wer. Wir müssen für Transparenz sorgen. Darum sind die «foreign agents»-Gesetze wichtig. Aber nicht nur. NGOs, die sich in die inneren Angelegenheiten andere Staaten einmischen, müssen verwarnt werden, und wenn sie sich weiterhin völkerrechtswidrig verhalten, müssen sie verbannt werden.

Es gibt also NGOs, die sich zum Beispiel ehrlich für den Frieden einsetzen, aber auch eine Vielzahl, die einen anderen Auftrag haben. Woran sieht man das?

Man braucht nur zu lesen, was in den Medienberichten dieser NGOs steht, und wie sie sich allgemein verhalten, was sie im Menschenrechtsrat über Kriege in der Ukraine und Gaza sagen, wie sie sich gegenüber der Gewaltanwendung gegen Friedensdemonstranten in England, Frankreich, Deutschland und so weiter positionieren. Nehmen wir zum Beispiel die internationale Organisation der Schriftsteller P.E.N. (poets, essayists, novelists). Ich war Präsident des PEN-Zentrums Suisse Romande von 2006 bis 2009 und wieder von 2013 bis 2017. Dreimal war ich Koordinator der drei Swiss PEN-Zentren. Ich bin heute noch im Komitee des PEN-Zentrums und vertrete unser Zentrum im Ausschuss der Schriftsteller für den Frieden (Writers for Peace Committee). Als ich 2023 beim Jahrestreffen in Bled, Slowenien, war, musste ich gegen die Falken sprechen, die keinen Frieden in der Ukraine wollen, sondern allen Ernstes eine Resolution annehmen wollten, um Waffen an die Ukraine zu schicken!!! Ich war absolut erstaunt, feststellen zu müssen, dass es in unserem Komitee mehr Falken als Tauben gab und dass die Diskussion eine vulgäre Russophobie zur Schau stellte – und dies von einem Writers for Peace Committee. Es gelang mir jedenfalls, die kriegerische Resolution des französischen PEN-Clubs zu stoppen, aber meine eigene alternative Resolution wurde auch von der Mehrheit abgelehnt. (siehe Kasten)

Waren Sie während Ihrer Mandatszeit auch mit «politischen NGOs» konfrontiert.

Jeden Tag, und diese NGOs wussten genau, dass ich ihre Machenschaften durchschaut hatte. Nur ein Beispiel: Als bekannt wurde, dass ich um die Einladung ersuchte und sie auch bekam, als Sonderberichterstatter in offizieller Mission nach Venezuela zu reisen, erhielt ich von drei grossen NGOs Briefe (ich habe sie noch), in denen sie mich baten, nicht nach Venezuela zu reisen, weil ich nicht der «richtige» Rapporteur sei. Der «richtige» Rapporteur für sie war einer, der a priori gegen Nicolas Maduro urteilen und der die Gründe für eine «colour revolution» beziehungsweise für einen «regime change» liefern würde. Andere NGOs haben mündlich versucht, mich von meiner offiziellen Mission abzubringen, denn sie wussten, dass ich nicht ihr Lied singen, sondern dass ich professionell und neutral untersuchen und mein unabhängiges Urteil dem Menschenrechtsrat vorlegen würde, so wie ich es in allen meinen Berichten und in meinen Büchern immer getan habe. Als ich meinen Bericht im September 2018 dem Menschenrechtsrat vorlegte, wurde ich von mehreren NGOs als «pro-Maduro» kritisiert. Diese NGOs sind ein Teil der «Menschenrechtsindustrie», worüber ich in meinen Büchern schreibe.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

¹ www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/Issues/Executions/CodeOfConduct.pdf

² www.gipri.ch

³ www.ihraam.org

www.legalpact.org

www.claritypress.com/product/human-rights-industry/

cepr.net/images/stories/reports/venezuela-sanctions-2019-04.pdf

www.icj-cij.org/case/141

www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/141/141-20100722-ADV-01-00-EN.pdf

www.icj-cij.org/case/131

10 www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/186/186-20240719-pre-01-00-en.pdf

11 www.ohchr.org/en/press-releases/2024/07/experts-hail-icj-declaration-illegality-israels-presence-occupied

12 www.icj-cij.org/case/186/advisory-opinions

 

Resolution des Writers for Peace Committee von PEN International zur Notwendigkeit eines Waffenstillstands in der Ukraine und einer Vermittlung für ein nachhaltiges Friedensabkommen im Rahmen der Uno-Charta vorgeschlagen vom PEN Centre Suisse Romande (NICHT angenommen)

Wir, die Mitglieder des Komitees «Writers for Peace» von PEN International, bringen unsere tiefe Besorgnis über den Krieg in der Ukraine zum Ausdruck und setzen uns für eine Vermittlung ein, um ein Friedensabkommen zu erreichen, das einen nachhaltigen Frieden in Europa garantiert und ein Übergreifen auf andere Teile der Welt verhindert.  

Wir bekräftigen unsere Verpflichtungen, die wir unter anderem in unserem Manifest von Bled zum Ausdruck gebracht haben, 

«… 2. Der PEN fördert die Diskussion und den Dialog zwischen Schriftstellern aus Ländern, die sich in einem Konflikt befinden, und aus Regionen der Welt, in denen die Wunden offen sind und der politische Wille nicht in der Lage ist, Spannungen abzubauen.

3. Der PEN bemüht sich, Menschen aus aller Welt durch Literatur und Diskussionen unter Schriftstellern und mit der breiten Öffentlichkeit zusammenzubringen.

4. Der PEN sieht eine der grössten Herausforderungen der Welt darin, den Übergang von Gewalt zu Debatte, Diskussion und Dialog zu schaffen. Wir wollen aktiv an diesem Prozess teilnehmen und dabei, wo nötig, die Grundsätze des Völkerrechts fördern.»

Wir begrüssen alle Friedensinitiativen von Schriftstellern, Institutionen und führenden Persönlichkeiten der Welt, insbesondere die Friedensentwürfe lateinamerikanischer, afrikanischer, asiatischer und europäischer Politiker. Wir schliessen uns den Worten des Friedensnobelpreisträgers Oscar Arias an, der sagte: «Es ist an der Zeit, mutigere Anstrengungen zu unternehmen, um in der Ukraine Frieden zu schaffen. Krieg kann sich wie Feuer ausbreiten… dieser besondere Brand hat das Potenzial, einen Atomkrieg auszulösen … Die Welt ist heute dem nuklearen Abgrund so nahe wie während der Kubakrise.»

Darum rufen wir Schriftsteller aller Länder auf, ihr Möglichstes zu tun, um die Friedensberufung der Charta des PEN und das Friedensmandat der Uno-Charta zu fördern.

Übersetzung ZiF mit Hilfe von deepL

 

veröffentlicht am 6. August 2024

Mit US-Unterstützung: Israel auf Kriegskurs

von Karin Leukefeld, freie Journalistin und Nahost-Expertin

Am 22. Juli reiste der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu nach Washington, wo er am 24. Juli eine Rede vor dem US-Kongress hielt, der ihn eingeladen hatte. Er rief die USA auf, mit Israel eine Art Nato gegen den Iran aufzubauen. Der Iran sei «das Böse» schlechthin und bedrohe nicht nur Israel und die Region, sondern die ganze Welt. Anknüpfend an die «Abraham Vereinbarungen», die unter der US-Präsidentschaft von Donald Trump ausgehandelt worden waren, schlug Netanyahu vor, das Militärbündnis «Abraham Allianz» zu nennen. 

«Unsere Feinde sind eure Feinde, unser Kampf ist euer Kampf, unsere Siege werden eure Siege sein», rief Netanjahu Senatoren und Abgeordneten des Repräsentantenhauses zu, die ihm stehend Applaus zollten. Er wisse, «dass Amerika hinter uns steht», rief er und das Protokoll vermerkte begeisterte «USA, USA»-Rufe aus dem Plenum. Über den Gaza-Krieg verlor der oberste Kriegsherr der «einzigen Demokratie im Nahen Osten» nicht viele Worte. Israel werde die Hamas vernichten und den Gaza-Streifen militärisch kontrollieren. Gaza dürfe nie wieder «eine Bedrohung für Israel» werden. Das Ziel: «Der totale Sieg».

Drehbuch einer Eskalation 

Wenige Tage später, am Samstag, 27. Juli, kam es auf den von Israel besetzten und annektierten syrischen Golanhöhen zu einem tödlichen Vorfall. Am späten Nachmittag gingen Raketenteile auf einem Fussballplatz der syrischen Stadt Majdal Shams nieder. 12 Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 20 Jahren wurden getötet. Israelische Medien behaupteten sofort, eine Rakete der Hisbollah sei eingeschlagen. Kommentatoren forderten Vergeltung.

Hisbollah reagierte umgehend und wies in einer knappen Erklärung die «falschen Behauptungen einiger feindlicher Medien und verschiedener Plattformen über einen Angriff auf Majdal Shams kategorisch zurück». Die Hisbollah stehe «in keiner Weise mit dem Vorfall in Verbindung». Gegenüber der Uno-Mission für den Libanon (UNIFIL) sagte ein Vertreter der Hisbollah, es habe sich vermutlich um eine fehlgeleitete israelische Abfangrakete gehandelt, die die Explosion auf dem Fussballplatz verursacht habe.

Der libanesische Aussenminister Abdallah Bou Habib forderte eine unabhängige Untersuchung, ähnlich äusserte sich der EU-Aussenbeauftragte Joseph Borrell.

Das israelische Aussenministerium erklärte, die «Terrororganisation» [Hisbollah, kl] töte absichtlich Zivilisten, sei für das «Massaker» verantwortlich und habe «alle roten Linien» überschritten. Der israelische Energieminister Eli Cohen forderte, «Libanon soll brennen». Der Oberkommandierende der Israelischen Streitkräfte Herzi Halevi gab an, das Fussballfeld sei von einer Falaq-Rakete iranischer Bauart getroffen worden. Die «Hisbollah-Rakete» sei mit 53 kg Sprengstoff geladen gewesen. «Wer so eine Rakete in bewohntes Gebiet feuert, will Zivilisten und Kinder töten», so Halevi.

Internationale Medien wurden mit den Erklärungen der israelischen Armee versorgt. Kameras der grossen Sender und die Nachrichtenagenturen stellten sich auf Eskalation ein, Israel lieferte die Bilder. Noch in der Nacht griff die israelische Luftwaffe zur Vergeltung Ziele im Libanon an. Sondersendungen wurden geschaltet.

Die israelische Darstellung wurde von den USA bestärkt. Netanyahu – inzwischen aus Washington zurückgekehrt – drohte, die Hisbollah werde einen «hohen Preis» bezahlen. Das israelische Sicherheitskabinett ermächtigte Netanyahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant, Art und Weise des Angriffs auf Libanon zu entscheiden.

Am Montagabend, 29. Juli 2024, feuerte eine israelische Drohne drei Raketen auf ein achtstöckiges Wohnhaus in Hret Hreik, Südbeirut (Dakhiye). Das Haus stürzte ein und begrub mehr als 80 Menschen unter seinen Trümmern. 7 Tote wurden geborgen, darunter zwei Frauen und drei Kinder. Mehr als 70 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt in umliegende Krankenhäuser ­gebracht. Israel erklärte, man habe Fouad Shokr getötet, einen ­ranghohen Kommandeur der ­Hisbollah. Er sei für den Angriff auf Majdal Shams verantwortlich ­gewesen.

Erst am Dienstagnachmittag, 30. Juli 2024, wurde sein Leichnam aus den Trümmern des Hauses geborgen. Die Hisbollah bestätige am Abend den Tod des «verehrten und geliebten führenden militärischen Kommandeur Sayyed Fouad Shokr».

Nur wenige Stunden später, in den frühen Morgenstunden des Mittwochs, 31. Juli 2024, wurden in Teheran der Vorsitzende des Politbüros der Hamas, Ismail Haniyeh und sein Begleiter in ihrer Unterkunft im Norden von Teheran getötet. Die Umstände würden untersucht, hiess es in einer Stellungnahme. Haniyeh hatte wie andere hochrangige Vertreter des Islamischen Jihad, der Houthi Bewegung und der Hisbollah an der Amtseinführung des iranischen Präsidenten Mahmoud Pezeshkian teilgenommen. Haniyeh führte die Verhandlungen mit Israel über einen Waffenstillstand in Gaza. 

Das Büro von Benjamin Netanyahu ordnete an, dass kein Regierungsmitglied, kein Minister sich zu dem Mord an Haniyeh äussern dürfe. US-Aussenminister Antony Blinken erklärte, die US-Administration habe nichts gewusst und sei nicht beteiligt gewesen. Militärische Beobachter aus aller Welt, die in zahlreichen englischsprachigen, russischen und arabischen Medien zu Wort kamen, erklärten übereinstimmend, dass der Angriff auf Haniyeh in Teheran nicht ohne US-Geheimdienstinformationen möglich gewesen wäre.

Das Totengebet für Ismail Haniyeh und seinen Begleiter wurde in Teheran am 1. August 2024 gehalten. Am Freitag, 2. August 2024, wurde Haniyeh in Doha, Katar beerdigt, wo er im Exil lebte.

Die staatliche Souveränität des Iran sei mit dem Mordanschlag auf Ismail Haniyeh verletzt worden, erklärte der iranische Uno-Botschafter Amir Saeid Iravani bei einer Dringlichkeitssitzung des Uno-Sicherheitsrates am 31. Juli 2024. Die USA, Grossbritannien und Frankreich verhinderten eine Erklärung, die den Mord an Ismail Haniyeh in Teheran verurteilte.

Das Totengebet für Fouad Shokr wurde am 1. August in Beirut gehalten, wo er auch beigesetzt wurde. Hassan Nasrallah, der Vorsitzende der Hisbollah wiederholte bei der Totenfeier für Fouad Shokr, nicht er und nicht die Hisbollah seien für den Tod der 12 Kinder in Majdal Shams verantwortlich. «Wenn wir einen Fehler gemacht hätten, wäre die Hisbollah stark genug, das zuzugeben», so Nasrallah. Israel habe keine «Vergeltung» geübt, sondern Libanon angegriffen. Man werde nicht mehr von einer «Unterstützung» für Gaza sprechen, der Kampf werde an allen Fronten geführt und sei in eine «neue Phase» getreten. Mit Sicherheit werde es eine Antwort auf den Angriff auf Südbeirut geben. Auch die Morde an Fouad Shokr und Ismail Haniye würden beantwortet. «Nicht symbolisch, sondern richtig», so Nasrallah. «Der Widerstand kämpft mit Zorn, aber auch mit Weisheit.»

Fazit

Weisheit fehlt Israel, das sich unter der schützenden Hand – und mit den Waffen – des US-geführten Nato-Blocks sicher wähnt. Als waffenstarrender Wächter westlicher Interessen im Nahen und Mittleren Osten ist Krieg sein Geschäftsmodell. Es geht um die Kontrolle von Seewegen, von Transportwegen, von Öl- und Gasressourcen und dazugehörigen Pipelines. Israel, einst Zauberlehrling der grossen imperialistischen Staaten Grossbritannien und USA ist seinen Paten über den Kopf gewachsen und führt sie vor. Für die Nachbarstaaten bedeutet das Krisen, Kriege und Vertreibung.

Hintergrund: Majdal Shams

Eine Untersuchung dessen, was wirklich am 27. Juli 2024 in Majdal Shams geschah, gab und gibt es nicht. Alle Berichte folgen der israelischen Darstellung, die auf Behauptungen, nicht auf Beweisen und unabhängigen Untersuchungen basiert. Es gibt keinen Krater auf den öffentlich gewordenen Fotos, also bleibt die Frage, welcher Art der Einschlag war, der 12 Kinder und Jugendliche tötete. Was war das Geschoss, welche Flugbahn hat es genommen, welchen Sprengstoff trug es? Welcher Art waren die Verletzungen der Kinder und Jugendlichen, die getötet wurden? Was sagt das Krankenhaus? Gibt es Filmaufnahmen des Vorgangs? Gibt es Aufnahmen von Satelliten oder von Überwachungsdrohnen oder von Satellitenkameras über den besetzten syrischen Golanhöhen? 

Der Ort Majdal Shams gehört – wie auch die Golanhöhen – zu Syrien. Die Golanhöhen wurden von Israel 1967 besetzt und 1981 völkerrechtswidrig annektiert. Die Vereinten Nationen haben auf den Golanhöhen seit 1974 eine Beobachtungsmission stationiert, UNDOF. Da diese Uno-Beobachtermission alle Vorgänge auf den Golanhöhen genau verfolgt und dokumentiert, dürfte dort auch bekannt sein, wie es zu dem Einschlag auf dem Fussballplatz gekommen ist.

Majdal Shams wird von syrischen arabischen Drusen und Christen bewohnt, die bis heute auf ihrer syrischen Nationalität beharren. Ghaleb Seif, Vorsitzender einer Drusen-Initiative auf den besetzten Golanhöhen erklärte gegenüber Journalisten, dass ständig «israelische Abwehrraketen auf drusische Dörfer auf dem Golan und in Galiläa fallen», Eigentum und Agrarland zerstörten und Menschen verletzten. Die Teilnahme israelischer Offizieller an den Trauerfeierlichkeiten für die Kinder in Majdal Shams wurde Berichten zufolge zurückgewiesen.

Vieles deutet darauf hin, dass Israel den tragischen Tod von 12 Kindern benutzt hat, um in wenigen Tagen eine Eskalation zu inszenieren, die die Region weiter in den Abgrund zerrt. 

veröffentlicht am 6. August 2024

Südlibanon: Verbranntes Land

von Karin Leukefeld, freie Journalistin und Nahost-Expertin, Südlibanon

Die folgende Reportage basiert auf Recherchen der Autorin im Südlibanon am 18. Juli 2024.

In den Süden des Libanon zu fahren, bedarf einiger Vorbereitungen. Libanon und Israel sind seit Jahrzehnten im Kriegszustand, eine offizielle Grenze gibt es nicht. Die Trennungslinie zwischen dem Gebiet, das Israel für sich reklamiert – was vom Libanon nicht anerkannt wird – ist mit blauen Tonnen markiert, die von der Uno dort platziert wurden. Sie markieren die «Blaue Linie», eine Waffenstillstandslinie, die von UNIFIL, einer Uno-Interimstruppe für Libanon, kontrolliert wird.¹

Seit Beginn des Gaza-Kriegs am 7. Oktober 2023 wird entlang der «Blauen Linie» geschossen. In der Zeit vom 7. Oktober 2023 bis 21. Juni 2024 ereigneten sich hier mindestens 7 400 Angriffe. Das zeigt eine Dokumentation des Armed Conflict Location and Event Data Project (ACLED), das entsprechendes Kartenmaterial veröffentlichte. 83 Prozent dieser Angriffe wurden demnach von Israel verübt, insgesamt 6 142. Dabei wurden mindestens 543 Personen im Libanon getötet. Hisbollah und andere bewaffnete Gruppen seien demnach für 1 258 Angriffe verantwortlich, heisst es in dem Bericht. Dabei seien mindestens 21 Israelis getötet worden.²

Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Uno (FAO) wurden auf libanesischer Seite mindestens 340 000 Tiere getötet, 47 000 Olivenbäume und 790 Hektar Agrarland zerstört, und zwar «während der Erntezeit». Die Folge sei, dass die libanesischen Bauern mehr als 70 Prozent ihrer Ernte (2023/2024) verloren und das Angebot von Nahrungsmitteln für die Bevölkerung sich verringert habe, heisst es in dem FAO-Bericht. In grossem Umfang feuern die Israelischen Streitkräfte Weissen Phosphor auf libanesische Wälder und Agrarland. Ernten, Boden und Grundwasser werden verseucht, das Gift bedroht Menschen und Vieh gleichermassen. Israel zerstöre absichtlich die Lebensgrundlagen der Bevölkerung, sind Gesprächspartner im Libanon sich sicher. Niemand soll jemals wieder in das fruchtbare, wasserreiche Gebiet zurückkehren, das Israel seit seiner Gründung 1948 besitzen will. Tausende Familien haben ihre Lebensgrundlagen verloren.

Die Vorgeschichte

Die Bevölkerung der Region war nie an Kriegen und auch nicht an Grenzen interessiert, die sie und ihre Bewegungsfreiheit einschränken würden. Dass ihnen ihr Land genommen wurde, dass sie heute nicht mehr einfach aus Beirut für einen Tagesausflug nach Haifa fahren können, nicht mehr von Beirut nach Kairo oder von Bethlehem nach Damaskus oder Bagdad reisen können, dafür haben Grossbritannien und Frankreich Anfang des 20. Jahrhunderts gesorgt. Entlang der heutigen «Blauen Linie» zwischen dem Libanon und dem heutigen Israel, zogen die beiden europäischen Kolonialmächte 1916 – auf einer Landkarte – eine Linie von Akka (Acre) nach Mosul und weitere Linien, die das Gebiet aufteilten. Diese Linien gingen als «Linien im Sand» in die Geschichte ein, obwohl vieles keineswegs Sand, sondern seit Generationen bewirtschafteter Boden war. Es ging um die Kontrolle des gesamten Gebietes zwischen dem östlichen Mittelmeer und dem Persischen Golf.³

Die Rolle Israels, das sich als Wächter imperialer Interessen in einer der wichtigsten geostrategischen Regionen der Welt bis heute anbietet und entsprechend mit Geld und Waffen versorgt wird, erhielt durch die USA mehr Gewicht. Für die Region bedeutete das mehr Krisen und Kriege. Der Drang Israels nach Norden, in die fruchtbaren Gebiete des Libanon und nach Osten auf die fruchtbaren syrischen Golanhöhen hörte nicht auf.

Will man die Konflikte und Kriege der Region mit Israel verstehen, ist es hilfreich, die Vorgeschichte zu kennen. Den Menschen der Region ist sie von ihren Vorfahren und deren Vorfahren vermittelt worden. Ob in Gaza, im Westjor­danland, ob in Syrien, auf den besetzten Golanhöhen oder im Libanon – bis heute kämpfen die Menschen um ihr Land und um ihr Recht, ihr Leben und ihre Zukunft selbst zu gestalten.⁴

Südlibanon Juli 2024

Wegen des Kriegszustands ist der Süden des Libanon eine Militärzone, in der für Journalisten besondere Regeln gelten. Um dorthin zu fahren, zu filmen, zu fotografieren oder Interviews zu führen, bedarf es einer Genehmigung der Libanesischen Streitkräfte. Wird diese erteilt, erhält man von der Pressestelle der Armee eine E-Mail:

«Wir informieren Sie, dass Sie die Genehmigung erhalten haben, in den Süden (des Libanon) zu fahren. Ihr Name steht auf der Liste «B», Seriennummer ist «59». Die Genehmigung ist bis zum 31. 7. 2024 gültig. Sie müssen sich beim Geheimdienst der Südlichen Region melden, bevor sie mit Ihrer Arbeit beginnen (Original: bevor sie anfangen zu filmen). Sollten Sie weitere Fragen haben, rufen Sie bitte die Nummer … an.»

«Wo wollen Sie hinfahren, wen wollen Sie treffen?», fragt der Beamte der Südlichen Region in Saida. «Ich möchte mit der Bevölkerung sprechen», so die Autorin. «Es geht um die Folgen der israelischen Angriffe auf die ländlichen Gebiete mit Weissem Phosphor und die Folgen für die Bevölkerung. Sicherlich können doch die Mitarbeiter des Zivilschutzes darüber Auskunft geben.» Ob es möglich sei, nach Naqura zu fahren?, aus der Umgebung gebe es viele Berichte über solche Angriffe. Der Offizier überlegt kurz und sagt dann, Naqura sei nicht sicher. Erst am Morgen habe Israel in der Umgebung wieder bombardiert. «Fahren Sie Richtung Marjayoun. In Ibil al Saqi finden Sie das Hotel Dana, wo viele Journalisten wohnen. Dort werden Sie Ansprechpartner finden».

In Marjayoun ist ein Stützpunkt des Zivilschutzes, also geht die Fahrt über Nabatieh in Richtung Südosten. Hinter Nabatieh wird die Strasse schmal und schlängelt sich schliesslich durch das Litani-Tal, das sich nach Osten hin öffnet. Kleine Pinienwälder ziehen sich die Hügel entlang, der schmale Flusslauf des Litani ist unter dichtem Buschwerk verborgen. Nach Westen, zum Meer hin, steigt allmählich eine steile Felswand empor, auf deren Höhe die Kreuzfahrerburg Beaufort liegt. Es sieht aus, als sei sie in den Felsen gebaut. Zuletzt hatten sich dort israelische Truppen verschanzt, die grosse Teile des Libanon (1982 bis 2000) besetzt hielten.

Nur wenige Fahrzeuge sind unterwegs, das Gebiet ist weitgehend unbewohnt. Naturschützer wie die «Green Southerners», was so viel heisst wie «Die grünen Leute aus dem Süden», möchten das Litani-Tal und die umliegenden Wälder als «Kulturerbe» für den Libanon erhalten und engagieren sich gegen eine Bebauung. Derzeit sorgen allerdings der Krieg und die Wirtschaftskrise (seit 2019) dafür, dass Baumassnahmen nicht in Frage kommen. Die libanesischen Naturschützer dokumentieren seit Monaten die Verwüstung von Wäldern, Agrarland, von Obst- und Olivenhainen durch Brandbomben der israelischen Streitkräfte und durch Beschuss mit Weissem Phosphor.

Unterhalb der Festung Beaufort überquert die Strasse den Litani-Fluss über die Khardali-Brücke. Die Libanesische Armee unterhält hier einen Kontrollpunkt und kontrolliert ein- und ausfahrende Fahrzeuge. Unser Wagen ist mit einem «Presse»-Schild markiert und wird zur Seite gewunken. Der zuständige Offizier prüft die Papiere und findet den Namen der ausländischen Journalisten auf der B-Liste. Der Checkpoint ist über ihr Kommen informiert, der Wagen kann passieren. 

Kurz vor Marjayoun auf einer Anhöhe stehen Pressefahrzeuge. Auf einem Feld sind zwei Stative für Kameras aufgestellt, im Schatten eines Baumes haben einige Männer sich auf Campingstühlen niedergelassen. «Hier sehen Sie Journalisten von Al Alam und Al Jazeera friedlich beieinandersitzen», sagt einer der Männer, der für den iranischen Sender Al Alam arbeitet. «Und hier kommt unser guter Freund und Kollege, der für alle grossen internationalen Medien arbeitet», begrüsst er dann einen älteren Mann, der einen Safari Hut trägt. Die Krempe hat er an beiden Seiten hochgeklappt. Man erkundigt sich nach dem Woher und Wohin, ein Kollege beschreibt den Weg zur Basis der Zivilschutzkräfte.

Hoffentlich ist der Krieg bald vorbei

Das Quartier der Zivilschutzkräfte liegt abseits der Hauptstrasse. Zu erkennen ist es an dem grossen Feuerwehrwagen, der auf dem Hof steht. Drei Jugendliche und zwei ältere Männer sitzen unter einem schützenden Sonnendach an einem niedrigen Tisch und trinken Kaffee. Rasch stehen sie auf, als die Fremden sich nähern. «Sie ist eine Journalistin aus Deutschland und möchte mit dem Zivilschutz über die Zerstörung von Agrarland sprechen», erläutert H., der die Autorin im Libanon begleitet. Einer der Männer weist auf einen Nebenraum, wo der Leiter der Station sein Büro habe, mit dem müssten wir sprechen. «Haben Sie eine Genehmigung von unserem Hauptquartier», ist die erste Frage, die der Stationsleiter stellt. Die Genehmigung von Armee und Geheimdienst reiche nicht aus. H. bittet den Mann, mit dem Hauptquartier zu telefonieren, um eine Genehmigung einzuholen. Doch leider sei nichts zu machen, sagt der Mann nach einer Weile telefonieren. Journalisten müssten mindestens eine Woche vorher eine Genehmigung in Beirut einholen.

Drei Freiwillige für den Zivilschutz (v. l. Elias, George, David) (Bild K. Leukefeld)

Die drei Jugendlichen sind allerdings bereit, einige Fragen der Journalistin zu beantworten. George (20) und Elias (18) studieren, David (17) macht erst im nächsten Jahr sein Abitur. Die drei sind nicht aus Marjayoun, sondern aus Kleya, einem Ort in der Nähe, erzählen sie. Sie verbrächten die Ferien als Freiwillige Feuerwehrkräfte mit dem Zivilschutz, die Situation erfordere es. Ja, auch Mädchen seien in ihrer Freiwilligengruppe, allerdings seien die in einem anderen Haus untergebracht. «Aber im Einsatz arbeiten wir alle zusammen.» Viele Jungen und Mädchen in der Umgebung würden sich schon früh – neben dem Schulunterricht – zum Zivilschutz melden, berichten die drei. Es gäbe regelmässige Übungen und auch längere Ausbildungsseminare. «Wir haben unsere Uniform, Stiefel, Helm – alles, was wir für einen Einsatz brauchen», erzählt David, der Jüngste der drei. Erst am Vortag seien sie zu einem Einsatz am Litani-Fluss gerufen worden. «Ein grosses Feuer», meint George, sie hätten es löschen können.

Für alle drei ist es der erste Krieg, den sie erleben. Aber ihre Eltern haben ihnen schon von früheren Kriegen erzählt. «Wir verstehen die politischen Gründe nicht», meint George. «Wir wissen nur, dass wir nicht tun können, was wir möchten, dass wir nicht hinfahren können, wohin wir möchten, dass viele unserer Freunde nicht mehr hier sind, sondern in anderen Teilen des Landes, wo es sicherer ist», zählen sie die Einschränkungen auf. Sie müssten zu Hause bleiben, wenn sie nicht im Einsatz seien und niemand wisse, was die Zukunft bringe. Hoffentlich sei der Krieg bald vorbei.

Elias erzählt, dass er mit seinen Eltern erst vor sechs Jahren zurück in den Libanon gekommen sei. Damals war er 12, davor habe die Familie in Schweden gelebt. Für die Jugendlichen in Europa sei das Leben natürlich viel angenehmer, «es gibt alles», meint Elias. Im Libanon sei das Leben sehr schwierig und vielleicht würde er eines Tages doch wieder ins Ausland gehen, um zu arbeiten. Elias studiert Business Management, George studiert Mechanik (Physik), und auch er kann sich vorstellen, eines Tages ins Ausland zu gehen. David sagt, er wisse noch nicht, was er einmal studieren wolle. Er habe ja noch ein Jahr Schule und Zeit. Eins aber wisse er schon, fügt er dann verschmitzt hinzu: «Ich möchte auf jeden Fall hierbleiben, im Libanon.»

Die Schallmauer durchbrechen in Ebel as Saqi

Um wieder auf die Hauptstrasse zu gelangen, muss H. einen Weg durch das Labyrinth von schmalen Gassen finden, die sich den Hang hinunter an niedrigen, einfachen Häusern vorbeischlängeln. Die Gebäude sind von Blumen und Bäumen umgeben, zwischen den Häusern sind Gärten angelegt. Alles liegt wie verlassen, niemand ist zu sehen. 

Auf der Hauptstrasse fahren zwei Uno-Fahrzeuge vor uns in vorgeschriebenem Tempo, irgendwann biegen sie in die Hügel ab. «Hier ist eine spanische UNIFIL-Basis», sagt H., der den Südlibanon wie seine Westentasche kennt.⁵ 

49 Uno-Staaten haben für die UNIFIL-Mission 10 031 Soldaten und Soldatinnen entsandt. Das grösste Kontingent stellt aktuell Italien mit mehr als 1000 Armeeangehörigen, das die Mission leitet. Spanien hat 677 Armeeangehörige im Libanon, ihre Basis liegt nördlich von Marjayoun.⁶

Wir biegen ab in Richtung Ebel al-Saqi. Der kleine Ort liegt abseits und wird von Drusen und Christen bewohnt. Mitten im Kriegsgebiet des südlichen Libanon ein Hotel zu finden, ist überraschend. Noch überraschender ist allerdings das grosse Schwimmbad, das direkt hinter dem Hotel liegt. Leise tönt Musik herüber, eine Familie mit Kindern geniesst die gesamte Anlage für sich. «Normalerweise ist es im Sommer hier so voll, dass Sie keinen Platz mehr finden», sagt der leitende Manager Riad Zeineddine. «Nun haben wir Krieg, und die Gäste bleiben weg.» Als die Autorin sich als Journalistin vorstellt, beginnt Herr Zeineddine die Preise zu nennen: «Einzelzimmer 65 US-Dollar, Steuer und Frühstück inklusive. Doppelzimmer 80 US-Dollar, Steuer und Frühstück inklusive. Sollten Sie Vegetarierin sein, werden wir etwas für Sie zubereiten. Die libanesische Küche ist vielfältig, wie Sie wissen. Allein die Vorspeisen.» Das Hotel habe 36 Zimmer, 10 davon seien für UNIFIL reserviert. Viele Medien hätten sich eingemietet, sagt der Manager und zählt stolz einige Namen auf: «Al Jazeera, Sky News, Al Arabiya, Al Mayadeen, BBC, CNN, Jadeed».

Das DANA-Hotel sei etwa 1990 gebaut worden, berichtet er auf weitere Nachfrage. Damals sei eine UNIFIL-Basis der Norweger in dem Gebiet gewesen. Sie hätten den Bau des Hotels gefördert, damit Familienangehörige sie besuchen konnten. «Das eigentliche DANA-Hotel, wie Sie es jetzt sehen, wurde 2020 eröffnet», berichtet der Manager weiter. «Ende des Jahres 2024 läuft der Vertrag aus. Wir wissen nicht, was dann werden wird.» 

Riad Zeineddin stammt aus Hasbaya, das knapp 10 km weiter nordöstlich liegt. Hasbaya ist ein Zentrum der libanesischen Drusen. Die Caza Hasbaya, das Haus Hasbaya liegt am Fuss des Berges Hermon, den die Araber Jbeil Scheich nennen, Berg des Scheichs. Hier liegt Khalawat Al Bayyada, eine bedeutende theologische Einrichtung der libanesischen Drusen.

Während wir uns unterhalten, unterbricht plötzlich ein lauter Knall das Gespräch. Die Fenster klirren und wackeln in den Rahmen, eine Druckwelle lässt das gesamte Gebäude erbeben. «Nichts», lächelt Herr Zeineddin freundlich. «Es ist nichts, Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Die Israelis haben mit ihren Kampfjets die Schallmauer durchbrochen. Das machen sie immer, um uns Schrecken einzujagen.»

Herr Zeineddin entschuldigt sich, weil sein Handy klingelt. Auch das Handy von H., meinem Begleiter, klingelt. Es sei seine Tochter signalisiert H., bevor er den Anruf beantwortet. «Sie war besorgt, weil bei ihnen die Schallmauer durchbrochen wurde», erklärt H. später. Seine Familie lebt südlich von Saida, etwa 80 km von Ebel as Saqi entfernt. 

Wir verabschieden uns, Herr Zeineddin gibt jedem von uns noch eine Flasche eisgekühlten Fruchtsaft mit. «Kommen Sie wieder», sagt er freundlich. «Von hier bis Hasbaya ist alles ruhig, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.»

Wann können wir wieder in unsere Dörfer?

Die Fahrt geht zurück an die Küste, nach Tyre, wo 27 000 Menschen aus den südlichen Dörfern in Schulen untergebracht sind. Die Inlandsvertriebenen werden von der örtlichen Verwaltung mit Hilfe der Gewerkschaft der städtischen Arbeiter in Tyre versorgt. Unterstützung gibt es von der Uno-Organisation für Entwicklung (UNDP), lokale und internationale Nichtregierungsorganisationen haben verschiedene Aufgaben übernommen.

Der Leiter der Behörde, Mortada Mhanna, stellt der Autorin Herrn Ali an die Seite. Er stammt aus Naqura und hat dort bei der örtlichen Polizei gearbeitet. Nun ist er für Herrn Mhanna eine Art «rechte Hand», um die Versorgung der Familien in der Technischen Schule Tyre zu kontrollieren. «Es sind Ferien, die Familien sind im Erdgeschoss untergebracht», sagt Herr Ali. Sollten sie noch immer da sein, wenn die Schule im Herbst wieder den Betrieb aufnehme, werde der Unterricht auf die zwei oberen Etagen verlegt. Herr Ali hat Weissen Phosphor gesehen, als sein Dorf und die umliegenden Wälder damit angegriffen wurden. «Es hört nicht auf zu brennen», sagt er. «Wenn Menschen damit in Berührung kommen, verbrennt ihre Haut, und sie können von innen her brennen.»

Dann begrüsst er Herrn Ahmed, der seit vielen Jahren in der Technischen Schule angestellt ist und ebenfalls den Inlandsvertriebenen hilft. Die Familien, die in der Technischen Schule untergebracht seien, seien Bauern, nicht alle hätten eine gute Schulbildung gehabt. Für sie sei der Alltag in der Unterkunft sehr schwierig. Da Ferien seien, hätten die Kinder keine Schule und langweilten sich. «Die Leute haben keine Arbeit, sie haben kein Geld. Einmal am Tag bekommen sie eine warme Mahlzeit von einer Hilfsorganisation, die ihren ursprünglichen Essgewohnheiten nicht gerecht wird.» Viele lehnten das Essen ab, das meist aus Reis und einer Gemüsesauce, manchmal mit Fleisch bestehe. Auch die hygienischen Verhältnisse einer Schule seien für so viele Menschen nicht geeignet, fährt Herr Ahmed fort. Es gäbe nicht immer genug Wasser.

Dann hellt sich sein Gesicht auf, und er erzählt von einem Projekt, das ihm grosse Freude mache. Es richte sich an die Frauen und werde «von aussen» finanziert. «Von aussen» bedeutet, das Geld kommt von der Uno-Organisation für Frauen (UN Women), die in Kooperation mit örtlichen Nichtregierungsorganisationen ein Frauenprojekt finanziert. «Es wurde Land um die Schule herum gerodet, so dass die Frauen dort pflanzen können», erklärt Herr Ahmed. Sie arbeiteten morgens und nachmittags jeweils drei bis vier Stunden und erhielten für ihre Arbeit pro Tag 16 US-Dollar. Für die Kinder der Frauen werde in der Zeit von einer lokalen Organisation eine Kinderbetreuung angeboten. «Sie haben Glück, die Nachmittagsschicht beginnt um 17 Uhr, dann können Sie mit den Frauen sprechen.»

Frauen arbeiten auf dem Feld bei Tyre (Bild K. Leukefeld)

Nach und nach kommen die Frauen aus dem Gebäude und versammeln sich um Herrn Ahmed, um eine Teilnahmeliste zu unterschreiben. Alle tragen lange Hosen und lange Blusen. Um sich vor der Sonne zu schützen, haben sie ihre Köpfe mit Tüchern umwickelt, darüber tragen sie Kappen oder Sonnenhüte. Ihre Hände schützen sie mit Handschuhen bei der Arbeit. Hüte, Handschuhe, wie auch das notwendige Werkzeug, Dünger und Saatgut werden von der UNDP gestellt. Bis auf eine Frau weigern sich alle, von der Autorin fotografiert zu werden. Es schicke sich nicht, sagt eine junge Frau. «Was, wenn mein Bruder ein Foto von mir bei Facebook findet!»

Manal Issa ist nicht so scheu und blickt nachdenklich in die Kamera. Die 42jährige stammt aus Blida, wo sie mit ihrem Mann und zwei Kindern gelebt hat. Ihre 14jährige Tochter sei behindert, erzählt sie, daher könne sie nicht mit zur Arbeit kommen. Sie und ihr Mann hätten mit dessen Bruder zusammen im Gemüse- und Tabakanbau gearbeitet. Nachdem ihr Haus bei einem israelischen Angriff stark beschädigt worden sei, sei die Familie zum Bruder gezogen. Doch die Lage habe sich verschlimmert und im November, einen Monat nach Beginn des Krieges, seien sie aus dem Dorf evakuiert worden. Zwölf Familien aus ihrem Dorf und aus benachbarten Dörfern um Blida seien nun hier untergebracht.

In Tyre, in der Schule, sei das Leben schwierig, sagt Manal Issa leise. «Uns fehlt unser Zuhause, die Arbeit, der geregelte Alltag für die Kinder.» Ihr Mann sei behindert, und doch habe er im Dorf in der Landwirtschaft arbeiten können. Hier sei das nicht möglich, er habe nichts zu tun. «Wir warten, dass wir wieder nach Hause können.»

Die anderen Frauen rufen Manal, dass die Arbeit beginne. Lachend stehen sie beieinander und beobachten das Gespräch. Einige haken sich unter und gehen zum Feld hinüber. «Sind Sie gekommen, um uns zu sagen, dass wir wieder nach Hause in unsere Dörfer können?», fragt eine ältere Frau, die sich mit Herrn Ahmed unterhalten hat. «Wir alle wollen nach Hause, so schnell wie möglich», ruft sie den anderen Frauen zu. «Nirgends ist es schöner als in unserem Dorf», ruft eine zurück. Und Manal lacht: «Mein Dorf ist das schönste, es ist die Nummer 1.»

 

¹ unifil.unmissions.org/unifil-mandate

² www.aljazeera.com/news/2024/6/27/mapping-7400-cross-border-attacks-between-israel-and-lebanon

³ balfourproject.org/a-line-in-the-sand/

academic.oup.com/tcbh/article-abstract/30/2/289/5106399

unifil.unmissions.org/unifil-troop-contributing-countries

unifil.unmissions.org/sites/default/files/unifilmap122022.pdf

 

veröffentlicht am 6. August 2024

Israelische Ärzte helfen freiwillig im Westjordanland

Interview mit Dr. med. Ralph Guggenheim

Der Grundgedanke des hippokratischen Eides «I will keep them from harm and injustice»¹ ist auch die ethische Grundlage der Ärzte für Menschenrechte in Israel (Physicians for Human Rights Israel, PHRI).² Die Gründung dieser Vereinigung im Jahr 1988 geht zurück auf den Beginn der ersten Intifada.

Dr. med. Ralph Guggenheim, Volontär der PHRI, weilte für einige Tage in der Schweiz und berichtet in diesem Interview über seine Arbeit. Er ist allgemeinpraktischer Arzt, Jahrgang 1952. Er ist Schweizer und wohnt seit 1984 in Israel (unterbrochen von Aufenthalten in den USA, der Schweiz, Nicaragua und Tansania). Seit 1988 ist er Mitglied der Organisation Physicians for Human Rights Israel.

Zeitgeschehen im Fokus 1988 wurde die Vereinigung «Ärzte für Menschenrechte Israel» gegründet. Was war der Anlass?

Dr. med. Ralph Guggenheim Das kann man sehr genau umschreiben. Die erste Intifada, die 1987 begann und bis 1990 dauerte, war für jeden, der sich davon betroffen gefühlt hat, etwas sehr Einschneidendes. Ein ganz grosses Unbehagen war, dass es zu kriegerischen Handlungen gekommen ist, aber nicht nur das. Man hat zurückgeschaut, warum es zu kriegerischen Handlungen gekommen ist. Man hat die israelische Besetzung mit zweierlei Augen angeschaut, nämlich mit israelischen und mit palästinensischen. Das hat mich und wahrscheinlich die meisten motiviert, die an den Gründungskongressen der PHRI dabei waren. Der Gesundheitssektor war unser Bereich, unser Thema und ist auch unsere Gelegenheit, etwas zu verändern. 

Ich muss auch die Gründerin erwähnen, die Ärztin Ruchama Marton.³ Sie hat die PHRI ursprünglich als gemeinsame israelisch-palästinensische Organisation gegründet unter dem Namen «Israelis und Palästinenser für Menschenrechte».4 Der Name ist später durch einen Beschluss, an dem ich beteiligt war, angepasst worden, als klar wurde, dass wir eine israelische Organisation sind.

1988 gab es noch eine offizielle israelische Besetzung, eine Autonomie, wie sie seit 1995 besteht, gab es noch nicht. Alle Themen der Besetzung waren akut, so auch im Gesundheitssektor, der direkt dem israelischen Gesundheitsministerium unterstand. Daher ha-ben wir gewusst, was es gibt und was es nicht gibt im Gesundheitsbereich in den besetzten Gebieten. Seit damals mache ich aktiv mit bei den medizinischen Tagen, den Volontärtagen, in der Westbank. Bis zum 7. Oktober gab es eine ein bisschen anders geartete Aktivität auch in Gaza, die abrupt abbrach. 

Vor dem 7.Oktober war PHRI auch in Gaza tätig?

Ja. Aber die Behörden sowohl auf der Seite Israels wie auch auf der Seite der Hamas liessen nur arabisch-israelische Bürger nach Gaza. Arabisch-israelische Ärzte, ich glaube auch Schwestern, sind alle zwei bis drei Wochen in den Gaza-Streifen gereist und waren dort an einem Spital vor allem chirurgisch und mit Operationen tätig. 

Wie sieht ein medizinischer Tag in der Westbank aus? 

Seit 1988 – also mitten in der Intifada – mache ich Volontärsarbeit in der Westbank, teilweise häufiger, zum Teil weniger häufig. Im Moment bin ich alle drei Wochen da. In den letzten Jahren sind wir mit PHRI nicht mehr im südlichen Teil der Westbank, einfach weil wir uns beschränken müssen, wenn wir effizient sein wollen. Jetzt arbeiten wir im ganzen Gebiet nordwärts der Ebene von Ramallah. 

Der medizinische Tag findet zweimal pro Woche statt am Dienstag und am Samstag. Der Dienstag ist ein Wochentag, an dem die Leute arbeiten. Da ist es schwierig, Leute zu finden, so auch israelische Ärzte. 

Wir treffen uns um 9 Uhr 15 in einem grossen israelischen Dorf, parkieren dort unsere Autos und fahren mit einem kleinen Bus, angeschrieben mit PHRI, mit israelischer Nummer und einem arabischen Fahrer in die Westbank. Im Unterschied zu Israel sind wir hier sehr bekannt unter der palästinensischen Bevölkerung, weil wir eine wichtige Funktion erfüllen. 

Einer von uns, es ist immer derselbe, kennt sich sehr, sehr gut aus und zwar nicht nur technisch, sondern auch politisch. Er muss die Politik kennen und gleichzeitig ausserhalb stehen. Er muss die aktuelle Situation erfassen, unabhängig von der politischen Identität des Dorfes. Wir hören gar nichts davon, aber er weiss es, und er leitet das mit sehr kundiger Führung. Er ist immer dabei, das ist immer nur er. In der Gruppe sind jeweils zwischen 7 und 17 Leute. 

Was sind das für Berufsleute?

Es hat jüdische Israelis wie mich. Wir sind zwei bis drei Ärzte, eine jüdische Schwester und zwei Schwestern, die arabische Israeli sind, die alle Rechte haben, so wie jüdische Israelis. Als Dolmetscher hat es manchmal junge Frauen und eine ältere Frau. Für mich ist das ganz wichtig, ich rede nicht fliessend arabisch. Ich verstehe es, aber nicht gut genug. 

Seit dem letzten Oktober kommt praktisch immer eine Gruppe palästinensischer Ärzte mit aus Tulcarem, die uns verstärken als Volontäre. Sie sind ganz, ganz wichtig. Ich kenne sie schon gut. Es ist sehr gut, dass sie dabei sind. Sie geben ihren Arbeitstag dran. Ich habe nie herausbekommen, was das Spital dazu sagt, ob sie eine offizielle Bewilligung bekommen oder wie sie das machen. Aber sie können es machen. Das ist das Spannende. 

Wenn wir in dem Dorf ankommen, werden wir von einer offiziellen Stelle begrüsst, meistens vom Bürgermeister und anderen Leuten in ehrbaren Positionen, manchmal auch von einem regionalen politischen Führer, also von einer Führungsstelle. Dann sitzt man ab. Meist ist man in einer Schule und manchmal auch in einer Poliklinik in einem Versammlungssaal oder im Leitungsbüro, in dem alle sitzen, die teilnehmen, auch die von diesem Dorf. Und dann gibt es kurze Reden, und die sind ganz, ganz wichtig. Die arabische Gastfreundschaft ist nicht nur eine formale Angelegenheit, sondern auch ein Schutz. Das sage ich allen, die sich in Israel Sorgen machen, wenn ich dorthin reise. Ich sage ihnen, was mich schützt, sind nicht Waffen. Was mich schützt, ist der Segen der lokalen Behörden. Und der drückt sich aus durch die Reden am Anfang. 

Das ist faszinierend.

Das ist faszinierend, das ist jedesmal für mich faszinierend. Diese Reden müssen übersetzt werden, und das macht auch unser Chef, der das alles in der Hand hat. Und dann fragt er, ob einer von uns etwas sagen will. Manchmal sagen wir etwas. Manchmal sagt er etwas, einfach etwas Freundschaftliches, wie wichtig es ist, wie es zum Verständnis beiträgt, was wir machen. 

Anschliessend geht es grad an die Arbeit. Sie findet oft in Klassenzimmern statt, die man als Arbeitszimmer für Ärzte ausstatten muss. Ich verlange dann meist eine Matratze, die man auf die Schultischli legen kann. Dann bin ich da, der Übersetzer und die Patienten. Es hat jemanden, der vor der Türe für Ordnung schaut und für die Patientenliste verantwortlich ist. Die palästinensische Bevölkerung ist sehr, sehr diszipliniert und sehr ruhig. Ich glaube, das ist ganz wichtig – nicht nur im positiven Sinn –auch gegenüber der Besetzung sind sie sehr ruhig. Die Palästinenser sind sich gewohnt, viel auszuhalten. Sie vertragen sehr, sehr viel – auch an Unrecht. 

Aber wir machen ja das Umgekehrte, wir geben medizinische Behandlung und auch Medikamente. Es hat ein Medikamenten­arsenal, das gespendet wird oder mit Spenden gekauft werden muss. Das ist eigentlich das grösste Budget. 

Dann behandeln wir unsere Patienten. Es ist zum Teil eine strenge Arbeit und ein langer Tag. Irgendwann bricht man dann ab, aber mit dem Abbrechen ist der Tag nicht zu Ende. Dann kommt etwas ganz Typisches und ganz Wichtiges, dann werden wir bewirtet. Dann kommt das Essen, und das darf man nicht ablehnen. Man darf nicht den Tag abkürzen und sagen: «Nein, wir wollen nicht.» Weil das eben ein Teil dessen ist, was sie uns geben wollen als Dankerweisung. Und das ist wirklich sehr schön und auch gut. Es ist immer ein wenig anders, und immer mit Liebe zubereitet. Manchmal muss man es abkürzen. Manchmal kann man einfach dortsitzen und noch reden. Wenn man die Sprache nicht kann, hat es halt natürlich seine Grenzen. Dann fahren wir wieder zurück nach Israel. 

Es tut mir leid, dass das nicht mehr Israelis machen, es hätte mehr, die gut gewillt wären. Ich habe mindestens zwei andere Ärzte für diese Arbeit gewinnen können. Aber das sind nicht genug, es müssten noch mehr sein. Aber die Leute haben auch Angst. 

Die palästinensischen Behörden und die Bevölkerung sind froh, dass Ihr kommt. Wie ist das von den israelischen Behörden her?

Es wird toleriert, es ist eine Art inoffizielle Bewilligung. Wir machen nichts Illegales. 

Die Beziehungen mit den Grenzbehörden an den Grenzschranken zwischen dem israeli-schen und dem besetzten Gebiet sind sehr entspannt, kooperativ und freundschaftlich. Das ist der Hauptgrund, warum wir heute meistens ohne Schwierigkeiten durchgelassen werden. 

Die Palästinenser hingegen werden in der letzten Zeit an der Grenze praktisch nicht mehr durchgelassen. Vor dem 7. Oktober hat es in Israel viele arabische Arbeiter aus der Westbank gegeben, und die gibt es nicht mehr, die werden nicht mehr durchgelassen, nein. Die Palästinenser sehen das als etwas Temporäres, aber das ist wahrscheinlich nicht temporär. Mit dem Argument des Krieges werden sie einfach nicht mehr hineingelassen. Palästinenser werden nicht als Menschen wahrgenommen, man sieht sie nur als Bedrohung. Als Arbeiter sind sie ersetzbar: In Tel Aviv gibt es ganz viele Chinesen. 

Die Palästinenser denken, das sei nur temporär, aber das ist endgültig. Das ist ein wirtschaftlicher Faktor. Die Palästinenser hatten gute Beziehungen zu ihren Arbeitgebern. Das Einkommen aus Israel – ein viel höherer Lohn – fehlt, das ist bitter. 

Das wird schlimme Folgen haben.

Ja, das ist traurig und auch besorgniserregend. Es ist einfach nicht gescheit, das nicht mehr zuzulassen. Wirtschaftlich und finanziell hat das eine grosse Wirkung. Die Bevölkerung ist mehr auf die Medikamente der PHRI angewiesen als vorher. Darum hat es auch sehr viele Leute, die einfach nur für die Medikamente kommen. Sie brauchen zwar ein Rezept von uns, aber sie haben kein aktives medizinisches Problem, sie brauchen einfach Medikamente für chronische Probleme.

Wie ist die Zufahrt zu den Dörfern in der Westbank?

Heute ist der Weg in die Dörfer oft sehr lange. Der Grenzübertritt geht sehr schnell, aber manchmal braucht man zu einem Dorf sehr lange, weil man so viele Umwege fahren und überall rundherum fahren muss. Dann können wir nicht vor 11 Uhr oder 11 Uhr 15 anfangen. Dann arbeiten wir auch länger, und der Tag wird auch länger. Wenn diese Bürgermeister den aktuellen Zustand beschreiben, dann ist ein Teil davon, dass der Zugang zu ihrem Dorf erschwert wird. Man darf nur in eine Richtung fahren, zum Teil hat es eine Schranke, und man kann nicht hindurch. Ziel ist, das Leben schwer zu machen. Offiziell sind es Sicherheitsgründe. Wir hören dann auch von den Siedlern, die den Dörfern zusetzen. 

Wie werden die Dörfer für die Volontärtage ausgewählt?

Manchmal ist der Grund für die Wahl des Dorfes, dass das Dorf etwas durchgemacht hat. Die Bevölkerung und die Behörden sehen, da hat es noch andere, die aus Israel kommen, nicht nur Soldaten und Siedler. In einem der Dörfer warfen Siedler einen Stein auf den Fahrer des Ambulanzfahrzeuges, der dabei starb. 

Die Wahl ist eine Art Solidarität … 

Ja, ausdrücklich. Ein ganz wunderbares Anliegen, von dem, der entscheidet, in welches Dorf wir gehen, nämlich in eines, das etwas Schweres durchgemacht hat. Leider können wir nicht alle Dörfer abdecken. Darum muss man irgendwie auswählen, und das ist eines der Kriterien. Das ist gut, und es gibt ein gutes Gefühl, dass man etwas Wichtiges beitragen kann. 

Macht die PHRI auch Besuche in den israelischen Gefängnissen?

Manchmal war ich früher auch in Gefängnissen präsent, um vor allem für palästinensische Gefangene eine adäquate medizinische Behandlung zu garantieren, um zu überwachen und zu protokollieren. Das hat aus einem Gefängnisbesuch bestanden, der sehr offiziell mit den Behörden vereinbart worden ist. Die Behörden haben auch mitgemacht.

Die Gesuche für einen Besuch der PHRI in den Gefängnissen sind direkt von den betroffenen Familien gekommen. Der direkte telefonische Kontakt zwischen den Familien, die uns kennen, von den Gefangenen, die uns kennen, und dem Büro der PHRI ist sehr wichtig.

Was haben Sie bei Ihren Besuchen in den Gefängnissen festgestellt? 

Was ich damals angetroffen habe, waren keine absichtlich schlechten Behandlungen. Es war eher eine nachlässige Behandlung, die man medizinisch verbessern musste. In die heutige Situation habe ich keinen eigenen Einblick. Ich glaube, die Situation in den Gefängnissen hat sich dramatisch geändert, nur schon, was man in der Presse liest. 

Seit wann hat es sich geändert? 

Das kann ich nicht beantworten. Aber das ist eine wichtige Frage. Im Negev, nicht weit vom Gaza-Streifen entfernt, gibt es ein Gefangenenlager, wo Bewohner von Gaza gefangen gehalten werden. Sie erhalten offenbar sehr wenig oder gar keine medizini-sche Behandlung. Das Lager heisst Sde Teiman Facility. Von dort hört man Schlimmes (vgl. Kasten, S. 24). 

Sind die PHRI auch in Israel tätig?

Bei der Arbeit der PHRI in Israel geht es um die Gesundheitsrechte von Israelis. Israel hat eine universale Gesundheitsversorgung, und die ist nicht immer vollständig garantiert. Dafür gibt es jemanden bei der PHRI, der sich damit beschäftigt. 

Und es gibt eine prinzipielle Frage, die sich mit der Ethik der Gesundheit befasst, und wie sie in Israel angewendet wird. Das beginnt mit dem hippokratischen Eid und geht weiter mit der israelischen Grundgesetzgebung, die sowohl vom Staat wie auch von der Ärzteorganisation in die Praxis umgesetzt werden muss. Und wenn es nicht geschieht, dann muss es jemand aufarbeiten. 

Das Allerkrasseste in dieser Richtung war die Debatte um die Folter. Da ist es vor allem um Gefangenenverhöre gegangen, und wie sich die Ärzte dazu stellen. Das ist lange her und das ist das, was ich von früher her weiss. Es ging darum, ob Ärzte Untersuchungen machen dürfen, die den intakten Körper bestätigten, bevor ein Gefangener gefoltert oder misshandelt wird. Das tönt sehr krass, aber solche medizinischen Untersuchungen haben stattgefunden. Wie es heute gemacht wird, ich glaube, da dringt absolut nichts an die Öffentlichkeit, und die Methoden sind sicher auch viel, viel weniger verfolgbar. Ja, ich habe etwas den Verdacht, dass heute ein Menschenleben eben weniger wert ist in dieser Hinsicht. Es ist viel grausamer geworden. Ja, es tönt schlimm, aber es passiert auf der ganzen Welt, das passiert nicht nur in Israel. 

Humanitäre Anliegen kommen sehr oft in Konflikt mit der Identität der Kriegsführung. Ein Teil von dem, was in Gaza gemacht wird, ist humanitär sehr kontrovers. Wenn es klar gegen humanitäres Recht verstösst, dann wendet sich die PHRI dagegen, auch wenn es nicht opportun ist. 

Dann habt Ihr einen Kompass, das sind die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht?

Ja, absolut.

Und was davon abweicht, das wird von Euch benannt? 

Wenn man Zugang hat dazu.

Wenn man Zugang dazu hat, und wenn es gesichert ist.

Ja, genau. Das ist der springende Punkt. Das ist ja ganz ganz schwer von Israel aus. Und ich glaube, es ist allgemein schwer – das ist jetzt über Israel hinaus – die Information ist ja sehr oft nicht verlässlich, die aus Gaza kommt. Ich glaube, es kann es niemand verlässlich sagen, was dort passiert, auch in den Gesundheitsinstitutionen, weil es keine unab-hängige Beobachtungen gibt. 

Macht PHRI auch medizinische Behandlungen in Israel?

Ja, in Süd Tel Aviv, eigentlich in Jaffa, im Hauptbüro der PHRI gibt es eine Poliklinik für Leute, die keine Gesundheitsrechte haben. Das ist ganz eine wichtige Abteilung, wo jeder medizinisch behandelt werden kann. Es kann jeder dort hingehen ohne Bürokratie und ohne, dass er gefragt wird, ob er legal und unter welchen Umständen er in Israel ist. Es ist eine gross­artige Aktivität, die seit 25 Jahren stattfindet. 

Wer kommt in diese Poliklinik?

Es hat verschiedene Arten von Leuten. Es hat die, die man am Klarsten definieren kann. Das sind Fremdarbeiter, die mit einer Arbeitsbewilligung nach Israel gekommen sind. Die ist dann abgelaufen. Viele von denen, meistens Ostasiaten, es hat auch Südamerikaner, bleiben dann noch eine Zeit lang, und das wird toleriert von den Behörden. Sie haben zwar keinerlei Gesundheitsrechte mehr, aber sie werden nicht gleich abgeschoben. Ich weiss das, weil ich viele von diesen Fremdarbeitern gesehen habe. Es wird auch toleriert, wenn sie noch einmal eine Stelle annehmen bis zu einer gewissen zeitlichen Distanz, an der ihr Visum abgelaufen ist. Dann wissen sie, dass sie gehen müssen. Diese Leute brauchen unsere Poliklinik, denn sie haben keine Versicherung, und sie können keine Versicherung abschliessen. Das ist wahrscheinlich die grösste Gruppe. 

Es hat auch Flüchtlinge, die meist schon länger in Israel sind. Die grösste Gruppe kommt aus Eritrea. Es hat auch Äthiopier. Sie arbeiten auch in illegalen Jobs, weil sie keine Arbeitsbewilligungen haben. Einen Flüchtlingsstatus gibt es eigentlich nicht in Israel. Sehr, sehr wenige sind als Flüchtlinge anerkannt. Wenn sie anerkannt wären, dann würden sie auch Gesundheitsrechte erhalten. 

Wo sehen Sie einen möglichen Weg für einen gerechten Frieden? 

Israel lebt nur im Heute und weigert sich konsequent, die Zukunft anzuschauen. Aber eine Zukunft muss entwickelt werden. Alle Beteiligten müssen angehört werden. Auch die Extremen müssen angehört werden, auch wenn sie dann nicht berücksichtigt werden. 

Ich lese Haaretz. Dort hat es sehr gute Analysen. Aber es fehlt auch hier die Planung für die Zukunft. Die Zukunft muss man planen. Israel sieht sich immer in Frage gestellt und bedroht. Die Vorstellung, man müsste militärisch noch besser werden, um Probleme zu lösen, ist absolut verfestigt. Israel müsste das ändern. Es braucht auf beiden Seiten Kompromisse. Die guten Analysen in Haaretz müsste man zusammenfassen und daraus operativ Lösungen für die Zukunft entwickeln.

Herr Dr. Guggenheim, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Henriette Hanke
Güttinger 

 

¹ «Ich werde sie vor Schaden und Ungerechtigkeit bewahren»

² https://www.phr.org.il/en/

³ https://ruchamamarton.com, Tsafrir Cohen, Israel: Wider die Lüge und den Selbstbetrug, 2007-8

⁴ 3500 Mitglieder und Volontäre sind bei PHRI engagiert, was jedes Jahr rund 20 000 Menschen ermöglicht, ihr Recht auf Gesundheit und medizinische Versorgung wahrzunehmen.

 

Resolution vom 18. April 2024
Schliesst die Sde Teiman Facility jetzt!

«Jeder von uns, sei es das medizinische Personal oder die Aufsichtsbehörden im Gesundheits- und Verteidigungsministerium, verstösst gegen das geltende israelische Recht. Für mich als Arzt noch besorgniserregender ist der Bruch meiner Pflicht, alle Patienten gleich zu behandeln, ein Gelöbnis, das ich nach dem Abschluss meines Medizinstudiums vor zwei Jahrzehnten geleistet habe.»

Zu dieser Schlussfolgerung kam am Anfang des Monats ein Arzt, der im Feldlazarett innerhalb der Militäreinrichtung Sde Teiman arbeitet. Sein Zeugnis ergänzt die zunehmenden Beweise, die die Behandlung und  die Haftbedingungen der Gefangenen aus Gaza in der Militäreinrichtung offenlegen. In verschiedenen Berichten und einem UNWRA-Dokument sind die Zeugnisse von über 100 freigelassenen Häftlingen zusammengefasst. Sie zeigen, dass Hunderte von Menschen den ganzen Tag mit gefesselten Händen und verbundenen Augen festgehalten werden. Es ist ihnen verboten, sich zu bewegen oder zu sprechen, andernfalls drohen ihnen schwere Strafen. Diesen Zeugnissen zufolge erleiden diese Gefangenen regelmässig massive Gewalt, was zu Knochenbrüchen, inneren Blutungen und sogar zum Tode führt.

Seit Beginn des gegenwärtigen Krieges, vor allem seit der israelischen Bodenoffensive im Gaza-Streifen wurden Tausende von Gazanern, einschliesslich Minderjährigen, Frauen, älteren Menschen und Dutzenden von medizinischen Fachkräften, festgenommen, viele von ihnen an geschützten Orten wie Krankenhäusern und Schulen. Bis jetzt waren alle Versuche, Informationen über ihr Wohlergehen und ihren Aufenthaltsort zu finden und zu erhalten, erfolglos.

Die Beweise und Informationen, die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, bestätigen die Erkenntnisse, die wir in unserem heute veröffentlichten ethischen Positionspapier darlegen.¹ Darin analysieren wir Daten von freigelassenen Häftlingen, die unzureichenden Antworten der Behörden, Gespräche mit medizinischen Fachkräften und Daten zu Dutzenden von Todesfällen während der Inhaftierung. Wir veröffentlichen diesen Bericht, weil es aufgrund der Lehren, die wir aus geheimen Gefängnissen wie Guantanamo und Abu Ghraib gezogen haben,  entscheidend ist, ihre weiteren Aktivitäten zu verhindern und den Irrtum zu erkennen, dass sie jemals «reformiert» werden können.

Vielleicht erinnern sie sich, dass das israelische Gesundheitsministerium erklärt hat, dass inhaftierte Personen aus dem Gaza-Streifen nicht in öffentlichen Krankenhäusern behandelt werden und stattdessen in medizinische Einrichtungen gebracht werden, die von israelischen Gefängnissen oder vom Militär betrieben werden, unabhängig davon, ob diese für eine angemessene Behandlung ausgestattet sind. Anschliessend veröffentlichte das Ministerium Richtlinien für die medizinische Behandlung, die, wie unser Bericht feststellt, die medizinische Ethik verletzen und die grundlegenden Prinzipien der Gesundheitsberufe missachten. Diese Richtlinien wurden von Medizinern bekräftigt, die die Weigerung unterstützten, inhaftierte Personen aus dem Gaza-Streifen medizinisch zu behandeln, selbst wenn sie vom Militär eingeliefert worden sind. Der Bericht warnt, dass das medizinische Personal angesichts der jetzigen Situation in Sde Teiman Gefahr läuft, schwerwiegend gegen die medizinische Ethik zu verstossen.

Die Richtlinien des Gesundheitsministeriums für die Sde Teiman Einrichtung unterstützen diese Verstösse, da sie die Beteiligung des medizinischen Personals an Handlungen ermöglichen, die eine unmenschliche Behandlung oder Folter sind. In Anbetracht der zahlreichen Aussagen, sowohl von Häftlingen als auch von medizinischem Personal bezüglich der Bedingungen in Sde Teiman, kommen wir zum Schluss, dass die Sde Teiman-Einrichtung sofort geschlossen werden muss und inhaftierte Gazaner, die medizinische Versorgung brauchen, in eine zivile medizinische Einrichtung verlegt werden sollten, die ethische und professionelle medizinische Standards einhält.

Mehr als 1300 Mediziner unterstützen bereits dieses ethische Positionspapier. Wenn Sie zum medizinischen Fachpersonal gehören, bitten wir Sie dringend, Ihre Unterstützung aktiv zum Ausdruck zu bringen, indem Sie die Petition unterzeichnen.

Die Verhältnisse in Sde Teiman, insbesondere die dortige medizinische Behandlung, widerspiegeln moralisch und beruflich einen Tiefpunkt. Wir sind der festen Überzeugung, dass jeder Arzt, jeder Beschäftigte im Gesundheitswesen und jede Organisation, die das Gesundheitswesen vertritt, die Verantwortung hat, sich dem Fortbestand der Einrichtung zu widersetzen.

¹ https://www.phr.org.il/wp-content/uploads/2024/04/5954_medical_ethics_Report_Eng.pdf

Quelle: www.phr.org.il/en/shut-down-the-sde-teiman-facility-now/

Übersetzung ZiF mit Hilfe von deepL

 

veröffentlicht am 6. August 2024

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