«Mit dem Zertifikat wird diese Zweiteilung der Gesellschaft noch vorangetrieben»

«Indem wir die Ungeimpften an den Pranger stellen, schaffen wir Sündenböcke»

Interview mit Professor Dr. Michael Esfeld*

Professor Dr. Michael Esfeld (Bild zvg)
Professor Dr. Michael Esfeld (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Sie haben sich in einem Leserbrief in der NZZ dahingehend geäussert, dass von dem Corona-Virus keine Gefahr für die Allgemeinbevölkerung ausgehe. Wie meinen Sie das?

Professor Dr. Michael Esfeld Wenn man sich die Statistik anschaut, kann man die Infektionssterblichkeitsrate ableiten. Man versucht herauszufinden, wieviele Menschen wirklich infiziert sind. Da bekanntlich nur ein Teil getestet wird, macht man das mit kontrollierten Studien. Man nimmt einen repräsentativen Teil der Bevölkerung, führt dazu Stichproben durch und stellt fest, wie viele Menschen Antikörper haben. So kann man herausfinden, wie viele Leute eine Infektion durchgemacht haben. Das vergleicht man mit den Spitaleinweisungen und Todesfällen.

Ist das ein übliches Verfahren, und was sagen die Zahlen?

So weit mir bekannt, stellt man in der Epidemiologie so fest, wie gefährlich eine Epidemie ist. Weltweit kommt man auf eine Infektionssterberate von etwa 0,15 % bis 0,3 %. Man hat in den westlichen Ländern eine Sterblichkeit von unter 0,5 %. Man kann diese Zahlen jetzt mit anderen Epidemien vergleichen wie z. B. mit der Hong-Kong-Grippe Ende der 60er Jahre oder der Asiengrippe Mitte der 50er Jahre. Die heutige Epidemie ist nicht schlimmer als diese früheren. In der Corona-Pandemie ist zudem die Altersverteilung eine ganz andere: Statistisch gesehen steigt die Infektionssterblichkeit ab dem 70. Altersjahr steil an, und in der Altersgruppe darunter ist sie sehr flach. Das heisst, für die normalen Menschen unter 70 ist kein Risiko vorhanden, es liegt unter 0,1 %.

Was heisst das jetzt für die Höhe des Risikos?

Es ist ein vernachlässigbares Risiko. Es besteht dadurch keine Gefahr für die Allgemeinbevölkerung.

Was sind dann die Ursachen, dass es dennoch zu schweren Krankheitsverläufen kommen kann?

Tatsache ist, dass es zu schweren Krankheitsverläufen kommt. Es sterben Menschen daran. Wenn man auf die Zahlen der Schweiz im letzten Jahr schaut, dann sieht man, dass bis zum Alter von 70 bzw. 80 nicht mehr Menschen gestorben sind als sonst. Es sterben bekanntlich auch Menschen unter 70 Jahren, aber da besteht keine Übersterblichkeit. Hier gibt es nichts signifikant Auffallendes. Bei denjenigen über 80 sind ungefähr 15 % – 20 % mehr als sonst gestorben. Das entspricht den Zahlen, wie sie z. B. aus Grossbritannien und den USA vorliegen. Deutschland hatte offenbar keine Übersterblichkeit.

Was kann man daraus ableiten?

Dass die 80jährigen und diejenigen, die älter sind, ein höheres Risiko tragen. Was hier aber ganz entscheidend ist, ist der Zustand des Immunsystems von jedem einzelnen. Je älter wir werden, umso schwächer wird unser Immunsystem. Dazu kommt auch der individuelle Gesundheitszustand. Der ist in den USA bei vielen Menschen nicht sehr gut. Das hängt unter anderem mit schlechter Ernährung zusammen, die zum Teil auch zu einer starken Übergewichtigkeit führt. Und diese Menschen sind stärker betroffen, weil das Immunsystem dadurch geschwächt ist. Dagegen könnte man sicher etwas tun. Es gibt aber auch Menschen, die grundsätzlich ein schwaches Immunsystem haben, und hier ist es natürlich schwieriger, etwas dagegen zu unternehmen.

Es ist also von verschiedenen Faktoren abhängig

Ja, von der Stärke des Immunsystems, dem Alter, dem individuellen Gesundheitszustand und dem bestehenden Gesundheitswesen. Hier kann man sagen, dass es den Menschen, die in einem Land mit einem guten Gesundheitssystem leben, besser geht so wie z. B. in der Schweiz oder anderen westeuropäischen Staaten. Schlechter steht es um die südeuropäischen Staaten, aber auch um die USA. Noch etwas, was ebenfalls Bedeutung hat, ist die soziale Schicht und die wirtschaftliche Stellung der Menschen. Wenn man in den USA die Afroamerikaner und die Weissen in der gleichen Altersgruppe vergleicht, dann ist das Durchschnittseinkommen der Afroamerikaner niedriger, und das Gefälle manifestiert sich auch in den Corona-Statistiken. Auch Migranten sind eher betroffen, und zwar weil sie zu den ärmeren Schichten gehören. Man sieht also ganz klar keine Korrelation mit den so genannten Corona-Schutzmassnahmen, sondern ist abhängig von den erwähnten Faktoren. In den USA, wo man die meisten Daten hat, die oft sehr gut aufgeschlüsselt sind, lässt sich das ganz deutlich erkennen.

Das sind doch sehr interessante Zusammenhänge, die man bisher kaum thematisiert

Ja, weil das untergeht und man ein Mass für alle macht und die ganze Gesellschaft mit Massnahmen drangsaliert, um das Virus in den Griff zu bekommen. Aber so erreicht man es nicht, weil es von Faktoren abhängig ist wie wirtschaftlicher und sozialer Stellung sowie des individuellen Gesundheitszustands.

Das heisst doch, man müsste viel mehr Engagement in diese Aspekte stecken, um die Volksgesundheit zu erhöhen.

Ja, man müsste da ansetzen, das thematisieren, aufklären und ändern. Zunächst muss jeder auf sein Immunsystem achten, und zwar in dem Masse, wie er das kann, und die Lebensweise anpassen. Auch dürfen wir die Mittel nicht verschwenden für «Lockdowns», sondern schauen, dass der technische, wirtschaftliche und soziale Fortschritt, den wir in den letzten Jahrzehnten erzielt haben, weiter ausgebaut wird und wir auf diesem Weg weitergehen. Das Schlimme ist, dass wir den Weg gerade untergraben, und ich befürchte, dass wir in den nächsten 10 Jahren einen wirtschaftlichen Knick erleiden werden, was zu sozialen Spannungen in vermehrtem Masse führen wird.

Im Moment ist bereits eine grosse Spannung in der Gesellschaft, die weniger sozialen Ursprungs ist als vielmehr das Resultat der Stimmung, die gegen diejenigen aufgebaut wird, die mit den staatlichen Massnahmen oder der einseitig betonten Impfung nicht einverstanden sind, und das wahrscheinlich aus unterschiedlichen Gründen. Empfinden Sie das auch so und was bedeutet das?

Das ist sehr gefährlich und erinnert an frühere Zeiten, als man für irgendeine Krise oder ein Unglück einen Schuldigen gesucht hat, irgendwelche Sündenböcke. Heute sollten wir doch so weit aufgeklärt sein und ein Bewusstsein für die Würde des Menschen haben, dass so etwas nicht mehr passieren kann. Und das ist schlimm und natürlich völlig falsch. Wenn wir nochmals die USA anschauen: Dort haben wir die verschiedenen Bundesstaaten. Die ländlich republikanisch regierten haben eine niedrige Impfquote, demokratisch regierte Staaten eine höhere. Wenn die Story stimmt, dann müssten in den Staaten, in denen die Impfquote hoch ist, deutlich weniger Krankheiten und Todesfälle auftreten als in Staaten mit niedriger Impfbeteiligung.

Sie sagen «müsste», ist das nicht so?

Das sieht man so eindeutig nicht. Man erkennt nur eine schwache Korrelation. Es zeigt sich, dass die Impfquote nur ein Faktor ist, der dazu führen kann, dass weniger Spital- und Todesfälle auftreten. Es ist nicht der entscheidende und bei weitem nicht der einzige Faktor. Viren treten auf und verschwinden wieder, meist in Wellen. Das ist so, aber welche Wirkung sie haben, hängt von den eben genannten Faktoren ab. Wenn man eine Momentaufnahme macht, in einem Spital nachfragt und dort im wesentlichen Ungeimpfte liegen, muss man erst einmal überprüfen, ob das ein repräsentativer Ausschnitt ist. Wenn das Spital, wie es jetzt in der Schweiz geschieht, nur die Ungeimpften systematisch testet und die Geimpften nicht, dann ist es trivial, dass man fast nur Ungeimpfte mit Corona-Nachweis findet. Um einen repräsentativen Ausschnitt zu bekommen, müsste man die Länder betrachten, die eine höhere Impfquote haben als die Schweiz wie z. B. Israel, und das dann vergleichen. In Grossbritannien ist es so, dass an der Delta-Variante auch Geimpfte sterben, und die Sterblichkeit bei Geimpften und Ungeimpften ungefähr im Verhältnis zur Impfquote in der Bevölkerung liegt.

Wie sieht das denn in der prozentualen Verteilung aus?

Wenn fast alle geimpft sind, müsste es vorbei sein. Das stimmt so nicht. Man sieht dort, wo man alle Leute geimpft hat, dass es nicht vorbei ist. Der gesunde Menschenverstand müsste sagen. Halt, indem wir die Ungeimpften an den Pranger stellen, schaffen wir Sündenböcke. Man hatte gehofft, mit der Impfung sei die Pandemie vorbei, was sehr wünschenswert gewesen wäre, aber nicht der Realität entspricht. Jetzt sucht man wie in archaischen Zeiten Sündenböcke. Das sollte in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht vorkommen. Es ist sehr beunruhigend, dass Wissenschaftler oder auch Zeitungen, die als seriös gelten und keinen Sensationsjournalismus betreiben, das alles mitmachen. Auch Politiker, die in der Verantwortung stehen, bis hin zu den Bundesräten, die das Volk repräsentieren sollen und dafür sorgen müssten, dass es zu keiner Spaltung der Gesellschaft oder im schlimmsten Fall zu bürgerkriegs­ähnlichen Zuständen kommt, wägen die Dinge nicht ab und bringen so auch keine Ruhe und Besonnenheit in die Diskussion. 

Eine grosse Skepsis besteht …

Die Skepsis wird durch die bedingte Zulassung des Impfstoffs genährt. Das heisst, man weiss nichts über langfristige Schäden. Ich kann auf keinen Fall etwas über Gefahren und Risiken sagen, die dabei entstehen können, denn ich weiss es nicht, und kann das gar nicht einschätzen. Das weiss niemand, aber das müsste man ehrlicherweise sagen. Es gibt bis jetzt keine Studien dazu, und daher haben die Impfstoffe nur eine bedingte Zulassung. Und wenn das der Fall ist, ist es eigentlich klar, dass man keinen Druck ausüben darf.

Wie muss man die «bedingte» Zulassung verstehen?

Der Impfstoff ist für eine Notsituation zugelassen. Also für jemanden, der akut durch Corona gefährdet ist, der ein im Alter schwaches Immunsystem oder eine akute Immunschwäche besitzt, ist es sicher gut, dass es eine Impfung gibt. Aber wenn jemand nicht gefährdet ist, muss er sich frei entscheiden können, ob er sich impfen lassen will oder nicht. 

Gibt es Beispiele von negativen Auswirkungen

Ja, wir hatten diese Beispiele bereits bei der Schweinegrippe. Hier bestand die Angst vor einer Pandemie. Man hatte einen Impfstoff entwickelt, der grosse Schäden verursachte. Ich will damit nicht sagen, dass das wieder passieren wird, aber wir haben keine empirische Evidenz, wie sich die Impfung langfristig auswirkt. Unter diesen Umständen darf doch niemand zur Impfung gezwungen oder sozial ausgegrenzt werden. Stellen wir uns einmal vor, es gibt Langzeitschäden, besonders unter den jungen Leuten, und die Stimmung dreht, dann werden die Geimpften als Belastung für das Gesundheitswesen diffamiert und ausgegrenzt. So können wir doch nicht miteinander umgehen! Das geht nicht. Man muss doch respektieren, dass jeder seine Entscheidung fällt aufgrund der Lebens- und Berufssituation, des Alters, des familiären Umfelds etc.

Die Verträge zwischen Biontec/Pfizer und der Bundesrepublik Deutschland, die geleakt wurden, bestätigen, dass man bis jetzt keine Kenntnisse über mögliche Nebenwirkungen hat, die Firmen müssen aber auch keinerlei Haftung übernehmen. Das Risiko trägt der Staat, sprich der Steuerzahler.

Da geht es doch ganz klar um wirtschaftliche Interessen. Wenn ein Unternehmen ein Produkt auf den Markt bringt, dann verdient es daran etwas und macht Gewinn. Das ist auch grundsätzlich in Ordnung. Es kann aber nicht sein, dass die Gewinne privat bleiben, während die ganze Gesellschaft für die Risiken haften muss. Dann bitte richtigen Sozialismus, das heisst, es darf auch kein Gewinn gemacht und die Unternehmen müssen verstaatlicht werden. Da stimmt doch etwas nicht. Wenn die Sache einwandfrei wäre, hätten wir eine «normale» und keine bedingte Zulassung, und selbstverständlich haftet dann der Hersteller für sein Produkt.

Das stärkt kaum das Vertrauen der Menschen in die Gesundheitspolitik.

Nein, und es kann nicht sein, dass man die Vorsichtigen zum Sündenbock macht. Wir alle müssen eine Krankenversicherung abschliessen. Das Gesundheitssystem steht allen offen. Wenn jemand Raucher ist und mit Lungenkrebs ins Spital kommt, wird er doch behandelt, auch wenn man der Meinung sein kann, dass sein Verhalten unvernünftig war. Es würde doch keiner auf die Idee kommen, diese Menschen nicht mehr zu behandeln. Wenn ein Bergsteiger abstürzt, rückt ein Rettungstrupp aus und sucht den Verunfallten, um ihn in Spitalpflege zu bringen, auch wenn man sagen kann, das war völlig leichtsinnig und die Rettung und Behandlung kostet Unsummen. Er wird selbstverständlich medizinisch versorgt und gesund gepflegt. Selbst wenn man findet, dass Ungeimpfte sich irrational verhalten, kann man genauso sagen, dass Raucher, Fehlernährte, Bergwanderer, Extremsportler, Autofahrer, Skifahrer etc. sich unvernünftig verhalten und somit nicht mehr behandelt werden sollten. Wo kommen wir denn da hin?

Das ist völlige Willkür und schadet dem Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.

Man kann irgendwelche Bevölkerungsgruppen willkürlich herausgreifen und sie als soziale Schädlinge bezeichnen. Das zerstört das Zusammenleben. Das ist das Schlimme daran. Mit dem Zertifikat wird diese Zweiteilung der Gesellschaft noch vorangetrieben und diese beschriebenen Tendenzen noch verstärkt. Das geht nicht. Wenn die einen ihre Freiheiten bekommen und die anderen nicht, dann ist das ein totalitärer Staat, und zu dieser Aussage stehe ich auch. 

Könnten Sie das bitte noch etwas genauer erklären?

Aus irgendwelchen Gründen mag ich meinen Nachbarn nicht und zeige ihn an. Dann muss ich doch nachweisen, dass der Nachbar etwas Unrechtes getan hat und nicht umgekehrt. Jetzt ist es aber so, jeder muss gegenüber dem Staat nachweisen, dass er konform ist. Das ist doch eine Umkehrung der Beweislast. Das darf nicht sein. Wenn ein Verdacht besteht, dass jemand infiziert ist, weil er hustet und schnupft, dann kann man diesen zum Kantonsarzt schicken, damit er untersucht wird, bevor er alle anderen ansteckt. Dann besteht ein konkreter Verdachtsfall und darauf kann man reagieren. Aber nicht kollektiv alle bestrafen, die nichts getan haben. Man darf nicht Menschen unter Generalverdacht stellen und sagen, jetzt müsst ihr euch erst reinwaschen. In der DDR konnte jeder studieren, der in der Partei war. Natürlich stand es jedem frei, in die Partei einzutreten oder nicht. Aber das Studieren war eingeschränkt, ausser man hat sich als Mitglied der Partei zum Sozialismus bekannt. So kommt mir das vor. Man muss sich zu dem Zertifikat bekennen und sich erst einmal vor den staatlichen Autoritäten reinwaschen. Dann darf man ins Restaurant eintreten. Das ist für einen Rechtsstaat unakzeptabel, der sich gerade dadurch auszeichnet, dass er die Grundrechte garantiert und sie nur dann einschränkt, wenn sich jemand so verhält, dass er die Rechte anderer verletzt oder die Mitmenschen bedroht, belästigt oder ähnliches.

Die Argumentation ist heute so, dass der Ungeimpfte die Freiheit des Geimpften einschränke.

Aber das tut er nicht. Solange der Ungeimpfte symptomlos ist, geht von ihm keine konkrete Gefahr aus. Das ist bekannt. In Schulen, Restaurants, aber auch beim Sport finden die Ansteckungen in der Regel nicht statt. Wenn jemand keine Symptome hat, ist er auch keine Virenschleuder. Wenn er Symptome hat, ist es etwas anderes. Wenn er symptomlos in ein Pflegeheim geht, dort, wo Menschen besonders geschwächt sind, ist es sinnvoll, einen Test zu machen, damit man vulnerable Personen nicht gefährdet. Hier kann das Altersheim oder das Krankenhaus Tests anbieten oder ein Zertifikat verlangen, aber doch nicht in einem Restaurant oder an der Universität. 

Man hat den Eindruck, dass hier mit wenig Fakten und Beweisen gearbeitet wird.

Das Ganze ist aber willkürlich, weil gar nicht klar ist, ob Geimpfte nicht auch andere anstecken können. Das ist bis heute nicht geklärt. Auch sind die Tests unsicher. Von dem PCR-Test weiss man, dass er nicht für diagnostische Zwecke entwickelt wurde. Auch die Frage, wer jetzt als genesen gilt, ist nicht geklärt. Auch hier sind die Kriterien völlig willkürlich, wahrscheinlich könnten alle, die immun sind oder Antikörper haben, als genesen gelten. Ob geimpft gleichzusetzen ist mit ungefährlich, ist unklar, denn auch unter den Geimpften breitet sich das Virus aus. Z. B. in Israel sieht man, wie trotz hoher Impfquote die Menschen in die Spitäler kommen. Genesen muss nicht heissen PCR-Test positiv. Die Wissenschaft sucht nach Wahrheit, aber wir sind nicht Allwissende, sondern wir sind immer auf der Suche, indem wir neue Hypothesen entwickeln und diese falsifizieren oder verifizieren. Gefährlich ist es, wenn man so tut, als ob das absolute Standards seien. Es ist immer eine Momentaufnahme. Die Wissenschaft arbeitet daran und die Kenntnisse werden sich verbessern, manches wird sich ändern, man wird wie immer Fehler finden. Irrtümer werden erkannt, man darf das alles nicht absolut setzen. Schon gar nicht darf man dem normativ einen ethischen Status geben. Das ist völlig falsch.

Werden mit diesen Massnahmen und dem Zertifikat nicht Menschenrechtsstandards verletzt?

Doch, es ist ein Verstoss gegen die Gleichbehandlung der Menschen in der Bundesverfassung, gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die gar keine Ungleichbehandlung zulässt. Was die Impfstoffe anbetrifft, ist es offenbar auch ein Verstoss gegen den Nürnberger Kodex. Ich bin kein Jurist, aber dabei geht es darum, dass man Medikamente, die noch nicht letztlich erprobt und zugelassen sind, nicht der gesamten Menschheit aufdrängt. Ein Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass er die Menschenrechte res­pektiert, das heisst die Grundrechte, die Würde und die Selbstbestimmung von jedem. Das tun wir nicht mehr.

Sehen Sie das als Trend?

Was Deutschland anbetrifft, bin ich der Meinung, dass es in mancherlei Hinsicht kein Rechtsstaat mehr ist, weil auch die Gerichte bis hin zum Verfassungsgericht ihre Aufgabe der Kontrolle der Politik nicht mehr richtig wahrnehmen oder wahrnehmen können. Für die Schweiz würde ich das so nicht sagen. Aber mit der Zertifikats-Geschichte bewegen wir uns ziemlich weit weg vom Rechtsstaat. «Die Weltwoche» hat meinen Artikel getitelt «Politik gegen den Rechtsstaat». Das stimmt leider. Die Eidgenossenschaft hat eine lange Tradition, und diese beruht darauf, dass man sich gegenseitig respektiert. Dazu gehören die individuelle Vielfalt und die Vielfalt der Kulturen und Sprachen in der Schweiz. Man hat immer eine Basis für ein gemeinsames Zusammenleben gehabt, dazu gehören die Freiheit, die Grundrechte, die Partizipation, der Föderalismus. Man löst die Probleme auf der Ebene, auf der sie auftreten. Am besten im direkten Gespräch mit den Betroffenen an der Gemeindeversammlung oder an anderen Orten, wo das möglich ist. Es ist nicht üblich, von oben nach unten die Dinge durchzusetzen, wie das jetzt der Bundesrat macht. Das Vorgehen ­widerspricht nicht nur den Grund- und Menschenrechten, sondern auch der Grundlage, auf der die Eidgenossenschaft seit Jahrhunderten basiert. Das zerstören wir, wenn wir so miteinander umgehen.

Gerade das Erfolgsmodell Schweiz mit ihrer direkten Demokratie hat eine ganz andere Tradition und Kultur, die eben nicht top-down ist.Um so störender sind die massiven Eingriffe. Man behauptet jedoch, dass die Anwendung des Covid-Zertifikats jetzt die «Rückkehr zur Normalität» sei. Wie sehen Sie das?

Das ist keine Normalität, wenn ein Teil ausgeschlossen wird. Wenn man eine neue Situation hat, versucht man möglichst, alle anzuhören und gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Es kann doch nicht sein, dass eine Gruppe sich mit moralischer Überheblichkeit gegenüber anderen durchzusetzen versucht. So geht das Bewusstsein verloren, wie man miteinander umgeht. Man muss sich überlegen, was läuft hier eigentlich ab. Wir haben keinen Krieg und selbst im Kriegsfall würde man so nicht miteinander umgehen.

Gibt es nicht auch Länder, die das anders handhaben?

Ja, z. B. die skandinavischen Länder, sie haben alles geöffnet, auch Grossbritannien hat das getan. Die Schweiz könnte sich so wie die skandinavischen Demokratien verhalten oder wie auch einige Bundesstaaten in den USA. Es ist vor allem die Biden-Administration, die hier völlig über das Ziel hinausschiesst. Die meisten Bundesstaaten in den USA sind völlig offen, ohne Einschränkungen. Der Plan in der Schweiz war: Wenn das Impfangebot für alle besteht, können sich alle, die das möchten, impfen lassen. Damit sind sie geschützt und diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen, tragen das Risiko der Infektion. Das Schutzangebot ist für alle vorhanden, und wer sich nicht schützen will, trägt das Risiko selbst. Es gibt keinen Grund, weiter auf der Schiene zu fahren und die Menschen zu drangsalieren. Doch das Zertifikat wird eingeführt, ohne dass erklärt wird, wie lange das noch andauern soll. Der Bundesrat lässt alles offen und gibt keine klaren Vorgaben, ab wann man wieder auf das Zertifikat verzichten kann. Das ist einer Demokratie nicht würdig.

Herr Professor Esfeld, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* Michael Esfeld, seit 2002 Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne, seit 2009 Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften, 2008 Preis der cogito foundation für den Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, 2013 Forschungspreis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Hauptarbeitsgebiet ist das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften. Letzte Buchpublikationen: Wissenschaft und Freiheit. Das naturwissenschaftliche Weltbild und der Status von Personen. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2019. Mit Christoph Lütge: Und die Freiheit? Wie die Corona-Politik und der Missbrauch der Wissenschaft unsere offene Gesellschaft bedrohen. riva 2021.

Die Diskrepanz zwischen der Realität und ihrer Darstellung in den Medien

Zu Michael Lüders’ neuem Buch «Die scheinheilige Supermacht»¹

von Andreas Kaiser

Gleich zu Beginn des Buches im Vorwort steht ein bemerkenswerter Satz: «Auch Präsident Biden wird, wie jeder seiner Vorgänger seit dem Zweiten Weltkrieg, Militär und Geheimdienste weltweit einsetzen, nötigenfalls Kriege führen zur Wahrung der eigenen Vormachtstellung.» (S. 11) Damit ist die aktuelle US-amerikanische Aussenpolitik zutreffend charakterisiert.

Wie diese Politik funktioniert, wie sie gerechtfertigt und der Bevölkerung (nicht nur in den USA) auch mit Hilfe der Medien als «Einsatz für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte» (S. 11) verkauft wird, davon handelt die neueste Analyse des Publizisten und Islamwissenschaftlers Michael Lüders. 

Michael Lüders weist überzeugend nach, dass die imperiale Grossmacht USA, die nach eigenen Angaben ausserhalb ihres eigenen Territoriums an die 750 (!) Militärstützpunkte unterhält², vorallem – wie alle Imperien vor ihr – ihre eigenen Machtinteressen verfolgt und auf Kosten anderer durchzusetzen versucht. «Keine Kolonialmacht hat jemals Widerstand gegen die eigene Vorherrschaft geduldet» (S. 46), schreibt der Autor an einer Stelle. Machtpolitik aber fordert stets unzählige Opfer und verlangt daher Rechtfertigung. Dafür bedient man sich der Manipulation der öffentlichen Meinung. Resultat dessen ist eine Diskrepanz zwischen Realität und Darstellung dieser Realität in den Medien. Die beiden «Erfinder» dieser Vorgehensweise, der Journalist Walter Lippmann (1889–1974) und der Psychologe Edward Bernays (1891–1995), werden in ihrem Wirken vorgestellt. Es wird deutlich, dass die von ihnen beschriebenen Methoden – heute zur Perfektion getrieben – immer noch angewendet werden und erschreckend wirksam sind. Daraus ergibt sich Lüders’ Fragestellung, wie es gelingt, «eine neo-imperiale Agenda medial so zu inszenieren, dass diese Inszenierung gar nicht erst als solche wahrgenommen wird, sondern vielmehr als Verteidigung höherer Werte daherkommt, der Eindämmung eines als irrational und fanatisch wahrgenommenen Akteurs, der Wahrung der Menschenrechte?» (S. 47)

Präsident Wilsons Problem

Walter Lippmann – heute nahezu vergessen – war einer der einflussreichsten Journalisten des 20. Jahrhunderts. Im Jahr 1917, mitten im 1. Weltkrieg, hatte US-Präsident Wilson ein Problem. Die Mehrheit der Amerikaner zeigte im Gegensatz zu ihrem Präsidenten kein Interesse an einem Kriegseintritt ihres Landes, und so musste Wilson dafür sorgen, dass die öffentliche Meinung eine andere Richtung bekam. Dazu liess er das «Committee on Public Information (CPI)» ins Leben rufen, dem es gelang, mit einer Kriegspropagandawalze, wie es sie in diesem Ausmass in der Vergangenheit noch nie gegeben hatte, innert «weniger Wochen und Monate eine gesamte Bevölkerung dermassen effizient und zielgerichtet zu beeinflussen, dass sie begeistert in diesen Krieg […] zog oder ihn doch überwiegend unterstützte […]». (S. 48) Lüders stellt die umfangreichen Propagandamassnahmen ausführlich dar, die im Kern auf Wilsons berühmt gewordenen Worten «a war to end all wars», «to make the world safe for democracy» beruhen. (S. 48) Vermutlich stammt der Satz aus Lippmanns Feder. Er war Mitbegründer des CPI und ein Verfechter dieser Politik. 

Die weitere Argumentation wird kaum überraschen: Der Krieg sei den USA aufgezwungen worden, sie müssten sich beteiligen, um weltweit die Demokratie zu verteidigen. Worte, die uns, wenn wir an Afghanistan, Irak, Syrien etc. denken, sehr bekannt vorkommen. Die Welt wird in «gut» und «böse» eingeteilt, und damit ist die Grundlage für alle weiteren Propagandaaktivitäten gelegt. «Öffentlichkeitsarbeit» nennt man das heute. 

Nachfolgeorganisation des CPI wurde 1921 das «Council on Foreign Relations (CFR)». Auch hier war Lippmann an der Gründung beteiligt. Das CFR gehört immer noch «zu den einflussreichsten ‹Denkfabriken› weltweit und [nimmt] massgeblichen Einfluss auf die Gestaltung US-amerikanischer Aussenpolitik.» (S. 50) Publikationsorgan des CFR ist die Zeitschrift «Foreign Affairs». 

Elitendemokratie

Im Jahr darauf erschien Lippmanns wichtigstes Werk «Public Opinion». Mit ihm gab er den Mächtigen einen Leitfaden an die Hand, um die «Herrschaft des Volkes in eine Elitendemokratie zu überführen.» (S. 52) Vereinfacht ausgedrückt behauptet Lippmann, die Lebensrealität auf unserer Erde sei so kompliziert und unüberschaubar geworden, dass wir Menschen in der Regel nicht in der Lage seien, die Komplexität eines Geschehens mit unserer eigenen Lebenserfahrung in Zusammenhang zu bringen. Also reagieren wir, indem wir uns in «eigene Vorstellungswelten zurückziehen». (S. 48)  Lippmann behauptet kühn, «dass alles, was der Mensch tut, nicht auf unmittelbarem und sicherem Wissen beruht, sondern auf Bildern, die er sich selbst geschaffen oder die man ihm gegeben hat.»3 Diese Bilder nun sollen politisch nutzbar gemacht werden, womit Lippmann eine Elitenherrschaft vorschwebt, «in der herausragende […] Persönlichkeiten […] in den Bereichen Erziehung, Bildung, Wirtschaft, Kultur, Politik die ‹Bilderwelten› so beeinflussen, dass die breite Masse ihren Vorgaben wohlwollend und widerspruchslos folgt.» (S. 54)

Rauchen ist gesund

Sein Bruder im Geiste, Edward Bernays, wird noch deutlicher: «Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft.»4 Bernays ist mit erfolgreichen kommerziellen Werbekampagnen berühmt geworden. So erzielte er u. a. mit dem Anpreisen der Zigarettenmarke «Lucky Strike» als Lifestyle-Produkt einen schier unglaublichen Erfolg. Er spannte Ärzte ein, «die in der Öffentlichkeit rauchend erklärten, wie gesund das Rauchen doch sei» (S. 62) und Schauspieler, die als Vorbilder der Masse den neuen Lifestyle vorlebten. Resultat: «Innerhalb nur eines Jahres, 1928, erhöhte sich der Umsatz von American Tobacco um 32 Millionen Dollar.» (S. 62) Heute wären das mehrere Hundert Millionen Dollar.

Es verwundert nicht, dass sich Bernays auch politisch einspannen liess, denn es handelt sich um dieselbe Methode, ob man Zigaretten als gesundheitsfördernd oder «einen Militärputsch als Freiheitskampf gegen den Kommunismus verkauft.» (S. 63) 

Militärputsch in Guatemala

Das eben geschah z. B. in Guatemala im Jahr 1954, als unter Federführung der CIA der demokratisch gewählte Präsident, Jacobo Arbenz Guzmán, gezwungen wurde, ins Exil zu gehen. Arbenz’ auslösendes «Vergehen» bestand darin, ein Stück brachliegendes Land, das der United Fruit Company (UFC), einem der grössten Unternehmen der USA, gehörte, zu enteignen, um es an besitzlose Landarbeiter zu verteilen. Nach dem Putsch wurden sogleich alle Sozialreformen rückgängig gemacht, und die UFC bekam «ihr» Land zurück. Es folgte ein 40 Jahre dauernder Bürgerkrieg mit über 200 000 Toten. 

Bernays hatte zuvor den Auftrag bekommen, das Image der UFC, die stets durch brutales Geschäftsgebaren auffiel, mit den übelsten Diktatoren paktierte und die Landarbeiter in sklavenähnlichen Zuständen hielt, aufzubessern. Zu diesem Zweck lud er «ausgewählte Journalisten zu Reportage-Reisen nach Zentralamerika ein.» (S. 64) Die «New York Times» vor allem brachte unzählige Artikel, die den Interessen der UFC entsprachen. Nachdem in Guatemala ab 1951 der später gestürzte Präsident Arbenz umfassende Sozialreformen begonnen hatte, kannte Bernays kein Halten mehr. Er organisierte u. a. ein monatelanges mediales Feuerwerk, das auf die US-amerikanische Öffentlichkeit niederging und eigentlich nur eine einfache Botschaft verbreitete: In Guatemala bedrohe der «Sowjetkommunismus» der Regierung Arbenz den «American way of life».

Katalysator war zur gleichen Zeit die Verstaatlichung der iranischen Erdölindustrie unter dem demokratisch gewählten Präsidenten Mossadegh, die für die US-amerikanische Macht- und Wirtschaftselite zum Alptraum wurde. Auch Mossadegh wurde durch einen von den Geheimdiensten der USA und Grossbritanniens propagandistisch vorbereiteten und begleiteten, minutiös geplanten und durchgeführten Putsch 1953 aus dem Amt entfernt.

Drehbuch der Machteliten

Lüders’ Fazit ist eindeutig: «Das Beispiel Guatemala zeigt, wie Medienbilder entstehen und politisch instrumentalisiert werden. Und es illustriert, nach welchem Drehbuch die politischen und wirtschaftlichen Machteliten eines Imperiums nötigenfalls handeln, sobald sie ihre Interessen bedroht sehen – Wahlen hin oder her. Dass dabei ein ganzes Land in den Abgrund gestürzt wird, in diesem Fall Guatemala, wen ficht es an?» (S. 68)

Auf ca. 270 Seiten breitet der Autor ein historisch-politisches Panorama aus, das jenseits aller Propaganda Täter und Opfer benennt. Sehr viele eindrucksvolle Beispiele belegen, dass die Beeinflussungsmethoden sich seit ihren Anfängen mit Lippmann und Bernays eigentlich nie geändert haben; allerdings wurden und werden sie ständig verfeinert. Heute sehen wir uns einem medialen Propagandasperrfeuer bezüglich Iran, Russland und China ausgesetzt. Alle drei sind Mächte, die sich aus guten Gründen nicht dem US-amerikanischen Imperium zu unterwerfen gedenken und deshalb auf die Abschussliste der transatlantischen Machteliten geraten sind. Um «unsere» Werte, um Demokratie und Menschenrechte geht es dabei nicht, denn die werden seit langem vom Westen mit Füssen getreten und dienen als Vorwand für Kriege.

Als Zeitungsleser, als Medienkonsumenten heisst es für uns, stets wachsam zu sein und die Mechanismen und Wirkungen von Propaganda im Hinterkopf zu behalten, um den Manipulatoren nicht auf den Leim zu gehen – auch in Corona-Zeiten. ν

¹ Michael Lüders: Die scheinheilige Supermacht. München 2021. ISBN 978-3-406-76839-2
² www.overseasbases.net/fact-sheet.html
3 Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung. Frankfurt/M. ²2020
4 Edward Bernays: Propaganda. New York 2005. S. 37

75 Jahre Agriviva: Lernen fürs Leben

von Susanne Lienhard

2021 feiert Agriviva ihr 75-jähriges Bestehen. Der gemeinnützige Verein wurde 1946 als «Freiwilliger Landdienst» gegründet und 2009 in Agriviva umbenannt. Die Organisation bringt Jugendliche und Bauernfamilien zusammen und versteht sich als Brückenbauerin zwischen Stadt und Land und über die verschiedenen Sprachregionen hinweg. Agriviva ermöglicht jungen Menschen zwischen 14 und 24 Jahren, in der Landwirtschaft wertvolle Erfahrungen fürs Leben zu sammeln und auf einem der rund 800 angeschlossenen Bauernhöfe in der ganzen Schweiz selbst mitanzupacken.

Da heute immer weniger Bauern immer mehr Menschen versorgen, haben viele Familien keinen direkten Bezug mehr zur Landwirtschaft. Ein Agriviva-Praktikum führt die Jugendlichen ans bäuerliche Leben heran. Für viele ist es das erste Mal, dass sie so eng mit Tieren in Berührung kommen und in der Natur arbeiten. Sie erfahren am praktischen Beispiel, wie unsere regionalen Lebensmittel entstehen und was es an Arbeit, Engagement und Umsicht braucht, bis man in einen knackigen Apfel beissen oder beim Frühstück das selber hergestellte Joghurt löffeln kann. 

«Bauern erhalten viel zu wenig Wertschätzung»

Elina, die letztes Jahr einen zweiwöchigen Agriviva-Einsatz geleistet hat, fasst ihre Eindrücke wie folgt zusammen: «Ich habe sehr viele positive Erfahrungen gemacht. Ich habe gesehen, dass das Leben auf dem Bauernhof nicht immer so ist, wie ich mir das vor dem Einsatz vorgestellt hatte. Es wird viel gearbeitet. Man ist jeden Tag im Stall, am Morgen früh und am Abend. Man muss nicht nur zu den Tieren schauen, sondern auch zu den Feldern und Wäldern. Es hat mir so Spass gemacht, das alles mal zu sehen und mitzuarbeiten, denn Bauern erhalten viel zu wenig Wertschätzung von genau uns Städtern, die dreimal im Jahr in die Ferien gehen und sich über Regenwetter beklagen. Doch für die Bauern ist es gut, wenn es nach langer Hitze mal regnet. Sie arbeiten, dass wir unser Gemüse essen können und unser Jogurt.»

Während des Agriviva-Einsatzes nehmen die Jugendlichen auch nach Feierabend  am Familienleben teil und machen auch im sozialen Bereich wertvolle Erfahrungen. Elina meint: «Ich werde die Familie auf jeden Fall sehr vermissen, aber sie bestimmt mal besuchen gehen. Zum Schluss kann ich mich nur für diese schöne Zeit bedanken, dass ich so viel lernen und neue Erfahrungen machen durfte. Ich habe dort eine zweite Familie gefunden.»

Käseherstellung auf der Alp: anstrengend und befriedigend zugleich. (Bild Agriviva)

Vorurteile abbauen

Die Begegnungen mit den Jugendlichen sind aber auch für die Bauernfamilien eine Bereicherung. Heinz Tschierner aus dem bernischen Habkern sagt stellvertretend für viele Bauernfamilien, die Landdienstplätze anbieten : «Jeder Jugendliche ist anders und bringt etwas Neues in die Familie ein. Wir können voneinander lernen.»

So können Vorurteile abgebaut werden und sowohl Familien als auch Jugendliche lernen neue Lebensweisen kennen. Dieses gegenseitige Verständnis ist gerade in der heutigen Zeit wichtiger denn je, wo zunehmend «mediale» Gräben geschaffen, statt Brücken gebaut werden.

Herausforderungen …

Die neoliberal geprägte Landwirtschaftspolitik der letzten 20 Jahre führte dazu, dass rund 20 000 Schweizer Bauernhöfe den Betrieb einstellen mussten. Die einen sprechen beschönigend von «Strukturwandel», die anderen von «Bauernsterben». Zudem muss bei vielen Betriebsleiterpaaren einer oder sogar beide zusätzlich auswärts arbeiten, um über die Runden zu kommen. Sie sind aufgrund fehlender Zeit für die Betreuung von Jugendlichen gezwungen, aus dem Agriviva-Angebot auszusteigen. Das hat zur Folge, dass die Anzahl der Gastfamilien über die Jahre kleiner geworden ist. Es sind jedoch immer noch rund 800 Betriebe, die bei Agriviva mitmachen und pro Jahr sind etwa 500 davon aktiv, andere legen nötige Pausen ein.

Agriviva spürt auch die Konkurrenz anderer Freizeitangebote. Das Ziel von Agriviva ist jedoch laut Geschäftsleiter Ueli Bracher nicht, besonders viele, sondern vor allem motivierte Jugendliche zu vermitteln, die zwischen einer und acht Wochen auf einem Bauernhof tätig sein wollen.

… und Chancen

Zuversichtlich stimmt auch, dass die Jugend auf ökologische Fragen sehr ansprechbar und ein Trend zurück zur Natur zu beobachten ist. Agriviva ist überzeugt, dass die Nachfrage nach Einsätzen steigen und der Bauernhof als vielfältiger Lernort an Bedeutung gewinnen wird. Die Jugendlichen erleben beim praktischen Anpacken, wie sehr man bei der Arbeit auf einem Bauernhof auf die natürlichen Kreisläufe Rücksicht nehmen muss und merken, dass die Natur, das Wetter oder die Tiere bei der Arbeit eine wichtige Rolle spielen. Mit dieser Erfahrung im Rucksack werden sie einst bewusster einkaufen und regionalen Produkten den Vorrang geben, weil sie wissen, wie sie produziert werden und welche Arbeit dahintersteckt. Auf solche «aufgeklärten» Konsumenten sind die Bauern angewiesen – so wie die Konsumenten auf die Bauern angewiesen sind, wenn sie in Zukunft noch regionale Produkte konsumieren wollen.

Die Schweizer Landwirtschaft ist sehr vielfältig, und genauso vielfältig sind die Agriviva-Bauernfamilien. Interessierte Jugendliche können bei der Anmeldung einen Betrieb auswählen, der am besten zu ihnen passt: Betreuung von Kindern, die Arbeit mit Tieren, Obsternte und Verarbeitung, auf der Alp oder im Wald, die Auswahl ist gross. 2020 konnten 1363 Jugendliche an 382 Betriebe vermittelt werden.

Kein gewöhnlicher Ferienjob

Ein Agriviva-Einsatz auf einem Bauernhof ist kein gewöhnlicher Ferienjob, bei dem das Arbeiten und das Geldverdienen im Vordergrund stehen. Die Jugendlichen brauchen keine Vorkenntnisse oder Erfahrung in Bezug auf die Landwirtschaft. Im Vordergrund steht der Wissenszuwachs, das Lernen, das Sammeln von (Lebens-) Erfahrung.

Es handelt sich aber auch nicht um einen Ferienaufenthalt auf dem Bauernhof. Die Praktikantinnen und Praktikanten integrieren sich in den bäuerlichen Tagesablauf und unterstützen und entlasten die Familie bei ihrer Tätigkeit. Der Verein Agriviva legt grossen Wert darauf, dass die Jugendlichen nicht als Ersatz für eine «vollwertige» Arbeitskraft angesehen, sondern nach Massgabe ihrer Möglichkeiten angeleitet und eingesetzt werden. Auf dem Bauernhof mitanzupacken bedeutet körperlichen Einsatz. Das ist sowohl anstrengend als auch befriedigend. Mia hat letzten Herbst einen Einsatz bei einer Bauernfamilie im Wallis geleistet und zieht folgende Bilanz: «Eines meiner Highlights war der Alpaufzug mit den Schafen (…). Durch dieses besondere Erlebnis und meine Aufenthalte konnte ich sehr viel Lehrreiches für mein Leben mitnehmen, und ich bin sehr dankbar für die vielen tollen Menschen, Tiere und Arbeiten, die ich in dieser Zeit kennenlernen durfte.»

Wer mindestens 16 Jahre alt ist und über gute Sprachkenntnisse verfügt, kann sich in einer anderen Sprachregion einen Bauernhof aussuchen.

Schulpraktikum in der Landwirtschaft

Agriviva vermittelt nicht nur Ferieneinsätze in der Landwirtschaft, sondern ist Schulen auch behilflich, Praktikumsplätze für ein im Curriculum vorgesehenes obligatorisches Sozialpraktikum zu organisieren. Salome besucht eine solche Schule in Basel und schreibt am Ende ihres Agriviva-Praktikums: «An meiner Schule ist es Pflicht, am Ende des ersten Schuljahres drei Wochen Landdienst zu absolvieren, um sich noch mehr Sozialkompetenz und Eigenständigkeit anzueignen. (…)  Einige Tage waren etwas anstrengender als andere, da ich bei Arbeiten mithalf, die ich sonst zu Hause nicht machen muss. Die meiste Zeit verbrachte ich jedoch damit, auf den kleinen Jungen aufzupassen und Hausarbeiten zu erledigen. Besonders gefallen haben mir die gemeinsamen Momente mit der Familie, wie zum Beispiel während dem Heuen oder wenn man gemeinsam zusammensass und miteinander Gespräche führte. Ausserdem habe ich meine Angst vor ihrem Hund überwinden können und durfte sogar kuhfrische Milch probieren. Alles in allem war es eine sehr schöne Zeit für mich in Splügen, da ich sehr viel Neues kennenlernen und erleben durfte. Zudem bin ich in eine wundervolle Familie gekommen.»

Auch die Verantwortliche für die Sozialpraktika an Salomes Fachmittelschule bestätigt den positiven Einfluss eines Agriviva-Praktikums: «Nach Agriviva-Einsätzen kehren unsere Schülerinnen und Schüler mit neuen Erlebnissen und Eindrücken reifer und erwachsener in den Unterricht zurück.» Und eine Lehrerin an einem Basler Gymnasium ergänzt: «Agriviva stärkt das Selbstbewusstsein der jungen Menschen und öffnet den Horizont. Agriviva in einem anderen Landesteil hilft zudem, die andere Sprache als nützlich zu erfahren und verbindet die Sprachregionen.»

Ein Beitrag zur gesellschaftlichen Kohärenz

Der Verein Agriviva verbindet die Stadt mit dem Land, die Ost- mit der West- und der Südschweiz und fördert den Austausch unterschiedlicher Generationen über die Sprachgrenzen hinweg mit dem Ziel, den Jugendlichen Begegnungen in und mit der Landwirtschaft zu ermöglichen und damit einen wesentlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Kohärenz zu leisten. Dass der Verein über 15 lokale Vermittlungsstellen verfügt, ist ein weiteres Qualitätsmerkmal, da man die Bauernfamilien vor Ort kennt und jede neue Gastfamilie auf dem Hof besucht wird. Nicht zuletzt deshalb geniesst Agriviva einen starken Rückhalt bei den politischen Behörden, den bäuerlichen Verbänden und im Bildungsbereich. Der Verein Agriviva ist nicht gewinnorientiert und wird von Bund, Kantonen, verschiedenen bäuerlichen Organisationen, Sponsoren und Gönnern unterstützt.

Sinnvolle Ferienbeschäftigung auch in Zeiten von Corona

Die Herbstferien stehen vor der Tür. Reisen ins Ausland und auch Ferienlager sind momentan coronamassnahmenbedingt nur unter erschwerten Bedingungen möglich.

Agriviva-Einsätze können hingegen nach wie vor regulär durchgeführt werden, sofern dies von beiden Seiten gewünscht ist (Jugendliche/Eltern, Gastfamilien). Wichtig ist dabei nur die Beachtung der Ausführungen des BAG zu den allgemeinen Hygienemassnahmen und zu besonders gefährdeten Personen. (siehe www.agriviva.ch, Stand 14. September)

Nebst wertvollen Erfahrungen und bleibenden Erinnerungen erhalten sie freie Kost und Logis, ein kleines Taschengeld, ein Gratisticket für die Hin- und Rückreise mit der SBB sowie eine schriftliche Einsatzbestätigung (was bei der Lehrstellensuche nützlich sein kann). Interessierte Jugendliche und neue Gastgeberfamilien finden die nötigen Informationen unter www.agriviva.ch – die Registrierung ist kostenlos und denkbar einfach.

Warum also nicht auf einem Bauernhof in der Schweiz aktiv mitanpacken, um so einen Einblick in Arbeit und Leben auf dem Lande zu bekommen und in der Praxis zu erfahren, wie unsere regionalen Lebensmittel produziert werden? ν

Quelle: www.agriviva.ch

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