«Es gibt zur Bekämpfung des Corona-Virus keinen Grund, ein Ermächtigungsgesetz zu erlassen»

«Die Schweiz unternimmt einen grossen Schritt Richtung Exekutivstaat»

Interview mit Prof. Dr. Andreas Kley*

Prof. Dr. Andreas Kley (Bild zvg)
Prof. Dr. Andreas Kley (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Die Schweiz hat ein weitreichendes Epidemien-Gesetz (EpG). Gibt es einen Grund, ein extra Gesetz für ein Virus Covid-19 zu verabschieden?

Professor Dr. Andreas Kley Das bestehende Gesetz ist ausreichend. An sich gibt es zur Bekämpfung des Virus keinen Grund, ein Ermächtigungsgesetz zu erlassen, denn das Epidemien-Gesetz gibt dem Bundesrat umfassende Kompetenzen. Der Bundesrat hat ab Juni die «besondere Lage» (Art. 6 EpG) verkündet und die «ausserordentliche Lage» (Art. 7 EpG) zurückgenommen.

Warum forciert der Bundesrat dennoch ein neues Gesetz?

Das vorgeschlagene Gesetz hat den an sich vernünftigen Zweck, sozusagen als Überleitungsgesetz zu dienen, um jene vor allem finanziellen und anderen Massnahmen auf längere Zeit rechtlich abzusichern, die man in den ersten drei Monaten der Pandemie unter der Herrschaft eines unklaren «Notrechts» getroffen hat. Die Anwendung von «Notrecht», d. h., die Verletzung des ordentlichen Rechts wirkt wie ein Suchtmittel für Regierungen. Die Regierungen kommen davon fast nicht mehr weg, weil es scheinbar viel einfacher ist, mit Vollmachten zu regieren als mit bloss demokratischer Legitimation.

Damit muss man wohl besonders ein Auge auf dieses Gesetz haben. Was bedeutet die Formulierung: «Der Bundesrat macht von den Befugnissen nur so weit Gebrauch, als dies zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie notwendig ist.»? Wer entscheidet, was notwendig ist? (Art. 1 Abs. 2)

Der erste Absatz dieses Artikels geht an, denn das ist die bei den Gesetzen stets vorgesehene Zweckbestimmung des Erlasses. Hingegen ist der Absatz 2 merkwürdig. Er kündigt einen verhältnismässigen Gebrauch der Kompetenzen an. Das ist unüblich. Die Gesetze brauchen keine derartige Klausel, weil schon die Bundesverfassung (BV) in Art. 5 Abs. 2 ganz generell bestimmt, dass das staatliche Handeln im öffentlichen Interesse liegen muss und verhältnismässig sein muss. Über die Notwendigkeit entscheidet hier der Bundesrat, weil das Gesetz ihm in den Art. 2 ff. Kompetenzen einräumt.

Wieso wird in Art. 1 Abs. 2 eine Selbstverständlichkeit wiederholt?

Das geschieht deshalb, weil die dem Bundesrat zugesprochenen Kompetenzen aussergewöhnlich sind und der Bundesrat mit seinem Gesetzesentwurf sozusagen eine Beruhigungstablette mitliefert. Sie ist rechtlich bedeutungslos. Über diesen Umweg gibt der Bundesrat zu, dass das Gesetz ganz ungewöhnlich ist.

Das heisst, man muss annehmen, dass der Bundesrat weiss, was er hier tut. Wo bleibt die gegenseitige Kontrolle der Gewalten?

Diese Kontrolle ist geschwächt, weil mit diesem Gesetzesentwurf das Parlament auf eigene Kompetenzen verzichtet und auf den Bundesrat überträgt. Hier spielt nicht die Kontrolle der Gewalten, sondern die Verschiebung von Macht auf den Bundesrat. 

Unter Art. 2 erhält der Bundesrat das Recht, in alleiniger Entscheidungskompetenz «Massnahmen zur Verminderung des Übertragungsrisikos und zur Bekämpfung der durch das Corona-Virus verursachten Krankheit (Covid-19)» anzuordnen. Das klingt nach einer Ermächtigung durch den Bundesrat, alles selbst zu entscheiden, letztlich auch über einen möglichen Impfzwang.

Tatsächlich gibt das Epidemiengesetz eine schon bedeutende Handhabe, um das Virus zu bekämpfen. All das ist durch die Art. 6 «Besondere Lage» und 7 «Ausserordentliche Lage» EpG schon abgedeckt. Es scheint, dass der Gesetzesentwurf die ausserordentliche Lage generell einführt. Diese Verdoppelung der Rechtsgrundlagen ist schädlich und stiftet Verwirrung. Das Parlament sollte davon absehen.

Sind Formulierungen wie «Er bezieht die Kantone mit ein» oder «Der Bund beteiligt sich im Rahmen der bewilligten Kredite zur Hälfte an der Finanzierung von Ausfallsentschädigungen und Transformationsprojekten» mit unserem föderalen System vereinbar?

Der Einbezug der Kantone, in Art. 2 des Entwurfs erwähnt, spricht eine Selbstverständlichkeit aus, die bereits gemäss Art. 147 BV gilt. Die Tatsache dieser unnötigen Wiederholung unterstreicht wiederum den sehr weitgehenden Charakter des Gesetzes. Auch hier wird eine Beruhigungstablette verabreicht.

In verschiedenen Artikeln beschneidet also der Gesetzesentwurf die Kompetenzen der Kantone.

Die vorgeschriebene Kostenbeteiligung im Kulturbereich des Art. 8 Abs.3 greift in die Hoheit der Kantone ein. Sie sind ohnehin für die Kultur primär zuständig (Art. 69 Abs.1 BV), und der Bund kann bei der Kultur nur kraft verfassungsrechtlicher Vorbehalte den Kantonen Vorschriften machen. In diesem Fall besteht dieser Vorbehalt in Form einer Bundesförderung (Art. 69 Abs.2) nicht. Die Kostenbeteiligung der Kantone an den vom Bund ermöglichten Ausfallentschädigungen ist rechtlich freiwillig, weil die Kantone Leistungsvereinbarungen mit dem Bund abschliessen können (Art. 8 Abs. 2). Das ist rechtlich zulässig, aber der Bund flösst mit der Subvention den Kantonen süsses Föderalismusgift ein.

Der Bundesrat nimmt für sich in Anspruch, «Ausnahmen von der Zulassungspflicht für Arzneimittel» vorzusehen. Was bedeutet das, und ist ein derartiges Vorgehen rechtlich vertretbar?

Die Zulassungspflicht ist in Art. 8 ff. des Heilmittelgesetzes geregelt. Soll von diesem Verfahren Abstand genommen werden, um etwa Heilmittel beschleunigt in den Markt zu bringen, so geht das nur, wenn die gesetzlichen Vorschriften geändert werden. Dafür ist die Bundesversammlung zuständig. In der Sache wird hier der Regierung die Kompetenz zugewiesen, mittels blosser Verordnung die gesetzliche Reglung abzuändern. Das geht zu weit. Sind derartige Massnahmen nötig, so muss das die Bundesversammlung beschliessen.

Mit anderen Worten, der Bundesrat würde hier die Bundesverfassung erneut verletzen.

Die Bundesverfassung erlaubt es nicht, dass der Bundesrat Gesetzesmaterien, die dem Parlament zustehen, selber reguliert.

Der Gesetzesentwurf erlaubt es, dass der Bundesrat durch Verordnung andere Bundesgesetze abändert. Er kann damit also in Regelungsbereiche eingreifen, die man früher als bundesgesetzwürdig angesehen hat. So etwa in die Verfahrensgesetze in Zivil- und Verwaltungssachen (Art. 5), im Gesellschaftsrecht des Obligationenrechts (Art. 6), im Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz (Art. 7), in der Arbeitslosenversicherung (Art. 11), und er kann den coronabedingten Erwerbsausfall mit Leistungen ausgleichen (Art. 10). Der Gesetzesentwurf steht also über anderen Bundesgesetzen und ermächtigt den Bundesrat zur Rechtssetzung in Materien, die nach Art. 164 BV eigentlich der Bundesversammlung vorbehalten sind. Das wäre nur mit einer Verfassungsänderung formell zulässig. Und diese Verfassungsrevision wird allen deutlich machen, dass die Schweiz einen grossen Schritt Richtung Exekutivstaat unternimmt.

Das sind wichtige Fragen, die in jedem Fall der Gesetzgeber gemäss Art. 164 BV selber regeln muss. Es ist in jedem Fall unzulässig, eine sogenannte «Blankettdelegation» vorzunehmen.

Was muss sich der Laie unter einer Blankettdelegation vorstellen?

Bei der Blankettdelegation gibt der Gesetzgeber – also die Bundesversammlung – ganze Rechtsgebiete an die Regierung weiter, ohne dass er Richtlinien aufstellt, wie sie diese Gebiete in etwa regeln soll.

Überschreitet der Bundesrat hier nicht seine Kompetenz?

Hier geht es unter Umständen um Eingriffe in die Grundrechte, die in einem formellen Gesetz (das als solches von der Bundesversammlung stammt) geregelt sein müssen. Die Norm überträgt die Gesetzgebungskompetenz in einer speziellen, aber sehr wichtigen Frage vom Parlament auf die Regierung. In der Sache widerspricht eine derartige Regelung der rechtsstaatlichen Gewaltenbalance, wie sie in den modernen Demokratien stets gewahrt sein muss. 

Das Gesetz greift also sehr weit in die Kompetenzen der Bundesversammlung ein. Was muss man unter «weiteren medizinisch dringend angezeigten Untersuchungen und Behandlungen» (Art. 2 Abs. 4) verstehen?

Das ist ein «unbestimmter Rechtsbegriff», der als rechtstechnischer Ausdruck in der Gesetzgebung immer wieder vorkommt. Er gibt dem Rechtsanwender, hier der Regierung, die Kompetenz, selber zu entscheiden, ob ein Fall «dringend» ist. Das ist an sich noch nicht dramatisch. Es ist aber insofern schon von grosser Tragweite, als dass dieser unbestimmte Rechtsbegriff dann zunächst durch Rechtssetzung bestimmt wird. Der Ausdruck potenziert also die Kompetenzübertragung an die Regierung.

Am Schluss des Gesetzesentwurfs wird die aufschiebende Wirkung eines allfälligen Referendums entzogen. Das heisst, der Gesetzesentwurf tritt, wenn das Parlament wider Erwarten zustimmen würde, sofort in Kraft. Ist dieser Vorgang verfassungskonform?

Ja, das ist gemäss Art. 165 Abs. 1 BV möglich und vorgesehen. Das Vorgehen mit dem fakultativ referendumspflichtigen Bundesgesetz ist aber nur zulässig, wenn das Gesetz die Verfassung achtet. In unserem Fall missachtet das Gesetz die bundesstaatliche Kompetenzverteilung (betr. Kultur, Art. 69 BV) und die Mindestzuständigkeit der Bundesversammlung bei der Gesetzgebung (Verbot der Blankettdelegation, Art. 164 BV).

Was heisst das für den Gesetzgebungsprozess?

Das heisst, das Gesetz müsste in der Form des Art. 165 Abs. 3 BV beschlossen werden, weil es die Verfassung abändert und in ihr zum Teil keine genügende Grundlage hat. Art. 165 Abs. 3 BV verlangt ein obligatorisches Referendum von Volk und Ständen. Aber auch wenn man das so machen würde, wäre es enorm fragwürdig: Man würde auf quasi legalem Weg der Regierung übermässige Kompetenzen zuschieben. Die Bundesversammlung sollte so etwas nicht beschliessen, weil sie sich selber aus dem (politischen) Verkehr zieht, soweit das Corona-Virus betroffen ist.

Was raten Sie unter diesen Umständen der Bundesversammlung? Wäre hier Nichteintreten die einzig richtige Reaktion auf dieses «Ermächtigungsgesetz»?

Ich würde der Bundesversammlung Nichteintreten raten. Damit gibt sie dem Bundesrat die Gelegenheit, die Vorlage zu verbessern. Die neue Vorlage darf sicher nicht Blankettdelegationen enthalten, sondern die wichtigen Normen muss die Bundesversammlung selbst beschliessen, wie das Art. 164 BV vorsieht.

Was bedeutet das für das Parlament?

Selbstverständlich bedeutet dies für die Bundesversammlung Mehrarbeit. Das ist aber die grundsätzliche Aufgabe des Parlaments, die wichtigen Rechtsnormen selbst zu beraten und zu beschliessen. Die Vorlage könnte ferner die bundesstaatliche Kompetenzverteilung abändern, etwa im Bereich der Kultur, dann wäre aber auch im Fall einer Dringlichkeitserklärung ein obligatorisches Referendum fällig (Art. 165 Abs. 3 BV). Es ist wichtig, dass das Dringlichkeitsverfahren des Art. 165 BV an der Gesetzgebung nur wenig ändert: Denn im Fall der dringlichen Rechtsetzung wird das fakultative oder obligatorische Referendum einfach auf den Zeitpunkt nach dem Inkrafttreten verschoben, sofern das Gesetz länger als ein Jahr gelten soll.

Herr Professor Kley, ich danke Ihnen für das Interview.

Interview Thomas Kaiser

* Prof. Dr. rer. publ. Dr. iur. h. c. Andreas Kley hat den Lehrstuhl für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie an der Universität Zürich inne.

 

Belarus: «Ich schlage einen Dialog unter der Vermittlung der OSZE zwischen Regierung und Opposition vor»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie schätzen Sie die Lage in Belarus nach den Wahlen ein?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Die Proteste wegen mutmasslicher Wahlmanipulationen haben schon ein enormes Ausmass. Die Sicherheitskräfte haben zunächst mit äusserster Gewalt und vielen Verhaftungen reagiert. Es gibt auch Berichte von Misshandlungen bis hin zu Folter. Zuletzt scheint die Repression bei den Demonstrationen aber ein stückweit nachgelassen zu haben. Ein grosses Problem ist, dass es weder von der OSZE noch vom Europarat Wahlbeobachter gab. Im Juni bin ich an die Botschaft von Belarus herangetreten und habe sie gebeten, den Europarat einzuladen, was sie auch gemacht hat. Sie lud auch die OSZE ein. Die Wahlbeobachtungen kamen aber nicht zustande.

Warum nicht?

Darauf kann ich Ihnen keine hundertprozentige Antwort geben. Auf Nachfrage bei der OSZE war die Erklärung, dass die Einladung zu spät gekommen sei. Eine Rolle kann auch die Corona-Pandemie spielen. Wir hätten die letzte Wahlbeobachtung vom Europarat Mitte Juli in Nord-Mazedonien gehabt. Ich war damals Mitglied der Delegation. Wegen steigender Corona-Ansteckungen wurde die Wahlbeobachtung abgesagt. Es ist nicht klar, was die Ursache in Belarus ist, und ich möchte hier auch keine Schuldzuweisungen vornehmen.

Ist das Wahlergebnis realistisch?

Ich habe am Wahltag bei den belarussischen Vertretungen in Berlin, in München oder Wien eine hohe Wahlbeteiligung beobachtet. Es gab lange Schlangen, und wenn die Leute gefragt wurden, waren schon sehr viele für die Opposition. Man kann das natürlich nicht eins zu eins auf das Land übertragen, aber es zeigt, dass es eine sehr grosse Unzufriedenheit oder Müdigkeit gegenüber der bestehenden Regierung unter Lukaschenko gibt. Das ist sicher real. Aufgrund der Zahlen, die von der Abstimmung der Belarussen im Ausland durchgesickert sind, kann ich mir nicht vorstellen, dass ­Lukaschenko 80 % der Stimmen erhalten hat. Auch im Land wurden teilweise Ergebnisse aus Wahllokalen verbreitet, die eine gänzlich andere Tendenz aufwiesen. Ich halte aber auch die Darstellung für unwahrscheinlich, die Oppositionskandidatin habe mit über 70 % gewonnen. Im Grunde genommen ist es Spekulation. Solange die Wahlen nicht überprüft worden sind, wird man nicht mit Sicherheit sagen können, wie das genaue Ergebnis war.

Was könnte man tun, damit jetzt die Lage nicht eskaliert?

Nach der Wahl habe ich gesagt, dass das Wahlergebnis von Regierung und Opposition und unter Beobachtung von Vertretern der OSZE und des Europarats überprüft werden sollte. Damit habe ich moderat das Wahlergebnis angezweifelt, es gab ja auch sehr konkrete Vorwürfe der Manipulation. Aber bereits am nächsten Tag kamen die Rufe anderer Politiker nach Sanktionen. Daraufhin veröffentlichte ich eine Pressemitteilung, in der ich die Sanktionen ablehnte. Sie haben eigentlich nie den Effekt, den man sich davon verspricht und häufig verhindern sie diplomatische Aktivitäten. In manchen Fällen sind Sanktionen völkerrechtswidrig und eine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten.

Wie waren die Reaktionen auf Ihren Vorschlag?

In den deutschen Medien wurde ich deshalb schwer angegriffen. Das geschah in einer Art und Weise, wie ich das noch nie erlebt habe.

Gibt es dafür eine Erklärung?

Man will verhindern, dass Leute mit meiner Einstellung Einfluss auf die Politik haben. Man hat meine Aussagen völlig verdreht und mich als Unterstützer Lukaschenkos dargestellt. Es hat aber auch damit zu tun, dass parallel zu den Protesten in Belarus eine Debatte in Deutschland über eine mögliche Regierungsbeteiligung der LINKEN geführt wird. Man hat das jetzt zum Anlass genommen, um zu zeigen, dass die Politik der LINKEN nicht akzeptabel sei. Um «regierungsfähig» zu sein, wird dann gefordert, sich von Leuten wie mir loszusagen.

Welche Bedeutung hat der vor kurzem abgehaltene EU-Gipfel?

Dort hat man die Nicht-Anerkennung der Wahl besprochen. Da stellt sich mir schon die Frage, was das jetzt heisst. Wenn man mich fragt, sage ich auch, dass ich das Ergebnis für unglaubwürdig halte. Ich möchte aber auf gar keinen Fall, dass es mit diesem ersten Schritt Richtung eines Venezuela-Szenarios geht. 

Wo sehen Sie da eine mögliche Parallele?

Das fing auch mit der Nicht-Anerkennung der Wahl an. Dann hat man auf Grundlage einer abwegigen Interpretation der venezolanischen Verfassung einen anderen als Präsidenten anerkannt, eine diplomatische Blockade erzeugt und das Land mit Sanktionen überzogen. Vor allem die US-Sanktionen gleichen einem Wirtschaftskrieg mit dem Ziel, die Bevölkerung mürbe zu machen. Die Position der Regierung Maduro hat diese Politik sogar eher gestärkt, aber das Leid der Bevölkerung ins Unermessliche getrieben. So ein Szenario ist abzulehnen. 

Sehen Sie in Belarus Parallelen wie seinerzeit auf dem Maidan in Kiew?

Man kann das nicht gleichsetzen, die Situation der Ukraine ist eine andere. Die Gesellschaft ist dort viel mehr zwischen Ost und West gespalten. Man sieht beispielsweise keine EU-Fahnen auf den Demonstrationen. Die Reaktion des Westens, der EU und Deutschlands war damals viel aggressiver. Die Kritik an Belarus ist sichtlich zurückhaltender. Und man muss auch beachten, dass Belarus viel enger als die Ukraine mit Russland verbunden ist – über den Unionsstaat sowie die Eurasische Wirtschaftsunion und militärisch durch die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit.

Lässt sich dadurch die relative Verhaltenheit des Westens erklären?

Die Maidan-Erfahrung spielt sicher eine Rolle. Man möchte Russ­land keinen Vorwand liefern, militärisch zu intervenieren. Belarus ist in der Zollunion und in einem Verteidigungsbündnis mit Russland. Es gibt wichtige russische Radarstationen in Belarus. Man möchte hier keine Reaktion Russlands provozieren. Sicherlich gibt es Scharfmacher, die das anders sehen. Aber sie scheinen derzeit zum Glück nicht den Ton anzugeben.

Wie können Fortschritte in der Auseinandersetzung erzielt werden? 

Was ich vorgeschlagen habe, ist ein Dialog unter der Vermittlung der OSZE zwischen Regierung und Opposition. Das ist ja auch eine Forderung der Opposition dort. Lukaschenko lehnt das jedoch ab, während sich Putin offen gezeigt hat. Nach meiner Auffassung müssen die Organisationen, die ost-west-übergreifend sind wie der Europarat oder die OSZE, hier eine Rolle spielen. Auch wenn man die Organisationen kritisieren kann, dass sie einseitig ausgerichtet sind, ist formal Russland mit am Tisch. Die EU sehe ich nicht als geeigneten Akteur, weil sie auf einer Seite steht. Deshalb bin ich auch nicht glücklich über die Sanktionsbeschlüsse der EU.

Wie reagiert die Opposition in Belarus auf die Sanktionen?

Sie will diese Sanktionen nicht. Sie fordert Dialog und Unterstützung für eine Lösung im Dialog, aber keine Sanktionen.

Wie ist die Haltung Russlands zu verstehen? Wie muss man seine relative Zurückhaltung interpretieren?

Lukaschenko ist kein Mann Putins. Er hat immer zwischen Ost und West gespielt. Er hat sogar einen antirussischen Wahlkampf geführt. Damit ist er nicht Putins erste Wahl. Putin möchte auch nicht in einen Strudel hineingerissen werden. 

Inwiefern?

In Russland gehen die Zustimmungswerte für die Regierung zurück, und es finden ebenfalls Proteste statt, auch gegen die Zunahme autoritärer Entwicklungen. Wenn sich Putin zu sehr für Lukaschenko verwendet, könnte sein Land ebenfalls in diesen Strudel geraten. Deshalb hält er sich auf Distanz. Die Sicherheitsinteressen Russlands in Belarus werden aber am Ende entscheidend sein.  

Was heisst das konkret?

Ich denke, wenn sich die Situation verändert, und Belarus sich Richtung Nato wenden würde – solche Ziele waren in einem Reformprogramm aus dem Umfeld von Swetlana Tichanowskaja¹ formuliert worden – kann sich das ändern. Das Programm enthielt die Perspektive, Richtung EU zu gehen, das Verbot der russischen Sprache war darin erwähnt, die Privatisierung der Staatsbetriebe. Das sind alles Programmpunkte, die meines Erachtens in Belarus nicht mehrheitsfähig sind. Wenn sich das jetzt materialisiert und der Westen dort massiv interveniert, dann wird das russische Sicherheitsinteresse dominieren. Dann ist es auch möglich, dass es zu einer militärischen Intervention kommt. 

Sind Bestrebungen der EU oder der Nato im Gange, in der aktuellen Situation Belarus ins westliche Lager zu ziehen?

Ich hatte nicht den Eindruck, dass es von Seiten der EU vorbereitete Szenarien gab, wie das bei der Ukraine 2013 der Fall war. Ich hatte den Eindruck, die EU sei selbst etwas überrascht gewesen. Aber in der EU herrscht natürlich eine strategische Ausrichtung, zusammen mit der Nato möglichst viel Einfluss im postsowjetischen Raum zu gewinnen. Diese Dynamik kann natürlich dahin führen, und die Beschlüsse des EU-Gipfels gehen schon in diese Richtung. Aber das Ganze geschieht nicht mit der Entschiedenheit wie in der Ukraine 2013/2014. Eigentlich hatte man sich mit Lukaschenko arrangiert. Natürlich gibt es von den USA oder Grossbritannien Bestrebungen, über verschiedene Akteure offensiver oder auch gewaltsamer Einfluss zu nehmen, aber das scheint mir gegenwärtig nicht das Dominierende zu sein.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser

¹ Swetlana Tichanowskaja war Kandidatin der Opposition bei den kürzlich erfolgten Präsidentschaftswahlen in Belarus.

 

Ersatzbeschaffung der Kampfflugzeuge: Flagge zeigen und sich nicht dem Stärkeren anbiedern

von Thomas Kaiser

Das Unbehagen gegenüber der Beschaffung neuer Kampfflugzeuge liegt nicht in der Tatsache, dass unser Land, um seine politische und militärische Unabhängigkeit zu erhalten und im Notfall zu verteidigen, eine eigene Luftwaffe braucht, sondern darin, dass wir als Volk zwar über den Kredit entscheiden können, aber bei der Auswahl des Typs nicht mitbestimmen dürfen. Sicher ist diese Entscheidung eine Frage der technischen Experten und der Militärstrategen, aber nicht nur. Es ist auch eine politische Frage, welches Kampfflugzeug die Schweiz kauft. 

Im Herbst 2013 hat die Gesellschaft Schweiz ohne Armee (GSoA) zusammen mit linken Parteien das Referendum gegen die Beschaffung des schwedischen Kampfflugzeugs Gripen ergriffen. Es war als Ersatzbeschaffung für den in die Jahre gekommenen Tiger gedacht, dessen Technik aus den 50er Jahren stammt. Insgesamt sollten 22 Gripen für 3,16 Milliarden Franken bestellt werden. Der Gripen war, da er preislich attraktiv war und von einem neutralen Land produziert, ein interessantes Angebot, doch wurde er im Abstimmungskampf schlecht geredet und insbesondere von linker Seite bekämpft, unter anderem mit dem Argument, der Gripen sei zu wenig leistungsstark und technisch zu unausgereift. Man implizierte also damit, dass die Schweiz ein technisch und leistungsmässig besseres Flugzeug bräuchte. Auch wenn der Gripen gemäss Piloten, die den Flieger getestet hatten, alle für die Schweiz relevanten Aufgaben erfüllen würde, schienen die Argumente zu verfangen. 

SP hat günstigen Gripen verhindert

Besondere Speerspitze im Kampf gegen den Gripen war die damalige SP-Nationalrätin und Sicherheitspolitikerin Evi Allemann. Sie argumentierte vor allem, dass der Gripen zu leistungsschwach und zu wenig sicher sei. Bei den Befürwortern war besonders der erfahrene Sicherheitspolitiker der CVP, Nationalrat Jakob Büchler, engagiert. Er sah im Gripen ein für die Schweiz massgeschneidertes Kampfflugzeug, kostengünstig, für unsere Bedürfnisse ausreichend und dazu noch von einem neutralen Staat. Die Argumentation der SP zielte wohl nicht auf ein anderes Flugzeug ab, sondern man wollte gar keins. Sie liebäugelte mit der Möglichkeit, im Ernstfall die Nato zu Hilfe zu holen. Ein ungeheures Szenario und mit unserer Neutralität nicht vereinbar. Wenn die SP heute argumentiert, dass die zur Auswahl stehenden Flugzeuge Luxusvarianten seien, muss man ihr vorhalten, dass sie damals massgeblich an der Ablehnung der kostengünstigeren Variante, dem Gripen, beteiligt war. 

Sieben Jahre später steht die Schweiz wieder vor der Frage der Ersatzbeschaffung, aber in viel grösserem Umfang. Inzwischen kommt der F/A-18 an seine Altersgrenze und muss ebenfalls sukzessive ersetzt werden. Zur Auswahl stehen vier Flugzeuge, zwei aus den USA, ein französisches aus dem Rüstungskonzern Dassault und der Eurofighter. Wenn die SP heute eine Kampagne gegen die Ersatzbeschaffung führt und bei den zur Auswahl stehenden Fliegern von «Luxusvariante» spricht, dann ist das unredlich. Welcher Typ es sein wird, entscheidet der Bundesrat. 

US-Flugzeuge werden aus den USA gesteuert

Es hat für die neutrale Schweiz eine grosse Bedeutung, welches Flugzeug sie auswählt. In einem Artikel im «Tages-Anzeiger» vom 10. August legt der Journalist Beni Gafner, der sich seit Jahren mit militärischen Fragen beschäftigt, dar, dass die USA die Software ihrer Flugzeuge auch nach dem Verkauf weiterhin kontrollieren und warten, und das noch auf Kosten der Schweiz, während der Schweiz der Zugang zu diesen elektronischen Geräten verwehrt bleibt. Mit anderen Worten, die USA können letztlich bestimmen, ob Waffensysteme eingesetzt werden können oder nicht. «Bereits heute gilt, dass die Schweizer einige Schlüs­­selgeräte nicht öffnen und analysieren dürfen. Dasselbe trifft für gewisse Komponenten der F/A-18-Lenkwaffen Amraam und Sidewinder AIM-9X zu, mit denen im Ernstfall feindliche Jets abgeschossen werden könnten. Ob und in welchem Falle das tatsächlich getan werden könnte, das wissen die Schweizer Piloten im Gegensatz zu den amerikanischen Kontrollbehörden nicht – jedenfalls nicht in letzter Gewissheit.» Bei den beiden europäischen Flugzeugen gibt es dieses Problem nicht: «Aus der jüngsten Evaluation ist bekannt, dass Frankreichs Flugzeughersteller Dassault der Schweiz sämtliche Codes und Baupläne zum Kampfjet Rafale zur Verfügung gestellt hätte. […] Hinter dem Eurofighter, einem gemeinsamen Produkt von Deutschland, Italien, Grossbritannien und Spanien, steckt eine ganz andere Konzeption als hinter den US-Jets. Die federführenden Länder tauschen geheime Details und Softwarecodes untereinander aus, die gemeinsame Weiterentwicklungen erst ermöglichen. Demnach gäbe es auch in einem Schweizer Eurofighter keine geheimen Steuerungen und unkontrollierbaren Datenabflüsse. Kontrolleure aus Deutschland oder Frankreich gäbe es beim Kauf des entsprechenden Jets also nicht.» 

Bundesrat ist in der Pflicht

«Soll man dem Kredit zustimmen», fragte ein Interessierter in einer Diskussion, «wenn nachher ein Flugzeug aus den USA gekauft wird, das ohne die Zustimmung der USA gar nicht einsatzfähig ist?» Die Frage ist absolut berechtigt und ist für die Bürgerinnen und Bürger ein Dilemma. Zum einen braucht die Schweiz, um ihre Souveränität und Neutralität zu erhalten, eine einsatzfähige Luftwaffe, die diesen Namen auch verdient, auf der anderen Seite stehen Flugzeuge zur Auswahl, deren Kaufbedingungen auf keinen Fall akzeptiert werden können. 

Meint es der Bundesrat mit der Neutralität und der Souveränität unseres Landes ernst, was eine autonome Verteidigung des Schweizer Territoriums und seines Luftraumes beinhaltet, muss er, um auch international als neutraler Staat glaubwürdig zu bleiben, bei Annahme des Referendums vom Kauf eines US-Kampfflugzeuges absehen, auch wenn die USA versuchen werden, mit allen Mitteln die Schweiz zu einem Kauf ihrer Produkte zu drängen. Für Bundesrat und Parlament heisst das: Flagge zeigen und sich nicht dem Stärkeren anbiedern. 

An der Urne wird sich entscheiden, ob der Stimmbürger dem Bundesrat vertrauen kann, dass dieser die Grundwerte unseres Landes aufrechterhält. 

 

«Das Zusammenleben von Wolf und Mensch ist nicht problemlos»

«Der Wolf verliert zunehmend seine Scheu und hält sich vermehrt auch in Siedlungsgebieten auf»

Interview mit Thomas Egger, Direktor der SAB*

Thomas Egger (Bild zvg)
Thomas Egger (Bild zvg)

 

Zeitgeschehen im Fokus Braucht die Schweiz ein neues Jagdgesetz?

Thomas Egger Ja, unbedingt. Das aktuelle Jagdgesetz stammt aus dem Jahr 1986. Es ist veraltet und trägt den neuen Gegebenheiten nicht mehr Rechnung. Als dieses Gesetz in Kraft trat, gab es noch keine Wölfe in der Schweiz. Heute haben wir ein exponentielles Wachstum des Wolfbestandes. Es waren Ende 2019 schon 80 Wölfe in der Schweiz. Die Schätzung heute liegt bei ungefähr 100. Und je mehr Wölfe es in der Schweiz gibt, umso grösser werden die Konflikte und Probleme. 

Ist denn das revidierte Jagdgesetz nur auf den Wolf ausgerichtet? Die Gegner des Gesetzes argumentieren, weitere geschützte Tiere könnten einfacher abgeschossen werden.

Ich habe noch selten eine Kampagne erlebt, bei der die Gegner so viele Falschmeldungen verbreiten. Auch die Plakate, die man sieht, bei denen ein Luchs oder ein Biber im Fadenkreuz zu sehen sind, sind völlig falsch.

Warum?

Bundesrat und Parlament haben klar zum Ausdruck gegeben, dass nur drei geschützte Tierarten reguliert werden dürfen. Das sind der Steinbock, der Wolf und der Höckerschwan. Alle anderen Tierarten werden durch das revidierte Jagdgesetz besser geschützt. 

Inwiefern sind diese Tiere besser geschützt?

Heute könnte der Bundesrat, ohne das Parlament konsultieren zu müssen, rund 300 geschützte Tierarten zu jagdbaren Arten erklären. Mit dem revidierten Jagdgesetz ist es nicht mehr möglich. Neu dürfen nur noch diese drei geschützten Tierarten, die ich vorher erwähnt habe, reguliert werden. Das hat das Parlament bei der Beratung zum Jagdgesetz ganz klar zum Ausdruck gebracht, und der Bundesrat hat das bestätigt. Er hat die Ausführungen zum Jagdgesetz bereits in die Vernehmlassung gegeben und noch einmal ganz klar festgehalten, nur diese drei Tierarten dürfen reguliert werden, und zwar unter klar definierten Voraussetzungen. 

Kommen wir zurück auf den Wolf. Inwiefern ist der Wolfsbestand problematisch?

Man sieht es in allen Gebieten, in denen der Wolf auftaucht, und das ist im Berggebiet fast flächendeckend. Aber er breitet sich auch in anderen Kantonen im Mittelland aus. Sobald er auftaucht, entstehen Probleme. Betroffen ist insbesondere die Landwirtschaft. Hier haben wir Risse von Nutztieren. Man spricht viel von den Schafen und Ziegen, aber in der Zwischenzeit haben wir eine neue Dimension erreicht. Vor kurzem wurde auf der Alp Nera in Graubünden ein Kalb gerissen. Der Wolf greift also auch schon grössere Tiere an. In anderen Ländern sind auch Überfälle auf Pferde bekannt. 

Was heisst das jetzt für die Landwirtschaft?

Viele der Schafzüchter betreiben die Zucht im Nebenerwerb. Sie machen das, weil sie Freude an der Tradition haben, Freude an den Tieren und bauen zu ihnen eine emotionale Bindung auf, die mehr im Vordergrund steht als der wirtschaftliche Aspekt. Das sieht man auch daran, dass die Züchter z. B. auf Ausstellungen stolz ihre Tiere präsentieren und sich über jede Prämierung freuen, die sie erhalten. Aber wenn so ein Tier gerissen wird, dann ist es auch schmerzhaft für den Besitzer. Er fühlt sich von der Politik im Stich gelassen. Wir diskutieren bald seit 20 Jahren über die Grosstierproblematik, und mit diesem revidierten Jagdgesetz hätten wir endlich eine Lösung. 

Ist nur die Landwirtschaft davon betroffen?

Nein, was vielfach vergessen wird, ist der Tourismus. In vielen Gebieten beschützen Herdenschutzhunde die Tiere, das machen sie richtig. Das aber führt zu Konflikten mit Wanderern oder Bikern, denn die Hunde verteidigen die Herden auch gegen diese «Eindringlinge». Das ging so weit, dass in gewissen Gebieten, z. B. in der Walliser Gemeinde Mont Noble, der Einsatz von Herdenschutzhunden verboten wird, weil man keine Konflikte mit Wanderern will. In anderen Gebieten mussten Wege wegen Herdenschutzhunden gesperrt werden. Wir sind heute schon so weit, dass wir wegen der Grossraubtiere die freie Begehbarkeit der Berge einschränken müssen. 

Das Zusammenleben von Wolf und Mensch soll doch problemlos sein? 

Das Zusammenleben ist nicht problemlos. Wir sehen Übergriffe auf unsere Landwirtschaft, wir müssen den Tourismus einschränken. Wir nehmen wirtschaftliche Einbussen wegen der Grossraubtiere in Kauf. Was wir befürchten, ist, dass es zu Konflikten direkt mit den Menschen kommen wird. Der Wolf verliert zunehmend seine Scheu und hält sich vermehrt auch in Siedlungsgebieten auf.

Gibt es hier konkrete Beispiele?

In Obersaxen in Graubünden ist ein Wolf neben einem Jugendlager aufgetaucht. Wir haben Bilder aus Giswil im Kanton Obwalden, wo sich der Wolf direkt im Siedlungsgebiet aufgehalten hat. Früher oder später – wir hoffen, dass das nie passiert – kann es auch zu Zwischenfällen mit Menschen kommen. Das muss unbedingt verhindert werden, deshalb sieht das revidierte Jagdgesetz vor, dass man in solchen Fällen den Wolf vergrämen kann, z. B. mit Warnschüssen. Wenn das alles nichts nützt, kann man verhaltensauffällige Wölfe auch erlegen. 

Welche Zahl von Wölfen wäre für unser Land verträglich?

Da gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Meines Erachtens haben wir das Maximum bereits überschritten. Die grosse Zahl der Risse an Nutztieren und die Probleme, die wir im Tourismus haben, sind für mich schon zu gross. 

Ein Argument der Gegnerschaft ist, dass das Ganze auf eidgenössischer Ebene geregelt sein müsse. Die Kantone könnten das selbst nicht vollziehen. Was sagen Sie dazu?

Dazu muss ich ganz klar sagen, wir haben in den Kantonen ganz unterschiedliche Voraussetzungen. Der Kanton Graubünden ist am stärksten betroffen. Hier gibt es rund 60 Wölfe. Dort haben wir eine intensive landwirtschaftliche und touristische Nutzung mit entsprechenden Konflikten. Die Bauern in Graubünden haben, auf gut deutsch gesagt, die Nase voll. Es reicht ihnen. Im Kanton Baselstadt oder in Zürich ist die Problemlage eine ganz andere. Es ist doch sinnvoll, das Ganze auf kantonaler Stufe zu regeln, damit dort, wo effektiv die Probleme bestehen, diese auch angegangen werden können. Das geschieht immer mit klaren Vorgaben seitens des Bundes, das Verbandsbeschwerderecht bleibt bestehen. Die Kantone müssen vor einem Abschuss das Bundesamt für Umwelt (BAfU) anhören. 

Ist das nicht eine Alibiübung?

Nein, das ist es nicht, auch wenn es von den Gegnern des revidierten Jagdgesetzes so dargestellt wird. Wenn es aufgrund einer Beschwerde zu einem Gerichtsurteil kommt und der Kanton eine Verfügung erlassen hat, die im Widerspruch zur Empfehlung des BAfU steht, dann ist der Kanton in einer ziemlich unangenehmen Situation. Der Kanton wird sich daher dreimal überlegen, ob er eine andere Abschussbewilligung erteilen soll, als das BAfU empfohlen hat. Diese Anhörung ist schon eine rechte Hürde, und ich denke, dass mit diesen Vorgaben dem Föderalismus Rechnung getragen wird. Es bestehen einheitliche Vorgaben, aber die Kantone können je nach den Verhältnissen in ihrem Gebiet unterschiedlich eingreifen.  

Herr Egger, vielen Dank für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser

Für eine weltoffene, nachhaltige und eigenständige Schweiz – Aufruf zu einer Kehrtwende

von Verena Tobler Linder*, Aktion Kehrtwende

Der folgende Text sollte als Inserat in der bürgerlichen «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) erscheinen. Die Redaktion hat das abgelehnt. Auch versuchte die Autorin, die selbst aus dem linken politischen Spektrum stammt, diesen Text in der linken «Wochenzeitung» (WOZ) als Inserat zu veröffentlichen – jedoch ohne Erfolg. Es macht den Anschein, als ob eine offene und freie Diskussion über diese Problematik nicht geführt werden soll. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass ausser der SVP auch noch andere politische Kreise in der Personenfreizügigkeit mit der EU grosse Probleme für unser Land sehen. Im folgenden druckt «Zeitgeschehen im Fokus» den Text als Diskussionsbeitrag ab.

Die bereits dicht besiedelte Schweiz hat eine Bevölkerung, die rapide wächst: um jährlich ca. 1 %, und zwar aufgrund von Zuwanderung.

So kann es nicht weitergehen! 

Unsere Regierung hat die Weichen falsch gestellt und sich in vier Volksabstimmungen am Volk vorbeigemogelt: 

1999 wurde die neue Verfassung dem Volk als blosse Nachführung präsentiert; verschwiegen wurde, dass die altliberalen Wirtschaftsartikel durch neoliberale ersetzt wurden. 

1999 beruhigte der Bundesrat vor der Abstimmung zum Freizügigkeitsabkommen, jährlich sei mit einer Einwanderung von 6000 bis 8000 Personen zu rechnen. Gekommen sind ca. 10mal soviel pro Jahr. 

2014 wird in Reaktion darauf die Masseneinwanderungsinitiative angenommen: Bundesrat und Parlament verhindern, im Interesse der Exportwirtschaft und der bilateralen Verträge, dass sie umgesetzt wird.

2018 stimmt das Volk dem Verfassungsartikel zur Ernährungssicherheit zu. StimmbürgerInnen und Bauernschaft werden getäuscht: per Gesetz werden Zollabbau, Marktöffnung, Wettbewerb weitergetrieben.

Mit der Begrenzungsinitiative will die SVP nun erneut die Zuwanderung begrenzen. Aber Landesregierung, Liberale, CVP, auch Grüne und SP, halten partout an den Bilateralen Verträgen fest. Warum? 

Weil unsere Wirtschaft grenzenlos weiterwachsen soll? 

Weil die Politik keine mässigenden Eingriffe beschliessen kann, ohne Verteilkämpfe zu intensivieren?  

Weil wohlfahrtsstaatliche Programme sich am einfachsten über Wachstum finanzieren lassen? 

Weil KonsumentInnen die 5. Kolonne des Neoliberalismus sind?

Weil im neoliberalen Chaos zunehmend Strukturblindheit grassiert? 

Zeit, diesen Fragen jenseits des parteipolitischen Hickhacks nachzugehen: Vermutlich steckt in allem Leben ein Drang nach Grenzenlosigkeit. Verheerend, wenn der, mit einem energetisch-technologischen Machtapparat bewehrt, einer Spezies den grenzenlosen Zugriff auf die globalen Ressourcen erlaubt: Gewaltige sozioökonomische Ungleichgewichte, Naturzerstörung, Klimaerwärmung sind das Resultat. Trotzdem setzt unsere Regierung, in Kooperation mit der EU, die vier neoliberalen Freiheiten durch: Keine Grenzen für Güter, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskräfte – keineswegs eine Win-Win-Situation für alle!

Soll die Schweiz zu einer Metropole der EU werden?

Sehen wir genauer hin: Auch innerhalb der EU bringt die neoliberale Wirtschaftsordnung eine wachsende Kluft zwischen Regionen und Staaten, die auf landwirtschaftliche Produktion spezialisiert sind und den High-Tech-orientierten Zentren. Die Metropole Schweiz soll zum High-Value-Hub werden, sich auf Innovation und die globale Vermarktung der ins Ausland verschobenen Warenproduktion konzentrieren, mit Standortvorteilen internationale Konzerne anlocken. Das bringt mehr Menschen ins Land, mehr Arbeit, mehr Einkommen. Metropolen winken zudem mit höheren Löhnen, besseren Sozialleistungen – die grosse Wanderung setzt ein. Deutschland zieht längst die Ärzte aus Bulgarien und Rumänien ab. Die Schweiz rudert in diesem Wettbewerb wacker mit: 2017 war jeder dritte Arzt im Ausland ausgebildet. Infolge des strukturbedingten Gefälles ist die Bevölkerung seit 1999 um weitere ca. 1,5 Millionen gewachsen. Land, Immobilien, Mieten werden teurer – für Spitzenverdiener kein Problem. Weil auch Arme kommen, steigen die Soziallasten: Einige Gemeinden sind damit längst überfordert. 

Und so wächst die Kluft auch im Innern der europäischen Staaten: zwischen Arm und Reich, aber auch zwischen den Anywheres und den Somewheres. Die Anywheres rechnen sich zu den höheren Bildungsschichten oder besitzen 2, 3, 4 Pässe: Sie leben in London, Berlin und Zürich, jetten hin und her, oder sie pendeln zwischen ihren Herkunftsländern und der Schweiz. Die Somewheres hingegen wohnen und arbeiten an einem spezifischen Ort, sind auf nahräumliche Integration angewiesen und sorgen sich um ihre Heimat. Wer das als vorgestrigen Nationalismus konstruiert, ist strukturblind. 

Fest steht: So zerstören wir unsere Lebensgrundlagen!

Bund und Kantone strengen sich zwar umweltpolitisch an. Von 1996 bis 2015 sank die konsumbedingte Gesamtumweltbelastung; aber wegen der Bevölkerungszunahme nur um 6 % statt um 19 %. Nach dem St.Florians-Prinzip wurden Massnahmen zur Verlagerung getroffen: 2015 fielen 75 % der Schweizer Umweltbelastungen im Ausland an. Gleichzeitig nahm der Treibhausgas-Fussabdruck absolut um 12 % zu – vor allem wegen der Einwanderung. 

Am schlimmsten steht’s um die Biodiversität: Sie sinkt rapid. Die Artenvielfalt nimmt ab – Insekten sterben, Spatzen und Amseln verschwinden. Neben unserem konsum- und energieintensiven Lebensstil ist die Landnutzung dafür verantwortlich.

Das Bevölkerungswachstum bringt eine expansive Besiedlung und Verstädterung. Das Strassen- und Schienennetz  wird ausgebaut. In den letzten 25 Jahren ging ¹/7 des guten Ackerlands verloren. Boden und Mieten wurden verteuert; Immobilienhandel und Häuserspekulation grassieren; bereits mehr als die Hälfte des neu geschöpften Geldes fliesst in den Immobiliensektor. Dichtestress nicht nur im ÖV und auf Strassen, auch in Schwimmbädern, auf Zeltplätzen und an Ausflugsorten wird um Platz gerangelt.

Die Landwirtschaft ist seit Dekaden in Double-Binds gefangen: Von allen Seiten angegriffen soll unsere Bauernschaft ständig mehr und immer billiger, auf abnehmender Fläche und erst noch ökologisch produzieren! Indes sorgen Zollabbau und Grenzöffnung dafür, dass ihre Produkte zunehmend aus dem Ausland konkurrenziert werden, wo nebst Billigstarbeitskräften Insektizide, Herbizide, Pestizide, Hormone, eingesetzt werden, die bei uns verboten sind. So hat das Volk zwar brav die Batteriehühnerhaltung untersagt – mit dem irren Resultat, dass nun Batteriebilligeier aus dem fernen Polen hereingekarrt werden. 

Was planen Bundesrat und Landwirtschaftsdirektion in solcher Situation? Das noch unbebaute Land soll vermehrt als Natur- und Naherholungsgebiet genutzt werden – eine weitere Wertsteigerung für den wachsenden Immobilienpark der Metropole. Die verbleibenden Landwirte werden auf Landschaftsgärtnerei reduziert und sind gehalten, Bioanbau zu betreiben. Dessen Früchte können sich nur die Ober- und Mittelschichten leisten; die Restbevölkerung wird über Importe versorgt und kauft bei Aldi oder Lidl ein: Transnationale Dienstleistungsbetriebe, die unsere Genossenschaften bedrängen, um den Surplus in die Taschen von zwei der reichsten deutschen Familienclans abzuführen.

Kurz: Der Verfassungsauftrag wird ignoriert: Keine Chance für Ernährungssicherheit und Biodiversität! Stattdessen wird umgerüstet: Die metropolitane Schweiz wird über immer längere Verteilketten aus dem Ausland versorgt. Dabei lehrt uns die Corona-Krise, wie verletzlich lange Verteilketten machen – und Nahrungsmittel sind weit wichtiger als Masken! Wenn der Bundesrat trotz den zu erwartenden Klimaturbulenzen und Naturkatastrophen auf den weiteren Ausbau von transnationalen Nahrungsmittelproduktionsketten abstellt, so ist das inakzeptabel.

Der Freihandel befördert die vertikale Integration!

Obenauf schwingt, wer über die bessere Technologie, die höhere Produktivität, mehr Kapital verfügt. Jahrhundertelang waren die USA und Europa die Nutzniesser. Der Neoliberalismus erlaubt es nun jenen, die über solch überlegenes Kapital verfügen, eine «vertikale Integration» nach ihrem Gusto durchzusetzen: extrem hierarchisch und weltweit. 

Die wirtschaftliche Macht konzentriert sich im transnationalen Hochoben: Grosskonzerne, Banken, globale Fondanleger wie Blackrock und die Grossmächte haben das Sagen. 

Politische Eigenständigkeit und Demokratie werden untergraben: Lobbyorganisationen von Konzernen schreiben Gesetze vor; EU-Recht wird von der Schweiz per Copy-paste-Verfahren übernommen; Sondergerichte operieren im Ausserhalb; wenige Superreiche geben mit ihrem steuerbefreiten Stiftungskapital der Uno, den Staaten, den NGOs zunehmend den Takt vor. 

Die «horizontale Integration» wird zersetzt: Wo immer die nahräumlichen Netzwerke zerfallen, ist das territoriale Zusammenleben bedroht: Denn Gesellschaft entsteht dort, wo Strukturen ein Geflecht von geteilten Regeln, verbindlichen Institutionen und Rollen tragen. 

So entsteht ein Teufelskreis! Freihandel zwischen industriell fortgeschrittenen und bäuerlich geprägten Ländern führt selten zu gegenseitiger Wohlstandsmehrung und nie zum Ausgleich der Entwicklungsunterschiede. Arme Länder, die sich auf Agrarexport spezialisieren, stecken in einer Falle: Die Terms of Trades verschlechtern sich, weil Nahrungsmittel im Vergleich zu Industrie- und Hightech-Produkten billiger werden – einer der Gründe, um Plantagenwirtschaft und Raubbau auszuweiten. Keine Chance mehr auf «horizontale Integration»: Diese setzt eine eigenständige Landwirtschaft und gewerblich-industrielle Entwicklung voraus. Nur das schafft ausreichend Arbeitsplätze und nahräumliche Verflechtung, erlaubt monetäre Solidarinstitutionen und demokratische Steuerung. 

Deshalb herrscht am untersten Ende der vertikalen Integration, also in Entwicklungsländern, die folgende Situation: Die Exportlandwirtschaft bringt wenige Reiche hervor; kapitalintensiv betrieben schafft sie kaum Arbeitsplätze; auf dem Weltmarkt ist sie nur dank Billigstarbeitskräften konkurrenzfähig. Regierungen und Staatsbürokratie leben indes ganz gut von den Abgaben auf Exportgüter und den Rohstoffrenten, die ihnen Konzerne und entwickelte Staaten zugestehen. Arbeitslose und Unzufriedene wandern ab, Marginalisierte wehren sich erbittert gegen die Zersetzung… die Taliban und Boko Haram lassen grüssen.

Was aber mit der Herzensangelegenheit «Migration»?

Extreme Ungleichgewichte bringen Menschen dazu, abzuwandern: hinein in die Konsumparadiese, wo die Bewohnerschaft mit ihrem Lebensstil 3, 4, 5 Planeten verbraucht. Jedoch bringt diese Wanderung weder ökologische Nachhaltigkeit noch den gewünschten Ausgleich – weder hier, noch dort.

Immigration stabilisiert die alten Machtzentren: Wer im internationalen System erfolgreich aufsteigt, stellt sich gern hinter das grenzenlose Wachstumsmodell und identifiziert sich fraglos mit der Konsumreligion.

Arme Regionen verlieren ihr wichtigstes Potenzial: Es gehen Gebildete, Tüchtige, Ehrgeizige. Auch Unzufriedene wandern ab – alles Menschen, die «vor Ort» für Veränderungen unerlässlich sind.

Der Neoliberalismus braucht sich um die vierte neoliberale Freiheit  nicht zu kümmern: Linke und Grüne sorgen dafür, dass sich grenzenlose Mobilität durchsetzt – wie und warum?

Die DEZA und viele NGOs lindern die Armut seit Dekaden. Doch die strukturellen Ursachen der Ungleichentwicklung wurden nie angegangen. Dafür braucht es andere Wirtschaftsregeln. Und das ist ein Tabu!

Auch Fluchtursachen werden nicht bekämpft. Stattdessen etabliert sich eine Art «Ablasshandel»: Barmherzig, aber exklusiv fühlen wir mit jenen, die abwandern, das Schicksal der Zurückgebliebenen dagegen wird ignoriert. Zwar wird argumentiert, die Neulinge in der Schweiz würden ihre Familien in der Heimat unterstützen. Geldüberweisungen haben jedoch einen zwiespältigen Effekt: die EmpfängerInnen werden individuell besser gestellt als die Restbevölkerung, Abhängigkeit und Ungleichentwicklung weiter vertieft. Kurz: Noch mehr vertikale Integration statt jene horizontale Integration, die einem Staat und seiner Bevölkerung eine eigenständige Entwicklung erlaubt. So engagieren sich Linke und Grüne zwar für eine personensensitive Politik; jedoch eine nur auf Individuen zentrierte Sicht der Dinge macht strukturblind. 

Wir rufen deshalb auf zu einer Kehrtwende!

Stehen wir ein für eine weltoffene Solidarität: Wir haben keine Angst vor Fremden und sind ImmigrantInnen zugetan! Trotzdem ist Einwegmigration die falsche Antwort: Die globalen Ungleichgewichte sind nur über Strukturveränderungen und mit der nötigen Struktursensitivität zu beheben. Suchen wir nach einer horizontalen Kooperation, die Wertschöpfung vor Ort erlaubt: eine, die dort verbleibt, reinvestiert und umverteilt werden kann. Kontrollierte Einwanderung und konstruktive Rückwanderung können Antworten darauf sein – das erst schafft globale Verbindungen und informierte Solidarität!

Schaffen wir eine nachhaltige Schweiz: Wir sind nicht gegen Märkte! Aber sie sind intelligent einzuhegen. Territoriale Integration lehrt soziale und ökologische Nachhaltigkeit: Menschen bilden mit der übrigen Natur ein biologisches System. Funktionierende biologische Systeme zeichnen sich durch Fehlerfreundlichkeit aus, wenn drei Komponenten zusammenwirken: Redundanz, Vielfalt, Barrieren bzw. Grenzen. Sorgen wir dafür, dass diese Systeme weltweit funktionieren können.

Erhalten wir uns eine eigenständige Schweiz: Nichts gegen europäische Kooperation! Gelingendes Zusammenleben mit der Natur und mit anderen Menschen wird aber am besten im «Nahraum» der Territorialstaaten und in überblickbaren Gesellschaften gelernt. Das erfordert wirtschaftliche Eigenständigkeit und politische Selbstbestimmung.

Kümmern wir uns um eine effektive internationale Ordnung: aber um eine, die nicht aus dem Hochoben diktiert! Denn Entscheide greifen nur, wenn sie auch lokal erforderlich an- und eingepasst sind. 

Kurz: Neu ist eine Verantwortungsethik gefragt, welche die lokalen, nationalterritorialen und globalen Belange ernst nimmt. 

Denn wir haben nur diesen einen Planeten – und der ist wunderschön. Sorgen wir dafür, dass das so bleibt.

Dazu brauchen wir eine neue Politikkultur!

Eine, die nüchtern die derzeitigen Probleme im Licht der vertrackten Komplexität beleuchtet, die wir mit unserer Weltwirtschaft angezettelt haben. Das heisst: Widersprüche benennen; das Sowohl-als-auch-Denken; konstruktiv mit Paradoxien umgehen.

Eine, die den Mut zur Debatte hat und trotzdem den Gegner­Innen zuhört, statt sie zu isolieren und zu diffamieren. Das heisst: Licht und Schatten zusammensehen; auf das Idealisieren und Dämonisieren verzichten.

Eine, die sich auf Sachargumente verpflichtet und die Sache der KontrahentInnen ebenfalls versteht: Alles zu verstehen, heisst nicht, alles zu akzeptieren, ist aber die Voraussetzung für Verständigung und Veränderung.

Und vielleicht könnte ja just die Vielfalt der Parteien ein Schlüssel zur Lösung der komplexen Probleme sein?

Pressemitteilung vom 23. August 2020: «Die Senkung des Selbstversorgungsgrades der AP 22+ verstösst deutlich gegen den neuen Verfassungsartikel 104 a»

Die NZZ kritisiert den Kommissionsentscheid der WAK desStänderats1 als reine Interessenpolitik einer angeblichen «Agrarlobby».2 Es geht jedoch um den Konflikt der Reform mit dem Verfassungsauftrag. Es geht um den Konstruktionsmangel der AP 14–17, insbesondere der Einkommensstützung mittels Direktzahlungen, welche von den Befürwortern der AP 22+ als «Pauschalbeiträge» ohne ausreichende Zweckbestimmung apostrophiert werden. Um diesen angeblichen Mangel zu beheben, hat die Agrarreform 14–17 deshalb einen Umbau der Direktzahlungen vorgenommen, der nun in der AP 22+ zur Senkung des Selbstversorgungsgrades führt.

Bild roho

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Die 2002 eingeführten Direktzahlungen, wie ihr Name sagt, haben jedoch die Aufgabe den durch die WTO mit der Teilgrenzöffnung durchgesetzten Preiszerfall durch eine direkte Einkommenszahlung abzufedern, um die Landwirtschaft im Hochlohn- und Hochpreisland aufrecht zu erhalten. Die AP 14–17 und in ihrem Gefolge die AP 22+ wollen jedoch diese die Produktion sichernden Einkommenszahlungen streichen und dieses Geld für neue zusätzliche Pflegeleistungen ausgeben. Damit sinkt das bäuerliche
Einkommen für die Lebensmittelproduktion bei gleichem Produktionsaufwand. Das so aus der Produktion abgezweigte Geld wird zur Entschädigung von neuen in speziellen amtlichen Programmen vereinbarten arbeitsintensiven Pflegeleistungen umgelenkt. Dieses Reformkonzept der AP 14–17/AP 22+ geht jedoch rein rechnerisch nicht auf! Die SVIL hatte schon 2011 in der Vernehmlassung zur AP 14–17 darauf hingewiesen.

Die Arbeit für die Lebensmittelproduktion löst weniger Einkommen.

Die Lebensmittelproduktion und der Selbstversorgungsgrad sinken zugunsten von mehr Lebensmittelimporten und davon getrennten ökologischen Dienstleistungen im Inland.

Das Einkommen aus Lebensmitteln sinkt weiter zugunsten ausschliesslich mit Steuergeldern gedeckten Pflegeleistungen, anstatt Bauern und Konsumenten auf der Ebene des Lebensmittels und seines Wertes einander näher zu bringen.

Die inländische Lebensmittelproduktion wird zusammen mit den vor- und nachgelagerten Strukturen geschwächt.

Diese Senkung des Selbstversorgungsgrades der AP 22+ verstösst deutlich gegen den neuen Verfassungsartikel 104 a von 2017, der nicht nur durch die sehr hohen Ja-Stimmen, sondern auch durch die aktuelle «Corona»-Erfahrung bestätigt wird.

Eine verantwortliche Politik muss diese Konflikte lösen und kann sich nicht an Aussagen klammern wie «eine heute brachliegende bzw. extensive Landwirtschaft sei der beste Garant für Produktivität in Zeiten gestörter Zufuhr».

Wenn Angelika Hardegger nun «einen faulen Deal» von «bürgerlichen Politikern» oder gar einen «Erpressungsversuch des Bauernverbandes» als Ursache für den Entscheid der WAK-S zu erkennen glaubt, macht das in Anbetracht der oben erklärten nicht gelösten Sachkonflikte doch etwas stutzig.

Der «Deal», wenn man so will, welcher der AP 14–17 mit ihrem widersprüchlichen Reformkonzept 2017 zum Durchbruch verholfen hatte und die AP 22+ nun zum Straucheln bringt, war die damalige Allianz der Umweltverbände mit jenen Wirtschaftsverbänden, welche die Ernährungssicherheit nur noch als Hindernis des Freihandels im Bereich Industrie und Dienstleistung sehen. Letztere unterstützten die Dezimierung der Inlandproduktion in der AP 14–17, weil sie dadurch mehr Import und weniger Grenzschutz erreichen wollen. Die Schutz- und Umweltorganisationen wollen mit der sinkenden Inlandproduktion mehr Flächen und öffentliche Gelder mobilisieren für den «ökologischen Ausgleich» in einem zunehmend fremdversorgten Metropolitanraum. Beide Ansätze widersprechen dem 2017 vom Volk mit fast 80 % angenommenen Verfassungsartikel 104 a. Sich der Verfassung dadurch zu entziehen, dass man sie als Interessenpolitik der «Agrarlobby» unablässig zu beschimpfen versucht, ist zum Scheitern verurteilt.

Hans Bieri, Geschäftsführer
Schweizerische Vereinigung
Industrie und Landwirtschaft SVIL

 

1 Die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerates (WAK-S) hat ein Kommissionspostulat eingereicht, welches den Bundesrat beauftragt, in der Agrarpolitik einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen. Ausserdem beantragt sie ihrem Rat, die Behandlung der Botschaft zur AP 22+ zu sistieren.

² Angelika Hardegger in NZZ vom 22.08.2020

Leserbrief: Umweltorganisationen sitzen auf dem falschen Pferd

Das blosse Verordnen von zusätzlichen Produktionsauflagen genügt nicht, wenn parallel dazu die Landwirtschaft auf immer mehr Wettbewerb getrimmt wird

Um ihren Interessen mehr Gewicht zu geben, starteten die Umweltorganisationen am 3. August eine Kampagne unter dem Titel: «Agrarlobby stoppen». Diese Kampagne hat ein Ziel: Den Bauernverband und seine Vertreter als Marionetten der Chemie- und Düngerkonzerne hinzustellen. An vorderster Stelle steht: «Die Schweizer Steuerzahler(innen) unterstützen die Land- und Ernährungswirtschaft Jahr für Jahr mit rund 3,6 Milliarden Franken.» Der Tonfall in diesem Satz ist an Arroganz nicht mehr zu überbieten. Schreibt man denn auch: «Die Bundesangestellten werden mit Milliarden unterstützt.» Nein, die erhalten für ihre Arbeit einen gesetzlich festgelegten Lohn. Wenn wir also Hochstämme pflegen, Riedwiesen mähen, die Kühe auf die Wiesen lassen oder Ökowiesen anlegen, dann werden wir aus Sicht der Umweltorganisationen nicht entlöhnt sondern «unterstützt» Ein Akt der Gnade! Leider sind sie mit dieser feudalistischen Gesinnung nicht allein. Auch in der NZZ vom 6.März 2019 steht: «Rund 4 Milliarden Franken pumpt die öffentliche Hand jedes Jahr in die Landwirtschaft.» Das Bild: Die kranke Landwirtschaft muss künstlich am Leben erhalten werden. Was für eine Arroganz gegenüber denjenigen Menschen, welche Tag für Tag hart arbeiten!

Seit Jahren ist bekannt, in welche Richtung die Liberalisierer, deren Sprachrohr die NZZ ist, wollen: Mehr Wettbewerb in der Landwirtschaft, mehr Arbeitsproduktivität, grössere Betriebe. In den vergangenen 25 Jahren wurde in Bern die Gesetzgebung rund um die Landwirtschaft liberalisiert: Grenzen öffnen, Abschaffung der Milchmengenbeschränkung, Aufhebung der Gülleabnahmevertragspflicht, Aufhebung der Distanzbeschränkung bei Gülleexporten, Vorantreiben des Strukturwandels ohne Zielangabe, usw. In all den Jahren hörte man keinen Protest der Umweltverbände! Keine Kampagne gegen den Strukturwandel, keine Kampagne gegen den Gülletourismus. Nichts. Jetzt beklagen diese Organisationen plötzlich die Auswirkungen der Liberalisierung.

Die Kampagne der Umweltverbände ist ein hilfloser Versuch, vom eigenen Versagen abzulenken. Man hat den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Druck und Ökologie bis heute nicht in Betracht gezogen! Mit veralteten Vorwürfen aus dem letzten Jahrhundert versuchen sie nun, davon abzulenken. In den letzten 20 Jahren wurden nämlich keine Gewässer mehr eingedohlt, keine Sümpfe mehr trocken gelegt. Im Gegenteil: Es entstanden tausende von extensiven Flächen und hunderte von Hecken. Viele Kilometer eingedohlte Gewässer wurden freigelegt. Und trotzdem verbesserte sich die Biodiversität in diesem Zeitraum leider nicht wie erhofft. Das blosse Verordnen von zusätzlichen Produktionsauflagen genügt nicht, wenn parallel dazu die Landwirtschaft auf immer mehr Wettbewerb getrimmt wird. Es würde den Umweltverbänden gut anstehen, wenn sie ihre Haltung kritisch hinterfragten.

Für uns ist klar: Die Bauernvertreter sind doch diejenigen, die sich in Bern für einen Grenzschutz einsetzen, der erst ermöglicht, dass wir in der Schweiz mit den hohen Produktionsauflagen überhaupt noch Landwirtschaft betreiben können. Sie sind diejenigen, die den gnadenlosen Wettbewerb bekämpfen, welcher die Bäuerinnen und Bauern in Produktionsformen drängt, die von grossen Teilen der Gesellschaft abgelehnt werden. Die Umweltverbände täten gut daran sich gemeinsam mit den Bauernvertreter(innen) im Parlament für Rahmenbedingungen einzusetzen, welche eine nachhaltige Landwirtschaft in der Schweiz sicherstellen. Eine solche Allianz wäre unschlagbar!

Carole und Werner Locher,
Bonstetten ZH

 

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