Politik und Werte

Gedanken zu den eidgenössischen Wahlen 2019

von Reinhard Koradi

In der Wahlpropaganda zeigen sie alle ihr Sonntagsgesicht. Kandidaten und Kandidatinnen für die eidgenössischen Wahlen (National- und Ständerat) bemühen sich, mit einem möglichst natürlichen Lächeln die Bürger für sich zu gewinnen. 

«Für Alle statt für Wenige»; «Klimawahl»; «Wir machen»; «Aus Leidenschaft für Mensch und Umwelt»; «Sicher und frei» sind Botschaften der Parteien, die die Wahlberechtigten überzeugen sollen. Wo bleibt da die Offenheit, die Deklaration der politischen Agenda der Kandidierenden? Keiner erwähnt die Absicht, Flugreisen je Bewohner zu rationieren, keiner spricht von der Erhöhung des Rentenalters, keiner deckt seine Ansichten auf, wie die Finanzierungslücken der öffentlichen Hand überwunden werden sollen. Auch fehlen eindeutige Aussagen darüber, wie das Gesundheitswesen in der Zukunft aussehen wird. Ein weiteres heisses Eisen, das institutionelle Abkommen mit der EU, greift gerade nur eine Partei auf. Und wo bleiben die Statements zur Überwindung der sich anbahnenden Krise in der Energieversorgung oder das uneingeschränkte Bekenntnis zur bewaffneten Neutralität und der humanitären Tradition unseres Landes? Kein Wort über die geplanten Lenkungsabgaben, die ökologisch bedingten Auflagen für Wohnbauten und deren finanziellen Folgen für die Bevölkerung. Wer will den Migrationspakt unterschreiben, und wer lehnt ihn ab? 

Fragen über Fragen stehen im Raum. Fragen, die ein Wahlkampf eigentlich klären müsste, sollen die Bürger als Souverän ihre Stimmen demjenigen geben, der ihre Interessen vertritt. Die vielen Plakate zeigen aber nur Gesichter, doch der Bezug zum politischen Alltag fehlt weitgehend. Was wäre, wenn auf dem Plakat stünde: «Ich will den Benzinpreis um 50 Rappen erhöhen»; «Ich bin für die Schliessung von Spitälern, um Gesundheitskosten einzusparen»; «Ich will die Volksschule vom Lehrplan 21 befreien»; «Ich bin für einen Marschhalt in der Klimapolitik»; «Ich setze mich für die bewaffnete Neutralität der Schweiz ein und werde dafür kämpfen, dass die von den USA ergriffenen Sanktionen von der Schweiz nicht mehr mitgetragen werden»?

In der direkten Demokratie sind Sachfragen zu klären

Wenn das Volk über die direkte Demokratie den politischen Kurs bestimmt, dann müssen im Wahlkampf Sachfragen geklärt und dürfen keine ideologischen Machtkämpfe geführt werden. Das bedeutet für die Schweiz, dass die Bürger wissen müssen, wie sich die einzelnen Kandidaten die Lösungen aktueller politischer Herausforderungen vorstellen, wofür sie sich einsetzen und welche Werte sie vertreten. Ein Angriff auf politische Gegner, wie in den USA oder teilweise auch in Europa üblich, ist einer wahren Demokratie unwürdig. Was sich der Wähler wünscht, ist Transparenz und Ehrlichkeit. Mehr Authentizität würde jedem Wahlkampf, gleich auf welcher Stufe, guttun. Die Schweiz – und dies an die Adresse der Parteipräsidenten und Polit-Marketingberater – ist ein Sonderfall und kann daher nicht wie die «Märkte» in den USA oder Deutschland bearbeitet werden. Bei uns zählt Glaubwürdigkeit und Transparenz. Es geht letztlich um die Werte, die der Schweiz ihr Profil geben. Es geht um Freiheit, Unabhängigkeit, Neutralität, Selbstbestimmung, direkte Demokratie und den Respekt vor dem Volk als höchste Instanz, den inneren Zusammenhalt, Solidarität, die humanitäre Tradition (Rotes Kreuz), die Konkordanz und Kompromissbereitschaft, das Subsidiaritätsprinzip und den Föderalismus. Dieser Werteskala muss die Politik in unserem Land gerecht werden. Mit anderen Worten, sämtliche politische Institutionen und deren Amtsinhaber (vom Bundesrat bis zum Gemeinderat, den Parlamenten und Kommissionen) haben sich bei ihrem Denken und Handeln an diesen Werten zu orientieren. Das Volk trägt als letzte Instanz die Verantwortung, dass die Schweiz gemessen an den vorgegebenen Werthaltungen auf Kurs bleibt. Eine Verantwortung, die wahrgenommen werden kann, solange die Politik sich durch Transparenz und Sachlichkeit auszeichnet.

Nach den Wahlen sind die Volksvertreter gefordert

In den kommenden vier Jahren stehen tiefgreifende politische Weichenstellungen an. Allen gemeinsam ist, dass sie die Zukunft der Schweiz und deren Bevölkerung massiv beeinflussen werden. Die Entscheidungsparameter sind die oben aufgeführten Werte. Die Unterzeichnung des Rahmenabkommens und des Migrations­paktes ist unvereinbar mit der für die Schweiz verbindlichen Werteskala. Und wäre ein Sitz der Schweiz im Uno-Sicherheitsrat nicht ein krasser Verstoss gegen das Prinzip der Neutralität? Bei der Sanierung der Sozialwerke werden Bundesrat und Legislative den Forderungen nach innerem Zusammenhalt und Solidarität gerecht werden müssen. 

Allein diese Beispiele decken auf, dass es in der neuen Legislaturperiode keinen Platz für individuelle Profilierungstaktiken gibt. Es geht nicht um das Profil der einzelnen Ratsmitglieder, um narzisstische Selbstinszenierungen, sondern um Lösungen, die dem Anspruch der für unser Land gültigen Wertmassstäbe entsprechen – eine ernsthafte Herausforderung für jeden Parlamentarier. Eine Herausforderung, der man nur gerecht werden kann, wenn allein in der Sache, unabhängig von ideellen Differenzen nach Lösungen und Kompromissen im Interesse unseres Landes gesucht wird.

Möge der neu zusammengesetzte National- und Ständerat die Kraft haben, dem Land derart zu dienen, dass die Schweiz letztlich gestärkt und souverän, getreu ihrer bewährten Werte aus der kommenden Legislatur hervorgeht. 

«Der Rückzug der USA aus Syrien ist zu begrüssen»

«Was die Türkei macht, ist Aggression verbunden mit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Professor Alfred de Zayas (Bild thk)
Professor Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Hat der Einmarsch der Türkei in Syrien eine völkerrechtliche Grundlage? 

Professor Dr. Alfred de Zayas Jede Gewaltanwendung ohne die Zustimmung des Uno-Sicherheitsrats gemäss Kapitel 7 der Uno-Charta ist völkerrechtswidrig. Die andere Ausnahme zum Gewaltverbot ist die Selbstverteidigung, wenn ein Angriff vorliegt (Art. 51 Uno-Charta). Das hier ist kein Fall von Selbstverteidigung, sondern reine Aggression. Leider sind diese beiden zentralen Bestandteile des Völkerrechts durch verschiedene Staaten etliche Male verletzt worden.

Welche Staaten sind das?

Die USA, europäische Staaten, die Koalition der Willigen im Irak, in Afghanistan und in Libyen haben Aggressionen bei völliger Straflosigkeit begangen, und so ist das völkerrechtliche Gewaltverbot dermassen entkräftet, dass die Völkerrechtsverletzungen der USA und europäischer Staaten wie eine Einladung für andere Staaten wirken, auch so zu handeln. Die Türkei weiss also, sie kann Syrien angreifen, ohne Konsequenzen zu befürchten. Auch wenn Trump einen Vertrag über mehrere 10 Milliarden Dollar sistiert hat und Zölle auf Stahl erhebt.

Wird das Erdogan tatsächlich beeindrucken?

Nein, einen Ideologen und klugen Taktiker, wie Erdogan es ist, wird das kaum beeindrucken. Was mich zusätzlich stört, ist die Korruption der Terminologie. Das ist etwas, was wir überall in der politischen Landschaft feststellen können.

Könnten Sie ein Beispiel geben?

Hier haben wir eine brachiale Aggression, die nichts anderes bedeutet als die Okkupation des Nordens Syriens. Dieser Angriff wird als Operation «peace spring» bezeichnet. Das ist nichts anderes als Newspeak nach George Orwell. Frieden ist Krieg und Krieg ist Frieden. Das ist die Korruption der Sprache. Aber Erdogan folgt da dem amerikanischen Muster. Wir haben zum Beispiel die Erfahrung der «Operation Liberty». Das ist die aktuelle US-Politik gegen Venezuela mit den Finanzblockaden, Sanktionen usw. Wir hatten bereits 1994 die Operation «Uphold Democracy», das bedeutete, Haiti anzugreifen und 6 Monate zu besetzen.

Es gab doch auch noch «Enduring Freedom»?

Ja, das war 2001. Man verwendet eine Terminologie, die gewisse Werte und bestimmte Hoffnungen der Menschheit in sich birgt. Doch in Tat und Wahrheit ist es genau das Gegenteil. Bei der Operation «peace spring» können wir beobachten, was jetzt tatsächlich passiert. 

Was bedeutet diese neue Trump Politik?

Der Abzug der US-Truppen aus Kobane war das Signal, dass sich die USA aus Syrien zurückziehen wollen. Der Rückzug der USA aus Syrien ist zu begrüssen. Auch die europäischen Staaten müssen sich zurückziehen, Israel muss mit seiner Aggression gegen Syrien aufhören, Saudi-Arabien aus Syrien verschwinden. Der angekündigte Rückzug hat Erdogan eingeladen, in dieses Vakuum vorzudringen und seinen Machtanspruch auf Syrien zu erweitern. Dabei sind Hunderte von IS-Kämpfern aus den Gefängnissen im Kurdengebiet geflohen. 

Wieviele dieser Dschihadisten sind bei den Kurden in Gefangenschaft? 

Man geht von 11 000 aus. Ob ihnen allen die Flucht gelingen wird, wissen wir heute nicht. Die Dschihadisten haben nicht die Organisation, um einen richtigen Krieg führen zu können, aber sie können überall Terror verbreiten und Attentate bis nach Europa durchführen. Man geht davon aus, dass ungefähr 2 000 dieser 11 000 aus Europa stammen. Sollten diese Leute ebenfalls entkommen und wieder nach Frankreich, Deutschland, Belgien zurückreisen, erhöht sich die Gefahr künftiger Anschläge in diesen Ländern.

Erdogan begründet ja seinen Einmarsch in Syrien als Kampf gegen den Terror…

…das ist genau dieser Newspeak. Man bezeichnet Menschen wie z. B. die Tamilen, die nichts anders wollen als ihre Selbstbestimmung, um ihre eigene Zukunft gestalten zu können, als Terroristen wie die Kurden oder die Sahraoui. Durch die Verbreitung dieser Anschuldigungen entsteht in den Köpfen der Menschen der Eindruck, dass das Vorgehen z. B. gegen die Kurden eine gewisse Legitimität besitzt. 

Wer trägt die Verantwortung?

Natürlich Erdogan, er ist ein Lügner, er wird seine Meinung verbreiten. Aber die Medien müssten, wenn sie über Erdogans Offensive berichten, klarstellen, dass es nicht um Terrorismus geht. Die Kurden sind keine Terroristen, sie haben einen Anspruch auf Selbstbestimmung. Was die Türkei macht, ist Aggression, verbunden mit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. Das sollte die Presse sagen, aber sie tut es nicht. Die Presse schürt eher noch die Angst, dass Erdogan 3 Millionen Flüchtlinge nach Europa schicken will.

Wie ist dieser Vorgang zu beurteilen?

Das ist Erpressung, und die Medien spielen mit. Die Menschen haben Angst, dass er das tun könnte. Aber so geht das nicht. Jeder souveräne Staat hat nach dem Völkerrecht das Recht, die Grenzen zu schliessen. Das muss hier deutlich gesagt werden. Es gehört zur Ontologie des Staates, seine Grenzen zu schützen. Wenn die Gefahr besteht, dass es eine Welle von Migranten oder Flüchtlingen gibt, die man nicht in einer menschenwürdigen Weise empfangen kann, dann hat man nicht nur die Berechtigung, sondern auch die Verpflichtung, die Grenzen zu schliessen. Es ist Hybris, wenn man meint, Europa könne Flüchtlinge und Migranten aus der ganzen Welt aufnehmen. Das ist Unsinn. 

Wie sollte man auf die Drohungen Erdogans reagieren?

Man muss der Türkei ganz deutlich sagen, dass Europa keinen einzigen Migranten bzw. Kriegsflüchtling mehr nimmt. An der Flüchtlingssituation ist die Türkei zum Teil selbst schuld. Wenn die Staaten, seien es die Türkei, die europäischen Staaten, die USA, Saudi-Arabien usw. sich nicht in die inneren Angelegenheiten Syriens eingemischt hätten, wäre die Situation im Jahr 2011/2012 geregelt worden. Der Krieg dauert jetzt schon fast 8 Jahre, weil die USA und Europa sich eingemischt haben. Alle Staaten, die den Bürgerkrieg unterstützt und Organisationen wie die White-Helmets finanziert haben, taten das im eklatanten Bruch des Völkerrechts. Ausser Russland und Iran sind alle anderen Staaten illegal in Syrien. Russland und Iran wurden – ob wir es mögen oder nicht – von der syrischen Regierung zu Hilfe geholt. Nach dem bestehenden Völkerrecht kann ein Staat, der eine Krisensituation erlebt oder einen Bürgerkrieg zu bekämpfen hat, einen anderen Staat um Hilfe bitten. Assad hat also die Russen und die Iraner zu Hilfe gerufen, denn es sind nicht nur Syrer, die Bürgerkrieg führen, sondern Milizen, die von den USA, von Europa, von Israel, von Saudi-Arabien und anderen finanziert werden. 

Wann werden die Russen Syrien verlassen?

Auf eine ähnliche Frage antwortete Putin, in dem Augenblick, wo Syrien die russische Hilfe nicht mehr wolle und sage: «Sie können gehen.» Die Russen bleiben nur so lange dort, wie sie durch das syrische Staatsoberhaupt dazu legitimiert werden. 

Welche Rolle spielt Donald Trump?

Ich weiss nicht, ob er überhaupt versteht, was sich dort abspielt. Trump ist eigentlich ein Immobilienmakler. Er ist ein Geschäftsmann. Er hat sich aber auch durch unfähige Menschen beraten lassen wie z. B. John Bolton. 2016 im Wahlkampf hat er noch Vernünftiges von sich gegeben. Er bezeichnete den Krieg gegen den Irak als ein Desaster, ebenso die Einmischung in Afghanistan. Man erwartete von ihm, dass er sich zurückziehen würde. Dass das schwierig wird, liegt schon allein an der Waffenindustrie, die ihre Geschäfte weitermachen will, und diese Waffenindustrie hat auch Trump unterstützt.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

«Deutsche Bundesregierung erklärt uneingeschränkte Solidarität mit Saudi-Arabien»

«Aus geostrategischen Gründen wird Saudi-Arabien gestützt»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, Deutschland

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Die Situation zwischen Saudi-Arabien, gestützt von den USA, und dem Iran spitzt sich immer weiter zu. Die Akteure betonen zwar regelmässig, dass sie keinen Krieg wollen, aber es findet ein ständiges Säbelrasseln statt. Wenn man in die Geschichtsbücher schaut, beschleicht einen ein ungutes Gefühl.

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Der Anlass der jetzigen Eskalation sind die Drohnenangriffe auf die saudischen Ölanlagen, die bis heute nicht aufgeklärt sind. Die Huthis haben zwar die Verantwortung übernommen, gleichzeitig gibt es Zweifel, ob sie technisch dazu in der Lage sind. Die Vorwürfe, massgeblich von den USA, lauten, dass der Iran verantwortlich sei. Das widerspiegelt die momentane Lage.

Inzwischen haben doch auch andere Länder dieses Narrativ übernommen?

Ja, und was mich völlig schockiert hat, ist die Erklärung der deutschen, französischen und britischen Regierung, die eigentlich das Atom-Abkommen mit dem Iran beibehalten wollen. Zwei Formulierungen darin sind wirklich erschütternd. Die erste ist, dass sie explizit sagen, es war der Iran. Beweise dafür legen sie natürlich keine vor, aber begründen ihre Position mit dem Argument, es gebe keine andere plausible Erklärung. Das ist eine Argumentation, mit der man bei keinem Kreisgericht durchkäme. 

In der Politik geht das

… stellen Sie sich einmal vor, das Gericht entscheidet auf der Grundlage, «es gibt keine andere Plausibilität, als dass Sie der Täter sind». Das würde von jeder höheren Instanz zurückgewiesen. In der internationalen Politik ist das möglich. Es erinnert an den Fall Skripal, bei dem die gleiche Formulierung verwendet wurde, um den Russen die Schuld an seinem Tod zu geben, denn es gebe keine andere plausible Erklärung.

Sie haben von zwei Formulierungen gesprochen.

Ja, noch erschütternder ist in dieser Erklärung die Formulierung «uneingeschränkte Solidarität mit Saudi-Arabien». Man findet das offiziell auf der Web-Seite der Bundesregierung, noch hervorgehoben durch entsprechende Zwischenüberschrift.

Das ist doch unglaublich. Die Formulierung kommt einem nicht unbekannt vor…

Nein, sie erinnert fatal an ein historisches Ereignis, nämlich an den 11. September 2001. Meines Wissens ist das bisher das einzige Ereignis gewesen, bei dem man von «uneingeschränkter Solidarität» gesprochen hat. Damals war das der Prolog für den Krieg, nämlich den Krieg gegen den Terror, den Krieg gegen Afghanistan, der bereits seit 18 Jahren andauert, auch der Krieg gegen den Irak gehört in diesen Kontext usw. Diese Formulierung hat mich wirklich erschüttert. Ich fasse auch nicht, wie plötzlich so eine Erklärung in solch einem Wortlaut von den drei Staaten Frankreich, Grossbritannien, Deutschland verfasst werden kann. 

Hatte das in den Medien einen Nachhall?

In den Medien in Deutschland war das nicht gross ein Thema, aber die Erklärung ist offiziell auf der Homepage der Bundesregierung, und deshalb muss man das sehr ernst nehmen. Nebenbei bemerkt redet man immer viel von gemeinsamer europäischer Aussenpolitik. Im Moment gibt es Bestrebungen, das Entscheidungsverfahren in der europäischen Union so zu verändern, dass kein Einstimmigkeitsprinzip mehr notwendig ist. Man möchte ein qualifiziertes Mehrheitsprinzip einführen. In solchen Situationen spielen solche Prinzipien gar keine Rolle mehr. Hier sagen die grossen Staaten ganz klar, wo es langgehen soll, was den kleineren neutralen Staaten wie Irland, Österreich oder Zypern natürlich auffällt.

Und die Staaten, die nicht in der EU sind, realisieren das natürlich auch …

… ja, sicher auch die Schweiz. Das Land hat hier zum Glück eine lange Tradition der Neutralität. Dazu möchte ich gerne ein aktuelles interessantes Beispiel bringen: Hier im Europarat hatten wir gestern eine Debatte zu Georgien. Es gab 2008 den Krieg zwischen Russ­land und Georgien. Die Schweiz vertritt aufgrund des Mandats beide Botschaften. Während der Uno-Generalversammlung gab es vor ein paar Tagen zum ersten Mal nach 10 Jahren ein Treffen zwischen dem russischen und georgischen Aussenminister unter der Vermittlung der Schweiz. Da sage ich nur: «Chapeau!».

Gibt es eine plausible Erklärung, wieso die drei Staaten, die, wie Sie erwähnten, das Atom-Abkommen  mit dem Iran stützen wollen, so eine Kehrtwende gemacht haben?

Es scheint so zu sein, dass an bestimmten Stellen transatlantische Kräfte so stark sind, dass sie so eine Erklärung durchsetzen können. Das geschah auch am Rande der Uno-Generalversammlung, aber wie das im Detail zustande kam, ist nicht klar, zumal es nicht so ganz zur bisherigen Linie passt, aber man sollte es sehr, sehr ernst ­nehmen. 

In dieser Situation muss man sich doch überlegen, was man gegen diese Entwicklung tun kann. Wenn hier so deutliche Anzeichen zu sehen sind, kann man doch nicht zuwarten!

Wichtig ist, dass sich hier ein kritisches Bewusstsein bildet. Wenn wir tatsächlich vor einem Krieg stehen, dann geht das einher mit einer unglaublichen Propaganda. Der sollte man auf keinen Fall erliegen. Es gibt keinen Krieg ohne Feindbildproduktion, ohne ganz massive Propaganda in den Medien. Deshalb braucht es Demonstrationen gegen den Krieg, man sollte Veranstaltungen gegen den Krieg besuchen, Leserbriefe schreiben oder sich öffentlich äussern usw.

Wie konkret schätzen Sie die Gefahr einer Eskalation ein?

Wir hatten in den letzten Jahren immer wieder die Situation, dass die Gefahr eines Krieges im Nahen Osten sehr hoch war. Wir können natürlich nur spekulieren. Wir wissen nicht, ob Trump vor den Wahlen so einen Krieg will. Er hat seine Wahlen wohl auch gewonnen, weil er gesagt hat, dass die vergangenen Kriege falsch waren, das aber nicht aufgrund einer grundsätzlichen Position gegen Kriege. Deshalb ist es etwas unklar, was er machen wird. 

Wenn wir zurückdenken, müssen wir feststellen, dass es ständige Auseinandersetzungen in dieser Region gibt und die Menschen dort nicht zur Ruhe kommen.

Die Tragödie des Nahen Ostens ist, dass es dort sehr viel Erdöl gibt. Wenn wir uns die Weltkarte anschauen, erkennen wir, dort, wo es viele Bodenschätze gibt, ist der Krieg nicht fern. Hier fokussieren sich die Interessen, und die Einmischung ist nicht weit. Der Nahe Osten ist geprägt von der Vorherrschaft Saudi-Arabiens und Irans. Saudi-Arabien wird massiv von den USA gestützt; de facto aber auch von den grossen Staaten Europas. Das zeigt die Erklärung «uneingeschränkte Solidarität mit Saudi-Arabien», einer der schlimmsten Diktaturen der Welt mit einer fürchterlichen Menschenrechtssituation im Lande. Aus geostrategischen Gründen wird Saudi-Arabien gestützt. Auch der Iran ist kein Musterknabe in Sachen Menschenrechten, aber Saudi-Arabien ist unvergleichlich problematischer. Iran wird gestützt von Russ­land. Das ist die geopolitische Lage. Ein Krieg gegen den Iran wäre ganz verheerend. 

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

«Das Völkerrecht ist eine enorm wichtige zivilisatorische Errungenschaft»

«Das Verbot von Angriffskriegen gibt es in den EU-Verträgen nicht»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Einige vorgeschlagene Kandidaten für die neue EU-Kommission unter der Präsidentschaft von der Leyens sind, so liest man in den Medien, in irgendwelche Verfahren verwickelt oder haben solche bereits hinter sich. Was ist das für eine Auswahl?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Man hat den Eindruck, um eine Chance zu haben, Kommissarin oder Kommissar zu werden, muss man entweder korrupt sein oder in einer anderen Form in der Kritik stehen. Das hat vielleicht auch System. 

Was vermuten Sie?

Je angreifbarer ein Kommissar ist, umso besser ist er steuerbar. Je sauberer eine Kandidatin oder ein Kandidat ist, desto unabhängiger sind sie und umso weniger lassen sie sich zu etwas drängen. Andernfalls müssen sie immer Angst haben, dass die Vergangenheit ans Tageslicht kommt. Solche Abläufe sind schon sehr erschütternd.

Die Kommissionspräsidentin von der Leyen ist auch nicht frei von Kritik…

Nein, sie steht in Deutschland unter anderem in der Kritik wegen der Berateraffäre im von ihr geleiteten Verteidigungsministerium. Es gibt einen Untersuchungsausschuss, denn Hunderte von Millionen Euro wurden an externe Berater ausgegeben. Das wird im Parlament noch Thema sein. Sie ist zwar nicht mehr Verteidigungsministerin, wird aber dort erscheinen müssen. In Deutschland ist sie auch wegen ihres Gesetzes zu Internetsperren als «Zensursula» bekannt geworden. Ihre Ernennung ist hoch fragwürdig.

Sie hatten das letzte Mal gesagt, dass Sie eine Militarisierung der EU befürchten. Hat sich das bestätigt?

Ja. Was sehr relevant ist, ist der Aufbau eines militärisch-industriellen Komplexes in der EU. Wir haben die Entwicklung der PESCO (Permanent Structured Cooperation), auf Deutsch «Ständige Strukturierte Zusammenarbeit», die den Kern der Militarisierung der EU bildet. Insgesamt haben sich 25 Staaten darin verpflichtet, jedes Jahr real aufzurüsten. Das wird auch überprüft. Man hat sich verpflichtet, den Anteil der Waffen im Militäretat zu erhöhen. Auch wird im Rahmen von PESCO eine Euro-Kampfdrohne entwickelt. Von der Leyen hat als ehemalige Verteidigungsministerin diese Projekte mit vorangetrieben.

Welche Rolle hat jetzt Frau von der Leyen dabei?

Sie hatte die ehemalige französische Verteidigungsministerin Sylvie Goulard als Kommissarin für Binnenmarkt und Industrie vorgeschlagen und diesem Kommissariat mit der «Generaldirektion Verteidigung» auch den Militärbereich zugeschlagen. Dadurch handelt es sich um ein sehr mächtiges Ressort. In Frankreich musste Frau Goulard nach wenigen Wochen aufgrund einer Affäre wegen Scheinbeschäftigung im EU-Parlament zurücktreten. Nun sollte sie Kommissarin werden, was schon sehr bedenklich war. Das Europäische Parlament hat sie dann aber durchfallen lassen und damit auch Macron eine Schlappe beschert. Jenseits von Personalfragen bleibt aber die Gefahr, dass sich der Militärbereich verselbständigen wird und das Parlament keinen Einfluss darauf hat. 

Was ist der Plan beim Ausbau der militärischen Möglichkeiten?

Die EU will ein vergleichbarer Akteur auf internationaler Ebene sein wie auch die USA. Das sind Entwicklungen hin zu einem Imperium. Man glaubt, nur auf diesem Wege letztlich in der Zukunft eine Stimme in der Welt zu haben, in Konkurrenz zu China, den USA und eventuell Russland. Das ist die Vorstellung.

In dieser Logik bewegen wir uns im Zeitalter des Imperialismus am Ende des 19. Jahrhunderts.

Ja, das stimmt. Aber nehmen wir einmal den Auftritt von Guy Verhofstadt, dem Fraktionsvorsitzenden der Liberalen im EU-Parlament. Er war vor wenigen Wochen bei den Liberaldemokraten in Grossbritannien, wo es um den Brexit ging, und hat dort eine Rede gehalten. Er sagte, dass die Zukunft keine Welt der Nationalstaaten, sondern der Imperien sei. China, USA, vielleicht auch Russ­land. Deshalb müsse Grossbritannien in der EU bleiben. Er spricht zwar nicht explizit vom europäischen Imperium, aber das steht zwischen den Zeilen.

Das ist doch ein völliger Rückschritt in der Geschichte!

Was in dem Zusammenhang wirklich wichtig ist, ist das Völkerrecht. Auch wenn es Mängel hat, ist es eine enorm wichtige zivilisatorische Errungenschaft nach den Weltkriegen. Das Bedenkliche ist, dass es teilweise beiseite gedrängt wird. Auch wenn man sich die EU-Verträge genau durchliest, gibt es nie eine Bindung an das Völkerrecht. Es ist die Rede davon, dass man «die Ziele teilt», dass man «den Geist teilt», aber es gibt nie eine klare Bindung an das Völkerrecht. 

Wie ist das beim deutschen Grundgesetz?

Im Unterschied zu den EU-Verträgen ist das Völkerrecht bindend formuliert. Auch steht darin, dass das Völkerrecht vorgeht. Das wird immer mehr an die Seite gedrängt. Die deutsche Bundesregierung verwendet gerne den Begriff der «regelbasierten Ordnung». Dieser ist eigentlich als Alternative zum Völkerrecht formuliert. Hier stellt sich die Frage, was das für Regeln sind. Wir haben doch das Völkerrecht als wichtigste regelbasierte Ordnung. Aber das wird nicht erwähnt. Man will sich sozusagen eigene Regeln definieren oder neue Regeln schaffen. Das finde ich sehr gefährlich, denn bei solch einer Entwicklung ist die Verteidigung des Völkerrechts absolut notwendig.

In der Konsequenz würde das doch heissen, sich auf den Nationalstaat zu besinnen, ist besser, als wenn sich am Schluss irgendwelche Imperien gegenüberstehen, die dann ihren Machtanspruch mit Waffengewalt durchsetzen wollen.

Wir können die Probleme, die wir in der Welt haben, nicht allein auf der Ebene des Nationalstaats lösen. Aber die Struktur, die wir mit den Vereinten Nationen besitzen, ist eine Organisation der Nationalstaaten und dazu gehören natürlich internationale Kooperationsstrukturen wie sie hier im Europarat bestehen. Das ist eigentlich das, was wir brauchen. Man kann auch nicht sagen, dass die Entstehung von Imperien die positive Überwindung der Nationalstaaten ist. Das muss man kritisieren.

Aber das ist doch genau die Argumentation. Das begann mit der Globalisierung, die riesige Gewinne für die Industrie erlaubte…

Ja, da muss man genau hinschauen. Der Nationalstaat ist an sich nichts Schlechtes. Was natürlich abzulehnen ist, sind der Nationalchauvinismus und andere Auswüchse. Aber wenn man schaut, was in den Verfassungen der Nationalstaaten verankert ist, dann muss man feststellen, dass die «real existierende» Nationalstaatlichkeit häufig deutlich besser ist als das, was wir auf der EU-Ebene haben. 

Woran denken Sie dabei im Einzelnen?

Im Grundgesetz haben wir das Verbot von Angriffskriegen, das gibt es in den EU-Verträgen nicht. Wir haben im Grundgesetz den Vorrang des Völkerrechts, das gibt es in der Form in den EU-Verträgen nicht. Wir haben das Sozialstaatsgebot, das gibt es in der EU nicht. Wir haben die Eigentumsverpflichtung im Grundgesetz und sogar die Enteignungsmöglichkeit, was bei den riesigen Immobilienkonzernen im Moment eine Rolle spielt. Dazu gibt es einige Volksbegehren. Das ist im Grundgesetz alles gedeckt. Davon finden wir nichts in den EU-Verträgen. Und in den Verfassungen vieler anderer Länder ist es ähnlich.

Was in den Verfassungen der einzelnen Staaten festgelegt ist, wird doch häufig auch durch Freihandelsverträge gefährdet. 

Wir haben im Juli die Meldung bekommen, das Freihandelsabkommen zwischen Mercosur und der EU, so wurde es dargestellt, sei sozusagen unter Dach und Fach. Das heisst aber, dass es erst einmal eine politische Einigung der Regierungen gegeben hat, u. a. mit Bolsonaro. Das hat jetzt zu Unstimmigkeiten geführt, da die Kritik an Bolsonaro völlig zu Recht nach den Bränden im Amazonas aufkam, wo er natürlich auch eine Verantwortung trägt, weil er das Abbrennen  im Grunde genommen freigegeben hat. Auch in Argentinien haben wir eine rechtsliberale Regierung, die das Freihandelsabkommen mitgetragen hat. Im Oktober gibt es dort Wahlen, und es ist zu erwarten, dass die Linksperonisten gewinnen werden, die werden das Freihandelsabkommen aller Voraussicht nach nicht mittragen. Das Ganze ist sehr ungewiss, da es sowohl noch durch das Europaparlament als auch durch die nationalen Parlamente muss. Ich glaube, dass diese Art von Freihandelsabkommen anachronistisch ist. Es wäre gut, wenn das Abkommen mit Merco­sur beerdigt würde.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

Viele Worte – zu wenig Substanz

Der französische Präsident Emmanuel Macron vor dem Europarat

von Thomas Kaiser, Strassburg

Zu meinem Erstaunen standen auffallend viele Menschen vor dem Bahnhof in Strassburg und orderten ein Taxi. Als ich endlich eines ergattert hatte und den Taxifahrer fragte, warum so ein Andrang auf Taxis herrsche, antwortete er lapidar, das sei immer so, aber heute noch etwas mehr, «Monsieur le Président Macron besucht den Conseil de l’Europe», und schon waren wir mitten im Gespräch. 

Bild thk

Bild thk

 

Auf die Frage, was er von Macron halte, kam wenig Positives, zu neoliberal, zu wirtschaftsfreundlich, zu viel Abbau des Sozialstaats. Es gehe nur um Big Business, das sei falsch. «Wo bleiben die Menschen?» Seit Jacques Chirac habe es keinen guten Präsidenten mehr gegeben. Alle diejenigen, die nachher gekommen seien, seien schlechte Präsidenten gewesen, genau wie Macron. Tatsächlich ist Macron auch von weniger als 20 % der Stimmberechtigten gewählt worden.

Im Laufe des Gesprächs erfuhr ich, dass mein Taxifahrer oft über 12 Stunden am Tag arbeiten muss, und das an sechs Tagen in der Woche. Als Familienvater müsse er das, sonst reiche der Lohn nicht. Seine Kinder sehe er leider nicht oft. «Das sind doch unsere Probleme», schlussfolgerte er.

Am Europarat angekommen, können wir bereits unzählige Sicherheitskräfte erkennen. Die Strasse vor dem Europarat wird am späteren Vormittag vollständig gesperrt. Keine Maus wird sich ohne die Erlaubnis der Gendarmerie bewegen können. Diese Szenerie veranlasst den Taxifahrer zu einem spontanen «Das ist alles für unseren Monsieur le Président, vergessen Sie das nicht», und er verabschiedet mich mit einem Schmunzeln. Seine Lebenssituation geht mir nach.

Der Präsident lässt sich bitten

Im Gebäude herrscht kein Business as usual. Die Benutzung der Zuschauertribüne, die sonst für die Presse oder angemeldete Besuchergruppen offen ist, wird nur ausgewählten Personen gestattet. Im Pressebüro kann ein Teil der Journalisten der Rede Marcons lauschen. Doch der Präsident lässt sich bitten. Um 12 Uhr ist er angekündigt, und zahlreiche Menschen stehen im grossen Foyer vor dem Plenum, das Handy in Position, um möglichst ein Bild von Monsieur le Président zu erhaschen. Die Sicherheitskräfte haben Mühe, den Überblick zu bewahren. 

Emmanuel Macron kommt natürlich nicht durch die Hintertür, um der wartenden Meute von Journalisten und Politikern so zu entgehen, nein, er geniesst es sichtlich, umringt von zahlreichen Sicherheitskräften und den dahinter zusammengedrängten Menschen, fotografiert und bewundert zu werden. Es ist bereits 20 nach 12, bis Herr Macron sich entschliesst, gefolgt von einer Traube von Schaulustigen, sich in das Innere des Saals zu begeben. Für die Rede Macrons sind 20 Minuten eingeplant, der Rest der 60 Minuten ist für Fragen der Parlamentarier reserviert. Über 80 Abgeordnete haben sich in die Liste der Fragesteller eingetragen. Aber Macrons Rede dauert ca. 50 Minuten, und damit ist die Zeit für Fragen bereits verwirkt. Gnädigerweise dürfen die Fraktionssprecher ihre Fragen stellen, die übrigen Parlamentarier werden vertröstet.  Ob es Macrons Absicht war, sich möglichst unangenehmen Fragen entziehen zu können, oder ob der Zeitplan schlicht zu ambitiös war, bleibt das Geheimnis von «Monsieur le Président».

Seine Rede ist durchsetzt von Allgemeinplätzen, über die Wichtigkeit des Europarats als Institution, die dieses Jahr ihr 70jähriges Bestehen feiert. Er erwähnt die Bedeutung der europäischen Werte, insbesondere der Menschenrechte, die dort vertreten werden, dazu gehören die Abschaffung der Todesstrafe und das Folterverbot. Bei seinen Ausführungen verwischt er die Grenze zwischen Europarat und der EU und spricht von einer «europäischen Souveränität». Ob er damit meint, dass auf der ganzen Welt europäische Staaten ihre Interessen verteidigen und durchsetzen dürfen, auch an der Seite Saudi-Arabiens, zur Not mit Waffengewalt, bleibt unbeantwortet. Ist es tatsächlich im Rahmen der Menschenrechte, wenn französische Soldaten, und nicht nur französische, in Afrika oder im Nahen Osten militärisch operieren, um die eigenen Interessen durchzusetzen? Das sind Fragen, die sich einem bei seinen Darlegungen stellen.

Macron befürwortet die Rückkehr Russland in den Europarat

Konkret wird er in seiner Rede, als er auf die Rückkehr Russlands in den Europarat eingeht. Er stellt sich hinter den Entscheid der Parlamentarischen Versammlung und des Ministerrats, die russische Delegation mit allen Rechten und Pflichten wieder in die Parlamentarische Versammlung des Europarats aufzunehmen. Aber er spart auch nicht mit Kritik an Russland und anderen Staaten, insbesondere der Türkei, die zu wenig die Werte des Europarats leben würden. Dabei macht er klar, dass sich Frankreich für diese einsetze und Antworten auf aktuelle Herausforderungen suche.

Macron sieht die europäischen Werte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Gefahr, ohne konkreter zu werden. Er prangert die «zunehmende Faszination für autoritäre Systeme» an, ohne zu sagen, wen und was er damit meint. «Der Kampf gegen den Terrorismus» wird in seiner Rede mehrmals bemüht. Auch greift er die Demonstrationen in Frankreich auf und fordert eine «neue Doktrin für die innere Sicherheit». Er spricht von «massiver Desinformation bei Wahlprozessen», bedingt durch das Internet, und dass Wege gefunden werden müssten, das zu verhindern. 

Macron wirft in seiner Rede die Probleme und Herausforderungen der Zeit auf, ohne konkrete Lösungsansätze zu präsentieren. Er endet mit der Forderung, der Europarat müsse geeint dastehen und «einen neuen Rahmen erfinden», was eine Herausforderung für die Parlamentarische Versammlung, für das Ministerkomitee und den europäischen Gerichtshof darstelle.

Kein Ansatz zu mehr
Demokratie

Während der 50minütigen Ausführungen kommen die Sorgen der Bevölkerung nur am Rande vor, einzig in der Frage der Migration kann Macron die Bedenken der Franzosen nicht ignorieren. Ansonsten findet sich kein Ansatz zu mehr Demokratie im Sinne von mehr Mitbestimmung durch die Bevölkerung. Direkte Demokratie, wie sie immer wieder von den «Gillets jaunes» verlangt wird, existiert nicht in Macrons Vokabular. 

Den fünf zugelassenen Fragestellern gibt er wenig Konkretes zur Antwort, ausser auf die Frage des Fraktionschefs der Vereinigten Linken, Tiny Cox. Er wollte von Macron wissen, wie er zu der Forderung stehe, dass die EU dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beitreten solle. Macron versichert, dass er für diesen Schritt sei und dieser kommen werde. 

Macron beherrschte die Szenerie, und man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es ihm vor allem um seine Person ging. Weder die Menschen, die durch den Europarat vertreten werden, noch ihre Nöte wie die des Taxifahrers standen im Zentrum, noch wie man demokratische Lösungen im Dialog mit der Bevölkerung entwickeln könnte, sondern die institutionelle Errungenschaft des Europarats und er selbst als Präsident. 

Gegen 14 Uhr – mit über einer Stunde Verspätung – war der Spuk vorbei. Umringt von Sicherheitskräften und unzähligen Schaulustigen, begab sich Macron zurück ins Foyer. Hier verweilte er noch eine Zeitlang. Liess sich von allen Seiten fotografieren und strahlte in Kameras und Smartphones, abgeschirmt durch einen Kordon an Sicherheitsleuten, die mit Vehemenz «seine Majestät» zu schützen versuchten.  

Das war also «Monsieur le Président», wie schon der Taxifahrer am Morgen ironisch bemerkte. Er hätte sich darin bestätigt gefühlt, dass dieser Präsident kein Vertreter des Volkes ist, der sich mit dem Bürger und seinen Sorgen und Nöten beschäftigt, wahrscheinlich kennt er sie gar nicht. Ein Präsident, den bezeichnenderweise nicht einmal 20 Prozent der Bevölkerung gewählt haben, der aber kraft seines Amtes eine riesige Machfülle besitzt. 

Die Schweiz als Kontrast

Wie bescheidener verläuft so etwas in der Schweiz. Auch wenn man hier ebenfalls Tendenzen von Selbstdarstellung und persönlicher Profilierung unter Politikern feststellen kann, ist das kein Vergleich mit dem Auftritt von Emmanuel Macron und seiner Entourage. Als Benutzer von öffentlichen Verkehrsmitteln kann es in der Schweiz ohne weiteres geschehen, dass man unseren Bundesräten im Zug oder Tram unvermittelt begegnet. Meist sind sie alleine oder manchmal von einem Sekretär oder einer Sekretärin begleitet. Weit und breit finden sich kein Sicherheitsdispositiv und keine Paparazzi. Die Situation im Europarat wirkte dagegen geradezu surreal. Mit Demokratie und Menschenrechten hat das nicht viel zu tun. Genauso wenig wie mit der Gleichheit der Menschen oder den von Macron in seiner Rede beschworenen europäischen Werten. 

Auf der einen Seite bleibt ein schales und ungutes Gefühl zurück, aber auf der anderen Seite machen wir in der Schweiz die Erfahrung, dass es auch anders gehen kann, dass der Wille des Volkes nicht nur bei Wahlen gefragt ist, sondern auch bei der Lösung von politischen Fragen im Sinne der direkten Demokratie. Das gilt es zu bewahren und in der Zukunft zu verteidigen, auch als Hoffnung für andere Völker.

«Keinen Frieden ohne gleiche Rechte für Palästinenser und Israeli»

«Die Schweiz müsste sich für die Wiederaufnahme von Verhandlungen einsetzen»

Interview mit Nationalrat Carlo Sommaruga

Nationalrat Carlo Sommaruga, SP (Bild thk)
Nationalrat Carlo Sommaruga, SP (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Welche Bedeutung hat das Uno-Hilfswerk  für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) für die Lage der Flüchtlinge in Palästina?

Nationalrat Carlo Sommaruga Das ist eine sehr wichtige Organisation, die von der Uno gegründet wurde, um den palästinensischen Flüchtlingen seit 1949 zu helfen. Man hat sie vertrieben, als im Jahre 1948 Israel gegründet wurde. Beim Ausbau der Siedlungen im Westjordanland hat man weitere palästinensische Dörfer zerstört und die Menschen mussten fliehen. 

Wo leben diese Menschen heute?

Es gibt einige Millionen dieser Flüchtlinge, die heute in Jordanien, im Libanon, in Syrien, aber auch im Gazastreifen und im West-Jordanland leben. Sie haben eigentlich das Rückkehrrecht. Das ist ein Recht, das international anerkannt ist. 

Welche Aufgabe hat hier das UNRWA?

Sie hilft den Flüchtlingen. Sie baut und verwaltet Schulen oder medizinische Zentren. Auch sind sehr viele Palästinenser arbeitslos, auch im Gaza-Streifen. Diesen Menschen muss geholfen werden, damit sie überleben können.

Was würde geschehen, wenn es das UNRWA nicht mehr gäbe?

Wir hätten ein riesiges soziales Problem. Gewalttätige Ausschreitungen mit Verletzten und Toten wären aller Erfahrung nach die Folgen eines solchen Schrittes.

Bundesrat Cassis hat sich dahingehend geäussert, dass das UNRWA ein Teil des Problems sei und nicht die Lösung. Wie sehen Sie das?

Aus zwei Gründen bin ich sehr schockiert über diese Aussage. Die Schweiz hat die Resolutionen der Uno unterstützt und somit auch das UNWRA. Diese Uno-Organisation ist sehr wichtig für die Stabilität in der Region und um den Millionen von Palästinensern zu helfen. Diese Aussage ist ein Bruch mit der Ausrichtung unserer Aussenpolitik, und das finde ich skandalös. Zweitens ist es wörtlich die Position von Israel. Das ist etwas, was Israel schon lange immer wieder behauptet. Diese Position hat auch Präsident Trump übernommen. Die Schweiz darf sich nicht zur Sprecherin der anderen machen… 

… sondern, was sollte sie tun?

Sie muss in diesem Konflikt unabhängige Lösungen präsentieren und sich für den Frieden in der Region engagieren. Die Schweiz müsste sich für die Wiederaufnahme von Verhandlungen einsetzen und dafür sorgen, dass das Leiden der Menschen beendet wird. Der von Trump vorgeschlagene Wirtschaftsfrieden ist keine Lösung. Es wird keinen Frieden ohne gleiche Rechte für Palästinenser und ­Israeli in einer Zwei-Staaten-Lösung geben.

Ist die Schweiz mit Projekten vor Ort?

Die Deza, die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, bewirkt dort sehr viel, indem sie Projekte unterstützt, die die Zivilgesellschaft stärken. Es gibt auch Projekte, die sich in der Bildungsarbeit engagieren und versuchen, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die humanitäre Schweiz kann mit ihren Programmen den Palästinensern, die in Schwierigkeiten sind, im Bereich der Bildung, der medizinischen Versorgung und der Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht nur Hilfe anbieten, sondern auch zur Stärkung der Demokratie und des Freiheitsraums in Palästina und Israel beitragen.

Hat die Schweiz dabei eine besondere Rolle?

Die Schweiz hat schon immer eine sehr wichtige Rolle in dieser Gegend. Die Schweiz besitzt keine geopolitische Agenda und auch keine direkten Interessen. So kann sie ihre Fähigkeiten in der Vermittlung bei Konflikten einbringen, Verhandlungen anbieten und konstruktive Vorschläge zur Lösung der Probleme machen. Das war auch das Motiv der Genfer Initiative, die unterbreitet wurde. Das ist vielleicht nicht die Lösung. Aber damit wurden Ideen eingebracht, um einen Weg für die Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung zu finden. 

Inwieweit sehen Sie die Neutralität als einen Vorteil? 

Die Neutralität ist sehr wichtig. Die Schweiz ist kein Teil der EU und ist auch kein Mitglied der Nato. Sie ist bisher auch nicht den Mächtigen gefolgt. Das muss so bleiben. Dann können wir viel bieten. Aber man muss mit den Personen, die den Frieden wollen, verhandeln. Mit Netanjahu war das sehr schwierig, aber auch die palästinensische Vertretung hat heute wenig Legitimität bei ihrem Volk. Beide Seiten haben Schwierigkeiten, ernsthafte Verhandlungen zu führen. Das erschwert die ganze Situation noch mehr.

Herr Nationalrat Sommaruga, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern

«Mehr in Stauseen und Pumpspeicherkraftwerke investieren»

Der Schweiz droht im Winterhalbjahr 2034/35 eine grosse Stromversorgungslücke

Interview mit Nationalrat Thomas Egger

Nationalrat Thomas Egger, CVP (Bild thk)
Nationalrat Thomas Egger, CVP (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie sieht die Energieversorgung der Schweiz in Zukunft aus?

Nationalrat Thomas Egger Wir steuern auf eine Stromversorgungslücke in der Schweiz zu. Dazu gibt es unterschiedliche Studien. Die ELCOM spricht von einer Versorgungslücke von 14 Terrawattstunden im Winterhalbjahr 2034/35. Die EMPA, die Eidgenössische Material Prüfungsanstalt, spricht sogar von 22 Terrawattstunden.

Was bedeuten diese Zahlen?

Man muss sie ins Verhältnis setzen zur jährlichen Stromproduktion, die bei 68 Terrawattstunden liegt. Das heisst, uns könnte im Winterhalbjahr 34/35 ein Drittel der Stromproduktion fehlen. Wenn wir nichts tun, steuern wir geradewegs auf einen Blackout zu.

Wo liegen die Ursachen für dieses Missverhältnis?

Es gibt verschiedene Ursachen. Auf der einen Seite ist klar, wir wollen aus der Atomenergie aussteigen. Das wird praktisch von allen politischen Parteien mehr oder weniger mitgetragen. Auf der anderen Seite müssen wir in die neuen erneuerbaren Energien investieren, und hier insbesondere in die einheimische Schweizer Produktion. Das Bundesamt für Energie hat die Zahlen nach unten korrigiert. Da sehen wir jetzt, dass dieses Potential leider nicht so gross ist, wie man in der Energiestrategie 2050, die 2017 vom Schweizer Stimmvolk angenommen wurde, vorhergesagt hatte.

Womit hängt das zusammen?

Das hat einen Zusammenhang mit den allzu strengen Umweltvorschriften. Wir sehen, dass die Gewässervorschriften in den letzten Jahren verschärft wurden. Dadurch sind wir sehr eingeschränkt bei der Nutzung der Wasserkraft, insbesondere bei der Kleinwasserkraft. Was mich hier stört – und das ist eine politische Aussage –, ist, dass man sich über den Ausstieg aus der Atomkraft einig ist und bei den erneuerbaren Energien investieren muss, aber bei jedem Kleinwasserkraftwerk erheben die Umweltverbände Einspruch. Das ist für mich eine schizophrene Politik.

Was wäre ein gangbarer Weg, damit wir diese Lücke schliessen können?

Für mich gibt es Handlungsbedarf auf der gesetzgeberischen Ebene. Wir müssen im Parlament darüber diskutieren, ob das Korsett, das wir uns selbst umgeschnallt haben, nicht doch zu eng ist. Das hängt, und ich sage das bewusst ganz plakativ, mit den Umweltverbänden zusammen.

Was machen die Umweltverbände falsch?

Das Schweizer Stimmvolk hat 2017 eine Energieversorgung beschlossen, bei der die Interessenabwägung von gleich hoher Bedeutung ist wie die Umweltanliegen. Wenn jetzt aber überall Einsprachen kommen, dann ist diese Praxis bis jetzt noch nicht umgesetzt. Oft muss man das Recht vor dem Bundesgericht erstreiten. Hier erwarte ich ein anderes Verhalten der Umweltverbände. 

Einen weiteren Punkt, der hier bedeutsam ist, bildet die Elektromobilität. Die EMPA kommt zu der Ansicht, dass wir in 15 Jahren eine wesentlich höhere Stromlücke haben werden. Sie geht von 22 Terrawattstunden aus, weil die Elektromobilität zunimmt. Auch hier müssen wir überlegen, wie wir den Energiebedarf decken können.

Welche Möglichkeiten haben wir denn?

Import aus dem Ausland ist für mich keine Option. Ich möchte keinen Atomstrom aus Frankreich und auch keinen Braunkohlestrom aus Deutschland importieren. Das ist keine Option. Wir müssen versuchen, unseren Energiebedarf mit Strom aus der Schweiz abzudecken. Was immer mehr zu einem Problem wird, ist die dezentrale Energieversorgung bzw. deren Speicherung.

Was sind die Gründe dafür?

Wir werden immer mehr Windkraftwerke und Solarzellen haben. Der Strom wird dann nicht immer produziert, wenn wir ihn brauchen, und deshalb brauchen wir unbedingt eine dezentrale Speicherkapazität.

Bild thk

Bild thk

 

Wie könnte diese Speicherkapazität konkret aussehen?

Ich stelle mir zum Beispiel vor, dass jedes Haus im Keller eine ausrangierte Tesla-Batterie hat. Wenn diese Batterie für das Auto nicht mehr eingesetzt werden kann, hat sie immer noch 50 Prozent der ursprünglichen Ladekapazität, was locker dafür reicht, einen Haushalt drei bis vier Tage mit Strom zu versorgen. An solch einer Lösung müssen wir arbeiten und wären dabei innovativ tätig. Wir könnten Forschung betreiben und zum Silicon-Valley in der Schweiz werden.Aber im positiven Sinn…

Ja, natürlich im positiven Sinn – in der Forschung, im Energiebereich und in der Innovation.

Müssten nicht auch Pumpspeicherkraftwerke zur Speicherung von Energie ausgebaut werden?

Ja, wir müssen wieder mehr in Stauseen und Pumpspeicherkraftwerke investieren, die heute leider nicht rentabel betrieben werden können. Deshalb braucht es weiterhin eine staatliche Unterstützung. Der Bund hat mit der Energiestrategie 2050 – bestärkt durch die Volksabstimmung – auf 10 Jahre befristet Investitionsbeiträge vorgesehen. Ich bin für eine Verlängerung der Unterstützung, so lange die Marktsituation nicht besser ist.

Die Frage bleibt, was mit dem Strommarkt geschieht, wenn er für private Haushalte geöffnet werden soll. Dann werden unweigerlich Unmengen von Strom aus dem Ausland in unser Land fliessen.

Natürlich gibt es in dieser Frage unterschiedliche Sichtweisen und Haltungen. Für mich ist es aber schizophren, wenn wir möglichst erneuerbare Energien wollen und dann Atomstrom aus Frankreich importieren. Das ist für mich keine vertretbare Haltung. Wir müssen schauen, dass wir wirklich die einheimischen Ressourcen nutzen.

Gibt es denn noch andere Ressourcen als Wind, Sonne und Wasser?

Ja, und darüber haben wir noch nicht gesprochen, das ist Holz. Wir wissen, dass 50 Prozent des jährlich anfallenden Holzes im Wald ungenutzt liegenbleibt. Hier müssen wir unbedingt viel aktiver werden. Man spricht meistens von einer «Kaskadennutzung». Man braucht es beim Bau von Gebäuden, auf dem Bau als Schalungsmaterial und am Schluss kann man es verbrennen. Diese Kaskadennutzung ist auch in Bezug auf das CO2 interessant. Wir müssen viel mehr investieren, um das Holz aus dem Wald herauszuholen und in zentralen Holzschnitzelverfeuerungsanlagen zur Stromgewinnung zu verwerten. Da der Holzpreis im Keller ist, sollten wir uns überlegen, ob wir nicht eine Public Private Partnership aufbauen wollen, bei der der Bund vielleicht einen Teil seiner Überschüsse, die er jetzt jährlich generiert, in solch ein Projekt investiert und zusammen mit der Branche ein gutes Programm auf die Beine stellt.

Herr Nationalrat Egger, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern

«Karl, das kannst du!»

Zur Bedeutung der Lehrer-Schüler-Beziehung

von Carl Bossard

Erwartung ist ein wirkungsstarkes Wort. Nicht als flinke Phrase formuliert, sondern als echtes Feedback artikuliert und mit Lernhilfen intensiviert. Eine pädagogische Grundhaltung ist die Basis.

Sechste Klasse, strenge Zeit! Der Übertritt steht bevor. Doch die Welt hält noch anderes bereit als nur Unterricht. Da ist beispielsweise das Mädchen in der Parallelklasse. Schule wird zur Nebensache; Kraft und Konzentration kanalisieren sich neu. Ich weiss noch, wie ich in dieser Zeit einen schluderig formulierten Text abgegeben habe. Unser Lehrer hat jeden Aufsatz eigenhändig korrigiert – elf in der fünften, elf in der sechsten Klasse – und ihn mit jedem Einzelnen besprochen. Kurz. Klar. Konzentriert. Ich stand vor ihm am Pult. Hinter seiner Strenge leuchtete etwas. Er zeigte mir die Korrektur und sagte lediglich den einen Satz: «Karl, das kannst du!» Mehr nicht.

Lehrererwartungen wirken

Die Aussage traf mich; die wenigen Worte wirkten: Der Lehrer traute mir Besseres zu; er erwartete mehr, als ich im Moment lieferte. Unbewusst nahm ich wahr: Er wollte den Brotkorb hoch hängen, damit sich mein geistiger Hals recke. Und er traute es mir zu; er vertraute mir. Vertrauen ist der Anfang von allem. Auch in der Pädagogik – in diesem subtilen intersubjektiven Geschehen zwischen Lehrpersonen und ihren Kindern und Jugendlichen. Vertrauen, dieses kleine Wort mit neun Buchstaben, ist gebunden an Glaubwürdigkeit. Es bedarf kaum vieler empirischer Daten, um zu erkennen, welchen Einfluss das Vertrauen und die damit verknüpfte Glaubwürdigkeit im menschlichen Miteinander haben.

Glaubwürdigkeit als Kern einer intakten Lehrer- Schüler-Beziehung

Ohne Glaubwürdigkeit sind Kooperation und Kommunikation nur erschwert möglich. Das haben viele schon erfahren. Darum überrascht es nicht, dass John Hatties wegweisende Studie dem Faktor «Glaubwürdigkeit» der Lehrperson eine der höchsten Effektstärken zuordnet¹. Ihre Glaubwürdigkeit beeinflusst den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler positiv. Viele Daten zeigen es.

Glaubwürdigkeit basiert auf ehrlichem, intensivem Feedback und klarer, konkreter Sprache. Beiden Aspekten kommt – nicht überraschend – ebenfalls ein grosser Wirkwert zu. Klarheit braucht pädagogischen Mut. Fehler beschönigen oder sie gar verschweigen versperrt Lernwege und schwächt das Vertrauen. Die Lernenden wissen meist um ihre Schwächen; sie können sie aber nicht präzis benennen. Oberflächliches Feedback kratzt darum an der Glaubwürdigkeit der Lehrperson. Eine differenzierte, sachlich unerbittliche Rückmeldung, menschlich wohlwollend und zuversichtlich formuliert, stärkt die Lehrer-Schüler-Beziehung.

Lernen braucht intakte Beziehungen

Mein Text aus der sechsten Klasse war schlampig verfasst; irgendwie wusste ich es. Doch der Lehrer sagte nicht: «Das ist unbrauchbar! Das kannst du nicht!» Er verwies mich lautlos auf die Korrektur und meinte nur: «Karl, das kannst du!»

Wie Rückkoppelungen formuliert werden und wirken, ist wissenschaftlich gut untersucht.² Entscheidend im Feedback-Verhalten sind Sprache und Ausdruck. Spürt die Schülerin die Zuversicht der Lehrperson? Erfährt der Schüler eine wertschätzende Haltung des Vertrauens und Zutrauens? Erkennt der junge Mensch die Differenz zwischen Sein und Sollen? Und weiss er, was der Lehrer von ihm erwartet?

Unterricht ist im Kern Beziehungsarbeit

Lernen braucht eine intakte Lehrer-Schüler-Beziehung und eine angstfreie, lernförderliche Atmosphäre der Zuversicht. Der Schlüssel dazu ist die Glaubwürdigkeit der Lehrperson. Das alles sind keine neuen Erkenntnisse.

Neu ist die viel höhere Effektgrösse, die John Hattie heute dem Faktor «Lehrererwartung» zuordnet, dies im Vergleich zu seiner Ursprungspublikation von 2009.³ Zahlreiche zusätzliche Studien bestätigten in der Zwischenzeit, wie wichtig dieser Aspekt ist.

Sie verstärkten den Wirkwert der Lehrererwartung. Das lässt aufhorchen.

Pygmalion-Effekt mit Langzeitwirkung

Bekannt geworden ist dieser Effekt durch die berühmte Studie «Pygmalion im Unterricht» von Robert Rosenthal und Leonore F. Jacobson.⁴ Die beiden Forscher wiesen 1968 nach: Wenn Lehrpersonen ein positives Bild von Lernenden haben und viel von ihnen erwarten, fördern sie diese Jugendlichen stärker als deren Mitschülerinnen und Mitschüler. Das zeigt sich beispielsweise an der Intensität der Zuwendung oder an der Geduld bei Lernprozessen. Winfried Kronig, Professor für Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Freiburg i. Üe., konnte nachweisen, dass die Erwartungshaltung der Lehrperson aus der zweiten Klasse die Leistung in der 6. Klasse noch immer beeinflusst – dies über eine Zeitachse von vier Schuljahren.

Der Pygmalion-Effekt zählt zu den bestuntersuchten pädagogischen Wirkfaktoren. Prototypisches Beispiel ist der Phonetiker Higgins im Musical «My Fair Lady», verfilmt mit Audrey Hepburn und Rex Harrison. Higgins glaubt an das Blumenmädchen Eliza Doolittle und traut ihr das blütenreine Oberklassen-Englisch zu. Eliza schafft es und besteht beim Ball des Botschafters als angebliche Herzogin.

Sich der Erwartungen an die Schüler bewusst sein

Umgekehrt lässt der Pygmalion-Effekt auch den Schluss zu, dass gleichgültige oder gar negative Lehrererwartungen zu schwächeren Lernleistungen führen können. Darum müssen sich Lehrinnen und Lehrer ihrer Erwartungshaltung bewusst werden.

Die «self-fulfilling prophecy», die selbsterfüllende Prophezeiung, gilt für positive wie für negative Erwartungen.

Ob unser 5./6.-Klasslehrer den Phonetikprofessor Higgins gekannt hat, weiss ich nicht. Der Film erschien jedenfalls erst nach meiner Primarschulzeit. Ich weiss nur: Er erwartete eine bessere Lernleistung und traute sie mir zu. Mein Primarlehrer wirkte – im positiven Sinne. Noch heute höre ich seinen Satz: «Karl, das kannst du!»

 

Quelle: www.journal21.ch/karl-das-kannst-du

¹ John Hattie und Klaus Zierer (2017), Kenne deinen Einfluss! «Visible Learning» für die Unterrichtspraxis. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 81.
² John Hattie, Gregory C.R. Yates (2015), Lernen sichtbar machen aus psychologischer Perspektive. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von «Visible Learning and the Science of How We learn», besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 295ff.
³ John Hattie und Klaus Zierer (2018), VISIBLE LEARNING. Auf den Punkt gebracht. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 128.
⁴ Robert Rosenthal und Leonore Jacobson: Pygmalion im Unterricht. Lehrererwartungen und Intelligenzentwicklung der Schüler (übersetzt von Ingeborg Brinkmann [u. a.]). Weinheim/Berlin/Basel. Beltz Verlag, 1983

Zurück