Krieg als Mittel der Auseinandersetzung für immer verbannen

Nachdem im Jahre 1859 der Schweizer Henri Dunant mit seinem übermenschlichen Einsatz in Castiglione delle Stiviere nach der fürchterlichen Schlacht von Solferino mit der humanen Einstellung «Tutti Fratelli» (alle sind Brüder) den Grundstein für das Humanitäre Völkerrecht gelegt und damit der Menschheit einen Ausweg aus der Misere gezeigt hatte, schien zumindest im Kriegsvölkerrecht eine neue Ära angebrochen zu sein. Tatsächlich hat man in den folgenden Jahrzehnten das Kriegsvölkerrecht verfeinert und mit der Dritten und vor allem der Vierten Genfer Konvention 1949 den Krieg indirekt für undurchführbar erklärt. Die Uno-Charta, die unter ganz strengen Auflagen nur den Verteidigungskrieg und bei Gefährdung des Weltfriedens militärische Aktionen erlaubt, hat mit dem Prinzip der Einstimmigkeit im Sicherheitsrat ebenfalls eine weitere grosse Hürde für die Durchführung von Krieg aufgestellt. Dennoch sehen wir auf unserer Welt immer wieder Krieg, Zerstörung, Gewalt und unermessliches Leid; nicht überall auf der Erde ist Krieg, aber dort, wo er wütet, ist er verheerend. Das alles müsste nicht sein, wenn man sich an die bestehenden internationalen Normen halten würde. Warum geschieht das nicht? Homo homini lupus? Ein Blick nach Syrien, nach Libyen, nach Afghanistan zeigt seit bald mehr als einem Jahrzehnt Leid und Zerstörung und würde prima vista diese Aussage bestätigen.

Kriegspropaganda nimmt eine zentrale Rolle ein

Als Woodrow Wilson während des Ersten Weltkriegs durch die US-amerikanischen Grossbanken genötigt wurde, in den Krieg einzutreten, damit ein Sieg über die Mittelmächte das grosse Kreditvolumen, das die US-Banken den Franzosen und Briten gewährt hatten, wieder zurückfliessen lassen würde, brauchte es sehr, sehr viel Propaganda und Kriegslügen, bis er das US-amerikanische Volk auf Kriegskurs gebracht hatte. Seit dem Ersten Weltkrieg nimmt die Kriegspropaganda eine zentrale Rolle in der Kriegsführung ein. Verfeinert und ausgeklügelter über das Internet und über die sogenannten Social Medias werden ­Lügen und Halbwahrheiten heute in Windeseile verbreitet, die den Menschen alles vergessen lassen sollen, was ihm wert und heilig ist: den Erhalt des Lebens, das Zusammenleben in Frieden.

Materielle Güter werden über das menschliche Leben gestellt

Heute wie damals 1914 ist sehr viel Geld im Spiel, wenn es um Krieg geht. Gerade der Nahe Osten mit seinen (un)endlichen Ölressourcen ist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein Objekt der Begierde. Die materiellen Güter werden über das menschliche Leben gestellt und somit der Krieg gerechtfertigt. US-Senator Wayne Morse stellte sich 1964 gegen die auf einer Lüge basierende Tonkin Resolution, die Präsident Lyndon B. Johnson grünes Licht für die Bombardierung Nordvietnams gab und die USA in einen 10jährigen Krieg zog, der mindestens 3 Millionen Menschen um ihr einmaliges Leben brachte. Wayne Morse verlangte, dass die Bevölkerung über die Aussenpolitik des Landes bestimmen müsse und deshalb die Regierung verpflichtet sei, alle Fakten ohne Propaganda und ohne Manipulation auf den Tisch zu legen. Wäre das der Fall gewesen, hätte man keinen Vietnamkrieg geführt.
Nicht der Mensch ist des Menschen Wolf, sondern durch Manipulation und Propaganda werden wir so beeinflusst, dass wir uns kein objektives Bild von der Lage und ihren Hintergründen machen können. Wir werden mit emotional aufgeladenen Bildern und Kommentaren in die Irre geleitet, weil eben andere (Macht- und Geld-)Interessen dahinterstehen. Um Fakten geht es nie. Der Irak-Krieg und seine Kriegslügen ­haben das der ganzen Welt drastisch vor Augen geführt. Man reibt sich die Augen, dass heute wieder ähnliche Mechanismen wie damals ­gezielt eingesetzt werden können. Doch allen staatlichen und ­medialen Beeinflussungsversuchen zum Trotz hat sich in vielen europäischen Staaten die Mehrheit der Bevölkerung damals gegen einen Krieg z. B. in Afghanistan oder im Irak ausgesprochen. Aber die Regierungen haben das ignoriert und gegen den Willen ihrer Völker Soldaten in den Krieg geschickt. Mit welchem Erfolg?

Verhandlungen mit Assad strikt abgelehnt

Die Ereignisse in und um Aleppo füllen heute die Medien. Mit emotionalisierenden Bildern und herzzerreissenden sms von Kindern mitten in Aleppo soll der Letzte davon überzeugt werden, dass Assad und Putin die schlimmsten Herrscher dieser Erde sind. Hatten wir das 2003 im Irak und 2011 in Libyen nicht schon einmal? Als 2011 der Bürgerkrieg in Syrien angezettelt wurde und es dringend Gespräche zwischen der wie auch immer gearteten Opposition in Syrien und der Regierung Assad gebraucht hätte, waren die Stellungnahmen der involvierten Staaten wie der USA, Saudi-Arabiens und der Türkei eindeutig: «Es gibt keine Verhandlungen mit Assad!» Im Uno-Menschenrechtsrat haben die sogenannten westlichen Länder einhellig betont, «Es gibt in Syrien keine Lösung mit Assad, Assad muss weg, erst dann wird verhandelt.» Damit hat man in Kauf genommen, dass es Zehntausende von Toten geben wird. Heute, fast 6 Jahre später, und nach über 200 000 Toten – genaue Zahlen kennt man nicht – über diese «unnötigen Opfer» zu klagen und sich wie Frau Merkel «entsetzt über das menschliche Elend» zu zeigen, ist zynisch. Hätte man von Anfang an auf Verhandlungen gesetzt, die von einer ehrlichen Haltung bestimmt gewesen wären, hätte man über 200 000 Menschen vor dem Tod bewahren können. Aber das Ziel war ein anderes, man wollte Assad weg haben, und dafür hat man die Menschen geopfert, für die direkt Betroffenen und die übrige Menschheit eine Katastrophe. Wäre die Rechnung aufgegangen, hätte man das als den Preis genannt, der dafür zu zahlen gewesen sei. Es ist eine Schande.

Nato sehr wohl am Krieg in Syrien beteiligt

Die aktuellen Erklärungen des ­Nato-Generalsekretärs, die Nato habe nicht eingegriffen, um die Situation nicht eskalieren zu lassen, sind reine Propaganda, zeigen aber, dass die Nato ihre ursprüngliche Aufgabe, bei einem Angriff auf einen ihrer Bündnispartner gemeinsam die Verteidigung zu übernehmen, schon längst ad acta gelegt hat, und sich heute, da sie keinen Widerpart hat, berechtigt fühlt, auf der Welt einzugreifen, wo immer sie will, wenn es opportun ist. Tatsache bleibt, dass die Nato sehr wohl am Krieg in Syrien beteiligt ist. Die USA als stärkste Macht der Nato und die Türkei als stärkste Macht an der Grenze zum Nahen Osten, ebenfalls Nato-Mitglied, haben die Rebellen mit Hilfe von Saudi-Arabien in Syrien kontinuierlich mit Waffen versorgt und damit einen Krieg in diesem Ausmass erst ermöglicht.
Der US-amerikanische Buchautor und Journalist Norman Salomon hat 2008 in einer Dok-Sendung des Schweizer Fernsehens DRS gesagt, «wenn wir Menschen uns mit Hingabe und innerem Engagement darum bemühen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, dann können wir Kriege verhindern.» Wenn wir verstehen, «wie der Krieg in unsere Köpfe kommt, dann wird es möglich sein, in Zukunft den Krieg zu besiegen.»
Was heute offensichtlich fehlt, ist eine menschlich ethische Grundhaltung in der Politik und der unbedingte Wille, Probleme ohne Krieg lösen zu wollen. Nirgendwo wird so viel gelogen wie in der Politik. Deshalb braucht es ein Korrektiv. Und das kann, wie Wayne Morse es gefordert hat, nur ein aufgeklärtes und umfassend informiertes Volk sein. Was Henri Dunant in der Kirche von Castiglione delle Stiviere begonnen hat, muss uns auch heute Richtschnur sein, den Krieg als Mittel der Auseinandersetzung für immer zu verbannen. Mit der direkten Demokratie der Schweiz und der Mitsprache der Bevölkerung wäre es nicht möglich, Schweizer Soldaten in irgendeinen Krieg zu hetzen. Wayne Morse hatte Recht, auch wenn er in der Kriegshysterie von 1964 ein einsamer Rufer in der Wüste war. Es gibt unzählige Beispiele in der Geschichte, in denen nicht der Krieg die Lösung gebracht hat, sondern nur das Reden am Verhandlungstisch.
Wenn wir in wenigen Tagen das christliche Fest der Liebe und Versöhnung begehen, sollten wir uns daran erinnern, was unsere Aufgabe auf dieser Erde ist: Uns im ständigen Bemühen dafür einzusetzen, dass der internationale Frieden erreicht werden kann und dass das friedliche Zusammenleben der Menschen oberstes Ziel bleibt. Lassen wir nichts unversucht. ■
 
Die Redaktion

«Syrien war eine Oase im Nahen Osten»

Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas

Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas  (Bild thk)
Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas (Bild thk)

Drittstaaten dürfen Rebellen nicht unterstützen

Zeitgeschehen im Fokus: In Syrien haben die Regierungstruppen mit Unterstützung Russlands Aleppo aus den Händen der Rebellen befreit. Es gibt viel Kritik am Vorgehen Assads und seiner Verbündeten. Wie ist die Situation aus völkerrechtlicher Sicht zu betrachten?

Professor Alfred de Zayas: Rechtlich betrachtet handelt es sich hier um einen Bürgerkrieg. Die Genfer Rotkreuzkonventionen von 1949 und Protokolle von 1977 bestimmen das Kriegsvölkerrecht. Auf beiden Seiten sind Kriegsverbrechen begangen worden, die geahndet werden müssen. Wichtig ist vor allem zu betrachten, dass in einer Bürgerkriegssituation alle übrigen Staaten eine Verpflichtung zur Neutralität und Nichteinmischung haben. Fremde Staaten dürfen nicht intervenieren, denn Intervention stellt eine gravierende Verletzung der territorialen Integrität und der Souveränität des Staates dar, hinzu kommt eine Verletzung des internationalen Gewaltverbots gemäss Artikel 2(4) der UNO Charta.

Aber Russland ist vor Ort und hilft im Kampf gegen die Rebellen.
Eine Intervention, die auf einer Resolution des Sicherheitsrates unter Kapitel VII beruht, wäre mit dem Völkerrecht vereinbar. Eine andere legale Möglichkeit ist gegeben, wenn die Regierung des Landes, das im Bürgerkrieg steht, ein drittes Land um Hilfe bittet. Immerhin ist Assad die legitime Regierung und seiner Zeit wurde er nach der Verfassung des Landes gewählt. Damit ist er Staatsoberhaupt von Syrien. Während Drittstaaten Rebellen nicht unterstützen dürfen, darf das Staatsoberhaupt andere Länder um Hilfe bitten. Das geschah in bezug auf Russland.

Kümmert sich überhaupt jemand darum, wenn sich ein Staat illegal einmischt?
Es gibt Urteile des Internationalen Gerichtshofs. Im Jahre 1985 wurden die USA im Falle Nicaraguas verurteilt, weil sie eine Rebellengruppe, die in Nicaragua aktiv war, mit Waffen beliefert sowie mit Geld unterstützt hatten und damit gegen das Völkerrecht verstiessen.

Dann hätte man eigentlich ein Instrument, das hier zum Einsatz kommen könnte.
Ja, wir können in der Geschichte auch noch etwas weiter zurückgehen. Während des amerikanischen Bürgerkriegs haben die Engländer die Südstaaten unterstützt. Nicht weil sie Sympathien mit den Südstaaten hatten, es war ganz einfach ein Geschäft. Sie haben Waffen geliefert und Schiffe gebaut. Nachdem der Norden gewonnen hatte, bat der damalige US-Präsident die Engländer zur Kasse. Die Verhandlungen fanden hier in Genf im Hôtel de Ville statt. Das war die erste internationale Schiedsgerichtsbarkeit mit dem Namen Alabama Schiedsgerichtsbarkeit, die England verurteilte, weil es sich auf der Seite der Rebellen eingemischt hatte. England hatte das Urteil akzeptiert.

Damit ist das Verbot der Nichteinmischung also nichts Neues und kann auch niemanden erstaunen.
Das sollte niemanden erstaunen, aber Politiker berufen sich auf das Völkerrecht nach Belieben, und was ihnen nicht passt, wird einfach ignoriert. Ausserdem verstehen die Medien nichts vom Völkerrecht und berichten nicht über das, was sie ohnehin nicht wollen. Da sind etliche Resolutionen der UNO-Generalversammlung, die die Einmischung in die inneren Angelegenheiten von anderen Staaten verbieten, z. B. in der Resolution 2625 über die freundlichen Beziehungen zwischen den Staaten. Auch die Resolution 3314, die Deklaration über die Aggression, hält das fest. Mit anderen Worten, die Einmischung durch alle Staaten, die die Rebellen in Syrien unterstützen, bedeutet im Völkerrecht Aggression, was nach Artikel 5 des Statuts von Rom verboten ist.

Angewendet auf Syrien hiesse das, dass …
… jene Staaten, die die Rebellen unterstützen, die Souveränität und die territoriale Integrität des Landes verletzt haben, wofür sie wie im Fall Alabamas wiedergutmachungspflichtig sind. Hauptsache ist natürlich, an den Verhandlungstisch zu kommen und zu verhandeln, um den Frieden so schnell wie möglich zu erlangen, so wie es im Artikel2(3) der UNO-Charta vorgesehen ist. Soweit ich mich erinnern kann, hat sich Assad immer bereit erklärt, einen Frieden durch Verhandlungen,  durch Diplomatie zu erreichen.

Warum kam das bis jetzt nicht zustande?
Eine Reihe von Staaten hat das nicht gewollt. Die Interventionis­ten haben sich erhofft, einen militärischen Sieg gegen Assad zu erringen. Das wäre wahrscheinlich der Fall gewesen, wenn sich Assad nicht an Russland gewandt hätte. Ohne russische Hilfe, die wie gesagt völkerrechtskonform ist, wäre Assad schon gefallen.

Wie schätzen Sie die Lage jetzt ein?
Es sieht so aus, dass Assad jetzt möglicherweise militärisch gewinnt. Dann müssen wir sehen, wie schnell die internationale Gemeinschaft konkrete Hilfe für die Opfer des Krieges zur Verfügung stellt. Das bedeutet natürlich eine Anerkennung der Tatsachen, und dass es jetzt um die Menschen dort geht und man allen Menschen, die dort gelitten haben, hilft und sie entschädigt. Aber man hört ganz andere Töne. Man will Assad als Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag belangen.

Was halten Sie davon?
Der Kriegszustand im Nahen Osten wird durch Diffamierungen Assads, Hetze und den Missbrauch von juristischen Mitteln verlängert. Man will ihm die Etikette des Kriegsverbrechers aufprägen. Dies ist aber sehr selektiv und manifestiert eine gehörige intellektuelle und emotionale Unredlichkeit der Politiker, denn man redet nicht darüber, andere Staatsoberhäupter in der Region zu belangen, deren Truppen und Piloten auch etliche Kriegsverbrechen begangen haben.

Woran denken Sie konkret?
Meine Bedenken bestehen so lange, wie die grössten Verbrechen des 21. Jahrhunderts, nämlich die Verbrechen verbunden mit dem Irak-Krieg, Libyen-Krieg und Afghanistan-Krieg nicht vor den internationalen Strafgerichtshof kommen. Es ist absolut unglaubwürdig und hat keine Legitimität, willkürlich diesen oder jenen zu belangen. Wenn Assad belangt werden sollte, dann müsste man eine ganze Reihe anderer Staatsoberhäupter zuerst vor Gericht bringen.

Es ist offensichtlich, dass die Akzeptanz dieses Gerichtshofs sinkt.
Weil er sich in einigen Fällen nicht neutral verhält, hat eine ganze Reihe von Staaten das Statut gekündigt. Und wenn die Politik des Internationalen Strafgerichtshof nicht geändert wird, dann werden sicher sehr viel mehr Staaten dieser Kündigung Folge leisten. Denn noch immer ist es eine Waffe der Stärkeren gegen die Schwächeren.

Ist der Plan, Assad dort anzuklagen, nicht auch ein Resultat der Fehlinformation über die ganze Situation in Syrien?
Ja, die Medien haben hier eine entscheidende Rolle gespielt. Sie haben die militärischen Angriffe Assads gegen die Rebellen hochgespielt und die Zahl der Opfer übertrieben. Dagegen, wenn die Rebellen chemische Waffen eingesetzt und damit deutliche Kriegsverbrechen begangen haben, werden diese Verbrechen nicht berichtet, oder sie werden bagatellisiert. Das habe ich so oft in den letzten fünf Jahren festgestellt. Man kann sich nicht mehr auf die Presse verlassen. Die Medien sind in diesem Krieg eine bedeutende Waffe. Man beklagt, was mit Neologismen gut beschrieben wird: «Fake news» und «Post-truth» Berichterstattung.

Man hat den Eindruck, dass die Mehrheit der Medien auf der Seite der Rebellen steht.
Ja, die Berichterstattung ist durch und durch einseitig. Ich hoffe, dass die NGOs hier ihre Verantwortung wahrnehmen und neutral bleiben. Auch Hilfsorganisationen wie das IKRK müssen sich konsequent neutral verhalten. In den letzten Tagen wurden durch die Rebellen eine Anzahl russischer Ärzte getötet und anscheinend ein kleines Feldlazarett im Westen Aleppos durch die Rebellen gezielt bombardiert. Da hat sich das IKRK leider nicht entsprechend dazu geäussert.

Was bedeutet das?
Eine international anerkannte und glaubwürdige Organisation wird dadurch an Glaubwürdigkeit einbüssen. Das halte ich für ausserordentlich bedauerlich. Ich hoffe, dass der Krieg aufhört und dass man schnell mit dem Wiederaufbau des Landes beginnt. Mein Appell an alle europäischen Staaten: Helfen Sie diesen armen Menschen. Die eine Million Flüchtlinge werden dann wieder nach Hause gehen, wenn sie nicht nur Trümmer vorfinden, sondern wenn die Infrastruktur, die Wasserversorgung, die Elektrizität, die Häuser usw. schnell wieder aufgebaut werden, damit sie dort wieder leben können. Man muss es möglich machen, dass sie ein würdiges Leben in Syrien weiterführen können. Vor dem Bürgerkrieg war Syrien eine Oase im Nahen Osten, wo ein hoher Grad an Wohlstand, Ausbildungsmöglichkeiten und Toleranz zwischen den Religionen herrschte. Aber so wie man Irak, Libanon und Libyen kaputt gemacht hat, so hat man es mit Syrien getan. Ausserdem, was die Neologismen betrifft, kann ich das propagandistische Wort «Arab Spring» nicht mehr hören. Es handelt sich nicht um einen grünen Frühling, sondern um ein rotes Chaos der Interventionisten.

Was halten Sie von der Entwicklung in Aleppo?
Ich möchte es nicht, wie manche Medien es tun, als «Sieg» ­Assads bezeichnen. Assad hat lediglich die Autorität des syrischen Staates über Aleppo nach 4 Jahren Besetzung durch «Rebellen» und Terroristen wiederhergestellt. Es geht nicht um den «Fall» von Aleppo, wie man auf CNN und BBC hört und liest, sondern um seine «Befreiung». Jedenfalls ist es gut, dass für die arme Bevölkerung Aleppos die Waffen schweigen. Man wird ­sehen, ob die EU und die USA nun humanitäre Hilfe beisteuern, nachdem sie lange die «Rebellen» ­finanziert haben. Das wäre wenigstens ein Teil der Wieder­gutmachung dafür, was sie dort angerichtet haben. Aber, wenn ich die Berichterstattung in der New York Times oder Washington Post lese, habe ich nur mässig Hoffnung, dass sich der Westen endlich für den Frieden entscheidet. Der Geist des «regime change» ist noch vorhanden.

Russland wurde wegen seines Einsatzes in Syrien nicht mehr in den Menschenrechtsrat gewählt. Das war ein politischer Entscheid. Wie beurteilen Sie das?
In der Tat. Noch ein Beweis, wie politisiert der Menschenrechtsrat ist – sogar mehr als die frühere Menschenrechtskommission.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Das Gespräch entspricht der persönlichen Meinung von Professor de Zayas und wurde nicht offiziell in seiner Eigenschaft als unabhängiger Experte an der Uno geführt. Siehe auch www.alfreddezayas.com und http://dezayasalfred.wordpress.com

Eine Friedensbotschaft an Russland?

von Reinhard Koradi

Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges triumphierte der Westen und feierte den Sieg über den Kommunismus. Mit unverhohlener Schadenfreude wurde der Zerfall des ehemaligen Rivalen im Osten Europas verfolgt. Der Westen feierte mit unverkennbarer Euphorie die freie Bahn für eine kapitalistische Weltordnung! Relativ rasch begannen westliche Interessengruppen aus Politik, Wirtschaft und Militär, die vom sowjetischen Einfluss befreiten Staaten an ihre Brust zu nehmen. Geradezu missionarisch war der Eifer, um die ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes (Bündnis für den gegenseitigen Beistand unter der Führung der Sowjet­union) mit den Werten der kapitalis­tischen Ordnung vertraut zu machen. Die Propaganda kam an, und es gelang je länger, je mehr, die erst frei gewordenen Staaten erneut – diesmal in das kapitalistische Herrschaftssystem – einzubinden.

Nato-Erweiterung als Bedrohung Russlands

Für Russland, das sich über die Jahre hinweg wieder zu einem ernstzunehmenden Player auf internationaler Ebene entwickelt hat, ist die Ausdehnung der Nato über die ehemaligen Ostblockländer eine ernsthafte Bedrohung. Die Politik des Westens unter der Führung der USA ist eine Provokation Russlands und gefährdet den Frieden in Europa. Die Verbesserung der Beziehungen zu Russ­land müssten für die europäischen Staaten allererste Priorität haben. Das bedeutet unter anderem, dass die Europäer sämtliche politischen und diplomatischen Mittel zur Annäherung nutzen und sich nicht länger als Vollstrecker der amerikanischen Aggressionspolitik gegenüber Russland missbrauchen lassen dürfen. Unter dieser Prämisse sind die zwei Motionen von Nationalrätin Yvette Estermann, langjähriges Mitglied der aussenpolitischen Kommission, sehr zu begrüssen.

Beziehungen zu Russland normalisieren und mit dem Säbelrasseln aufhören

Yvette Estermann regt an, die Beziehungen zu Russland zu normalisieren und mit dem westlichen Säbelrasseln aufzuhören.
Es ist zu wünschen, dass dieser Aufruf zum Frieden auf breite Zustimmung in Bundesbern stösst und das Friedensangebot aus der Schweiz an Russland von den europäischen Ländern aufgegriffen wird. Es liegt im Interesse aller Europäer die angespannte Situation auf unserem Kontinent durch ein gut nachbarschaftliches Zusammenleben abzulösen und die gemeinsamen Interessen zu fördern. ■

«Die Bedrohung in Europa geht nicht von Russland aus, sondern von der Nato»

Interview mit Nationalrätin Yvette Estermann

Nationalrätin Yvette Estermann, SVP (Bild thk)
Nationalrätin Yvette Estermann, SVP (Bild thk)

Zwei Motionen zu Russland lanciert

Zeitgeschehen im Fokus: Was hat Sie bewogen, die beiden Russland-Motionen zu lancieren?
 
Nationalrätin Yvette Estermann: Ich beobachte die Entwicklung zwischen Russland und Europa sowie den USA schon seit langem, und es gefällt mir überhaupt nicht, wie Europa sich von Herrn Obama beeinflussen lässt, nicht mehr mit Russland zusammenzuarbeiten. Frau Merkel hat das Thema auch aufgegriffen, und wir als Schweizer haben das Ganze durch das Verbot der Umgehungsgeschäfte nochmals bestätigt. Das hat mich immer gestört. Ein zweiter Grund sind die Erfahrungen, die ich im Herbst auf einer Reise mit der Aussenpolitischen Kommission nach Belgien und Luxemburg sammeln konnte. Durch Gespräche dort wurde mir klar, dass hier etwas passieren muss.
 
Was sollte passieren, und was ist die Aufgabe der Schweiz?
Die Aufgabe der Schweiz ist es seit eh und je, sich als neutrales Land für Frieden und Völkerverständigung einzusetzen. Die Schweiz ist aufgrund ihrer Neutralität dafür prädestiniert, Gespräche zwischen den Menschen zu fördern und eine Plattform für Gespräche zwischen Konfliktparteien anzubieten. Es kann nicht nur um das Materielle gehen, sondern was wir schon lange nötig haben, ist Frieden, eine gute Verständigung und Zusammenarbeit unter den Staaten. Es ist wichtig, dass sich die Schweiz hier einbringen kann.
 
Hat Ihr Vorstoss möglicherweise auch eine Signalwirkung für die anderen Länder?
Ja, selbstverständlich. Wir wissen das schon lange. Die Österreicher sagen, dass sie durch die Russ­landpolitik der EU grosse wirtschaftliche Verluste haben. Die deutsche Wirtschaft leidet unter den Sanktionen. Man hat laut der Deutschen Handelskammer 17 Milliarden Euro Verlust infolge dieser Sanktionen eingefahren. Das Ganze passt vielen nicht, und alle warten darauf, dass irgendein Land etwas dagegen unternimmt. Wir sind jetzt das erste Land, und als nicht EU-Mitglied haben wir die einmalige Gelegenheit, die Diskussion darüber anzustossen. Wir machen ja nur bei den Massnahmen zur Umgehung der Sanktionen mit und könnten hier Vorreiter sein.
 
Das Image Russlands wurde durch die vielen Berichte der Mainstreammedien beschädigt. Man stellt das Land und seine Regierung oft sehr negativ dar. Geographisch ist Russ­sland jedoch sehr nahe bei Europa. Warum ist hier nicht mehr Zusammenarbeit entstanden?
Ich denke, und das ist meine persönliche Meinung, dass die USA es nicht gerne sehen würden, wenn Deutschland und Russland oder die EU und Russland gut miteinander auskämen. Deshalb hat man von Seiten der USA sich immer wieder darum bemüht, etwas Sand ins Getriebe zu streuen. Dass die Europäer das mitmachen, verstehe ich nicht, vor allem, weil die Sanktionen den Europäern selbst am meisten schaden! Deshalb ist es schon lange an der Zeit, dass sich hier etwas ändert und wir mit diesem Unsinn aufhören.
 
Was versprechen Sie sich davon, wenn jetzt andere Staaten dem Beispiel folgen?
Einen wirtschaftlichen Aufschwung, aber viel wichtiger ist die Stabilisierung der Situation. Wir haben eine Nato, die bis an die Grenzen Russlands vorgerückt ist. Die ehemaligen Ostblock-Staaten sind heute Mitglieder der EU und haben keinen neutralen Gürtel gebildet, wie das eigentlich ursprünglich vorgesehen war. Diese Regel wurde gebrochen, und es wäre an der Zeit, dass man endlich einander näherkommt. Es geht letztlich um Stabilität und um Entspannung in Europa.
 
Mit der Stabilität wäre der Frieden besser gesichert …
… ja, Frieden und Stabilität gehören zusammen. Die Menschen müssen sicher sein, dass das «Nato- Raketen-Abwehrsystem» in Osteuropa für sie keine Gefahr darstellt. Wenn man erzählt, das «Abwehrsystem» wäre nur gegen Angreifer gerichtet und nicht gegen Russland, ist das Unsinn. Natürlich ist es gegen Russland gerichtet! Die Bedrohung in Europa geht deshalb nicht von Russland aus, sondern von der Nato – dem verlängerten Arm der USA – ihrer Aufrüstung und ihrer militärischen Präsenz.
 
Frau Nationalrätin Estermann, vielen Dank für das Gespräch.
 
Interview Thomas Kaiser

 

 

«Ja zu einem Treffen Russland – USA»

Motion von Yvette Estermann, Nationalrätin SVP, eingereicht am 8.12.2016

Eingereichter Text
Der Bundesrat ist bestrebt - im Interesse des Weltfriedens – ein freundschaftliches Treffen zwischen Russ­land und den USA in Genf zu organisieren.

Begründung
Die Beziehungen zwischen Russland und den USA haben unter Präsident Barack Obama stark gelitten. Und der Beginn immer neuer Kriege, von Libyen bis Syrien, hat die Welt an den Rand eines dritten Weltkrieges gebracht. Dazu kommt die andauernde, militärische Aufrüstung der Oststaaten durch die Nato, im Rahmen der «Ost-Erweiterung». Sie erhöhen die Kriegsgefahr in Europa signifikant.
Die Schweiz als neutrales Land war früher wesentlich an Friedensbestrebungen beteiligt und hat ihre guten Dienste immer wieder angeboten. Unser Land ist geradezu prädestiniert, in Sachen Frieden als Vorreiterin und Vorbild in Europa zu fungieren. Doch diese Funktion ist in den letzten Jahren leider in den Hintergrund geraten.
Es ist deshalb an der Zeit, den Dialog zu suchen, den Friedensprozess wieder in Gang zu bringen und eine neue Ära der internationalen Beziehungen einzuläuten. Nachdem in den USA ein neuer Präsident gewählt wurde, ändert sich die Situation wesentlich und sie gibt allen Beteiligten Gelegenheit, einen Neuanfang zu starten. Die Schweiz kann hier eine entscheidende Schlüsselrolle in der Friedensförderung übernehmen und ein freundschaftliches Treffen zwischen Russland und den USA in Genf organisieren. Packen wir die Chance und lassen wir uns an Taten messen!

www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20163956

 

 

Normalisierung der Beziehungen zwischen der Schweiz und Russland

Motion von Yvette Estermann, Nationalrätin SVP, eingereicht am 8.12.2016

Eingereichter Text
Der Bundesrat wird verpflichtet – im Interesse des Friedens in Europa – die Beziehungen zwischen der Schweiz und Russland zu erneuern und zu intensivieren.

Begründung
Die verfehlte «Sanktionspolitik» des Westens gegen Russland hat in Europa tiefe Spuren hinterlassen. Leider hat es die EU nicht geschafft, ihr Problem mit Russland anders zu lösen, als eine schädliche, zerstörerische Sanktionspolitik zu betreiben und diese immer weiter fortzusetzen. Sie hilft in der Sache gar nichts, schadet beiden Seiten – auch der EU – und trifft leider immer die Falschen. Es ist an der Zeit, mit dieser unsinnigen Politik aufzuhören.
Auch die «allgemeine Kriegshysterie» gegen Russland muss beendet werden und die Schweiz kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Als neutrales Land und Nicht-EU Mitglied ist die Schweiz geradezu prädestiniert, im Interesse des Friedens in Europa als Vermittlerin aufzutreten. Ein zeitgemässer Umgang miteinander soll in Europa wieder möglich sein!
Auch die Beziehungen zwischen der Schweiz und Russland müssen verbessert werden. Die von der Schweiz erlassenen «Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von Sanktionen gegen Russland» sollen aufgehoben und die wirtschaftliche, wissenschaftliche, kulturelle und politische Zusammenarbeit mit Russ­land normalisiert werden.

www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20163957

«Wie die USA und die EU in den letzten Jahren teilweise mit uns umgesprungen sind, muss zu denken geben…»

Interview mit Nationalrat Luzi Stamm

Nationalrat Luzi Stamm, SVP (Bild thk)
Nationalrat Luzi Stamm, SVP (Bild thk)

Am Ende der Herbstsession hat Nationalrat Luzi Stamm, Mitglied der Aussenpolitischen Kommission, eine Interpellation eingereicht, die vom Bundesrat Auskunft darüber verlangt, ob die Schweiz mit der Beteiligung an der sogenannten Interoperabilitätsplattform der Nato neben der Mitgliedschaft in der Nato-Unterorganisation PfP eine weitergehende Zusammenarbeit plant, und was die Interoperabilitätsplattform für Verpflichtungen für die Schweiz genau mit sich bringt.¹ Inzwischen liegt die Antwort des Bundesrates in gedruckter Form vor.² Zeitgeschehen im Fokus hat Nationalrat Luzi Stamm um eine Beurteilung der Antwort gebeten.

Zeitgeschehen im Fokus: Ist die Antwort des Bundesrats auf Ihre Interpellation befriedigend?

Nationalrat Luzi Stamm: Sie ist nicht befriedigend, weil sie wenig Konkretes beinhaltet. Ich weiss bis heute nicht, welche Art der Zusammenarbeit diese «Plattform» nun mit der Nato im Schilde führt. Ich staune nur jeweils über die mangelnde Transparenz: Eigentlich sollten wir als Mitglieder der Aussenpolitischen Kommission über die einzelnen Schritte, die der Bundesrat hier plant, genau informiert sein.

Wo hätten Sie gerne mehr Transparenz?
Bei gemeinsamen militärischen Nato-Übungen ist absolute Transparenz unabdingbar. Es mag zwar manchmal schon gewisse Gründe geben, dass eine minimale Zusammenarbeit nötig ist; so z. B. um gemeinsam Flugzeuge zu testen; dann müsste man solche Übungen in aller Offenheit bekanntmachen. Absolut nicht in Frage kommen darf aber im heutigen Umfeld, dass man z. B. zusammen mit der Nato Flugzeug-Einsätze an der Grenze zu Russland trainiert.

Müsste bei einer Zuspitzung zwischen der Nato und Russland die Schweiz besonderes Augenmerk darauf legen, mit möglichst vielen Staaten einen Austausch über militärische Fragen zu führen?
Selbstverständlich ja. Je mehr sich die internationale Lage polarisiert, desto wichtiger wird die Neutralität. Je mehr sich die Nato in Konflikte verwickelt und sich die Lage für die Nato mit einem Gegner zuspitzt, desto mehr muss sich die Schweiz zurückziehen und nur noch die traditionellen guten Dienste (z. B. Gesprächsplattform Genf) und humanitäre Hilfe anbieten. Neutralität heisst, sich bei einem Konflikt weder auf die eine noch auf die andere Seite zu schlagen; auch nicht symbolisch und auch nicht mit verbalen Verurteilungen.

Wo sehen Sie das aktuell?
Im Ukraine-Konflikt. Die Schweiz darf sich auf keine Seite der beiden Konfliktparteien stellen und sich keinesfalls an Sanktionen beteiligen, auch nicht indirekt.

In der Antwort des Bundesrates auf Ihren Vorstoss spricht er von der «partnerschaftlichen Zusammenarbeit» mit der Nato. Ist das mit der Neutralität vereinbar?
Sicher nicht. Die Schweiz hat ausschliesslich eine Defensivarmee, also brauchen wir Waffen wie z. B. die Fliegerabwehr. Auf solchen Gebieten kommt eine technische Zusammenarbeit (auch mit der Nato) in Frage, wenn man technisches Know-how austauscht. Wenn also beispielsweise Offiziere von uns in die USA geschickt werden, damit sie den Umgang mit Fliegerabwehr-Systemen lernen, habe ich nichts einzuwenden. Jede Zusammenarbeit im Zusammenhang mit offensiven Aktionen rund um den Globus steht jedoch im eklatanten Widerspruch mit unserer traditionellen Neutralität.

Wenn die Russen bessere Defensiv-Waffen entwickeln würden, die möglicherweise geeigneter wären als das System der Nato, wäre dann auch eine Zusammenarbeit mit den Russen denkbar?
Ja. Sogar wenn es jetzt um die Auswahl eines neuen Flugzeugs geht, wäre es für mich auch akzeptabel, wenn man ein russisches Produkt anschaut. Dabei muss man – sowohl im Falle der USA wie auch im Falle von Russland – daran denken, dass man durch die Beschaffung eines hoch-technischen Flugzeugs aus dem Ausland zu einem gewissen Grad immer auch abhängig wird (z. B. Software, Ersatzteile); egal, ob das Produkt aus China, USA, Russ­land oder sonst wo herkommt. Das bringt uns zur extrem schwierigen Frage, wem man in der heutigen Zeit wirklich trauen kann. Wie die USA und die EU in den letzten Jahren teilweise mit uns umgesprungen sind, muss zu denken geben…

Ein Aspekt in der Antwort des Bundesrates ist die Anpassung oder Homogenisierung der Waffen oder Munition.
Das ist kein neues Problem. Schon im Zweiten Weltkrieg stellte sich die Frage, woher wir die dringend benötigte Munition beziehen können, wenn wir sie nicht selbst herstellen können.

Über das alles müsste doch eine Diskussion mit der Bevölkerung geführt werden.
Ja. Mangelnde Transparenz ist immer hoch verdächtig.
Herr Nationalrat Stamm, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser

¹ vgl. Zeitgeschehen im Fokus, Nr. 11 vom 12.10.2016
² www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20163896

Am grünen Tisch den Sieg verloren

Kontroverse um die Masseneinwanderungsinitiative

von alt Nationalrat Ruedi Lustenberger*

Alt Nationalrat Ruedi Lustenberger (Bild thk)
Alt Nationalrat Ruedi Lustenberger (Bild thk)
Unlängst ist mir am Bahnhof ein älterer Mann begegnet. Er meint: «Es ist wie nach einem Fussballspiel. Auf dem Spielfeld haben wir 1:0 gewonnen. Nachher tagen die Funktionäre am grünen Tisch und wandeln den Sieg in eine 0 :1 Niederlage um.»

Masseneinwanderungsinitiative dermassen verwässert

Ich kenne meinen Gesprächspartner schon lange, habe oft mit ihm im Zug politisiert und merke sofort, worauf er hinaus will. So wie dem alten Entlebucher mit ­Nidwaldner Wurzeln geht es momentan vielen selbstbewussten Eidgenossen. In ihrem Demokratieverständnis können sie nur schwer verstehen, dass der Volksentscheid über die Masseneinwanderungsinitiative vom Parlament dermassen verwässert wird. Die bald dreijährige Umsetzungsübung ist ein Beispiel, wie schwer sich Bundesrat und Parlament tun können, einen souverän gefassten Verfassungsartikel demokratiepolitisch einigermassen korrekt umzusetzen.

«Wir dürfen selbstbewusster auftreten»

Der Bundesrat liess sich viel Zeit, dem Parlament eine Gesetzesbotschaft zur angenommenen Masseneinwanderungsinitiative zu unterbreiten. Der Landesregierung ist zugut zuhalten, dass sie mit der vorgeschlagenen Kontingentslösung eine Vorlage präsentierte, welche dem Verfassungsauftrag einigermassen gerecht wird und, auch das sei erwähnt, mit dem abgeschlossenen Freizügigkeitsabkommen mit der EU in einem gewissen Ausmass in Konkurrenz tritt. Das dürfte denn auch die Erklärung dafür sein, weshalb sich der Bundesrat in der Parlamentsdebatte für seinen eigenen Vorschlag nicht einmal nur halbherzig ins Zeug gelegt hat. Sein Hinweis, der Brexit hätte das Ganze in der Zwischenzeit verkompliziert, kann mit Fug und Recht gerade auch umgekehrt verwendet werden. «Wir müssen und dürfen selbstbewusster auftreten», hat Bundespräsidentin Doris Leuthard nach ihrer Wahl zur Bundespräsidentin am 7. Dezember 2016 vor der Vereinigten Bundesversammlung verkündet. Es bleibt die Hoffnung, dass der bundespräsidiale Aufruf seine Gültigkeit auch für das Verhalten der Landesregierung gegenüber der EU hat.

Durch internationale Gerichte verrechtlicht

Das Dilemma des Bundesrates ist auch das Dilemma des Parlamentes. Es geht so weit, dass moniert wird, Bundesrat und Parlament hätten damals die Masseneinwanderungsinitiative für ungültig erklären müssen. Einer rechtlichen und nicht wie bis anhin praktiziert, politischen Beurteilung der Frage nach der Gültigkeit einer Volksinitiative durch das Parlament wird das Wort geredet. Als ob die Schweizer Politik in der jüngeren Vergangenheit nicht schon über das Mass durch nationale und internationale Gerichte verrechtlicht wurde. Die Behauptung, das Freizügigkeitsabkommen mit der EU hätte absoluten Vorrang vor dem neuen Verfassungsartikel reicht aus für eine Verschwesterung von Sozialdemokraten und Freisinnigen. Das Resultat daraus ist ein Vorschlag, der die nationale Souveränität bewusst in die Rücklage drängt; der Verfassungsartikel zur Eindämmung der Masseneinwanderung muss hinter den bilateralen Verträgen mit der EU anstehen. Es wird beinahe das Umgekehrte dessen vorgestellt, was Volk und Stände am 9. Februar 2014 beschlossen haben.
Nicht etwa die SP übernimmt den Lead in den Parlamentsdebatten der beiden Räte. Es ist die FDP – seit Beginn des Bundesstaates selbsternannte Hüterin der Marktwirtschaft – welche ein zusätzliches Bürokratiesystem für die Wirtschaft propagiert, wie es die Eidgenossenschaft seit 1848 noch nie gesehen hat. Ihr Sprachrohr ist ausgerechnet jener Philipp Müller, der 2003 dank seiner 18-Prozent-Initiative in den Nationalrat gewählt wurde. Inzwischen ist die ausländische Bevölkerung zwar auf zirka einen Viertel angewachsen. Das hält Ständerat Philipp Müller aber nicht davon ab, sich des Rucksacks der Sozialdemokraten zu bedienen und daraus neue flankierende Massnahmen aufzutischen, welche die ehemals von ihm kritisierte Solidarhaftung zur Bekämpfung der Dumpinglöhne bei den Unterakkordanten um ein Mehrfaches überbieten. Dank des Sperrfeuers der CVP erfährt das Gesetz in der Differenzbereinigung zwischen den beiden Kammern schliesslich doch noch ein paar punktuelle Verbesserungen in Bezug auf eine etwas verfassungsnähere Umsetzung und die Abschwächung der neuen Auflagen für die KMU.
Zurück zu meinem Gesprächspartner auf dem Bahnhof. Wenn es so weiter gehe, orakelt er, werde in zwei, drei Jahren anlässlich der Bundesfeier auf dem Rütli Ständerat Philipp Müller an der Seite von SP Präsident Christian ­Levrat statt des Schweizerpsalms die sozialistische Internationale singen. ■

*Ruedi Lustenberger war 1999–2015 Nationalrat und von 2013–2014 Nationalratspräsident

Zwischentitel von der Redaktion gesetzt.

Frieden und Geborgenheit für alle Menschen

Reinhard Koradi

Wenn die Tage immer kürzer und die Nächte länger werden, ist es Zeit, Rückschau zu halten und sich Gedanken über das sich anbahnende Jahr zu machen. Das langsam ausklingende Jahr hat uns mit unterschiedlichen Ereignissen konfrontiert. Die einen löschten Hoffnungen aus, andere erfüllten die Menschen mit Zuversicht. Je nach Herkunft, den verinnerlichten Werten und politischen Auffassungen wird das Urteil über die vergangenen zwölf Monate unterschiedlich ausfallen. Tatsache bleibt aber für alle, dass noch sehr viel zu tun ist, um die Voraussetzungen zu schaffen, die den Menschen auf diesem Globus Frieden und Geborgenheit bringen. Oft geht es dabei gar nicht um die grossen Würfe. Eher zum Ziel führen kleinere Schritte, die wir allerdings konsequent und, ohne zu zögern, sorgfältig aneinanderreihen. Schritte auf dem Weg zu Frieden und Geborgenheit sind aus meiner Sicht: gegenseitige Wertschätzung, Eigenverantwortung, Solidarität, Unabhängigkeit und Sicherheit.

Gegenseitige Wertschätzung eröffnet neue Horizonte

Die Vielfalt der Kulturen prägt das Zusammenleben ebenso, wie sie Gräben aufreisst. Der innere Zusammenhalt innerhalb einer ­Kultur- oder einer Religionsgemeinschaft kann im Gegenzug auch die Abwehr des Andersartigen schüren. Meist fehlt das Wissen über das Fremde, manchmal auch das Interesse am Neuen. Würden wir uns mit dem, was uns fremd ist, befreunden, könnten Vorurteile und diffuse Ängste einem Verständnis für das Unbekannte weichen und neue Welten öffnen. Der Drang, fremde Kulturen und Lebensformen durch Überzeugungsarbeit den eigenen Vorstellungen anzupassen, würde durch ein wachsendes Verständnis gegenüber dem Andersartigen hinfällig. Nicht selten entdecken wir bei ­einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den unbekannten Gemeinsamkeiten. Einer dieser gleichartigen Wünsche und Bedürfnisse wäre zum Beispiel ein friedliches Zusammenleben, gegenseitige Wertschätzung und der Schutz des Lebens.
Das Eindringen in andere Kulturen oder auch Sprachen ist keine Einbahnstrasse, vielmehr gewinnen beide Seiten, indem das gegenseitige Verständnis das Leben bereichert. In der Schweiz leben auf relativ engem Raum vier Sprachregionen zusammen. Der durch die Mehrsprachigkeit geprägte innere Zusammenhalt schafft eine kulturelle Vielfalt, die Horizonte erweitert und die Menschen anregt, Neues zu wagen. Statt Gegensätze aufzubauen, sollten wir uns daher viel mehr um die Gemeinsamkeiten kümmern, zum Beispiel um den inneren Zusammenhalt und ein friedliches Nebeneinander durch gegenseitigen Respekt. Zu diesem Respekt gehört auch die Bereitschaft, Grenzen und die Privatsphäre des andern zu akzeptieren.

Eigenverantwortung setzt Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten voraus

Es gibt ein Sprichwort, das mir im Zusammenhang mit der Eigenverantwortung in den Sinn kommt: «Wenn jedä für sich luegt, isch für alli g‘luegt.» (schweizerische Redensart) zu Deutsch: «Wenn sich jeder um sich selbst kümmert, ist für alle gesorgt.» Möglicherweise ist es nicht immer so einfach, die Dinge selbst an die Hand zu nehmen. Eigenverantwortung setzt Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten voraus. Fähigkeiten entwickeln wir, indem wir lernen und aufgrund unserer Erfahrungen. Eine gute Erziehung im Elternhaus und eine gründliche Schulbildung durch eine seriöse Wissensvermittlung durch pädagogisch geschulte Lehrpersonen bilden das Fundament, auf dem sich die Charaktereigenschaft aufbauen kann, Eigenverantwortung zu übernehmen. Ohne Kontinuität und tragfähige soziale Netze, zum Beispiel die Familie, die Gemeinde und schliesslich der Staat, fehlt die Grundlage, Wurzeln zu schlagen. Das Gefühl, zu Hause zu sein, eine Heimat zu haben, auf die man stolz sein kann, ist der erste Baustein, um Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Tragen wir daher Sorge zu den vertrauensbildenden Institutionen. Es lohnt sich, dem inszenierten Wertewandel Einhalt zu gebieten und der propagierten grenzenlosen Welt entgegenzutreten, überzeugt, dass die Leistungen und Werte der vor uns lebenden Generationen ihre Bedeutung und Berechtigung auch in unserer «modernen Zeit» weiter haben.
Eigenverantwortung setzt Wissen voraus. Eine offene und ehrliche Information, das Gespräch mit den Bürgern sind Stützen, um die direkte Demokratie zu schützen und lebendig zu erhalten. Bilden wir unsere eigene Meinung, losgelöst von den Mainstream-Medien, mit einem aufrichtigen und auf gleicher Ebene geführten Dialog.
Mit Blick über die Landesgrenzen hinaus bedeutet Eigenverantwortung auch die Landesinteressen gegenüber Nachbarländern, allfälligen Bündnisse und auch Vertragspartnern zu verteidigen und falls notwendig durchzusetzen. Geschieht dies auf der Basis von Gleichwertigkeit und im gegenseitigen Einvernehmen, lassen sich Konflikte und Interessensgegensätze ohne Verlierer überwinden. Unter der Prämisse, Verhandlungen einvernehmlich und ohne Machtdemonstrationen zu führen, lassen sich sinnvolle und konstruktive Lösungen finden, Fehlentwicklungen, Konflikte sowie ein unnötiger Ressourcenverschleiss vermeiden respektive reduzieren. Dies gilt sowohl für politische, soziale und wirtschaftliche Herausforderungen als auch für zwischenstaatliche Zerwürfnisse.
Eigenverantwortung ist eng an die Eigenleistung gekoppelt. Es braucht die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit, damit die Verantwortung nicht an andere abgegeben werden muss, was mitunter die Souveränität und Selbstbestimmung gefährden kann.

Solidarität und gegenseitige Hilfe

Die Menschen verfügen über unterschiedliche Fähigkeiten, und nicht jeder kann seine Verantwortungen gegenüber sich selbst und den anderen wahrnehmen. In dieser Situation ist Solidarität und gegenseitige Hilfe gefragt. Voraussetzung für eine nachhaltige Hilfe ist die Hilfe zur Selbsthilfe. Es dürfen keine Abhängigkeiten bewusst oder unbewusst geschaffen werden. Sowohl im Innern als auch über die Landesgrenzen hinaus bedeutet Unterstützung immer, Wege aufzuzeigen, damit die Menschen in die Lage versetzt werden, ihre eigenen Bedürfnisse durch eigene Leistungen abzudecken. Die Überwindung von Hunger und Armut gelingt, wenn die Menschen mit Werkzeug, Ressourcen und Wissen ausgerüstet selbst tätig werden können.

Die Unabhängigkeit schützen und respektieren

Die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates sollten, wenn immer möglich, vermieden werden. In bestimmten Situationen bietet sich die uneigennützige Hilfe zur Selbsthilfe an, um offene Konflikte oder Missstände zu überwinden. Neben der Unterstützung bei der Entwicklung eines Landes, eines Wirtschaftsbereiches oder vorübergehenden Versorgungsengpässen kann auch eine Vermittlerrolle eines neutralen Staates bei zwischen- oder innerstaatlichen Konflikten sehr hilfreich sein. Die «Guten Dienste», die die Schweiz als neutraler Staat geleistet hat und noch leisten wird, sind ein Beispiel neben vielen. Entscheidend ist, dass jede Hilfe weder an Gegenleistungen gebunden ist, noch die Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit eines souveränen Staates verletzt wird. Die Neutralität als aussenpolitischer Kerngedanke gewinnt in diesem Zusammenhang erheblich an Bedeutung. So wünsche ich mir für das Jahr 2017, dass die Schweiz weise und verantwortungsvoll mit ihrer Neutralität umgeht und diese, sofern notwendig, auch schützt und verteidigt. Zusätzlich Mut machen könnte auch, wenn sich der Neutralitätsgedanke weltweit als aussenpolitisches Denk- und Handlungsprinzip vermehrt durchsetzt.

Sicherheit durch die Fähigkeit, die Dinge selbst an die Hand zu nehmen

Sicherheit hat viele Aspekte. Sicher sein setzt Vertrauen in die eigenen Kräfte und Fähigkeiten, aber auch Vertrauen in den anderen voraus. Fehlt dieses Vertrauen oder wird es durch Machtmissbrauch, Lügen, Unverbindlichkeit und einseitige Übervorteilung zerstört, sind Frieden und Geborgenheit gefährdet. Sicherheit setzt den bewussten Aufbau und die Förderung von Einrichtungen voraus, die den notwendigen Schutz gewährleisten. Dazu gehören verschiedene Fürsorgeeinrichtungen, eine existenzsichernde Wirtschaftspolitik, eine Infrastruktur, die unser Leben schützt, aber auch sicherheitspolitische Einrichtungen wie Versorgungsicherheit mit Lebensmitteln, Polizei und einer Armee, die unsere Grenzen verteidigt. Unabhängigkeit und Geborgenheit bleiben keine Utopie, wenn auf allen Seiten die notwendigen Vorkehrungen geschaffen werden, um diese kostbaren Güter zu schützen.
Gegensätze lassen sich überwinden, solange wir Menschen uns mit gegenseitigem Verständnis entgegenkommen, den anderen respektieren und bereit sind, uneigennützig zu handeln. ■

«Fidel Castro hat versucht, eine andere Gesellschaft zu kreieren»

Die Vereinigten Staaten müssen Wiedergutmachung an Kuba bezahlen

Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas

Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas  (Bild thk)
Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas (Bild thk)

Die Kubaner haben ihren Fidel Castro vor wenigen Wochen verloren. Es gab verschiedene Nachrufe. Die meisten Medien haben ihn als «Diktator» als «Autokraten» zum Teil auch als «letzten Kommunisten» bezeichnet. Es stellt sich bei solchen Kommentaren immer die Frage, was ist Propaganda und Manipulation oder was ist eine realistische Betrachtungsweise. Zeitgeschehen im ­Fokus hat den US-amerikanischen Völkerrechtler und Historiker sowie Uno-Mandatsträger Professor Alfred de Zayas nach seiner Einschätzung gefragt.

Zeitgeschehen im Fokus: Herr Professor de Zayas, wie beurteilen Sie die Ära Fidel Castros, was ist seine Lebensleistung?
 
Professor Alfred de Zayas: Ich bin ein praktizierender Katholik und habe es genau verfolgt, als ­Johannes Paulus II., Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus nach Kuba reisten und persönliche Kontakte zu Fidel Castro unterhielten. Die Lehre, die wir aus dem Evangelium und im Besonderen der Bergpredigt ziehen, liegt auf der Hand. Fidel Castro hat versucht, eine andere Gesellschaft zu kreieren, die auf Solidarität und gegenseitige Hilfe baut, nicht materialistisch ist, nicht auf Kapital oder Konsum aufbaut. Dieses Modell ist im Grunde genommen dem Ideal der Bergpredigt viel näher, als wir es in anderen Ländern kennen. Als Lebensleistung sehe ich sein konsequentes Kämpfen für die Souveränität Kubas und gegen die Einmischung der Vereinigten Staaten in die inneren Angelegenheiten des Landes. Kein anderer Politiker in der Welt hat es gewagt, den Vereinigten Staaten so deutlich «Nein» zu sagen. Und Castro hat bewiesen, dass es möglich ist, auch wenn die Konsenquenzen – vor allem das Embargo – sehr ernsthaft gewesen sind. Natürlich hat Castro einiges getan, was nicht in Ordnung war, z. B. im Bereich der Meinungsfreiheit im Sinne des Artikels 19 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte (PBPR) oder der politischen Betätigung im Sinne des Artikels 25 PBPR. Aber ein Diktator wie Batista – oder wie so viele in Lateinamerika – war er nie. Ich bin überzeugt, wenn freie Wahlen in den 60er, 70er und 80er Jahren abgehalten worden wären, hätte Castro diese Wahlen gewonnen.
 
Was hat er anders gemacht?
Er hat sich für die Gleichheit der Rassen, der Menschen und der Religionen engagiert. Er hat wie kein anderer die internationale Solidarität unterstützt, als in verschiedenen Regionen der Welt Krisen entstanden sind, als Naturkatastrophen Länder heimsuchten, sei es Ebola in Afrika oder ein Erdbeben in Haiti. Castro war der Mann der ersten Stunde. Er schickte Tausende von Ärzten überall hin. Eine Hilfe, die er schneller und häufig effizienter leisten konnte als die reichen Staaten.
 
Dieses Modell wurde immer wieder bedrängt, vor allem durch die USA.
Das Kuba Fidel Castros hat eine Geschichte von 57 Jahren, in welchen das Land seine Souveränität behaupten konnte, seine Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten, seine Abkehr von Korruption, von Kolonialismus und Imperialismus. Das allein, 57 Jahre gerade dagestanden zu haben, trotz etlichen Attentatsversuchen auf sein Leben und trotz 56 Jahren Embargo gegen das Land, verdient grossen Respekt.
 
Wieso konnte er sich so lange halten?
Wenn er nicht von einer gehörigen Anzahl Kubanern geschätzt gewesen wäre, hätte er sich nicht halten können. Wäre er ein blutrünstiger Diktator, wäre er ein Despot, wie wir sie in Afrika oder Lateinamerika kennen, wäre er schon längst gestürzt worden. Eines ist bezeichnend: In den Jahren der grössten Not, als alle nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion prognostiziert haben, dass Castro bald danach fallen werde, ist das Land nicht ins Wanken geraten. Wir sind jetzt 25 Jahre später, und die Regierung ist stabil geblieben.
 
Was war sein Erfolgsrezept?
Weil die Menschen nicht in Angst lebten und keine Macht­struktur existierte, die sie brutal unterdrückte wie z. B. im kommunistischen Polen, in der DDR, in Ungarn oder in der Tschechoslowakei. Es ist, weil eine Mehrheit des Volkes bis heute damit einverstanden ist, dass man eine gerechte Verteilung der Ressourcen festgelegt hat. Man hat genug zu essen. Man hat eine freie Ausbildung bis hin zur Universität. Man hat die beste medizinische Versorgung, die man sich denken kann. Und es herrscht keine Korruption.
 
Wie war das vor der Ära Fidel Castros?
Vor 1959 war Kuba Hauptplatz der organisierten Kriminalität, für die Mafia, für die Drogengeschäfte. Das Land war das Bordell der Vereinigten Staaten. Es ist verständlich, dass in den 50er Jahren eine grosse Anzahl der kubanischen Bevölkerung mit dieser Situation so unglücklich war, dass sie den Befreiungskrieg gegen Batista mitgetragen haben. Die Revolution von Castro war nicht marxistisch orientiert und hatte zunächst absolut keine Beziehungen oder Hilfe von der UdSSR.
 
Später bestand aber eine enge Zusammenarbeit mit der UdSSR …
… Castro war geradezu gezwungen, sich in die Arme der Sowjetunion zu begeben, weil die USA absolut keine Verhandlungen mit ihm wollten, denn sie wollten Kuba so haben, wie es vor der Revolution war, unter der Marionette Fulgencio Batista, und sie haben als Reaktion dem Land das Embargo aufgezwungen.
Das ist bis heute in Kraft und verstösst gegen das Völkerrecht?
Das Embargo ist von der Generalversammlung bereits 25 Mal verurteilt worden. Diese unilateralen Sanktionen sind ganz klar völkerrechtswidrig. Es geht gegen das Gewohnheitsrecht, es geht gegen das Freihandelsrecht, es geht gegen die Souveränität eines Landes. Jedes Land hat das Recht, sich seine Regierungsform selbst zu wählen. Das ist im Artikel 1 des PBPR anerkannt worden. Das ist in der Uno-Charta anerkannt worden, in etlichen Resolutionen der Generalversammlung u.a. Res. 2625 und 3314 usw.
 
Warum ist es immer noch in Kraft?
Das Völkerrecht ist nicht unmittelbar anwendbares Recht, es braucht eine Instanz, wie den internationalen Strafgerichtshof, der dann darüber urteilt und die Verpflichtungen auflistet. Es bedarf auch des guten Willens.
 
Was für Auswirkungen hatte das Embargo für Kuba?
Das Embargo hat Kuba total isoliert, und das hat mit dazu beigetragen, dass sich die Regierung halten konnte. So sind die Castro-Brüder 57 Jahre nach der Revolution immer noch an der Macht. Wenn man gezwungen wird, mit dem zu leben, was man hat, wenn man nicht importieren kann, wenn man nicht exportieren kann, kommt die Ingenuität zum Tragen, und es werden Lösungen gesucht und gefunden. Sie haben restrukturiert und reorganisiert in einer Art und Weise, die beeindruckend ist.
 
Vor welchem Problem steht Kuba heute?
Die Exterritorialität der Anwendung der Gesetzgebung der Vereinigten Staaten, u.a. des Helm-Burton Aktes, machte es für ausländische Banken, aber auch für Konzerne, sehr schwer, jeglichen Geschäftskontakt mit Kuba zu führen. Das ist völkerrechtswidrig. Aber die USA sitzen am längeren Hebel, denn die Konzerne wollen auch ihre Geschäfte in den USA machen können, zumal sie dort auch Niederlassungen haben. Wenn sie Geschäfte mit Kuba machen, müssen sie Angst haben, ihre Geschäfte in den USA zu verlieren. Es ist eine massive wirtschaftliche Bedrohung. Ausserdem gibt es enorme finanzielle Strafen, die das Ministerium in den USA den europäischen Banken und Konzernen nicht nur angedroht, sondern auch auferlegt hat. Diese gehen in die Milliarden.
 
Was müsste jetzt geschehen?
Es geht nicht nur um das Ende der Blockade. Es geht auch darum, dass hier 56 Jahre lang völkerrechtswidrig gehandelt wurde, was einen immensen wirtschaftlichen Verlust nach sich gezogen hat. Das Land hat gelitten, und man geht von einer Summe von 1000 Milliarden US-Dollar aus. Dieser Schaden muss nach dem Prinzip der Verantwortlichkeit der Staaten wiedergutgemacht werden (Chorzow Factory Case, 1928).
 
Kuba hat doch nach der Revolution auch Wirtschaftszweige verstaatlicht?
Was Kuba seinerzeit konfisziert hat, z. B. US-Konzerne oder amerikanische Investitionen in Kuba, ist dagegen unerheblich.
 
Wie könnte man hier Kuba zu seinem Recht verhelfen?
Um das gesamte Problem zu lösen, könnte man natürlich an eine Friedenskonferenz denken. Wenn man an Versailles denkt: Die Deutschen haben vor wenigen Jahren die letzten Reparationen bezahlt. Die Vereinigten Staaten müssen Wiedergutmachung an Kuba bezahlen – können aber davon die Verluste der US-Konzerne abziehen.
Wie will man 1000 Milliarden wiedergutmachen?
Das ist ein riesiger Aufwand. Dabei beinhaltet das nicht einmal die Todesfälle, die auf das Embargo zurückzuführen sind. Denn weil Arzneimittel gefehlt haben und medizinisches Gerät oder Teile davon nicht importiert werden konnten, sind etliche Menschen verstorben. Man hätte sie retten können. Aber weil an einem medizinischen Apparat ein kleines Ersatzteil fehlte, konnte der Patient nicht geheilt werden. Aber das fehlende Ersatzteil konnte man nicht bekommen, weder durch Europa noch durch Drittstaaten.
 
Das ist verheerend, aber niemand spricht davon.
Ja, hier besteht eine enorme zivile und strafrechtliche Verantwortlichkeit. Aber wir sind heute noch nicht so weit. Wenn wir von Gerechtigkeit und Frieden reden, dann müssen wir solche Vorgänge und Abläufe beim Namen nennen und die Verursacher in die Verantwortung nehmen, sonst können wir keine Verbesserung im internationalen Zusammenspiel erreichen.
Es lohnt sich, wieder zu lesen, was die Päpste Johannes Paulus II., Benedikt XVI. und Franziskus über Castro gesagt und geschrieben haben.
 
Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Das Gespräch entspricht der persönlichen Meinung von Professor de Zayas und wurde nicht offiziell in seiner Eigenschaft als unabhängiger Experte an der Uno geführt. Siehe auch www.alfreddezayas.com und http://dezayasalfred.wordpress.com

Lage von Kuba, Grafik: Zeitgeschehen im Fokus/roho, 2016; Quelle: Demis map server

Zivilcourage entwickeln und stärken – eine grundlegende Aufgabe von Erziehung und Bildung

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Zivilcourage ist der Mut, hinzuschauen und zu handeln, wenn die Würde eines anderen verletzt wird. Menschen, die den Mut haben, zivilcouragiert zu handeln – im Kleinen wie im Grossen – sind von existentieller Bedeutung, wie im folgenden gezeigt werden soll. Unseren Kindern und Jugendlichen diesen Mut zu vermitteln, gehört genauso zum Erziehungs- und Bildungsauftrag in unserer heutigen Welt wie die Schulung intellektueller Fähigkeiten und der Erwerb von Wissen.

Zivilcourage eines Augenblicks

Im Sommer 1944 umstellen deutsche Soldaten die griechische Ortschaft Distomo und richten unter der Dorfbevölkerung ein Massaker mit 218 Toten an.¹ Dank der Zivilcourage eines Soldaten überlebt der vierjährige Argyris Sfountouris mit seiner älteren Schwester. Als der Soldat die beiden Kinder entdeckt, bedeutet er ihnen wortlos – nur mit seinen Augen – sie sollen sich verstecken. Das rettete den beiden das Leben. Das Massaker sowie der kurze Augenkontakt mit dem deutschen Soldaten gaben dem weiteren Leben von Sfountouris den Kompass. Er hat den Glauben an den Menschen nicht verloren und setzt sich bis heute für die Würde des Menschen ein. Am 50. Jahrestag zum Massaker von Distomo sagte er: «Es gab Überlebende damals in Distomo, weil es unter den Deutschen Menschen gab, die den Befehl der inneren Stimme höher stellten als den von Mördern ausgestellten Befehl zum Morden.»
Aus einem Waisenhaus in Athen kam Sfountouris mit 9 Jahren in das Kinderdorf Pestalozzi in Trogen. Später studierte er Mathematik und Astrophysik und unterrichtete am Gymnasium. Mit 40 Jahren orientierte er sich neu: «Ich wollte nicht bis zum bitteren Ende ein gut bezahlter Beamter bleiben.» Er arbeitete nun für die Entwicklungshilfe und das Schweizerische Katastrophenhilfekorps in Nepal, Somalia und Indonesien. Dabei waren ihm die Verbesserung der Lebenssituation und der Bildung von Kindern und Jugendlichen immer ein Herzensanliegen.² 

Verweigerung eines militärischen Befehls

Man schreibt das Jahr 1999. Der völkerrechtswidrige Krieg der Nato gegen Jugoslawien ist beendet, und die serbischen Truppen haben Pristina, die Hauptstadt des Kosovo, soeben verlassen. 200 russische Soldaten sind im Flughafen von Pristina einmarschiert, um die Landung weiterer russischer Truppen einzuleiten. Der amerikanische Oberbefehlshaber der Nato-Truppen, Wesley Clark, will die Landung weiterer russischer Truppen verhindern. Darum befiehlt er dem Oberbefehlshaber der englischen Nato-Truppen, Sir Michael Jackson, die Landebahnen des Flughafens von Pristina zu blockieren. Der Brite weigert sich, den Befehl auszuführen. «I’m not going to start the Third World War for you.» Oder zu deutsch: «Ich werde für Sie nicht den Dritten Weltkrieg beginnen.»³ Die Ausführung dieses Befehles hätte zu einer militärischen Eskalation zwischen der Nato und Russland führen können mit ungewissem Ausgang für uns alle. Jeder von uns kann sich ausmalen, wie viele bewaffnete Auseinandersetzungen bis heute verhindert worden wären, wenn mehr Mut und Vernunft innerhalb von Befehlsketten gezeigt worden wären.
Diese Beispiele zeigen die Bedeutung, die ein Einzelner haben kann: Was wir tun oder was wir nicht tun, hat Folgen: in der Familie, in der Gemeinde, in der Gesellschaft und im politischen Bereich.

Zivilcourage hat ihre Wurzeln in der menschlichen Natur

Zivilcourage, oder man könnte auch sagen «Der aufrechte Gang» ist auf das Innigste mit der Würde des Menschen verbunden, wie sie 1948 nach dem Desaster des 2. Weltkrieges in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen im Artikel 1 festgeschrieben worden ist: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.»
Hier ist in Worte gefasst, was in unserer Natur angelegt ist und von der frühesten Kindheit an in der zwischenmenschlichen Beziehung entwickelt, gefördert, gestärkt und gefestigt werden kann und muss: in der Familie, in der Schule und in der beruflichen Ausbildung. In diesen sozialen Bezügen entwickeln sich Persönlichkeit, Vernunft, ethisches Empfinden und Handeln. Im zwischenmenschlichen Hin und Her, im gegenseitigen Geben und Nehmen entwickeln sich ein echtes Interesse am anderen, Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und damit eine soziale Verbundenheit mit den Menschen im näheren und weiteren Lebenskreis. Das Gefühl für menschliche Würde wird zu einem emotionalen Bestandteil der Persönlichkeit. Wird die eigene Würde oder die Würde eines anderen verletzt, empfindet man dann spontan einen inneren Widerspruch. Man hat den Impuls, die eigene Würde oder die Würde des anderen wieder herzustellen. Das Handeln, das diesem Impuls folgt, bezeichnen wir als Zivilcourage.

Zivilcourage fällt nicht vom Himmel, sie entwickelt sich

Zivilcouragiertes Handeln ist in der Regel die Folge einer Entwicklung. Jeder von uns sieht Vorgänge oder kennt Missstände, bei denen er den Impuls hat, etwas zu sagen oder zu tun. Aber wer kennt nicht auch das Zögern: Wie werden die anderen mein Verhalten beurteilen? Mit welchen Konsequenzen muss ich rechnen? Vielleicht später, nicht grad jetzt …
Der Mut zu handeln, kann sich entwickeln, wie das Beispiel von Jean Ziegler, dem ehemaligen Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, zeigt.
Ziegler berichtet, wie er in den 1980er Jahren in guter Gesellschaft in einer Stadt in Brasilien beim Nachtessen sitzt: «Auf einmal tauchte direkt neben mir ein Junge von neun oder zehn Jahren auf, so alt wie damals mein Sohn. Er hatte eine ausgerenkte Hüfte und hinkte – und berührte mich am Arm. In einer Hand hielt er die übliche rostige Konservendose mit weissen Nüssen, die die Bettler in Recife an die Gäste in den Tavernen verkaufen. Der Schweizer Honorarkonsul, Besitzer grosser Zuckerrohrplantagen im Carié-Tal, der an unserem Tisch den Vorsitz führte, warf dem Jungen ein paar Centavos zu.» Dann sagte er zu Ziegler: «Der kleine Caboclo ist mein Freund. Er ist glücklich, wissen Sie: Er verdient ein paar Groschen, kauft dafür Bohnen und ein bisschen Reis bei einem Strassenhändler und legt sich unter einem Torbogen schlafen. Er muss weder in die Schule noch regelmässig zur Arbeit gehen. Ach, wenn man doch so frei wäre wie er…!» Nie werde ich die Augen des kleinen Jungen vergessen. Ich stand unter einem Vorwand auf und fand ihn draussen, auf den Felsen am Meer sitzend. (…) Seine Geschichte war alltäglich: Sein Vater, ein wandernder Zuckerrohrschneider, litt an Tuberkulose und hatte seit zwei Jahren keine Arbeit mehr, seine vier jüngeren Geschwister und seine kranke Mutter warteten seit dem Morgen in einer Hütte des Slums auf (…) ihn. Das Geld, das er mit dem Verkauf von ein paar Nüssen am Abend verdiente, war das ganze Einkommen der Familie.» Beim Koch bestellte Ziegler eine Mahlzeit für den Jungen. «Als das Essen kam, breitete» der Junge «eine alte Zeitung auf den Steinen aus. Mit zitternden Händen leerte er einen Teller nach dem anderen – Reis, Huhn, (…) Salat, Kuchen – über der Zeitung aus, verschnürte das Paket und verschwand in der Dunkelheit. Obwohl er selbst von Hunger geplagt war, trug er das Essen zu seiner Mutter, seinem Vater und seinen Geschwistern. Ich kehrte in die Taverne zurück, setzte mich wieder an den Tisch und nickte zu dem albernen Geschwätz des Konsuls – kurzum, ich schlüpfte wieder in meine Rolle als Professor und als Abgeordneter (der ich damals war), der auf der Durchreise in Olinda war.»
Ziegler ist dabei nicht stehen geblieben. Er folgte seinem Gewissen und setzt sich bis heute in Wort, Schrift und Tat für das Recht auf Nahrung für alle Menschen ein.⁴

Die Entwicklung von Zivilcourage in der Erziehung gezielt fördern

Um die Entwicklung von Zivilcourage in Erziehung und Bildung zu fördern, gibt es heute gute Materialien für alle Altersstufen. So das Bilder- und Sachbuch «Wer ist Henry Dunant?», das Forschungsprojekt «Mutig gegen Mobbing in Kindergarten und Schule» sowie das Lehrmittel «Entdecke das humanitäre Völkerrecht» für unsere Jugendlichen.
«Wer ist Henri Dunant?»5
Der erste Teil ist als Bilderbuch gestaltet und eignet sich zum Vorlesen oder Erzählen in Familie und Kindergarten oder in den ersten Schuljahren. Es ist die Geschichte von einem Mädchen und einem Bub, die bei den Grosseltern in den Ferien sind. Sie helfen in Haushalt und Garten mit und erleben, dass sich die Grossmutter im Samariterverein ehrenamtlich engagiert. Der Grossvater, ein pensionierter Lehrer, unterrichtet ein irakisches Flüchtlingsmädchen in Deutsch. Der Vater des Mädchens wird vermisst, und der Suchdienst des Roten Kreuzes sucht nach ihm. Das ist für den Grossvater Anlass, mit den Kindern über die Aufgaben des Roten Kreuzes zu sprechen.
Der zweite Teil des Buches bringt Kindern und Jugendlichen die Geschichte von Henri Dunant, dem Gründer des Roten Kreuzes, nahe. Sie bietet zahlreiche Möglichkeiten, mit Kindern und Jugendlichen über ethische Fragen ins Gespräch zu kommen. Persönlichkeiten wie Henri Dunant können jungen Menschen Mut und einen Kompass für ihr späteres Leben geben. Unsere junge Generation braucht positive Vorbilder, an denen sie sich aufrichten und orientieren kann.⁶

«Mutig gegen Mobbing in Kindergarten und Schule»7

Auch Eltern und Lehrer können als Vorbilder für Zivilcourage wirken. Das zeigt Françoise D. Alsaker in «Mutig gegen Mobbing in Kindergarten und Schule». Als Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Bern hat sie zum Thema Mobbing geforscht und die Ergebnisse in der «Kandersteger Deklaration gegen Mobbing bei Kindern und Jugendlichen» (vgl. Kästchen) dargelegt, die bis heute von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt unterzeichnet worden ist.
Das Programm, das Alsaker zur Prävention von Mobbing erarbeitet hat, ist in vielen Kindergärten und Schulen erfolgreich erprobt worden. «Mutig gegen Mobbing» ist ein pädagogisches Handbuch für Lehrer und Eltern, das auch Psychologen, Psychiatern, Sozialarbeitern oder Führungskräften wichtige Anregungen und Denkanstösse gibt. Ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse legt Alsaker in einer allgemein verständlichen Sprache dar.
Anhand von praktischen Beispielen zeigt Alsaker, wie man Mobbing durch genaues Beobachten erkennen kann. Schritt für Schritt wird gezeigt, was man tun kann, damit Mobbing gar nicht erst entsteht; oder wenn Mobbing bereits vorliegt, wie man es erfolgreich stoppen kann:
«Bei Mobbing geht es in erster ­Linie um Macht. Dabei spielt die Macht des Schweigens eine grosse Rolle. (…)
- Opfer schweigen aus Angst und Scham.
- Andere Schüler schweigen aus Angst und Desinteresse.
- Erwachsene schweigen aus Unsicherheit.
- Das Schweigen aller dient nur den Mobbern.
Durch (Ver-)Schweigen sorgen alle dafür, dass Mobbing-Muster aufrechterhalten werden. (…) Die einzige logische Gegenmassnahme ist deshalb, das Schweigen zu brechen. Es stellt ein zentrales Mittel der Prävention von Mobbing dar, dass die Lehrpersonen in ihren Klassen das Thema Mobbing ansprechen.»⁸
Dabei geht es nicht darum, den Schuldigen zu suchen: «Indem man den aktuellen Anlass als Ausgangspunkt nimmt, steht nicht der Rückblick auf das Geschehene, sondern die Auflösung des gerade entdeckten Mobbing-Problems im Zentrum. So kann die Lehrperson sehr klar Stellung beziehen und Mobbing als inakzeptable Form des Umgangs miteinander darstellen.»⁹ Das stärkt jene Kinder, die Mobbing eigentlich ablehnen und aus Angst schweigen. Aber auch der Mobber und seine Mitläufer erhalten ein klares Signal. Mit «Mutig gegen Mobbing» gibt Alsaker Eltern und Pädagogen wirksame, praxistaugliche Mittel gegen Mobbing an die Hand.
 
Françoise D. Alsaker, Mutig gegen Mobbing in Kindergarten und Schule, Bern 2012, ISBN 978-3456849133
 

Françoise D. Alsaker, Mutig gegen Mobbing in Kindergarten
und Schule, Bern 2012, ISBN 978-3456849133

 

«Entdecke das humanitäre Völkerrecht»10

Das humanitäre Völkerrecht dient dem Schutz des menschlichen Lebens und der menschlichen Würde in bewaffneten Konflikten. Es regelt Rechte und Pflichten der kriegführenden Parteien und hat die Zivilbevölkerung und die Soldaten, die nicht mehr am Gefecht beteiligt sind, zu schützen. Alle Staaten, die sich verpflichtet haben, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten, müssen dieses in ihren Ländern «im weitestmöglichen Ausmass» «verbreiten und insbesondere sein Studium in die militärischen» und in die zivilen Ausbildungsprogramme aufnehmen, «so dass die Gesamtheit der Bevölkerung» die Grundsätze des humanitären Völkerrechts kennenlernen kann. Folgerichtig müsste die Vermittlung des humanitären Völkerrechts in unsere Lehrpläne integriert werden.
Die Unterrichtsmaterialien des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) «Entdecke das humanitäre Völkerrecht» eignen sich hervorragend für den Unterricht an Oberstufen, Gymnasien und Berufsschulen. Im Zentrum des Lehrmittels steht der Schutz des menschlichen Lebens und der menschlichen Würde. Um diesen zu gewährleisten, müssen folgende Fähigkeiten entwickelt oder gestärkt werden: Zuhören, die Meinungen von anderen respektieren, eigene Meinungen begründen, Standpunkte einnehmen können, Regeln des Völkerrechts verstehen, erklären und danach handeln. Ziel des Unterrichts sind Entwicklung und Förderung von Zivilcourage – so das IKRK:
«Ziel: Die Schüler dazu ermutigen, in alltäglichen Situationen das anzuwenden, was sie über die Notwendigkeit, Leben und menschliche Würde zu schützen, gelernt haben.»
Anhand zahlreicher historischer Fallbeispiele lernen die Jugendlichen, wie die Grundregeln des humanitären Völkerrechts anzuwenden sind. Dazu gehört auch das Recht eines Soldaten, einen Befehl zu verweigern, wenn dieser das humanitäre Völkerrecht verletzt.
Eltern und Pädagogen haben es in der Hand, unseren Kindern und unserer Jugend den Mut mitzugeben, den sie später brauchen. Mit ihrer Mündigkeit können und ­sollen sie gesellschaftlich und politisch Verantwortung übernehmen. In unserer direkten Demokratie wird man nie die Hände in den Schoss legen können. Aufgaben, die gelöst werden müssen, wird es immer geben. Die Zukunft will ­gestaltet werden. Die Zivilcourage jedes Einzelnen ist dabei unabdingbar. ■

1 Vgl. dazu Argyris Sfountouris, Trauer um Deutschland. Reden und Aufsätze eines Überlebenden, Würzburg 2015
2 Argyris Sfountouris zitiert in: Christiane Schlötzer, Argyris Sfountouris, dessen Eltern in Distomo ermordet wurden, hat den Prozess trotz schlechter Erfolgschancen vorangetrieben, Süddeutsche Zeitung vom 13. Juni 2003
3 www.theguardian.com/world/2003/sep/21/usa.uselections2004
4 Jean Ziegler, Wir lassen sie verhungern – Die Massenvernichtung in der dritten Welt, München 2011
5 Lisette Bors, Wer ist Henri Dunant?, Zürich 2010
6 Vor vielen Jahren kam ich mit einem Anwalt ins Gespräch, der sich mutig und unerschrocken für das Recht auf freie Meinungsäusserung eingesetzt hatte. Als ich ihn fragte, woher er den Mut für seine Zivilcourage genommen habe, antwortete er mir folgendes: Als Kind habe ihn Albert Schweizer, wie er im Urwald den Menschen mit seinem medizinischen Wissen geholfen habe, so beeindruckt, dass er sich vorgenommen habe, es ihm gleichzutun. Das sei für seine spätere Arbeit zur Verteidigung der Würde des Menschen zentral gewesen.
7 Françoise D. Alsaker, Mutig gegen Mobbing in Kindergarten und Schule, Bern 2012
8 Alsaker, S. 179
9 Alsaker, S. 180 – 182
10 IKRK, Entdecke das humanitäre Völkerrecht. Unterrichtsmodule für Jugendliche, 2005. Es wird begleitet von sinnvollen didaktischen Hinweisen für die Lehrer sowie von einer DVD mit eindrücklichen Filmsequenzen für den Unterricht.

 

Mutig gegen Mobbing in Kindergarten und Schule

«Es braucht Mut zu erkennen, dass Wegschauen auch Gewalt ist. Es braucht noch mehr Mut, sich zu entscheiden, hinzuschauen und zu handeln. Unsere Gesellschaft braucht mutige Kinder, die morgen mutige Erwachsene sein werden; dazu müssen die Erwachsenen von heute den Mut aufbringen, den Kindern diesen Weg zu weisen und sie auf ihm zu begleiten.»
Françoise D. Alsaker, Mutig gegen Mobbing in Kindergarten und Schule, S. 10

 

Kandersteger Deklaration

«Wir stellen fest

-Jeden Tag werden auf der ganzen Welt schätzungsweise 200 Millionen Kinder und Jugendliche von ihren Gleichaltrigen gemobbt. Jedes Kind und jeder Jugendliche hat aber das Recht auf Respekt und Sicherheit. Mobbing ist eine Verletzung dieses grundlegenden Menschenrechts.

- Es liegt in der moralischen Verantwortung der Erwachsenen, für dieses Recht und überhaupt für die gesunde Entwicklung der Kinder und Jugendlichen einzustehen. (…)

- Mobbing beeinträchtigt nicht nur die psychische und die physische Gesundheit sowie die soziale und die schulische Entwicklung der Betroffenen. Mobbing hat auch für die ganze Gesellschaft massive Konsequenzen. (…)
Mobbing geht daher uns alle an.

(…)

Wir fordern

-Wir müssen Mobbing verhindern und zwar ohne Zögern und überall, wo Kinder und Jugendliche leben, lernen und spielen.»

Alsaker, S. 205 – 207

Einsatz in Tadschikistan: Wissen überwindet die höchsten Berge

von Dr. med. Florian Marti, Facharzt Anästhesie und Samariter

Tadschikistan
Tadschikistan

Nicht überall existiert wie in der Schweiz die Möglichkeit, bei medizinischen Beschwerden zeitnah ärztlich behandelt zu werden. Und oft ist dort, wo es an den nötigsten Ressourcen fehlt, auch die medizinische Versorgung ungenügend. Ein solches Land ist die zentralasiatische Republik Tadschikistan. In seinem Gesundheitssystem herrscht materielle Not und grosser Personalmangel. Zweimal jährlich besuchen deshalb Mitglieder von «Swiss Surgical Teams» verschiedene Spitäler im Land um einheimische Ärzte auszubilden.

Der Leiter Dr. med. André Rotzer bespricht mit dem Ärzteteam vor Ort ein Röntgenbild.  (Bild: Florian Marti)

Der Leiter Dr. med. André Rotzer bespricht mit dem Ärzteteam vor Ort ein Röntgenbild. (Bild: Florian Marti)

 

Der Patient ist noch benommen und schaut um sich. Soeben ist er auf der Intensivstation aus der Narkose nach einer Operation erwacht. Pflegepersonen stehen um das Bett und kümmern sich liebevoll um ihn. Im Raum befinden sich vier Betten, in der Mitte steht ein Holztisch. Ansonsten gibt es nicht viel zu sehen. Die vielen Überwachungsgeräte und Bildschirme einer Intensivstation, wie wir sie kennen, sucht man vergebens. Zwar gibt es einen Monitor, doch mit dem wird jeweils gerade jener Patient überwacht, dem es am schlechtesten geht. Genauso ist es mit dem Sauerstoffgerät: Es wandert von Patient zu Patient. Die Dinge sind schlicht hier im Spital von Chorugh. Man muss pragmatisch handeln.
Chorugh ist eine Stadt im zentralasiatischen Pamirgebirge und liegt auf über 2 000 Meter über Meer. Über 7 000 Meter hoch ragen hier die höchsten Berge Tadschikistans. Knapp 30 000 Menschen leben in dieser Stadt direkt an der Grenze zu Afghanistan. Mindestens zwölf Stunden dauert die Autofahrt in die Hauptstadt Duschanbe – bei guten Bedingungen. Ansonsten bleibt bei gutem Wetter nur noch der Transport mit Kleinflugzeugen oder Helikopter. Und wer weiter östlich nach China möchte, muss Gebirgspässe bis 4 600 Meter über Meer überwinden. Die Menschen in Chorugh sind also wirklich auf sich selber gestellt.

Veraltete Geräte

Auf sich selber gestellt, das gilt auch fürs Spital, welches das grösste einer weitreichenden Region ist. Trotz seiner Bedeutung sind die zur Verfügung stehenden Mittel bescheiden. Die Infrastruktur ist veraltet. Viele Geräte stammen noch aus der Zeit, als Tadschikistan eine Sowjetrepublik war. Es fehlt an Medikamenten und anderem medizinischen Material. Und das Wissen der Ärztinnen und Ärzte ist oft mangelhaft. Kenntnisse über die Geräte sind kaum vorhanden, entsprechend kann die Infrastruktur nicht sachgemäss gewartet werden. Darunter leidet auch die medizinische Versorgung.
Um dem entgegenzuwirken und die Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern, kommen die Mitglieder von Swiss Surgical Teams seit zwei Jahren zweimal jährlich nach Chorugh. «Die Ausbildung der einheimischen Ärzte ist ein zentraler Punkt», sagt der Chirurg André Rotzer und ergänzt: «Unser Einsatz soll nachhaltig sein und sie längerfristig unabhängig von unserer Unterstützung machen». Rotzer ist seit vielen Jahren Chef in einem Schweizer Spital. Soeben hat er zusammen mit dem Chefchirurgen des Spitals in Chorugh eine schwierige Darmoperation bei einer jungen Frau durchgeführt. Die Patientin wurde schon mehrfach operiert, doch es kam immer wieder zu Komplikationen. Deshalb holten die tadschikischen Ärzte nun Rat beim Schweizer. Vorgängig wurde die Operation besprochen und dann zusammen erfolgreich durchgeführt.
André Rotzer wurde auf der zweiwöchigen Reise Ende Oktober von einem weiteren Chirurgen, einem Anästhesisten, einer Operationsfachfrau sowie zwei Spezialisten für medizinische Geräte begleitet, denn: Eine Operation kann nur erfolgreich sein, wenn die Geräte funktionieren, alle Instrumente bereit sind und eine vernünftige Narkose durchgeführt wird. Letzteres ist in Chorugh jedoch eine Herausforderung. Die zur Verfügung stehenden Beatmungsgeräte findet man bei uns eher in einem Museum als in einem Spital. Trotzdem werden sie routinemässig eingesetzt. Es klingt dann, als ob ein Dampfzug einfahren würde. In der Regel wäre es nicht schwierig, in der Schweiz ­Occasionsgeräte zu finden, oft werden diese von Firmen gespendet – doch der Transport von Europa in die ferne Bergwelt ist aufwändig und teuer.

Die Dinge sind schlicht im Spital von Chorugh. Sein Einzugsgebiet ist riesig und reicht bis ins angrenzende Afghanistan. (Bild: Florian Marti)

Die Dinge sind schlicht im Spital von Chorugh. Sein Einzugsgebiet ist riesig und reicht bis ins angrenzende Afghanistan. (Bild: Florian Marti)

 

Viele Mängel im Gesundheitssystem

Die zentralasiatische Republik Tadschikistan erlangte 1991 nach der Auflösung der damaligen Sowjetunion ihre Unabhängigkeit. Darauf folgte ein sechsjähriger Bürgerkrieg. Erst nach 1997 konnte das Land eine gewisse politische Stabilität erreichen, die sich jedoch nicht in wirtschaftlichem Wachstum niederschlug. Das Gesundheitssystem für die rund 8,4 Millionen Tadschikinnen und Tadschiken ist noch immer von der zentralisierten und hierarchischen Organisationsstruktur der ehemaligen Sowjetunion dominiert. Nur sehr langsam öffnen sich die Behörden auch für Fragen wie die Rechte der Patientinnen und Patienten oder den Einbezug der Bevölkerung in die Gesundheitspolitik.
Kurz nach der Unabhängigkeit hatten zudem viele russische Ärztinnen und Ärzte das Land verlassen, was zu einer starken Abwanderung von Wissen führte. Es ist Tadschikistan bis heute nicht gelungen, diesen Verlust auszugleichen. So betrugt 2016 die durchschnittliche Anzahl Ärzte nur 170 auf 100 000 Personen (im Vergleich: in der Schweiz sind es rund 420). Diese praktizieren zudem vornehmlich in der Hauptstadt. Das Land leidet jedoch nicht nur unter Personalmangel. Gesamthaft wurde 2014 in Tadschikistan nur etwa 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts (dies entspricht rund 60 Franken pro Person) für die öffentlichen Gesundheitsausgaben aufgewendet (Schweiz: 11,1 Prozent oder etwas über 9 000 Franken pro Person).

Von weit her und oft zu spät

In Tadschikistan existiert zudem kein System einer Krankenversicherung. Die Patientinnen und Patienten müssen für ihre Behandlung die Medikamente und das benötigte Material selbst bezahlen. Dies bedeutet eine grosse Belastung für die Menschen in einem Land, in dem rund ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt.
Doch nicht nur die Kosten einer Behandlung stellen eine oft unüberwindbare Hürde dar. Dreiviertel der Menschen in Tadschikistan leben in ländlichen Regionen und sind oft weit vom nächsten Spital oder einem der sogenannten ­Clinical Centers entfernt, die vergleichbar mit einer grossen Hausarztpraxis für ambulante Be­hand­lungen sind.
Zwar gibt es Ambulanzen, in denen neben dem Fahrer auch eine Rettungssanitäterin und ein Arzt unterwegs sind. Wie häufig und wie weit sie ausrücken, war jedoch nicht ausfindig zu machen. Und weil auch eine Ambulanz kostet, bringen in der Regel die Angehörigen die Patientinnen oder Patienten ins Spital. Oft über weite Strecken und manchmal auch erst Tage oder Wochen nach einem Ereignis.
Eine Organisation, die sich mit der Samariterbewegung vergleichen lässt, gibt es in Tadschikistan nicht. Zwar spielen laut einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO zunehmend auch Freiwilligeninitiativen oder nichtstaatliche Organisationen eine Rolle in den medizinischen und sozialen Diensten des Landes. Doch sie sind fast ausschliesslich auf den Themenbereich HIV/Aids oder Wasserversorgung fokussiert.

Vier bis sechs Operationen finden hier täglich statt, wenn das Schweizer Team vor Ort ist. Normal sind drei in der Woche. (Bild: Florian Marti)

Vier bis sechs Operationen finden hier täglich statt, wenn das Schweizer Team vor Ort ist. Normal sind drei in der Woche. (Bild: Florian Marti)

 

Wichtige einfache Operationen

Der Ausbau der Infrastruktur in Spitälern wie Chorugh würde sich also lohnen. Auch deshalb, weil hier Patientinnen und Patienten aus dem nahegelegenen Afghanistan zugewiesen werden, wie etwa ein kleines Mädchen, das von einem fünf Meter hohen Dach gefallen war und mit schweren Kopfverletzungen eingewiesen wurde. Zwei Wochen später erlitt sie als Folge des Unfalls Hirnblutungen. Allerdings war dies kein Fall für das Schweizer Team. Die Blutung war zu klein für eine operative Versorgung, es blieb nur die Hoffnung auf eine Spontanheilung.
Ein Grossteil der Fälle sind glücklicherweise einfachere Beschwerden. Die im Spital Chorugh mit Abstand am häufigsten durchgeführten Operationen betreffen dann auch Krampfadern und Hernien. Dies ist jedoch nicht zu unterschätzen. «Es ist besonders wichtig, dass Chirurgen auch die einfachen Operationen sicher und komplikationslos durchführen können», sagt Andrej Isaak, der zweite Chirurg im Team. Isaak arbeitet an einem Schweizer Universitätsspital und spricht fliessend Russisch, was die Instruktionen am Operationstisch sehr vereinfacht.
Vier bis sechs Operationen täglich führt das Schweizer Team durch, respektive leitet sie an und überwacht sie. Üblich sind im Spital Chorugh drei pro Woche. Neben den Operationen werden aber auch Fälle besprochen, die erst später operiert werden. Die einheimischen Ärztinnen und Ärzte nutzen die Gelegenheit und holen sich Tipps oder eine zweite Meinung ein.

Förderung ist nötig

Während einer dieser Tage zu Ende geht und die Operationen nachbesprochen werden, sind plötzlich Hilferufe aus einem Patientenzimmer zu hören. Die junge Patientin, die am Vortag am Darm operiert wurde, ist kollabiert: Ihr Blutdruck ist enorm tief, der Puls rast. Im Patientenzimmer herrscht Hektik. Es ist unklar, was passiert ist und ob es etwa aus dem Operationsgebiet blutet. Die Patientin selbst ist kaum ansprechbar, muss erbrechen. Ihre Mutter sitzt auf dem Bett nebenan und weint.
Doch die herbeigeeilte einheimische Anästhesistin handelt souverän und mit gezielten Handgriffen. Sie misst den Blutdruck und legt eine zweite Infusion. Flüssigkeit wird gegeben, Medikamente verabreicht, eine Blutanalyse gemacht. Kaltschweissig liegt die Patientin im Bett, ihr Puls ist weiterhin kaum besser. Einen Hinweis auf eine Nachblutung gibt es glücklicherweise nicht. Erst viel später bessert sich ihr Zustand, der Blutdruck steigt wieder, der Puls wird langsamer. Die Medikamente scheinen zu wirken. Offenbar handelte es sich um einen allergischen Schock auf ein Medikament, das sie kurz davor erhalten hatte.
Die Anästhesistin meisterte die Situation einwandfrei. Damit solche Leute ihr volles Potenzial ausschöpfen können, müssen sie aber auch gefördert werden. Aus diesem Grund vermittelt der Verein Swiss Surgical Teams den tadschikischen Ärztinnen und Ärzten einen unentgeltlichen Aufenthalt während eines halben Jahres in einem Schweizer Spital, um dort ihr Wissen zu vertiefen. ■

Dieser Text erschien in der Verbandszeitschrift «Samariter» des Schweizerischen Samariterbundes in der Ausgabe 11-12/2016. Mehr Informationen auf www.samariter.ch

Gut zu wissen: Swiss Surgical Teams
Der Verein «Swiss Surgical Teams» (SST) hat sich zum Ziel gesetzt, die medizinische Versorgung in armen Ländern zu verbessern. Der Einsatz in Tadschikistan wird durch Spenden finanziert und logistisch von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA sowie von der Regierung Tadschikistans unterstützt. Während eines Einsatzes im Frühjahr und Herbst besuchen jeweils etwa zwanzig Personen ehrenamtlich insgesamt vier Spitäler im Land. Weitere Informationen sowie Berichte über frühere Einsätze finden Sie unter www.swiss-surgical-team.org

«Wäma so druflosschlaat, das git nüüt»

von Thomas Kaiser

Zu Besuch in der Innerschwyz

Bevor man die kleine Werkstatt im Untergeschoss von Walter Büelers Häuschen betritt, hört man bereits ein heftiges Klopfen. Mit Gehörschutz steht er am Schraubstock und formt ein Stück Blech zu einem «Bissen», wie man im Innerschwyzer Dialekt zu dieser keilförmigen Form einer Glocke sagt. Der Begriff kommt aus der Holzfällerei, der «Bisse» ist dort ein Eisenkeil, den man zum Holzspalten braucht. Mit gezielten Schlägen gibt Walter Büeler einem zuvor mit dem Gasbrenner erhitzten Blech die entsprechende Form. Dabei fällt auf, dass er den entstehenden «Bissen» nur mit der Zange festhält, zu heiss ist das Blech: «Das fasst du nur einmal mit blossen Händen an.» Neben ihm steht sein Kollege, der 80jährige Hans Steiner, der ebenfalls als Hobby seit einigen Jahren aus Leidenschaft Kuhglocken ­fertigt und mit Walter Büeler freundschaftlich zusammenarbeitet. Hans Steiner sagt denn auch, dass sie bestens miteinander auskommen, weil jeder dem anderen seinen Erfolg gönnt, und da, wo der eine besser ist als der andere, unterstützt man sich gerne. Es herrscht trotz fleissiger Arbeit eine entspannte freundschaftliche Atmos­phäre.
 


Walter Büeler

Hans Steiner

Bei 18 bis 19 Grad hat der «Bisse» den besten Klang

Was für den Laien zunächst ganz einfach aussieht, ist in Tat und Wahrheit eine Kunst für sich. Viele kleine Handgriffe sind nötig, damit am Schluss ein schöner Klang den «Bissen» verlässt. Um das zu erreichen, muss man da und dort mit dem Hammer nachhelfen. Ein gezielter Schlag, «Jetz tön‘s guet», sagt Hans Steiner. Walter Büeler überlässt das gerne seinem Kollegen: «Er hat einfach ein gutes Ohr dafür.» Ganz kleine Details sind hier von entscheidender Wirkung, z. B. wie das Blech verlötet wird; dabei ist entscheidend, so Walter Büeler, dass sich die Lötmasse durch die Kapillarwirkung gleichmässig zwischen die beiden Metallhälften verteilt, so dass nicht Metall auf Metall liegt, erst dann gibt es die richtigen Schwingungen. Denn je stärker die Schwingungen sind, desto weiter hört man den Ton. Die Höhe des Tones, ob er «fiin» oder «lugg» ist, hängt damit zusammen, wie weit die beiden metallenen Halbschalen sich überlappen. Doch nicht nur das, auch die Aussentemperatur hat ihre Auswirkung, bei 18 bis 19 Grad hat die Glocke den besten Klang.
 
«Das fasst du nur einmal mit blossen Händen an.» (Bilder thk)

«Das fasst du nur einmal mit blossen Händen an.» (Bilder thk)

 

Aus Patronenhülsen gefertigt

Heute sei das mit Schweissbrenner und technischen Hilfsmitteln viel weniger eine Kunst, als noch vor Jahrzehnten, so Hans Steiner, als man Messingplättchen, die man aus Patronenhülsen gefertigt hatte, zwischen die Metallteile legte und diese über der Glut zum Schmelzen bringen musste, damit die beiden Hälften fest zusammen hielten. «Das waren wahre Künstler, die hatten ihr Handwerk beherrscht», meinte Walter Büeler mit einer gewissen Hochachtung, heute sei das viel einfacher. Das Besondere an dieser Kunst ist, so Hans Steiner, dass jede Glocke «ihren individuellen Ton hat, und das macht jede Glocke einzigartig,» sagt es und verpasst einer kleinen Glocke zwei gezielte Hammerschläge: «Jetz gaht de Ton guet.»
Zum «Bissen» Bauen ist Hans Steiner durch seinen Vater gekommen, auch der Mann seiner Cousine hat ebenfalls «Trychlen» (Kuhglocken) hergestellt und ihn animiert, das Handwerk auch zu lernen. Schon als Bub hatte er damit zu tun, wenn er den Kühen die «Trychlen» umhängen musste. In jungen Jahren hat er sich gern ein paar Franken verdient, indem er schon fertige «Trychlen» erwarb, sie verschönerte und für ein paar ­Franken mehr wieder verkaufen konnte. Vor einigen Jahren hat er ­begonnen, selbst «Bisse» herzustellen. «Erfolg hat man nur», so Hans ­Steiner, «wenn man Freude daran hat, susch gits nüüt rechts, wäma so druflosschlaat, das git nüüt.» Walter Büeler hingegen kam als ausgebildeter Landmaschinen Mechaniker schon während seiner Lehrzeit mit «Trychlen» in Berührung. An seiner Arbeitsstelle hat man «Klopfer» hergestellt. Das sind grosse bauchige Glocken, die man bei der Alpabfahrt den Kühen als Schmuck um den Hals hängt. Ganz selbstverständlich war der Schritt vom Beschäftigen mit «Trychlen» bis zum selbst Herstellen nicht, «das hät scho no einigis brucht». Durch seine Ausbildung hatte er im Handwerklichen bereits eine gute Grundlage und Erfahrung. In die Geheimnisse des «Bissen»-Bauens hat er sich in den letzten Jahren vertieft. Für den Rentner Hans Steiner und für den 58jährigen Walter Büeler ist das Ganze ein wunderbares Hobby, das aber doch sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, aber ein Stück Schweizer Tradition weiterträgt. Darauf sind beide zu Recht sehr stolz, auch wenn sie das kaum zeigen.
Die Lötmasse wird durch die Kapillarwirkung gleichmässig zwischen die beiden Metallhälften verteilt.

Die Lötmasse wird durch die Kapillarwirkung gleichmässig zwischen die beiden Metallhälften verteilt.

 

Ein Prachtstück für die Alpabfahrt

Diese Art von Glocken kommt ursprünglich aus dem Tessin. Da sie in ganz verschiedenen Grössen hergestellt werden, kann man sie für Schafe, Geissen, aber auch Rinder verwenden. Selten gibt es auch ein Prachtstück für die Alpabfahrt. Es ist ein Innerschwyzer Brauch, am Dreikönigstag mit den grossen «Trychlen» die bösen Geister zu vertreiben. 100 bis 150 «Trychler» machen dort – vor allem von Auswärtigen so empfunden – einen «ohrenbetäubenden Lärm», der sehr beeindruckend ist.
Hans Steiner kann sich noch gut erinnern, wie vor 40, 50 Jahren zweimal im Jahr Camions aus dem Tessin über den Gotthardpass gekommen sind – den Strassentunnel gab es damals noch lange nicht – und die Glocken in die Innerschwyz geliefert haben. Inzwischen findet man diese Form auch im Appenzeller Land. Auch im Aos­tatal, in Südtirol und in Vorarlberg kennt man diese Art der Kuhglocken.

Erhalt einer Tradition

Die Nachfrage nach der «Bisse» ist bis heute vorhanden. Hans Steiner erzählt, dass er ab und zu noch einen «Bissen» fertigstellt, «schliess­lich bin ich nicht mehr der Jüngste.» Für ihn ist ganz wichtig, dass man sauber und sorgfältig arbeitet, und das braucht Zeit. Bis ein «Bisse» fertiggestellt ist, kann es je nach Grösse schon drei bis vier Stunden dauern. Bis alles schön verarbeitet und abgerundet ist, darf man nicht schnell, schnell machen. Es soll schliesslich auch schön aussehen und verschmitzt lächelnd fügt er hinzu, «man schaut doch ein schöne Frau auch lieber an als eine wüste.» Sonst verleidet es einem. ­Walter Büeler beobachtet, dass vor allem «angefressene Bauern und Älpler nach wie vor begeisterte ‹Trychler› sind und ihrem Vieh diese ‹Trychlen› umlegen.» Aus der Entwicklung heraus gehören die «Trychlen» auch auf die Alp. Es ging nämlich darum, das Vieh im Nebel oder in der Weitläufigkeit des Gebiets wiederzufinden, und dazu war es wichtig, dass der Ton der Glocke langandauernd war, damit man das betreffende Vieh auch finden konnte. Viele Bauern im Tal würden das heute nicht mehr machen. Dazu kommt, dass viele Bauern Laufställe haben und dort verschwindet diese Tradition immer mehr. Was Hans Steiner aber freudig stimmt, ist, dass immer mehr Junge wieder dafür sorgen, dass ihr Vieh «schöni ‹Trychle›» um den Hals bekommt. Diese Tradition wird weiter bestehen, viele sammeln ganze Sätze von verschiedenen Grössen. Am Ende unseres Treffens ist der «Bisse» fertig, und ich darf ihn wie eine Trophäe nach Hause tragen. Die beiden Herren haben mich beeindruckt, mit einer Ruhe und menschlichen Sicherheit leisten sie mit ihrem schönen Hobby einen Beitrag zum Erhalt einer Tradition, dass es eine grosse Freude ist. ■

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