Gedanken zur Standesinitiative des Kantons Freiburg, die Landwirtschaft bei Freihandelsverträgen auszuschliessen

Reinhard Koradi

In der Wintersession 2016 wird der Nationalrat über eine Standesinitiative des Kantons Freiburg entscheiden, die vorschlägt, die Landwirtschaft und die Lebensmittel- und Produktionssicherheit von Freihandelsabkommen mit der EU auszunehmen.

«Gestützt auf Artikel 160 Absatz 1 der Bundesverfassung reicht der Kanton Freiburg folgende Standesinitiative ein:
Die Bundesbehörden werden eingeladen, die Verhandlungen mit der Europäischen Union über ein Freihandelsabkommen in den Bereichen Landwirtschaft, Lebensmittel- und Produktsicherheit und öffentliche Gesundheit unverzüglich abzubrechen. Zu diesem Zweck wird der Bundesrat eingeladen:
1. Massnahmen zu ergreifen, um die Schweizer Produktion von Qualitätslebensmitteln für Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten vor dem günstigen Import von Lebensmitteln minderer Qualität zu schützen;
2. die Vorbereitung von Begleitmass­nahmen für die Landwirtschaft fortzuführen, die im Falle eines Abschlusses der Doha-Runde der WTO umzusetzen wären;
3. Risiken gegenüber aufmerksam zu bleiben, die der Freihandel von Lebensmitteln für die Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft darstellt, namentlich im Rahmen von bilateralen Abkommen, die mit Ländern wie China ausgehandelt werden.»

Quelle: www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20130310

Für die Schweiz aber auch für andere Länder könnte diese Initiative wegweisend sein.

Der Freihandel kann die Gesetze der Natur nicht negieren
Die Produktion von Lebensmitteln ist an die Natur gebunden. So kann die produzierende Landwirtschaft nicht ohne schweren Schaden in eine neoliberale Wirtschaftsordnung eingebunden werden.
Die Agrarwirtschaft kann mit den Gesetzen des Freihandels nie mithalten. Sie wird durch das ­Diktat des Freihandels in den Ruin getrieben, da die entscheidende Voraussetzung für die Lebensmittelproduktion, der Boden, als massgebender Produktionsfaktor, ganz schlicht nicht ausgelagert werden kann. Der Boden ist zudem ein begrenztes Gut und lässt sich nicht beliebig aufstocken, wie die Produktionskapazitäten in der Industrie oder im Dienstleistungsbereich. Daher scheitert die Theorie, dass Freihandel Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in der Agrarwirtschaft generiere, buchstäblich an den Gesetzen der ­Natur.
Allein die Rücksicht auf die Natur und der ­Respekt vor ihr sollten zur Einsicht führen, dass die Agrar­wirtschaft nie Teil eines Freihandelsabkommens sein kann. Dazu kommt die Erfahrung aus der Realität, die belegt, dass sich in der Landwirtschaft die sogenannten Skalen­effekte (höheres Produktionsvolumen führt zu grösseren Erträgen) nie erfüllen, da die Natur die Produktionsausdehnung einschränkt. Die Landwirtschaft ­funktioniert eben nicht wie ein Industrieunternehmen – es sind die Gesetze der Natur, die die Produktion bestimmen, und wer sie nicht achtet, zerstört die Produktionsmöglichkeiten.

Übergeordnete Einflussfaktoren einbeziehen
Neben der Natur spielen in der Lebensmittelproduktion auch andere, übergeordnete Einflussfaktoren eine entscheidende Rolle, die gegen den Freihandel im Agrarbereich sprechen. Es sind staatspolitische, sicherheits- und sozialpolitische Argumente, die die Staatsbürger und deren Volksvertreter dazu veranlassen müssen, die eigene Lebensmittelproduktion vor den negativen Folgen des Freihandels zu schützen. Der durch den Freihandel initiierte ruinöse Wettbewerb im Agrarbereich zerstört die einheimische Produktion von Lebensmitteln, was gerade heute in unserer von Krisen geschüttelten Welt – und diese stehen auch vor unserer Haustür – sehr schnell zu Versorgungsengpässen, sozialen Unruhen und letztlich zu Abhängigkeiten führen kann. ­(Erpressbarkeit). Den eigenen Agrarbereich vom Freihandel auszuschliessen entspricht einer staatsmännischen Grundauffassung, die sich daran orientiert, das Land und  dessen Souveränität zu schützen und die Bevölkerung vor Not und Hunger zu bewahren. Damit wir uns von den Beteuerungen der Freihandels-Fürsprecher nicht allzu sehr blenden lassen, noch ein kurzer Rückblick in die Geschichte unseres Landes. «In seinem Beitrag im Politischen Jahrbuch der Schweizerischen ­Eidgenossenschaft für das Jahr 1915 verwies Hans Moos, Professor für Tierproduktionslehre an der Landwirtschaftlichen Abteilung der ETH Zürich, auf die Verletzlichkeit der Versorgung des Landes mit landwirtschaftlichen Produkten, die zu Beginn des Krieges zu unsinnigen Hamsterkäufen geführt habe. Er kritisierte, dass die schweizerischen Behörden zugelassen hätten, dass sich das Land wie kaum ein anderes auf dem europäischen Kontinent auf den Freihandel und den Prozess der internationalen Arbeitsteilung eingelassen habe. Dies sei auch im Bereich der Landwirtschaft geschehen. Die daraus resultierenden Gefahren seien sträflich vernachlässigt worden. Das räche sich nun bitter (…)»1

1 Christian Pfister (Hrsg.), Woche für Woche neue Preisaufschläge, Seite 10; WSU Band 6.

 

Besorgnis über die aktuelle Entwicklung in der Türkei

Thomas Kaiser

In seiner Rede betonte Aussenminis­ter Çavuşoğlu, alle Massnahmen, die im Land ergriffen würden, verfolgten nur ein Ziel, die Aufrechterhaltung und den Ausbau der Demokratie. Dabei gab er zu verstehen, dass der Putsch vom Sommer so etwas Einschneidendes gewesen sei und alle Massnahmen, die in Reaktion darauf ergriffen wurden, mehr als gerechtfertigt seien. Menschen, die nach dem Putsch nach Ankara gereist seien, hätten erst dort gemerkt, wie brenzlig und bedrohlich die Situation gewesen sei. Auch liess er keinen Zweifel daran, wer der Drahtzieher dieses Putsches gewesen sei, nämlich Fethullah Gülen, und dass die Regierung in der Türkei mit mehreren terroristischen Gruppierungen zu kämpfen habe. Dabei erwähnte er den ISLS (Islamischer Staat), die PKK (Kurdische Arbeiterpartei), die PYD (Partei der demokratischen Union in Syrien), die YPG (syrische Kurdenorganisation) sowie die FETÖ («Terrororganisation Fethullah Gülens»). Nach Çavuşoğlu bedrohen diese Organisationen alle die «Stabilität, die Sicherheit und die gemeinsamen Werte.»  
In der anschliessenden Fragenrunde konterte er souverän alle kritischen Fragen, indem er unter anderem die grossen Anstrengungen und Leistungen herausstrich, die im Rahmen der Flüchtlingsproblematik von der Türkei erbracht würden. Eine konkrete Antwort auf die Frage nach den Beweisen für die Beteiligung Gülens am Putsch blieb er schuldig, auch wenn er behauptete, tausende von Beweisstücken seien zusammengetragen worden. Generäle und Polizeibeamte, die an dem Putsch beteiligt gewesen seien, so Çavuşoğlu, hätten bestätigt, ihre Anweisungen von Gülen erhalten zu haben. Immer wieder rechtfertigte er das Vorgehen gegen die politische Opposition wie die HDP (türkische Kurdenpartei) oder andere mit der Schwere des Putschversuchs und dass man Indizien habe, wer alles in diesen involviert gewesen sei. Redegewandt war er, aber überzeugend kaum.
In der Diskussion am nächsten Tag kamen Vertreter verschiedener Länder und verschiedener Parteien zu Wort. Hier wurde Klartext gesprochen, nicht zuletzt von den türkischen Parlamentariern selbst. Ein Vertreter der HDP kritisierte, dass die Aufarbeitung des Putschversuches nicht mit einer Stärkung und Verfeinerung der Demokratie verbunden sei, sondern mit dem Gegenteil. Nicht nur die Mitglieder der Gülen-Bewegung würden inhaftiert, sondern Mitglieder der Gerichte, der Universitäten, der Medien, der lokalen Regierungen, der Zivilgesellschaft sowie Handelsfirmen und Unternehmen stünden unter starker Repression. Die Gewaltenteilung sei faktisch aufgehoben, die Unabhängigkeit der Gerichte beseitigt und die Regeln des Rechtsstaats ausser Kraft gesetzt.
Auch aus anderen Ländern hagelte es Kritik am Vorgehen der türkischen Regierung in der Aufarbeitung des Putschversuchs. Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier zeigten meistens Verständnis für die grossen Herausforderungen, vor denen die Türkei jetzt stehe, betonten aber mehrheitlich, die türkische Verfassung und die Rechtsstaatlichkeit müsse bei allem Verständnis für die Lage nach dem Putschversuch beachtet und eingehalten werden. Doris Fiala, Schweizer Nationalrätin und Delegierte am Europarat, wies darauf hin, «dass Demokratie dank Demokratie gestärkt werden muss und nicht mit diktatorischen Massnahmen.» Roland Büchel, ebenfalls Nationalrat und Delegierter am Europarat, betonte die Wichtigkeit der demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien und forderte die Türkei auf, «bei der Bewältigung des Putschversuchs sowie bei der Bekämpfung des Terrorismus Augenmass zu wahren und die in der EMRK verankerten Menschenrechte und rechtstaatlichen Garantien voll und ganz zu respektieren.»
Im Gegensatz zu einigen türkischen Vertretern, meist von der ­Regierungspartei AKP, und den Ausführungen des türkischen Aussenministers Çavuşoğlu tags zuvor, die das Vorgehen der türkischen Regierung im Einklang mit der Verfassung, aber vor allem als Notwendigkeit, nach dem Putschversuch hart durchzugreifen, sahen, war die grosse Mehrheit der Stellungnahmen an dieser Debatte von der grossen Sorge um die demokratische Zukunft der Türkei geleitet.
Da es von aussen schwierig ist, ein klares Bild über die Lage in der Türkei zu erhalten, hat «Zeitgeschehen im Fokus» Menschen mit unterschiedlichem politischem und nationalem Hintergrund nach ihrer Einschätzung der Situation gefragt.
Samvel Farmanyan ist Parlamentsabgeordneter in Armenien und Delegierter seines Landes in der parlamentarischen Versammlung des Europarats. Rüstü Demirkaya ist kurdischer Türke und hat als Journalist bei verschiedenen Zeitungen in der Türkei gearbeitet. Er musste wegen starker Repression 2009 das Land verlassen und ist in die Schweiz geflohen. Er ist ein Kenner der Situation, besonders auch in den Kurdengebieten. Ständerat Christian Levrat ist Präsident der SP-Schweiz und Präsident der Aussenpolitischen Kommission. Er war mit einer ­Parlamentariergruppe sechs Tage in der Türkei und hat vor Ort unter anderem mit den Präsidenten der vier grossen Parteien gesprochen und mit den Kollegen von der Aussenpolitischen Kommission des türkischen Parlaments. Auch hatte er den Austausch mit Menschenrechtsorganisationen, Intellektuellen und Journalisten (insbesondere des Cumhurriet) und mit Vertretern der kurdischen, jüdischen und armenischen Minderheiten gesucht. Zusätzlich gab es mit Schweizer Unternehmern, die in der Türkei tätig sind, und Vertretern der Vereinigung der Schweizer Gemeinschaft in der Türkei in Istanbul ein Treffen.
Alle drei Persönlichkeiten hatten sich bereit erklärt, auf die gestellten Fragen zu antworten. Wir hoffen, dass somit ein klareres Bild über die verworrene Lage in der Türkei entstehen kann. ■

 

 

Europa und Schweiz – keine andere Wahl, als den Dialog fortzusetzen

Interview mit Ständerat Christian Levrat, Präsident der SP-Schweiz und Präsident der Aussenpolitischen Kommission

Welchen Eindruck haben Sie aus Ihren Gesprächen über die Stimmung im Land gewonnen?

Ich bin sehr beunruhigt. Die Regierung ist sicherlich in einer schwierigen Situation angesichts der Drohungen dreier verschiedener Gruppierungen, die nicht davor zurückschrecken, Gewalt anzuwenden: die Bewegung Gülen, die viele beschuldigen, hinter dem Putschversuch vom Juli 2016 zu stehen, die PKK und der IS. Es ist legitim, dass sie sich schützt. Aber ich bin mit dem Gefühl zurückgekehrt, dass die Regierung die Situation ausnutzt, um jegliche (auch demokratische) Opposition und Kritik zu unterdrücken. Die Terrorismusdefinition ist so vage und die Anrufung der Gerichte so zufällig, dass die laufenden Verfolgungen einen starken Eindruck von Willkür hinterlassen.

Können Sie bestätigen, dass die demokratischen Rechte immer weiter eingeschränkt werden?

Ja. Alle sind sich darin einig, dass die rechtsstaatlichen Garantien innerhalb des Staates nicht wirksam sind. Nehmen wir das Beispiel der Zehntausenden von entlassenen Beamten. Sie haben innert nützlicher Frist keine Möglichkeit, sich gegen die sie betreffenden Sanktionen zu wehren. Wenn sie es schaffen, nach Monaten oder Jahren zu zeigen, dass sie keine Verbindungen zu Bewegungen haben, die des Terrorismus beschuldigt werden, und dass sie zu Unrecht entlassen worden sind, dann ist es zu spät. Ihre Karriere ist zerstört, und sie sind durch die öffentlichen Anschuldigungen vorbelastet.

Konnten Sie in Erfahrung bringen, warum Parlamentarier der HDP und der Sozialdemokraten teilweise verhaftet wurden?

Auf Seite der Linken werden die meisten der Komplizenschaft mit der PKK beschuldigt, für mein Empfinden in den meisten Fällen zu Unrecht. Aber der Terrorismusbegriff ist so vage, dass der geringste kritische Artikel, die geringste kritische Stellungnahme zu Gunsten der Rechte der Kurden einen in Schwierigkeiten bringen kann. Ich erwarte von der Regierung, dass sie entweder unverzüglich handfeste Beweise gegen diese Parlamentarier liefert oder sie sofort wieder freilässt.

Ist die Einschränkung der Pressefreiheit im täglichen Leben spürbar?

Die Zahl der wegen Verdachts auf terroristische Komplizenschaft verhafteten Journalisten ist verblüffend. So wird der 75jährige Chefredaktor von Cumhurriet (linksliberale Zeitung) gleichzeitig beschuldigt, der PKK (kurdische Unabhängigkeitsbewegung) und der Gülen-Bewegung (konservativ islamistische Gruppierung) nahezustehen. Das zeigt die Absurdität der Situation, aber vor allem auch, dass sich die Massnahmen gegen alle regimekritischen Kräfte richten.

Steht die Bevölkerung in der Mehrheit hinter diesen Massnahmen oder haben Sie auch kritische Stimmen vernommen?

Natürlich gibt es kritische Stimmen. Aber die grosse Mehrheit der Medien – und ein guter Teil der Bevölkerung – unterstützt die Linie des Präsidenten Erdoğan. Die Resultate der letzten Wahlen waren klar. Er hat ein Referendum zu ­einer Verfassungsänderung angekündigt, die darauf abzielt, ein ­verfassungsmässiges System einzuführen, das ihm unein­geschränkte oder fast uneingeschränkte Vollmachten gäbe. Den Verlauf dieser Kampagne gilt es, genau zu ver­folgen.  

Wie schätzen Sie das Verhalten der türkischen Regierung ein, und welches Ziel können Sie hinter ihrem Verhalten entdecken.

Die meisten Beobachter stellen eine Neuorientierung der türkischen Politik fest. Traditionell pro-westlich ausgerichtet, Mitglied der Nato und EU-Beitrittskandidatin, ist die Türkei nun dabei, ihre Bündnisse neu auszurichten: Sie arbeitet deutlich sichtbar mit Russland zusammen, wendet sich nach Zentralasien und entfernt sich von der EU, vom Europarat und seinen Werten. Die Ankündigung der Wiedereinführung der Todesstrafe ist ein handfestes Zeichen dafür.

Wie kann die Schweiz positiv auf die Entwicklung in der Türkei einwirken?

Die Regierung Erdoğans reagiert heftig auf jeden externen Druckversuch. Sie versteht es, sich in ­Szene zu setzen, um den latent ­vorhandenen Nationalismus anzuheizen und ihn gegen die europäischen Staaten zu richten. Dennoch, nach meinem Empfinden, haben Europa und die Schweiz keine andere Wahl, als den Dialog fortzusetzen und ihre Interventionen auf die gemeinsamen Werte unserer Völker zu gründen, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegt sind: Achtung der Grundprinzipien des Rechtsstaates, Verteidigung der Menschenrechte, minimale demokratische Regeln…
Herr Ständerat Levrat, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Die Kurden werden eine ehrliche Friedenshand nicht abweisen

Interview mit Rüstü Demirkaya

Rüstü Demirkaya (Bild thk)
Rüstü Demirkaya (Bild thk)
Wie hat sich die politische Lage in der Türkei in den letzten Monaten entwickelt?
 
Wenn wir die heutige Situation in der Türkei nur auf dem Hintergrund des Militärputsches vom 15. Juli beurteilen würden, hätten wir den wahren Grund für die aktuellen Entwicklungen kaum erfasst.
Gerade als sich Positives in der Türkei entwickelt hatte, erfüllte sich Erdoğans Wunsch, durch die Wahlen am 7. Juni 2015 eine Mehrheit im Parlament zu haben, um die Verfassung ändern zu können, nicht. Danach herrschte plötzlich Chaos im Land und Erdoğan zwang das ganze Land in eine erneute Wahl. Aber vor dieser Wahl warnte er, dass das Land in ein Chaos verfallen würde, wenn seine Partei, die AKP, nicht alleine die Führung im Land hätte. Die AKP wurde zwar die Partei mit der absoluten Mehrheit, aber für das geplante präsidentielle System Erdoğans brauchte es eine Verfassungsänderung. Die AKP erhielt aber nicht die notwendigen 61 Prozent, um diese Änderung im Parlament durchzusetzen. So begann Erdoğan, seine Chaos-Pläne zu verwirklichen.
 
Was hat er nun im Zuge des Chaos-Plans alles getan?
 
Die ersten Handlungen waren militärische Operationen in den Städten, in denen die HDP aufgerufen hatte: «Wir machen Erdoğan nicht zum Präsidenten». Viele Städte sind dem Erdboden gleichgemacht worden. Mehr als eine Million Menschen wurde vertrieben, Menschen wurden bei lebendigem Leibe verbrannt und im letzten Jahr sind mehr als 2000 ums Leben gekommen. Im Westen der Türkei liess Erdoğan Wissenschaftler, Intellektuelle, Journalisten und Oppositionelle, die auf die Toten im Osten reagiert hatten, entweder verhaften oder aus ihren Ämtern entfernen.
 
Welche Rolle spielt bei seinen Plänen die Gülen-Bewegung?
 
Der Machtkampf zwischen Fethullah Gülen und Erdoğan, die jahrelang Hand in Hand die Führung hatten, vertiefte sich. Der Graben wurde immer tiefer, Gülen machte die Korruption von Erdoğan publik und belegte dies. Es kam regelrecht zu einem Krieg zwischen ihnen, und beide Seiten begannen damit, sich gegenseitig zu töten. Alle Gülen-nahe Fernsehsender, Zeitungen, Firmen und Schulen wurden geschlossen. Die Banken erhielten Zwangsverwaltungen.
 
Sehen Sie hier einen Zusammenhang zum Putsch im Sommer?
 
Es ist für die Personen, die die jüngste Geschichte der Türkei kennen, nicht verwunderlich, dass es in dieser Situation einen Putsch gibt. In dieser Auseinandersetzung gab es also am 15. Juli einen seltsamen Putschversuch, dessen Urheberschaft bis heute nicht geklärt ist. Aber Erdoğan hat den Putschversuch dafür genutzt, um seine Pläne zu verwirklichen, und nannte dies «Säuberung». Zehntausende von Soldaten, Richtern und Beamten, die zuvor in staatliche Positionen «eingesickert» waren, wurden jetzt entlassen, einige verhaftet. Davor hatte man 15 Jahre eng zusammengearbeitet, und nun fühlte man sich aber vom Partner betrogen… Soll man dem wirklich Glauben schenken?
 
… Geht es denn nur um die Gülen-Bewegung?
 
Nein, die Operationen waren nicht nur auf die Gülen-Anhänger beschränkt. Sogar Atheisten wurden beschuldigt, Anhänger der islamistischen Gülen-Bewegung zu sein, und wurden inhaftiert. Ziel der Operationen waren oppositionelle Linke und erneut das kurdische Volk. Durch Ausrufen des Ausnahmezustands hat man alle oppositionellen Aktionen verboten. Mehrere kurdische Fernseh- und Radiosender, darunter Zarok TV, ein Sender, der nur Zeichentrickfilme auf kurdisch sendet, wurden geschlossen. Aber das war noch nicht genug. Speziell nach den Zerstörungen in den kurdischen Provinzen wurden knapp 400 Verbände und Organisationen, auch Vereine, die einen Beitrag zur Deckung der Grundbedürfnisse der Zivilbevölkerung erbrachten, geschlossen. Alle Städte und Gemeinden, in denen Erdoğan die Wahl nicht gewonnen hatte, wurden unter Zwangsverwaltung gestellt und die Bürgermeister inhaftiert.
 
Nur weil sie ihn nicht gewählt haben?
 
Ja, dies alles ist geschehen, weil eine Person das Land allein regieren will. Nun wird der Ausnahmezustand ausgerufen, Verordnungen, die anstelle von Gesetzen treten, sind an der Tagesordnung. Er hat indirekt sein Ziel erreicht und führt das Land alleine. Dies hat im Land eine ausserordentliche Polarisierung ergeben.
 
Wie sieht das konkret aus?
 
Ein Beispiel: Ein Vergewaltiger, der bei der Tat erwischt worden ist, kann in der Gerichtsverhandlung behaupten, dies sei eine Verschwörung der Gülen-Anhänger und sich so befreien. Auf der anderen Seite können Menschen gelyncht werden, weil sie kurdische Lieder gehört haben. In der Türkei gibt es also zwei Pole: Die, die für Erdoğan sind, und diejenigen, die gegen ihn sind. Diejenigen, die gegen ihn sind, halten sich mehr in Gefängnissen auf oder schweigen, weil sie Angst haben und darauf warten, bis sie an der Reihe sind.
 
Was bedeutet es, dass der Ausnahmezustand verlängert wurde?
 
Das bedeutet, dass Erdoğan das Regime ändern will. Dies will er aber nicht mit demokratischen Mitteln, sondern mit Druck und Nötigung tun. Erdoğan wird das de facto System durch den Ausnahmezustand am Leben erhalten, bis er es legalisieren kann. Momentan hat er folgende Botschaft: Wenn ihr meine Präsidentschaft nicht anerkennt, dann werdet ihr keinen guten Tag erleben.
 
Was heisst das für die Kurden in der Türkei?
 
Wie für alle Menschen in der Türkei bedeutet dies auch für die Kurden noch mehr Unterdrückung und Tod. Die Kurden haben etwas Ähnliches schon in den 1990er Jahren erlebt. Abgeordnete, die von den Kurden damals gewählt worden waren, wurden inhaftiert. Die Kurden erleben jetzt das Gleiche. Diesmal aber vor den Augen aller. In den 1990er Jahren konnten sie sagen, dass die Medien nicht darüber berichtet haben. Man habe einfach nichts davon gewusst. Heute ist das nicht möglich. Während Live-Übertragungen werden Massaker ausgeführt, und die Hälfte des Landes schweigt.
 
Die Reaktion der übrigen Staatenwelt ist schwach.
 
Was macht Europa denn, ausser sich zu äussern, dass es besorgt sei? Erdoğan schiebt Europa mit seinem Handrücken fort. Er weiss nämlich auch, dass Europa nicht die grundlegenden Menschenrechte, sondern Geld, Profit und Komfort vorzieht. Nach dem Motto, alles, was nicht zu meinem Nachteil ist, kann geschehen. Die Flüchtlingsverträge dürfen nicht gebrochen werden, oder die Türken sollen sich nicht Russland annähern – dies bringt Europa dazu, die Augen zu schliessen. Europa hat aber vergessen, dass dieser Nachteil nicht nur die Minderheiten in der Türkei, sondern alle treffen wird. Diese Situation bedeutet natürlich einen grossen Bruch für die Kurden. Das Ganze wird die Kurden noch mehr in den bewaffneten Kampf treiben.
Ich möchte aber trotzdem meine Hoffnung aufrechterhalten. Ich habe jahrelang in den kurdischen Städten als Journalist gearbeitet, wenn die Kurden eine ehrliche Friedenshand entgegengehalten bekommen, werden sie diese nicht abweisen.
 
Nach diesen Ausführungen kann man sich vorstellen, warum 50 von 59 Parlamentariern der HDP verhaftet worden sind.
 
Die HDP ist als Experiment gestartet. Sie besteht zum grossen Teil aus Kurden, aber auch die türkische Linke und unterschiedliche religiöse und ethnische Gruppen sind darin assoziiert. Tatsächlich wurde hier in der Türkei eine Grundbasis gefunden. Bei den Wahlen am 7. Juni 2015 sind 80 Abgeordnete der HDP ins Parlament gewählt worden. Mit dieser Zahl konnte die alleinige Herrschaft von Erdoğan verhindert werden. Deshalb sind die Wahlen nicht anerkannt worden, und am 1. November 2015 kam es zu Neuwahlen. Während dieser Wahl konnte die HDP nur noch 59 Abgeordnete ins Parlament bringen, war aber weiterhin die drittstärkste Partei. Die AKP war zwar die Partei mit der absoluten Mehrheit geworden, sie hatte aber nicht die Mehrheit, um die Verfassung ändern zu können. Von dem Moment an, als sich die HDP dazu entschlossen hatte, sich an der Wahl zu beteiligen, war sie Angriffsziel von Erdoğan geworden. Ein anderer Grund ist, dass es heute in der Türkei keine Alternative zur AKP gibt. Die HDP hat genau diese Lücke gefüllt. Die zweitgrösste Partei im Parlament, die CHP, ist bei weitem keine ernsthafte Opposition. Mit manchen ihrer Aussagen bestärkt sie sogar Erdoğan. All diese Begebenheiten haben die HDP zu einer grossen Zielscheibe gemacht.
 
Was wirft Erdoğan der HDP vor?
 
Erdoğan träumt von einer Ein-Mann-Regierung im neo-osmanischen System. Die HDP schlägt genau das Gegenteil vor. Die HDP hat national und auch international grosse Sympathien gewonnen. Mit diesen Operationen will Erdoğan die HDP kriminalisieren und sie so aus der Politik schieben. Den Kurden gibt er die Botschaft, dass sie sich selbst nicht verwalten können, dass sie keine kurdische politische Identität haben und physisch nur überleben können, wenn sie sich als Türken ausgeben.
 
Was wird das für Auswirkungen haben?
 
Die Entwicklung hat die chronischen Probleme der Türkei natürlich vertieft. Nun ist es so, dass das Land über ethnische und religiöse Gräben geteilt wird. Wenn man kein Türke ist und auch kein Sunnit, hat man kein Recht auf Leben. Durch die Aussage von Erdoğan und den türkischen Nationalisten, dass sie das «Land nicht teilen lassen werden», entzweien sie das Land. Dies wird die Türkei um Jahrzehnte zurückwerfen und natürlich auch schwere wirtschaftliche Schäden mit sich bringen.
 
Aussenpolitisch wird Erdoğan langfristig an Goodwill verlieren?
 
In der Aussenpolitik wird sich dies auch widerspiegeln. Eine Zeitlang hat die Türkei das Projekt des gemässigten Islam im Mittleren Osten vertreten. Sie wurde als Beispiel genannt. Sie hatte ein Gewicht bei den arabischen Ländern. Nun wird die Türkei als besetzende Macht bewertet. Weil sie beispielsweise die kurdische Frage im Land nicht lösen konnte, wird sie in Syrien und im Irak als Verlierer angesehen. Hätte die Türkei im Inneren einen Frieden hervorbringen können, wäre sie die Supermacht im Mittleren Osten.
Wenn heute die Mitgliedschaft der Türkei in der EU und der Nato diskutiert wird, wenn sie besonders zum Thema Menschenrechte so sehr kritisiert wird, ist die Ursache dafür die aggressive Politik von Erdoğan.
 
Wie soll denn Erdoğans Türkei aussehen?
 
Erdoğan möchte das bestehende System verändern, und an dessen Stelle schlägt er ein System vor, das keiner so recht versteht, keiner so recht kennt und das offene Fragen in sich birgt. Weil keiner so recht weiss, wie das präsidentielle System aussehen soll, und Erdoğan Hitler als Beispiel* nennt, können wir davon ausgehen, dass es ein System wie in Hitler-Deutschland sein soll. Tatsächlich sind die Vorgehensweisen nicht gross unterschiedlich. Hitler hat zuerst das Parlament unbedeutend gemacht, später hat er es ganz aufgehoben. Er hat alle Oppositionellen beseitigt und später ein System hervorgebracht, mit dem er die ganze Welt regieren wollte. Das Gleiche können wir erkennen, wenn wir die Türkei betrachten. Erdoğan bildet sich wohl ein, er lebe in einer Zeit, in der das Osmanische Reich über wichtige Teile Asiens, Afrikas und Europas regierte. Er sieht sich als Sultan und versucht hierfür, eine legale Rechtsgrundlage zu schaffen. Weil er dies nicht auf demokratischem Wege verwirklichen kann, versucht er dies mit Druck und Gewalt. Mit den Ausnahmezustandsregelungen hat er bereits das de facto präsidentielle System etabliert. Er will dies fortführen und die schon löchrige Verfassung hierfür anpassen. Das ist aber nur möglich, wenn nicht wirklich eine starke Gegenstimme organisiert wird.
 
 
Herr Demirkaya, vielen Dank für das Gespräch.
 
Interview Thomas Kaiser 
 
*Erdoğan antwortete den Berichten zufolge, dass sich Zentralstaat und Präsidialsystem nicht ausschließen würden. «Es gibt aktuell Beispiele in der Welt und auch Beispiele in der Vergangenheit. Wenn Sie an Hitler-Deutschland denken, haben Sie eines. In anderen Staaten werden Sie ähnliche Beispiele finden.» Wenn das Volk Gerechtigkeit erfahre, würde es ein solches System akzeptieren. www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-nennt-hitler-deutschland-als-beispiel-fuer-praesidialsystem-a-1070162.html

«Erdoğans Politik von neo-osmanischen Ambitionen bestimmt»

Interview mit Samvel Farmanyan, Mitglied des armenischen Parlaments

Samvel Farmanyan (MP) (Bild thk)
Samvel Farmanyan (MP) (Bild thk)

 

Wie beurteilen Sie den Putsch in der Türkei in diesem Sommer?

Es ist offensichtlich, dass die ­Situation in der Türkei besorgniserregend ist, nicht nur wegen des ­anhaltenden Status ihres Ausnahmezustands, nicht nur wegen der Tatsache, dass mehr als hundert Abgeordnete ihrer Immunität beraubt wurden und nicht nur wegen der aussergerichtlichen Strafen und Verhaftungen von Tausenden von Menschen. Die Situation ist auch deshalb alarmierend, weil die politischen Ambitionen von Präsident Erdoğan zunehmen und er alles dafür tut, mehr Macht in die Hände zu bekommen, den Krieg gegen den Terror zu beeinflussen und den Kampf gegen verschiedene terroristische Organisationen innerhalb und ausserhalb der Türkei zu missbrauchen.

Was ist sein Ziel?

Ich denke, die Situation in der Türkei ist dazu angetan, neo-osmanischen Ambitionen Vorschub zu leisten. Parallel dazu versucht Erdoğan, Millionen von syrischen Flüchtlingen, die heute in der Türkei leben, als politische Geiseln zu benutzen, um Europa erpressen zu können. Das sollte auch für Europa ein Alarmzeichen sein. Und wie ich es heute in der Diskussion im Plenarsaal über die Menschenrechtssituation in der Türkei formuliert habe, gehört dazu auch die Diskussion über die künftige Sicherheit in Europa und in den Nachbarländern. Europa sollte daher vorsichtig sein, und die politische Lösung für die Situation im Namen dieses Plenums könnte darin bestehen, die Türkei wieder unter Beobachtung zu stellen.
Eine Frage zur Situation in Syrien: Die Türkei unterstützt verschiedene Gruppen in Syrien, um gegen Assad zu kämpfen. Und jetzt ist der Aufschrei zu hören, «Wir sind Opfer dieser Gruppen». Was denken Sie darüber?
Das ist nicht wirklich etwas Neues in der türkischen Politik. Von Beginn der Eskalation der Lage in Syrien an war es offensichtlich, dass die Türkei ihre eigenen Pläne verfolgt.

Was beinhalten diese Pläne?

Diese Pläne beabsichtigten, die Kontrolle über einige syrische Territorien zu übernehmen. Es handelt sich um Erdoğans Plan, und er ist der Grund, warum ich über neo-osmanische Ambitionen spreche. Es ist nicht schwer für die politische Führung eines Landes, ein autokratisches Regime zu schaffen und dann den Kampf gegen die Terroristen zu benutzen, um ihre wahren Ziele erreichen zu können. Aber all das ist sehr alarmierend, denn wir müssen uns vor Augen halten, dass sie den Slogan «Null Probleme mit den Nachbarn» verkündete, gerade in der Zeit als Davutoglu Aussenminister war. Am Ende wurde dann klar, dass sie keine Beziehung mit irgendeinem Nachbarn hatte.

Was ist mit Griechenland?

Dies war eine Ausnahme, aber da müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf eine sehr gefährliche Erklärung von Präsident Erdoğan im Oktober richten, die den Vertrag von Lausanne in Frage stellte, ein internationales Abkommen zur Klärung der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei. So sind wir einerseits mit dieser Aussage konfrontiert, auf der anderen Seite sehen wir eine illegale Blockade der Grenze zu Armenien; darüber hinaus haben wir ein zunehmendes Engagement in Syrien und sehr interessante Beziehungen mit Russ­land, die sich täglich ändern. Aber trotzdem sollte dies alles ein sehr starkes Alarmsignal für Europa sein. Daher habe ich gesagt, dass jene Nationen, die die Lehren aus der Geschichte nicht ziehen, diese Geschichte neu erleben müssen.

Was passiert in der Beziehung zwischen der Türkei und Russland?

Meiner Meinung nach ist die Situation sehr offensichtlich. Was Erdoğan zu tun versucht, ist, Eu­ropa auf der einen Seite zu erpressen und auf der anderen Seite eine Partnerschaft mit Russland aufzubauen. Dabei kann er Europa zeigen: «Seht her – ich habe eine andere Option». Das ist nichts wirklich Neues in der türkischen Geschichte. Es wiederholt die Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Türkei sich nicht Richtung Westen orientierte, sondern Richtung Osten, was zum Schaden von Millionen von Menschen führte, die unter dieser Entscheidung gelitten haben. Jetzt versucht Erdoğan, Euro­pa zu erpressen, und seine andere Option ist die Partnerschaft mit Russland. So sieht es aus.

Herr Parlamentsabgeordneter Farmanyan, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Der Iran – Herzlichkeit, Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft gegenüber den Fremden

Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Karte von Iran
Karte von Iran

«Du fährst in den Iran? Ist das nicht gefährlich?», so oder ähnlich lauteten viele Äusserungen zu meiner Reise in die Islamische Republik Iran. Die spontane Verbindung von «Iran» und «gefährlich» ist bei uns im Westen eine Folge tendenziöser Berichterstattung. Die iranische Realität, in die wir im Norden, im Osten und im Süden dieses riesigen Landes eintauchen, ist eine andere. Der Iran ist ein sicheres Land, in dem auch Frauen alleine reisen können.
Als Fremder fühlt man sich wohl und willkommen. Die Menschen im Iran sind liebenswürdig, hilfsbereit und gastfreundlich. Uns Fremden begegnen sie aufmerksam und mit spontanem Interesse, sowohl in den grossen Städten wie auch in den ländlichen Gebieten. Auch in der 13 Millionenstadt Teheran wird ein freundlicher Blick mit einem Lächeln und einem «Welcome» oder «Hello» erwidert, sei es auf der Strasse, im Bazar, im Museum oder im Lift des Hotels.
Später fahren wir durch das Elburz-Gebirge. Jetzt im Oktober ist hier alles trocken, braun, beige, gelb, karg und kahl und trotzdem von faszinierender Schönheit. Auf der Fahrt in ein abgelegenes Bergdorf überholt unser Bus eine ältere Frau, die zu Fuss unterwegs ist. Unser iranischer Fahrer stoppt und fragt, ob sie bis ins nächste Dorf mitfahren wolle. Dank unserer schweizerischen Reiseleiterin, die im Iran studiert hat und Farsi wie ihre Muttersprache spricht, erfahren wir, dass die Frau eine Freundin besuchen will. Auf unsere Fragen gibt sie breitwillig Auskunft. Hier in den Bergen habe es im Winter viel Eis und Schnee. Sie sei Hausfrau. Sie habe sechs Kinder. Ihr Mann sei jedoch erblindet und könne nicht mehr arbeiten. Aber ihre Kinder würden arbeiten auf dem Bau, Gräben ausheben und für ihre Eltern sorgen. Ursprünglich kämen sie aus einer anderen Gegend, erzählt uns die Frau weiter. Sie hätten eine Kuh, Geissen und Schafe gehabt. Dann sei der Regen ausgeblieben und ihre Tiere seien verhungert. Dann seien sie halt hierher gekommen. Heute habe sie 10 Enkelkinder.
«Von was leben die Leute in diesem Dorf?», wollen wir wissen. In diesem Dorf gebe es viele Leute, die in Teheran wohnen und hier im Dorf ein Haus von ihren Vorfahren hätten. In den zwei heissesten Monaten des Sommers seien diese dann hier oder hätten hier ihren Alterssitz. Im Dorf steigt sie aus, legt die rechte Hand auf ihre Brust, neigt leicht ihren Kopf und bedankt sich mit einem herzlichen: «Es möge Euch gut gehen.»

Die Kelisa-ye Vank Kathedrale, eine der zahlreichen armenischen christlichen Kirchen in Isfahan (Iran). (Bild hhg)

Die Kelisa-ye Vank Kathedrale, eine der zahlreichen armenischen christlichen Kirchen in Isfahan (Iran). (Bild hhg)

 

Familien zuständig für die soziale Absicherung

Ein solches Erlebnis regt zum Nachdenken an. Staatliche soziale Sicherheitsnetze sind für uns eine Selbstverständlichkeit. Im Iran hingegen sind die Familien zuständig für die soziale Absicherung ihrer Mitglieder. Verwandtschaftliche Beziehungen werden daher mit grösster Sorgfalt gepflegt. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Hotels und Restaurants abseits der Touristenorte keine Selbstverständlichkeit sind. Wenn Iraner reisen, übernachten und essen sie bei Mitgliedern ihrer weitverstreuten Verwandtschaft. Übernachtet jemand im Hotel, fragt man sich: «Oh, hat der Arme an diesem Ort denn keine Verwandten?» Überall da, wo wir in einem Privathaus zu Gast sind, finden sich aufgestapelt oder im Schrank zahlreiche dünne Matratzen, die für die Nacht auf den Teppichen ausgelegt werden können.
Bei unserem späteren Gang durch das Dorf werden wir mit grosser Herzlichkeit in die Moschee eingeladen. Während wir mit den Frauen auf Teppichen sitzen, werden Tee, Brotfladen und frische süsse Datteln gereicht. Im anderen Raum sitzen die Männer mit dem Imam, der seine Predigt in Hochpersisch hält.

Die Menschen sind gast­freundlich und hilfsbereit

Wo immer wir auf unserer Reise durch dieses schöne, faszinierende Land hinkommen, sind die Menschen gastfreundlich und hilfsbereit. Der Bus hält am Rand eines abgelegenen Dorfes. Der iranische Reiseleiter fragt einige Frauen, ob wir ihre Toilette benutzen dürfen. Selbstverständlich geht das. «We solve the problems» (Wir lösen die Probleme), lacht der Reiseleiter, «so ist das bei uns. Jeder hilft auf seine Weise mit, das, was er kann.»
In Isfahan, das von zahllosen Touristen besucht wird, ist es nicht anders. In einem Café im Bazar spricht uns eine Frau an, die mit ihren beiden Töchtern am Nebentisch sitzt. Sie gehört zur christlichen Minderheit der Armenier. Spontan lädt sie uns für den nächsten Abend zu einem Konzert in der armenischen Gemeinde ein. Auch hier sind wir herzlich willkommen und erfahren vieles über die Situation der Armenier im Iran. Die adrett gekleideten Frauen tragen in ihren Gemeinden keine Kopftücher.
Die christliche armenische Gemeinschaft in Isfahan, die über einen starken Zusammenhalt verfügt, hat auch ihren eigenen Erzbischof. Hier wird armenisch gesprochen, und auch die Unter­richtssprache in ihren Schulen ist armenisch. Erst in den weiterführenden Schulen und in den Universitäten ist die Unterrichtssprache Farsi. Eine gute Bildung ist den Armeniern wichtig. Da es im Iran zuwenig Arbeit gibt, wandern viele gutausgebildete junge Armenier vor allem in die USA aus, so auch ihre beiden Töchter, erzählt uns die Frau, die uns zum Konzert eingeladen hat. Man merkt, dass sie das schmerzt. Sonst hätten sie im Iran ein gutes Leben, fügt sie bei.

Friedliches Zusammenleben zwischen Schiiten, Sunniten und religiösen Minderheiten

Zwischen den Moslems und den Armeniern gebe es im Iran eine gute Koexistenz. Der Iran war schon immer ein Vielvölkerstaat. Er schützt seine Minderheiten – ergänzt unsere Reiseleiterin. Das religiöse Spektrum ist vielfältig. Von den 78 Millionen Iranern besteht die grosse Mehrheit aus Schiiten (89%) und Sunniten (9%) neben den Minderheiten der Bahai, Christen, Juden, Yaresan und Zarathustriern. Religiöse Minderheiten sind auch im Parlament vertreten, mit zwei Sitzen für die armenischen Christen und je einem Sitz für die assyrischen Christen, die Juden und die Zarathustrier. Die iranische Realität zeigt uns, dass ein friedliches Zusammenleben zwischen Schiiten, Sunniten und religiösen Minderheiten in der islamischen Welt möglich ist. Auch in Syrien und im Irak war dies möglich, bevor der Westen in seiner Gier nach Ressourcen und geopolitischen Vorteilen diese Länder verheert hat. ■

 

Seit 400 Jahren friedliche Koexistenz von Muslimen und Christen im Iran
hhg.1598 bestimmte Schah Abbas I. ­Isfahan zur neuen Hauptstadt des safawidischen Reiches, die prachtvoll aufgebaut werden sollte. Er siedelte rund 30 000 Armenier an, die wegen ihre Kunstfertigkeit und ihren Fähigkeiten als Handwerker und Kaufleute hohes Ansehen genossen. Sie trugen zur Blüte der Stadt bei und wurden vom Schah auch in Verwaltung und Militär eingesetzt. In Isfahan entstand ein armenisches Viertel (Jolfa) mit 13 Gemeinden und Kirchen sowie einem armenischen Friedhof. Ihre Nachkommen, rund 80 000 christlich-orthodoxe und einige hundert katholische Armenier, leben heute vor allem in ­Isfahan, Teheran und Tabriz.

Der Neoliberalismus entmündigt nationale Volkswirtschaften

Reinhard Koradi

Die Weltwirtschaft lahmt, die Finanzkrise mit erheblichem Geldvernichtungspotential hält uns weiter auf Trab, und neue Arbeitsplätze werden trotz der ungebremsten Geldschwemme kaum geschaffen. Dennoch singen die Jünger des Neoliberalismus ihre Loblieder auf die «unsichtbare Hand des Marktes» und beschwören die angeblich süssen Früchte der neoliberalen Wirtschaftsordnung. Selten wurde eine Wirtschaftsdoktrin mit einer derartigen Unbelehrbarkeit verteidigt respektive als einziger Weg zu Wohlstand und Wirtschaftswachstum propagiert. Dies, obwohl die wirtschaftliche Realität die neoliberalen Verheissungen längst überrollt hat. Um die davonschwimmenden Felle doch noch zu retten, versucht die Finanz­elite unter der Obhut willfähriger Regierungen gegen den Willen ihrer Bevölkerung und auch gegen jede Vernunft, Freihandelsverträge zu erzwingen. Ob CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement zwischen Kanada und der EU), TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership zwischen den USA und der EU) oder andere Freihandelsabkommen, der sogenannte «freie Handel» raubt den nationalen Volkswirtschaften das Werkzeug, das sie dringendst bräuchten, um ihre Wirtschaft in Ordnung zu bringen. Die durch die Abkommen ausgebreiteten transnationalen Teppiche verunmöglichen, die aktuellen nationalen Herausforderungen zielgerecht zu lösen, und zwar mit Rücksicht auf die vorhandenen Ressourcen und Bedürfnisse der Menschen im entsprechenden Land. Jede einzelne Volkswirtschaft steht aufgrund unterschiedlichster Ausgangslagen vor länderspezifischen Aufgaben, die sich nicht durch einen Einheitsbrei nach neoliberalen Rezepten lösen lassen.
Jede Volkswirtschaft unterliegt einem Lebenszyklus: Am Anfang steht die Entwicklung einer Volkswirtschaft. Auf die Entwicklungsphase folgen die Wachstums-, dann die Reife- und die Sättigungsphase am Schluss steht die Degeneration, die möglichst durch eine Wiederbelebung aufgefangen werden sollte. Die meisten westlichen Industrienationen sind in der Degenerationsphase und versuchen diese mit der Eroberung von neuen Exportmärkten (Freihandel) zu überwinden. Die Tatsache, dass sich die einzelnen Volkswirtschaften in unterschiedlichen Zyklus-Phasen befinden, China in der Wachstumsphase oder Afrika in der Entwicklungsphase bringt mit sich, dass ein global ausgelegter Teppich nach neoliberalem Wirtschaftskonzept an der wirtschaftlichen Realität scheitert. Selbst die Mitgliedsländer der EU klaffen bezüglich ihrer Entwicklung weit auseinander und ertragen daher keine wirtschaftspolitische Uniformität. Jede einzelne Volkswirtschaft steht aufgrund unterschiedlichster Ausgangslagen vor länderspezifischen Aufgaben, die sich nicht durch einen Einheitsbrei nach neoliberalen Rezepten lösen lassen. Donald Trump, neu gewählter US-Präsident, hat dies wohl erkannt und in seinem Wahlkampf Vorbehalte gegenüber dem Freihandel geäussert. Sein Wahlversprechen, die amerikanische Volkswirtschaft nach den Bedürfnissen der Menschen in den USA auszurichten und einheimische Arbeitsplätze zu fördern respektive zu schaffen, könnte weltweit ein Umdenken einleiten. Sein überraschender Wahlerfolg wird andere dazu bewegen, den bisherigen neoliberalen Wirtschaftskurs ebenfalls zu hinterfragen und Anlass sein, Lösungsvorschläge zu entwickeln, die einer intakten nationalen Volkswirtschaft erste Priorität einräumen.

Ein souveräner Staat muss die Wirtschaftspolitik lenken können

Der Ursprung der meisten ökonomischen Fehlentwicklungen liegt im Marktversagen. Eine Volkswirtschaft ist kein Selbstläufer, in besonderen Situationen braucht es Eingriffe durch den Staat, um die Wirtschaft, abgestimmt auf die spezifischen Interessen des Staates und dessen Bevölkerung, wieder auf die richtige Bahn zu bringen. Dies wollen die Eliten aber mit allen Mitteln verhindern, da die Interessen eines Staates kaum mit den Interessen der Finanzwelten übereinstimmen. Unter dem Vorbehalt, dass der Volkswille res­pektiert wird, hätte eine durch souveräne Staaten entwickelte und umgesetzte Wirtschaftspolitik zur Folge, dass der Trend zur einseitigen Nutzenoptimierung einer kleinen Elite zu Gunsten des Gemeinwohls durchbrochen würde. Der aktuelle Zustand der Wirtschaft fordert die Ablösung der neoliberalen Laissez-faire-Doktrin. Die Staaten müssen das Heft über die Wirtschaft wieder in die eigene Hand nehmen und mit gezielten Massnahmen die Fahrt ins neoliberale Chaos stoppen. Es ist die Aufgabe eines Staates, die gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen zum Wohl der gesamten Bevölkerung aktiv zu gestalten.

Freihandelsabkommen – eine Waffe im Kampf um Macht und Geld?

Freihandelsverträge mit multinationaler Einbindung erweisen sich als schlagkräftige Waffe, um diese Einflussnahme zu verhindern. Mit einer Unterschrift lassen sich sämtliche demokratischen Hürden überwinden und damit die Durchsetzung der neoliberalen Wirtschaftsdiktatur beschleunigen. Der durch die Vertragswerke amputierte Nationalstaat verliert die Kontrolle über seine Wirtschaft und damit auch sämtliche Gestaltungsmöglichkeiten. Der Freihandel ebnet den Weg zur Diktatur der Wirtschaft über die Politik. Ungehindert kann die Finanzaristokratie ihre eigennützigen Ziele verfolgen. Ohne Rücksicht auf übergeordnete Interessen lassen sich so Herrschafts- und Gewinnansprüche optimieren.
Gegen diese Machtübernahme regt sich im Volk Widerstand. TTIP und CETA lassen sich nicht mehr so leicht durchwinken. Die Menschen realisieren je länger, je mehr, dass Wirtschaftswachstum und preisliche Wettbewerbsfähigkeit durch Souveränitäts-, Arbeitsplatz-, Einkommensverlust und letztlich durch den Abbau der sozialen Sicherheit finanziert werden. Die Kosten dafür zahlen die Bürger und nicht die, die die Verträge aushandeln und abschliessen.

Wirtschaftskurs auf falscher Fährte

Für die Superreichen ist bis anhin die Rechnung der Eliten aufgegangen. Für das Jahr 2013 ergaben entsprechende Untersuchungen, dass 92 Multi-Milliardäre genauso viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammen – das sind mehr als 3,5 Milliarden Menschen. Im Jahr 2015 waren es nur noch 80, obgleich die Weltbevölkerung zunahm. So stieg das Vermögen der 80 reichsten Clans seit 2010 von 1,3 auf 1,9 Billionen Dollar. Nicht weniger aufschlussreich ist die regionale Verteilung des Reichtums. Beinahe 1/3 der auf der Forbes-Liste aufgeführten 1645 Milliardäre verfügen über einen US-amerikanischen Pass oder leben in den Vereinigten Staaten.1 Auf der Negativseite stellen wir seit 1980 in den westlichen Industriestaaten ein neues Phänomen fest: die «Neue Armut». Die zunehmende Einkommensungleichheit ist das Resultat neoliberaler Wirtschaftsordnungen. Der Begriff «working poor» belegt die unbefriedigende Situation. Viele Arbeitnehmer haben zwar eine Arbeitsstelle, aber der Lohn reicht nicht, um die Lebenshaltungskosten zu bestreiten. Die neuen Arbeitsstellen mit Niedrigstlöhnen mögen zwar für einen flüchtigen Moment die Arbeitsplatzmisere beschönigen, können aber nicht über das soziale Elend einer allein auf Tiefstpreise ausgerichteten Wettbewerbs- und Wachstumspolitik hinwegtäuschen.
Die Rentenkürzungen aufgrund der wertvernichtenden Geldmengenpolitik (Negativzinsen in der Schweiz) sind ein weiteres Beispiel einer verfehlten Wirtschafts- und Geldpolitik. Nicht minder zu beklagen ist die bedrohliche Schieflage namhafter Banken (Deutsche Bank und die drittgrösste Bank Italiens, Monte dei Paschi di Siena). Bleibt noch der Fingerzeig auf das ungelöste Hungerproblem. Noch immer leben 795 Millionen Menschen auf der Welt, die nicht genug zu essen haben. Zwar ist die Zahl der Hungernden seit 1990 um 216 Millionen zurückgegangen. Doch die Bilanz der neoliberalen Wirtschaftsdoktrin ist völlig unbefriedigend und darf unverblümt als gescheitert erklärt werden.

Kehrtwende drängt sich auf

Was tun? Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Im Vordergrund steht allerdings, CETA und TTIP zu verhindern. Vereinzelte Städte versuchen sich durch die Selbstdeklaration «TTIP-freie Städte» aus der Umklammerung zu befreien. In Deutschland sollen sich bereits knapp 300 Kommunen zu TTIP-freien Zonen erklärt haben, und auch in der Schweiz beginnt die Kampagne Fuss zu fassen. Inte­ressanterweise scheinen selbst der IWF (Internationaler Währungsfond) und die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), bis anhin glühende Verfechter des neoliberalen Kurses, kalte Füsse zu bekommen. Vor allem die fortschreitende «Einkommensungleichheit» in der Wirtschaft führt zu mahnenden Worten seitens dieser Organisationen. Inwieweit dies hauptsächlich der Imagepflege dient oder wirklich ernst gemeint ist, wird die Zukunft zeigen. Der IWF befürwortet einen Ausgleich für ärmere Schichten, da diese ihr Geld komplett ausgeben und damit die Konjunktur stützen würden. Und die OECD warnt vor einer allzu grossen Kluft zwischen Arm und Reich, da dies zu sozialen Unruhen führen könnte.2
Wesentlich scheint mir jedoch, dass wir als Bürger aktiv werden und bewusst unsere Rechte im Rahmen der demokratischen Rechte und Pflichten wahrnehmen. Solange wir uns von den Eliten das Fell ohne Widerstand scheren lassen, haben diese keinen Grund, ihre Politik zu ändern. Die Basis muss sich bewegen, damit oben die Warnlichter blinken. Jeder unter uns müsste ein ernsthaftes Engagement gegen die Diktatur des Geldes entwickeln. Dabei geht es nicht um Neid und Missgunst, sondern ganz allein um den inneren Zusammenhalt. Den schaffen wir, indem wir uns zusammentun, unabhängig von unserer politischen Ausrichtung. Ein offenes Gespräch unter den Bürgern müsste organisiert werden, denn noch einmal: Was mit unseren demokratischen Institutionen und unserem angesparten Geld geschieht und wie die Lasten oder Gewinne verteilt werden, ist keine Privatsache eingeweihter Kreise, sondern geht ans Lebendige bei jedem von uns. ■

1  vgl. 3 sat.; 20.1.2015 mit Bezug auf eine entsprechende Studie der britischen Hilfsorganisation Oxfam
2 vgl. Deutsche Wirtschaftsnachrichten vom 20.7.2014

«Unserer dualen Berufsbildung müssen wir Sorge tragen»

Unter dem Motto «Mach dich schlau» fand am 5. November in Flawil zum ersten Mal ein Lehrstellen-Forum statt

Susanne Lienhard

Zeitungsmeldungen über einen zunehmenden Fachkräftemangel mehren sich, das Gewerbe hat Schwierigkeiten, offene Lehrstellen mit geeigneten und motivierten jungen Leuten zu besetzen. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, hat der Flawiler Gewerbeverband die Initiative ergriffen und am 5. November im Lindensaal das erste Lehrstellen-Forum organisiert. Er möchte damit Jugendliche, Eltern und Lehrer für die aktuellen Lehrstellenangebote heimischer Unternehmen sensibilisieren und das Interesse für eine Ausbildung in einem Handwerksberuf oder ganz einfach für eine Berufslehre wecken. 31 Unternehmen nutzten die Chance: Engagierte Berufsleute, Lehrmeister mit ihren Lehrlingen stellten über 45 Berufsbilder vor.

Interessierte Jugendliche und ihre Eltern unterhalten sich mit Lehrmeistern und Lehrlingen der anwesenden Flawiler Lehrbetriebe. (Bild ak)

Interessierte Jugendliche und ihre Eltern unterhalten sich mit Lehrmeistern und Lehrlingen der anwesenden Flawiler Lehrbetriebe. (Bild ak)



Schon kurz nach der Türöffnung um 9 Uhr ist im Lindensaal reges Treiben. Interessierte Jugendliche und ihre Eltern unterhalten sich mit Lehrmeistern und Lehrlingen der anwesenden Flawiler Lehrbetriebe. Da ein Vater mit seinem 15-jährigen Sohn im Gespräch mit einem begeis­terten Dachdeckerlehrling, dort eine Gruppe Jugendlicher, die von einem Velomechaniker wissen wollen, welche Voraussetzungen man mitbringen müsse, um Velomechaniker zu werden. Eine Möbelschreinerin im 3. Lehrjahr schwärmt von ihrem Beruf: «Ich mache gerne etwas mit den Händen, Holz ist ein wunderschönes, vielseitiges Material, und ich bin jedes Mal stolz, wenn ich ein fertiges Möbelstück vor mir habe und sagen kann: ‹Das habe ich gemacht.›» Ob die Arbeit körperlich nicht sehr anstrengend sei, wollte ein Schüler wissen. «Ich komme aus einer Bauernfamilie und habe dort schon immer zugepackt. Am Anfang der Lehre war ich abends zwar schon sehr müde. Aber jetzt nach 2 Jahren habe ich Übung, und es geht gut», bekommt er zur Antwort. Am Nachbarstand erklärt ein Elektronikerlehrling einem Oberstufenschüler eine Schalttafel, die er mit Hilfe des Lehrmeisters bereits im 1. Lehrjahr hat entwerfen dürfen. Nebenan geben zwei Landschaftsgärtner im 2. und 3. Lehrjahr über ihre Ausbildung Auskunft: «Wenn du gerne draussen in der Natur bist, Freude am Gestalten hast und Hand anlegen kannst, dann bringst du die nötigen Voraussetzungen für diesen Beruf mit.» Ein Jugendlicher will wissen, ob es nicht schwierig sei, sich all die Pflanzen und deren Eigenschaften zu merken. «Wenn du den Beruf lernen willst und motiviert bist, dann schaffst du es auch, dir die verschiedenen Pflanzen zu merken. Wir haben einen sehr guten erfahrenen Lehrmeister. Mit seiner Hilfe wächst man in den Beruf hinein. Das Wichtigste ist, dass du den Willen dazu hast», antwortet ihm der eine Lehrling. Sein Kollege ergänzt: «Weisst du, der Garten ist für manchen Kunden ein kleines Paradies, ein Erholungsraum. Wenn der Auftraggeber sich über das gelungene Resultat meiner Arbeit freut, dann freut mich das auch und motiviert mich, die Pflanzen und ihre Eigenschaften gut zu kennen.»
Die Begeisterung der angehenden Berufsleute und ihre Freude an ihrer Arbeit wirken anregend und erleichtern es den Jugend­lichen, die vor der Berufswahl ­stehen, sich ungezwungen über unterschiedliche Berufe zu informieren, neue Berufe kennenzulernen und ihre eigenen Neigungen und Vorlieben zu entdecken.

Handwerkliche Betriebe haben noch freie Lehrstellen

Im Gespräch mit Lehrmeistern erfahren wir, dass viele Unternehmen, vor allem im handwerklichen Sektor, noch freie Lehrstellen haben. Heute sei es nicht mehr so, dass man aus zahlreichen Bewerbungen auswählen könne. Viele junge Leute wollten sich die «Hände nicht mehr schmutzig machen» und zögen eine kaufmännische Lehre oder eine allgemeinbildende Schule einer Handwerkslehre vor. Ein Schreinermeister erklärt, dass viele Eltern und Jugendliche der irrigen Meinung seien, ein Handwerksberuf sei weniger wert und biete kaum Perspektiven. «Das stimmt nicht! Der Schreinerberuf zum Beispiel ist eines der ältesten Handwerke der Welt. Doch obwohl wir noch immer viel mit ursprünglichen Materialien wie Holz arbeiten, ist bei uns die Zeit nicht stehen geblieben – im Gegenteil! Wir entwerfen Möbelstücke am Computer, arbeiten an hochpräzisen, computergesteuerten Maschinen und beherrschen den Umgang mit den unterschiedlichsten Werkstoffen. Die 4-jährige Lehre ist besonders vielfältig. Sie verbindet klassisches Handwerk mit modernster Technik. Mit einer Schreinerausbildung stehen den jungen Berufsleuten unzählige Wege offen: von Abschlüssen innerhalb der Branche über Höhere Fachschulen bis hin zum Studium an einer Fachhochschule. Beliebt sind auch Zusatzlehren oder Weiterbildungen in verwandten Branchen, zum Beispiel als Innenausbauzeichner oder Gestalter im Handwerk.»
Ein Kollege gibt allerdings zu bedenken, dass die grosse Durchlässigkeit leider auch zur Folge habe, dass die besten Berufsleute in den tertiären Sektor abwanderten und dann als Handwerker dem Gewerbe nicht mehr zur Verfügung stünden. Ein Lehrmeister einer im Polybau tätigen Firma meint: «Wenn wir einen motivierten Lehrling haben können, dann nehmen wir ihn, selbst wenn wir eigentlich keine offene Lehrstelle haben. Aber man muss zupacken, wenn sich die Gelegenheit bietet. Im Polybau gibt es 5 Fachrichtungen: Abdichten, Dachdecken, Fassadenbau, Gerüstbau, Sonnenschutzsysteme. Im ersten Lehrjahr werden sie gemeinsam ausgebildet. Im zweiten und dritten Lehrjahr spezialisieren sie sich in einer der fünf Fachrichtungen. Handwerkliches Geschick, Trittsicherheit und eine robuste Gesundheit sind neben Durchhaltewillen und Freude an der Zusammenarbeit im Team und mit dem Auftraggeber wichtige Voraussetzungen. Wir machen die Erfahrung, dass die jungen Leute im Laufe der dreijährigen Berufslehre nicht nur zu Fachleuten werden, sondern auch lernen, im Team zusammenzuarbeiten, pünktlich und verlässlich ihre Aufgaben zu erfüllen, genau zu arbeiten und für das, was sie tun, auch Verantwortung zu übernehmen. Das sind alles Fähigkeiten, die sie auch sonst im Leben brauchen.»

Nachwuchsförderung, um einem zunehmenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken

Ein Elektroniker, der in seiner Firma seit 10 Jahren Lehrlinge ausbildet sagt: «Mein Wissen und meine Erfahrung den Lehrlingen weiterzugeben, macht auch viel Freude. Wir tun das auch für unseren Berufsstand. Wenn wir nicht für Nachwuchs sorgen, geht das Know-how verloren.» Der Landschaftsgärtner vom Tisch nebenan schaltet sich in das Gespräch ein: «Wir nehmen allerdings nur noch Lehrlinge, die den Beruf wirklich lernen wollen und motiviert sind. Da investieren wir gerne. Bewirbt sich jedoch ein Jugendlicher für eine Lehrstelle und begründet seine Wahl damit, dass er eben nichts anderes gefunden habe und er halt etwas lernen müsse, genügt das nicht. Dann nehmen wir in Kauf, die Lehrstelle nicht zu besetzen. Wir müssen merken, dass er den Beruf lernen will. Das Ausland beneidet uns um unsere ausgezeichnete duale Berufsbildung. Wenn es uns aber nicht gelingt, der jungen Generation die Berufslehre und insbesondere die handwerklichen Berufslehren als gleichwertige Alternativen zur kaufmännischen Ausbildung oder zum gymnasialen Weg schmackhaft zu machen, werden wir in den Handwerksberufen keinen qualifizierten Nachwuchs mehr haben. Dies hätte für zahlreiche KMUs gravierende Folgen. Bereits heute müssen wir auf ausländische Arbeiter zurückgreifen, die oft über keine solide fachliche Grundausbildung verfügen. Wir müssen ihnen vieles erst beibringen, wenn wir die Qualitätsstandards hochhalten wollen.»

Brücken bauen zwischen Eltern, Jugendlichen, Schule und ansässigem Gewerbe

Der Präsident des Flawiler Gewerbeverbandes, Marcel Kuhn, ist der festen Überzeugung: «Wir müssen unserer ausgezeichneten dualen Berufsbildung Sorge tragen. Die praktische Arbeit unter fach­kundiger Anleitung im Betrieb (3–4 Wochentage) in Kombination mit einer schulischen Ausbildung (1–2 Tage pro Woche und zusätzlichen überbetrieblichen Kursen) bringt Berufsleute von hoher Qualität hervor. Dessen sind sich viele Eltern und Jugendliche nicht mehr bewusst. Insbesondere Eltern mit Migrationshintergrund glauben oft, dass ihr Kind nur mit der Matura auf dem Arbeitsmarkt eine Chance habe. Das ist in der Schweiz nicht so. Der Gewerbeverband und die Berufsverbände sind gefordert, aufzuklären und dieser weit verbreiteten Meinung entgegenzuwirken. Wir haben deshalb beschlossen, mit dem ersten Flawiler Lehrstellen-Forum an die Öffentlichkeit zu treten und Jugendlichen und Eltern die Möglichkeit zu geben, die verschiedenen Berufslehren, die heimische Unternehmen anbieten, kennenzulernen und ungezwungen mit Lehrmeistern und Lehrlingen ins Gespräch zu kommen.
Unsere Initiative ist bei den Betrieben und bei den Oberstufenlehrern auf sehr positives Echo gestossen. 31 Betriebe haben von 8 bis 9 Uhr ihre Informationsstände aufgebaut. Von 9 bis 12 Uhr geben Lehrmeister und ihre Lehrlinge Auskunft über mehr als 45 Berufsbilder. Viele Oberstufenschülerinnen und Schüler sind mit Schreibblock und Stift im Saal unterwegs und holen sich zu den verschiedenen Berufslehren Informationen. Es freut uns, dass auch viele Eltern mit ihren Söhnen und Töchtern an diesem Samstagmorgen den Weg in den Lindensaal gefunden haben. Wir sind offensichtlich auf dem richtigen Weg. Für interessierte Jugendliche besteht auch die Möglichkeit in einem Betrieb eine Schnupperlehre zu machen, um einen vertieften Einblick in ein Handwerk zu bekommen. Es würde uns natürlich freuen, wenn in der Folge für das nächste Jahr auch der eine oder andere Lehrvertrag abgeschlossen werden könnte.»
Der Morgen im Flawiler Lindensaal ist wie im Flug vergangen. Das Engagement der Lehrbetriebe, der jungen Generation eine solide berufliche Grundausbildung zu geben, und der Stolz, mit dem Lehrmeister und Lernende ihre anspruchsvolle und vielseitige Arbeit den Besuchern vorstellten, waren eine wahre Freude. Das Lehrstellen-Forum hat einen äusserst lebendigen Einblick in die vielfältigen Berufslehren gegeben und der dualen Berufsbildung die ihr gebührende Achtung verschafft. ■

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