Artikel in dieser Ausgabe
- Editorial
- Biodiversitätsinitiative: Soll die Schweiz in einen Park verwandelt werden?
- Was dient unserer Natur und Landschaft?
- Die Schweiz braucht eine gesellschaftliche Debatte über Biodiversität!
- Sitzen im Bundesrat Totengräber der Demokratie?
- «Die USA haben Netanjahu nicht unter Kontrolle»
- «Stopp den deutschen Waffenlieferungen an Israel»
- «Krieg ist Frieden» – oder: 2024 ist 1984
- Die Lage in Venezuela – was und wem kann man glauben?
- «Bildung ist an Beziehung gebunden»
Editorial
Tagtäglich werden wir mit Informationen bombardiert. Eine Meldung jagt die andere, und die Welt scheint immer verheerender zu werden. Wäre sie so, wie uns die Massenmedien suggerieren, bestünde «ein ständiger Kampf zwischen Gut und Böse». Diese Sichtweise ist undifferenziert und naiv. Es gibt immer Grautöne, und beim näheren Betrachten ist, um auf dieser Ebene zu bleiben, das angeblich Böse vielleicht gar nicht so böse und das Gute gar nicht so gut. Wer hat schon das Recht, zu entscheiden, wer auf der richtigen Seite der Geschichte steht, wenn es so etwas überhaupt gibt?
Mit den Aufgaben des täglichen Lebens konfrontiert wie Beruf, Familie, Erziehung, Schule etc. sind wir bei unserer begrenzten Zeit darauf angewiesen, seriös und ausgewogen informiert zu werden. Gefahr besteht, dass die knappe Zeit eine vertiefte Auseinandersetzung über aktuelle Themen kaum zulässt. Um so grösser ist die Verantwortung der Medien, ausgewogen und nicht einseitig zu berichten, verschiedene Standpunkte zu präsentieren und dem Leser die Möglichkeit zu geben, sich so seine eigene Meinung zu bilden. Diese journalistische Sorgfaltspflicht erfüllen einige Medien nicht. Zwar publizieren sie sporadisch den einen oder anderen Artikel, der der offiziellen Meinung entgegensteht, aber in der Fülle der Informationen schlicht untergeht.
Die heutige Ausgabe von Zeitgeschehen im Fokus will zu einer objektiven und auf Fakten basierenden Auseinandersetzung beitragen. Es kommen Persönlichkeiten zu Wort, die aufgrund seriöser Recherchen ein anderes Bild präsentieren als den Kampf «des Guten gegen das Böse». Der Leser wird eine differenzierte Sichtweise erfahren. Unser Anliegen ist es, mit einem verantwortungsvollen Journalismus dem Leser zu ermöglichen, seine eigene Position zu finden oder zumindest zu realisieren, dass man die Dinge auch anders betrachten kann, als sie uns häufig vorgesetzt werden.
Internationale Themen wie der Krieg in Gaza und dessen Auswirkungen sowie die Gefahr, die aus der israelischen Konfrontationspolitik mit Iran erwächst, die Auseinandersetzung um die Wahlen in Venezuela sowie deutsche Waffenlieferungen an Israel und an die Ukraine werden in dieser Ausgabe erörtert. Aber auch innenpolitische Themen und nicht zuletzt die Bedeutung einer guten Schulbildung als Grundlage, um politische Zusammenhänge zu verstehen und sich in der heutigen Welt zurechtzufinden, runden den Inhalt dieser Ausgabe ab.
Die Redaktion
veröffentlicht am 28. August 2024
Biodiversitätsinitiative: Soll die Schweiz in einen Park verwandelt werden?
Zeitgeschehen im Fokus Ich gehe davon aus, dass Sie als Imker und Bienenzüchter der Biodiversitätsinitiative positiv gegenüberstehen. Ist das so?
Ständerat Peter Hegglin Biodiversität unterstütze ich grundsätzlich, aber nicht so, wie es die Biodiversitätsinitiative anstrebt. Sie geht viel zu weit. Wir wollen in der Schweiz noch leben können, und das Land muss sich weiter entwickeln dürfen. Die Initiative hat Vorstellungen und Erwartungen, die man nur mit grössten Einschränkungen erfüllen kann. Es gibt heute schon unzählige Massnahmen zur Förderung der Biodiversität. Die Initiative will aber noch mehr Landfläche dafür in Anspruch nehmen. Das steht zwar nicht so im Text, aber es besteht das Ziel, ungefähr 30 Prozent der Landesfläche dafür zu verwenden. Seit der Einführung des ökologischen Leistungsnachweises im Jahr 1996 muss jeder Bauernhof mindestens 7 Prozent seiner Fläche für die Förderung der Biodiversität zur Verfügung stellen. Heute sind es schon fast 20 Prozent. Wenn man etwas verbessern wollte, dann müsste man die Qualität auf den bereits vorhandenen Ökoflächen verbessern, anstatt neue Flächen auszuscheiden.
Was sind die unrealistischsten Forderungen in dieser Initiative?
Es ist nicht unbedingt das, worüber die öffentliche Diskussion geführt wird, wie die Verkleinerung der Landwirtschaftsflächen. Es geht vor allem um andere Bestimmungen, die in der Initiative formuliert sind. So werden im Bereich der «Kulturgüter» bezüglich des Denkmalschutzes weitestgehende Massnahmen gefordert. Im Initiativtext heisst es:
«Bund und Kantone sorgen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten dafür, dass:
a. die schutzwürdigen Landschaften, Ortsbilder, geschichtlichen Stätten sowie Natur- und Kulturdenkmäler bewahrt werden;
b. die Natur, die Landschaft und das baukulturelle Erbe auch ausserhalb der Schutzobjekte geschont werden;
c. die zur Sicherung und Stärkung der Biodiversität erforderlichen Flächen, Mittel und Instrumente zur Verfügung stehen. Der Bund bezeichnet nach Anhörung der Kantone die Schutzobjekte von gesamtschweizerischer Bedeutung. Die Kantone bezeichnen die Schutzobjekte von kantonaler Bedeutung.»
Das existiert eigentlich schon. Es gibt Objekte, die geschützt werden müssen. Im Kanton Zug liegen ungefähr 50 Prozent der Flächen in nationalen, kantonalen und gemeindlichen Schutzgebieten. Wenn man dort wohnen und etwas bauen oder das Gebäude sanieren will, ist es heute schon sehr schwierig. Wenn die Initiative angenommen würde, wäre das noch viel schwieriger. Es bestehen bereits weitgehende Schutzmassnahmen und -auflagen. Heute muss man zwischen verschiedenen Interessengruppen abwägen, solchen, die sich für die Nutzung, und andere, die sich für den Schutz einsetzen. Mit dieser Initiative wird der Schutz noch mehr in den Vordergrund gestellt. Der Bau von Fotovoltaik-Anlagen wird in geschützten Gebieten kaum noch möglich sein, das gilt auch für Übertragungsleitungen. Wie wollen wir so die Energiestrategie umsetzen?
Was würde die Initiative für unsere produzierende Landwirtschaft bedeuten?
Sie würde einen negativen Einfluss haben. Die Fläche, die ausgeschieden wäre, das heisst, die unter Schutz gestellt oder eine eingeschränkte Produktion erlauben würde, vergrösserte sich. Das hätte zur Folge, dass die heute bereits ausgeschiedene Fläche von 19 Prozent auf 30 Prozent gesteigert würde. Das gäbe einen tieferen Selbstversorgungsgrad. Die Folge wäre, dass man noch mehr Lebensmittel importieren müsste. Wir müssten die Produktion in andere Länder auslagern. Wenn man aber genau hinschaut, dann sieht man, dass sich die Biodiversität in den letzten Jahren verbessert hat. Das erkennt man an der Vermehrung geschützter Arten wie zum Beispiel an den Libellen. Wenn man die Forderung der Initianten betrachtet, dann wäre eine Fläche von der Grösse der Kantone Bern, Freiburg, Solothurn und Neuenburg zusammen für die Landwirtschaft eingeschränkt und für das Projekt der Biodiversität vorgesehen. Das ist ein riesiges Gebiet. Dazu kommt, dass die Alpengebiete und der Wald schon Träger der Biodiversität sind. Es ist unnötig, zusätzlich noch weitere Landwirtschaftsgebiete für Biodiversität ausscheiden zu wollen.
Wird durch die zu erwartende Reduktion des Selbstversorgungsgrads nicht auch die Abhängigkeit der Schweiz vom Ausland grösser?
Die Versorgungssicherheit hat in der Bedeutung der Menschen wieder zugenommen. Es gibt eine Standesinitiative vom Kanton Genf, die verlangt, dass in der Schweiz wieder mehr produziert werden müsste. Ich war erstaunt darüber, dass diese Initiative von einem Stadtkanton eingereicht wurde.
So, wie Sie es jetzt erklärt haben, ist vieles in einem vernünftigen Rahmen schon umgesetzt. Die Aspekte, die hinzukommen, haben starke negative Auswirkungen. Was ist der Sinn dieser Initiative?
Es könnte die Idee dahinterstecken, die Schweiz in einen Park zu verwandeln und alles so zu erhalten, wie es ist. Und so will man viel mehr fordern, damit man am Schluss einen Schritt weiter ist. Die Forderungen sind jetzt völlig überdehnt. Das Komitee ist so zusammengesetzt, dass von jedem, der ihm angehört, etwas aus seinem Bereich in den Initiativtext aufgenommen worden ist.
Wenn man unser Land in einen Park verwandeln will, dann lebt es nur noch vom Tourismus. Wie sollen sich die Menschen ernähren?
Der Tourismus hätte aber auch ein Problem. Er könnte sich nicht weiter entwickeln. Man könnte die Infrastruktur nicht mehr ausbauen oder den neuen Anforderungen anpassen. Die Mobilität ist in den letzten Jahrzehnten immer wichtiger und bedeutsamer geworden. Diese müsste man durch die Initiative tatsächlich einschränken. Damit wäre der Zugang zu den Tourismusgebieten sehr erschwert. Dazu gehört auch der Ausbau des Flughafens Zürich. Auch wenn das Stimmvolk dem Ausbau zugestimmt hat, würde dessen Realisierung erschwert oder verhindert.
Man will die Biodiversität auf Kosten der Landwirtschaft ausbauen und beklagt, dass die Schweiz immer mehr «zubetoniert» wird. Auf der anderen Seite haben wir in der Schweiz eine hohe Zuwanderung. Die Menschen müssen irgendwo wohnen können – dazu muss man Häuser bauen – und sie müssen versorgt werden – dazu brauchen wir die Landwirtschaft.
Wenn wir immer mehr Menschen ins Land lassen, und wir dadurch immer mehr in der Bewegungs- und Handelsfreiheit einschränkt werden und dann von Rettung der Biodiversität sprechen, ist das doch etwas paradox. Man müsste ernsthaft darüber nachdenken, ob es nicht an der Zeit wäre, die Zuwanderung zu begrenzen. Wir sind ein kleines Land, und es kann nicht sein, dass es immer grössere Städte gibt und das übrige Land nur für Biodiversität genutzt werden darf. Je mehr Menschen in unserem Land leben, umso stärker wird der Druck auf die Umwelt und auf die Natur. Es gibt Druck auf die bestehende Infrastruktur, auf den öffentlichen Verkehr, auf den vorhandenen Wohnraum, zum Teil auf die Arbeitsplätze und so weiter. Darüber müsste man sich Gedanken machen. Wenn man den Lebensraum immer weiter einschränkt, kann das auch zu einem Dichtestress führen. Es kann dann zu Problemen im Zusammenleben der Menschen führen. Bevor man diejenigen, die hier leben, immer weiter einschränkt, muss man ernsthaft über die Frage diskutieren, wie viele Einwohner die Schweiz verträgt. Weniger Zuwanderung führt zu mehr Biodiversität und verhindert, dass die Landwirtschaft immer mehr Land für andere Zwecke hergeben muss als für die Produktion von Nahrungsmitteln.
Herr Ständerat Hegglin, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
veröffentlicht am 28. August 2024
Was dient unserer Natur und Landschaft?
Am 22. September entscheiden die Schweizer Stimmbürger über die Biodiversitätsinitiative. Die Initiative wird sowohl vom Bundesrat als auch vom Parlament mit der Begründung abgelehnt, sie gehe zu weit. Zudem seien bereits griffige Massnahmen zum Schutz der Natur eingeleitet worden, die bereits positive Ergebnisse zeigten.
Eine unnötige Initiative
Die Initianten befürchten einen Verlust an Biodiversität und verlangen daher weitergehende Schutzmassnahmen. Das Anliegen der Natur- und Denkmalschützer ist berechtigt, aber bereits in Art. 78 BV genügend abgesichert. Die Initianten greifen Themen auf, bei denen überhaupt kein zusätzlicher Handlungsbedarf besteht. Sie fordern noch mehr Schutz und auch mehr finanzielle Mittel, für etwas, was bereits genügend geschützt und gepflegt wird. Diese Zwängerei, die unseren Gestaltungsfreiraum weiter einschränkt, muss deutlich abgewiesen werden. Vor allem, weil der Ansatz völlig daneben liegt und die falschen Themen aufgreift. Die Ursachen der Überbelastung von Natur, Mensch und Infrastruktur liegen eindeutig bei der Zuwanderung. Je mehr Menschen in unserem Land leben, umso mehr wächst die Belastung der Umwelt. Sollte das Problem der Umweltbelastung ernsthaft angegangen werden, dann müssen wir uns mit der Bevölkerungsentwicklung in unserem Land beschäftigen.
Es mag unpopulär sein, aber wir verlieren unsere natürlichen Ressourcen nicht wegen deren Bewirtschaftung, sondern durch die unverhältnismässig steigende Bevölkerung und die damit zusammenhängende Zubetonierung der noch vorhandenen Grünflächen.
Biodiversität durch Meinungsdiversität austauschen
Die Initianten haben allerdings mit der Forderung nach dem Schutz der Vielfältigkeit eine zentrale Frage aufgegriffen. Warum nicht Bio durch Meinung und Gedanken ersetzen? Bezüglich der Meinungsdiversität hat sich nämlich spätestens seit der Corona-Krise eine tiefgreifende Einschränkung eingeschlichen. Immer mehr bestimmen die Mainstream-Medien, was wir denken, sagen und tun dürfen. Für eine Demokratie ist dies eine äusserst gefährliche Entwicklung. Die Demokratie lebt von der freien Meinungsäusserung, der freien Willenskundgebung und dem eigenverantwortlichen Handeln. Wer diese Freiheiten einschränken will, strebt einen Systemwechsel hin zur Bevormundung und Manipulation an. Noch glauben zu viele, dass das geschriebene Wort der Wahrheit entspricht. Aber hat uns die Vergangenheit nicht etwas anderes gelehrt?
Die Exekutive möchte das Volk regieren. Wohl nicht selten durch finanzstarke Lobbyisten angetrieben, werden Meinungen und Werte, die nicht den versteckten Agenden entsprechen, diffamiert und abgestraft. Wer nicht spurt, ist rechtsradikal, ein Verschwörungstheoretiker oder gar ein Verräter. Gegen diese Entwicklung braucht es unseren Widerstand. Sagen wir, was wir denken, tun wir, was wir für richtig halten, und lassen wir uns nicht manipulieren. Es ist unsere Freiheit, die auf dem Spiel steht, und die lassen wir uns nicht nehmen.
Bundesverfassung: Art. 78 Natur- und Heimatschutz, bisher
1 Für den Natur- und Heimatschutz sind die Kantone zuständig.
2 Der Bund nimmt bei der Erfüllung seiner Aufgaben Rücksicht auf die Anliegen des Natur- und Heimatschutzes. Er schont Landschaften, Ortsbilder, geschichtliche Stätten sowie Natur- und Kulturdenkmäler; er erhält sie ungeschmälert, wenn das öffentliche Interesse es gebietet.
3 Er kann Bestrebungen des Natur- und Heimatschutzes unterstützen und Objekte von gesamtschweizerischer Bedeutung vertraglich oder durch Enteignung erwerben oder sichern.
4 Er erlässt Vorschriften zum Schutz der Tier- und Pflanzenwelt und zur Erhaltung ihrer Lebensräume in der natürlichen Vielfalt. Er schützt bedrohte Arten vor Ausrottung.
5 Moore und Moorlandschaften von besonderer Schönheit und gesamtschweizerischer Bedeutung sind geschützt. Es dürfen darin weder Anlagen gebaut noch Bodenveränderungen vorgenommen werden. Ausgenommen sind Einrichtungen, die dem Schutz oder der bisherigen landwirtschaftlichen Nutzung der Moore und Moorlandschaften dienen.
«Biodiversitätsinitiative»
Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert:
Art. 78a Landschaft und Biodiversität
1 In Ergänzung zu Artikel 78 sorgen Bund und Kantone im Rahmen ihrer Zuständigkeiten dafür, dass:
a. die schutzwürdigen Landschaften, Ortsbilder, geschichtlichen Stätten sowie Natur- und Kulturdenkmäler bewahrt werden;
b. die Natur, die Landschaft und das baukulturelle Erbe auch ausserhalb der Schutzobjekte geschont werden;
c. die zur Sicherung und Stärkung der Biodiversität erforderlichen Flächen, Mittel und Instrumente zur Verfügung stehen.
2 Der Bund bezeichnet nach Anhörung der Kantone die Schutzobjekte von gesamtschweizerischer Bedeutung. Die Kantone bezeichnen die Schutzobjekte von kantonaler Bedeutung.
3 Für erhebliche Eingriffe in Schutzobjekte des Bundes müssen überwiegende Interessen von gesamtschweizerischer Bedeutung vorliegen, für erhebliche Eingriffe in kantonale Schutzobjekte überwiegende Interessen von kantonaler oder gesamtschweizerischer Bedeutung. Der Kerngehalt der Schutzwerte ist ungeschmälert zu erhalten. Für den Moor- und Moorlandschaftsschutz gilt Artikel 78 Absatz 5.
4 Der Bund unterstützt die Massnahmen der Kantone zur Sicherung und Stärkung der Biodiversität.
veröffentlicht am 28. August 2024
Die Schweiz braucht eine gesellschaftliche Debatte über Biodiversität!
Am 22. September wird sich die Schweizer Bevölkerung ein weiteres Mal zu einer Initiative äussern können, welche die Landwirtschaft betrifft. Wir sollten uns darüber freuen, kämpfen wir doch für Ernährungssouveränität und ein demokratisches Ernährungssystem. Doch denken wir auch über die der Landwirtschaft zugrunde liegenden Märkte nach, genauer gesagt, wie diese Märkte durch demokratische Werkzeuge reguliert werden könnten?
Wenn heute tagtäglich Bauernhöfe verschwinden und wir eine Landwirtschaft haben, die von der Bundespolitk auf Produktivität und Wettbewerb getrimmt wird – mit all ihren negativen Auswirkungen für die Biodiversität –, dann sind sicher nicht die Bäuerinnen und Bauern daran schuld. Unter dem Einfluss der Industrie, Wirtschaft und Finanzwelt und ihren Vertretern in Bern ist es der Bund selbst, der die Preise für landwirtschaftliche Produkte senkt und dafür sorgt, dass der für Lebensmittel ausgegebene Anteil im Haushaltsbudget sinkt.
Biodiversität als Werkzeug der bäuerlichen Landwirtschaft
Wir Bäuerinnen und Bauern kultivieren die Biodiversität täglich: auf unseren Feldern und Böden, in den Obsthainen und Rebbergen, mit allen Arten und Sorten von Nutzpflanzen, bei der Viehzucht mit den unterschiedlichsten Tierarten und Rassen. Unsere Kollegen, Förster und Fischer, arbeiten in und mit ihrer jeweiligen Umgebung. Wir sind tätig in allen Regionen, im Flachland, an den Stadträndern, auf den Hügeln, in den Tälern, Bergen und Sömmerungsgebieten. Wir arbeiten nördlich und südlich der Alpen. Überall kultivieren und unterhalten wir die Biodiversität durch unser Handeln: sei es durch eine bestimmte Mahdtechnik, die Anwendung eines Pflanzenschutzmittels oder Insektizids, die Bearbeitung des Bodens – all das hat einen Einfluss auf die Biodiversität. Das organische Leben, seine Entwicklung, sein Wachstum, seine Fruchtbarkeit sind die Grundlage unserer täglichen Arbeit, womit unsere urbane Konsum- und Industriegesellschaft versorgt wird. In diesen Kreisläufen kultivieren wir Biodiversität. Das ist bäuerliche Landwirtschaft!
Facts zur Biodiversität
Der anhaltende Verlust an Biodiversität ist zwar kaum sichtbar, stellt aber eine grosse Bedrohung für die Stabilität der Öko- und Nahrungsmittelsysteme dar. Laut dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) sind 35 Prozent der bewerteten Arten ausgestorben oder bedroht, 12 Prozent sind potenziell bedroht. Insgesamt ist die Situation also für rund die Hälfte aller einheimischen, bewerteten Arten kritisch. Dabei wurde bis jetzt ein Fünftel aller in der Schweiz bekannten Arten (10 844 von ungefähr 56 000) bewertet.
Ein Hauptgrund für den Zerfall der Biodiversität ist die Zerstörung von Lebensraum und Nahrungsreserven. Die Urbanisierung, die Produktion, der Konsum und die Verschmutzung durch die industrielle Gesellschaft – mit ihr die landwirtschaftliche Umweltverschmutzung und die Zerstörung von wirtschaftlichen und agronomischen Strukturen der bäuerlichen Landwirtschaft – spielen ebenso eine Rolle.
Zerstückelt durch Agglomerationssiedlungen und ein extrem dichtes Strassen- und Bahnnetz haben sich die Lebensräume für zahlreiche tierische und pflanzliche Arten verkleinert und verschlechtert. Der Verlust an Landwirtschaftsfläche beläuft sich jährlich auf ungefähr 800 Hektar, zugunsten von Wald und der Vergrösserung von Agglomerationsgebieten. Die landwirtschaftliche Nutzfläche pro Einwohner betrug 1975 1656 m2, im Jahr 2023 betrug sie noch 1184 m2. In Berggebieten ist die Biodiversität durch die Abnahme bäuerlicher Betriebe und die intensivierte Nutzung bedroht.
In der Schweiz beherbergt der Wald gut 40 Prozent der Biodiversität. Es muss eine ausgewogene Mischung von Waldfunktionen gefunden werden, die sowohl eine effiziente Holzproduktion als auch den Schutz von Lebensräumen im Wald ermöglicht. Ausserdem müssen Flächen für die Förderung von Nieder- und Mittelwald sowie Waldweiden reserviert werden. Diese Vielfalt an Bewirtschaftungsformen geht mit einer strukturellen Vielfalt zugunsten sonnenliebender Waldarten einher.
Welche Rolle spielt die Landwirtschaft?
Das von der Agrarpolitik verordnete Streben nach «Wettbewerbsfähigkeit» der Landwirtschaft und der Preisdruck sind wichtige Antreiber der Zerstörung vielfältiger Strukturen und sorgen dafür, dass die Nahrungsmittelproduktion vom Erhalt der landwirtschaftlichen Biodiversität zunehmend entkoppelt wird (z. B. Aufgabe extensiv genutzter Weiden im Flachland). Allein die Sprache in der Agrarpolitik, worin von der Einführung ökologischer Ausgleichs- und biologischen Erhaltungsflächen die Rede ist, zeigt die Problematik sehr gut. Das Streben nach Produktivitätssteigerung durch Vergrösserung, Mechanisierung, Spezialisierung sowie räumliche und zeitliche Homogenisierung landwirtschaftlicher Praktiken (wie das Heuen und Ernten innerhalb weniger Tage im gleichen Gebiet) muss ausgeglichen werden und erfordert die Erhaltung von Nutzflächen. Anstatt für die Biodiversität förderliche landwirtschaftliche Techniken zu verwenden, wird versucht, «Reservate» zu schaffen, um die negativen Auswirkungen dieser blinden Produktivitätsstrategie zu kompensieren. Diese landwirtschaftlichen Reserve- und Kompensationsflächen machen heute schon 19,3 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche (LN) aus, verfehlen unserer Meinung aber ihr Ziel. Einzig die flächendeckende Verbreitung kurzer Kreisläufe, die Relokalisierung der Verarbeitungsbetriebe und eine deutliche Aufwertung der bäuerlichen Lebensmittelproduktion können die Zerstörung der Biodiversität stoppen und eine Kehrtwende einläuten. Die Volksinitiative geht völlig an den Überlegungen vorbei, die mit dem Wirtschafts- und Geschäftssystem zusammenhängen, das die Zerstörung der bäuerlichen Landwirtschaft fördert; vielmehr will sie – basierend auf einer ökologisch-liberalen Vision – die Schaffung von «Reservaten» fördern. Ein solcher Vorschlag verlagert lediglich die Problematik des industriellen Ernährungssystems, indem der Selbstversorgungsgrad auf Kosten eines erhöhten Transport- und Importaufwands gesenkt wird. Mit anderen Worten: Die von diesem Produktions- und Konsumsystem verursachten Biodiversitäts-Probleme werden ausserhalb unserer Grenzen ausgelagert.
Welchen Stellenwert soll die bäuerliche Produktion geniessen?
Zwischen 1985 und 2023 ist der gesamte Produktionswert der Landwirtschaft um 16 Prozent von 14,2 Milliarden auf 11,9 Milliarden Franken gesunken. Diese Summe macht heute weniger als ein Prozent der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung aus, während 1950 der Anteil der landwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung noch 11 Prozent betrug. Der Anteil des Haushaltsbudgets, der für Lebensmittel ausgegeben wird, beträgt aktuell zehn Prozent, einschliesslich Ausgaben für Restaurants und alkoholische Getränke.
Um diese Zerstörungsspirale der bäuerlichen Landwirtschaft zu durchbrechen, muss die Nachfrage nach bäuerlichen Produkten, insbesondere durch Aufträge der öffentlichen Hand und Marktregulierungen, gestärkt werden. Hauseigene Labels von Grosshändlern sind nicht die Lösung, um aus dem Nischenmarkt auszubrechen. Der Marktanteil biologischer Produkte lag im Jahr 2023 bei bescheidenen 11,2 Prozent. In der Schweiz stieg der Verkauf von Bioprodukten 2023 wieder leicht an, nachdem er 2022 einen starken Rückgang von 2,2 Prozent erlebte. In Frankreich dagegen ging 2023 infolge der Teuerung und des Drucks auf Produktionspreise die Anbaufläche für Bioprodukte um zwei Prozent zurück. Eine schonende Landwirtschaft oder kreislauffördernde Systeme mit Mischkulturen und Viehzucht erhalten aktuell auf den Märkten nicht die nötige Anerkennung.
Es ist ungewiss …
Es ist ungewiss, ob diese gesellschaftliche Debatte positiv verlaufen wird, da wieder einmal in Stein gemeisselte Glaubenssätze propagiert und weitere Gräben aufgerissen werden. Wir sollten vielmehr versuchen, unsere Gesellschaft rund um eine mehrheitsfähige Vision, gemeinsame Ziele und Handlungsmöglichkeiten zu vereinen.
Uniterre verteidigt eine bäuerliche Landwirtschaft, welche die Biodiversität schützt und kultiviert, und will das wirtschaftliche Gefüge umstrukturieren und diversifizieren. Dabei sollen das Agrar- und Lebensmittelsystem und die Biodiversität nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wir kämpfen für die Anerkennung einer gemeinnützigen Landwirtschaft, für den Vorrang lokaler Produktion gegenüber Importprodukten aus aller Welt und für die Anerkennung nichtkommerzieller Dienstleistungen der bäuerlichen Landwirtschaft!
Zuerst veröffentlicht in:
Die unabhängige bäuerliche Zeitung (Uniterre), Nr. 3 vom August 2024
Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.
veröffentlicht am 28. August 2024
Sitzen im Bundesrat Totengräber der Demokratie?
Das ist eine Frage, die sich infolge zunehmender undurchsichtiger Handlungen, Missachtung des Volkswillens und der Bundesverfassung einiger Exponenten in Bundesbern aufdrängt.
Aktuell scheint vor allem Bundespräsidentin Viola Amherd in dieser Hinsicht keine Hemmungen zu haben. Wie weit kann sie noch gehen, bis sie vom Parlament zurückgepfiffen wird? Ihre Annäherungspläne an die EU und die Nato sind verfassungswidrig und stehen im Geruch des Verrats. Ich kann nicht nachvollziehen, was in die ehemalige Stadtpräsidentin von Brig gefahren ist. Aber klar ist auf jeden Fall, dass sie so schnell wie möglich ihr Amt niederlegen muss, um weiteren Schaden für die Schweiz abzuwenden. Ihre Geheimniskrämerei, ihre Unaufrichtigkeit und ihre Fehlleistungen (Armeefinanzen) müssten Grund genug sein, dass ein paar politisch klardenkende und mutige Volksvertreter in Bern Amherd in die Schranken weisen.
Zu weit gegangen!
Es ist kein Geheimnis, dass Frau Amherd die Schweiz in die EU und Nato einbinden will. Aber entgegen ihrer blassen Augustrede verweigert sie den von ihr geforderten Dialog, wenn es um sicherheitspolitische Fragen geht. Sie organisiert lieber geheime Treffen und setzt Expertengruppen ein, die hinter verschlossenen Türen die Zukunft der Schweiz vorzeichnen sollen. Die Meldung auf dem Blick-Portal: «Auf die Schweiz kommt eine heftige sicherheitspolitische Debatte zu. Am 29. August präsentiert das von Bundespräsidentin Viola Amherd geführte Verteidigungsdepartement (VBS) den Bericht einer Studienkommission, die ‹Impulse für die Sicherheitspolitik der kommenden Jahre› geben soll. Von FDP-Parteichef Thierry Burkart über den ehemaligen Chef der Armee, Philippe Rebord, bis zum ehemaligen Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, diskutiert ein diverses Gremium eine Strategie, die weder der Linken noch der SVP gefallen dürfte. Denn es geht um eine engere Zusammenarbeit mit EU und Nato, eine Anpassung der Neutralitätspolitik.»¹
Eine Demokratie lebt von Transparenz und Vertrauen
Es stellt sich die Frage, in wessen Dienst die Bundespräsidentin steht. Bestimmt nicht im Dienst des Schweizervolks, der Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Freiheit unseres Landes. Schon die Zusammensetzung der Expertengruppe ist mehr als fragwürdig. Was hat ein ehemaliger Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz der Schweiz vorzuschreiben? Das ist Einmischung von aussen in innere Angelegenheiten unseres Landes. Mit ihrem Verhalten verletzt Frau Amherd grundsätzliche Bedingungen, die eine Demokratie auszeichnen: Transparenz, Vertrauen und Respekt vor dem Volk. Wer sich solche grundlegenden Voraussetzungen nicht zu eigen macht, hat in der Exekutivbehörde der Schweiz keinen Platz.
Bürgerinnen und Bürger
Wir brauchen ein Instrument, um unsere Demokratie zu schützen, und Bundesräte, die weder die Verfassung noch den Volkswillen respektieren, abzusetzen. Frau Amherd versagt sowohl als Bundespräsidentin als auch als Sicherheitspolitikerin. Anstatt sich wegen der Klimaerwärmung auf die Strasse zu kleben, anstatt die Genderfrage bis ins Unendliche zu debattieren und anstatt mit anderen vom Mainstream vorgegebenen Themen absorbiert zu sein, sollte man sich damit auseinandersetzen, wie die Rechte, wie Freiheit und Unabhängigkeit und die inneren Werte der Schweiz geschützt werden können. Dazu gehört auch die Frage: Welche Bundesräte und Volksvertreter sind wirklich ihren Aufgaben und Verpflichtungen gegenüber unserer Heimat gewachsen?
¹ www.blick.ch/politik/plaene-mit-zuendstoff-amherd-kommission
veröffentlicht am 28. August 2024
«Die USA haben Netanjahu nicht unter Kontrolle»
Zeitgeschehen im Fokus Ist nach den gezielten Tötungen durch Israel tatsächlich eine Vergeltung des Iran zu erwarten?
Jacques Baud Besonders die Journalisten der englischsprachigen Medien versuchen, ihren Lesern weiszumachen, dass die USA den Iran überzeugt hätten, keinen Vergeltungsschlag durchzuführen. Ich teile diese Auffassung nicht, sondern gehe davon aus, dass die Iraner zurückschlagen werden. Wann, in welcher Form und in welchem Ausmass bleibt noch immer ein Geheimnis.
Nach dem israelischen Anschlag auf ein Gebäude des iranischen Konsulats in Damaskus im April haben die Iraner Vergeltung geübt, aber das Ziel war nicht, Israel zu vernichten oder die Bevölkerung zu terrorisieren. Sie haben deutlich gesagt, sie würden nur militärische Ziele ins Visier nehmen, und genauso haben sie gehandelt. Es war also gut überlegt, geplant und durchgeführt. Ihr Ziel war nicht Zerstörung, sondern Abschreckung. Heute gibt es keine konkreten Hinweise darauf, dass die Iraner auf einen Gegenschlag verzichtet haben. Im Gegenteil, der Iran hat bestätigt, dass sein Gegenschlag einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Das Problem ist das gleiche wie im April: Wie kann man eine ausreichend starke Botschaft aussenden, ohne eine amerikanische Intervention oder einen regionalen Flächenbrand zu provozieren?
Das Vorgehen unterscheidet sich deutlich von demjenigen der Israeli. Die Iraner sind in der Lage, präzise und bedeutsame Angriffe ohne ungeplante Zerstörungen durchzuführen, ohne Menschenleben zu vernichten. Die Israeli sind unfähig, so etwas durchzuführen.
Sind sie tatsächlich unfähig oder wollen sie gar nicht so operieren?
Es hängt mit ihrer Gesinnung zusammen. Das sieht und hört man zum Beispiel an den Äusserungen von Bezalel Smotrich, für den es legitim ist, zwei Millionen Palästinenser verhungern zu lassen, um die Geiseln zu befreien. Daran erkennt man, wie die Leute denken. Ihr moralisches und intellektuelles Defizit wird sichtbar. Auch die Uno hat diese Aussage verurteilt. Es ist ein Skandal, dass ein Mitglied einer Regierung eine solche Aussage machen kann. Wenn jemand auf der Strasse so etwas äussert, dann ist es ebenfalls sehr problematisch, aber als Mitglied einer Regierung ist es skandalös und hat eine ganz andere Dimension. Der Uno-Hochkommissar für Menschenrechte sprach in diesem Zusammenhang von «Völkermord». Das ist neu, denn der Internationale Gerichtshof hat bislang nur die «Plausibilität eines Völkermords» im Gazastreifen erwähnt. Der Staat Israel zeigt immer mehr sein wahres Gesicht.
Zurück zum Iran. Er ist also in der Lage, fein gesteuerte Operationen durchzuführen. Das Ziel ist, zu zeigen, dass man fähig ist, auf das Vorgehen Israels eine Antwort zu geben. Mit der Ermordung von Ismael Hanija provozierten die Israeli erneut. Für den Iran wirkt das wie folgt: Wenn er nichts tut, wird es immer schlimmer. Der Iran wird reagieren, weil er überzeugt ist, reagieren zu müssen. Aber er hat nur sehr begrenzte Möglichkeiten, denn sonst könnte die Reaktion einen Regionalkrieg auslösen. Er muss also ganz behutsam vorgehen. Der Iran hat bereits im April gezeigt, dass er dazu fähig ist. Auf diesen israelischen Angriff wird er natürlich deutlicher antworten als im April.
Mit welchen Entwicklungen ist Israel im Krieg gegen die Hamas konfrontiert?
Netanjahu steht vor einer strategischen Niederlage, und für ihn wird es zusehends enger. Viele Staaten haben sich an der Klage Südafrikas gegen Israel beteiligt.
Die Huthis haben den Schiffsverkehr durch das Rote Meer Richtung Eilat nahezu vollständig zum Erliegen gebracht. Infolgedessen ist der Hafen von Eilat kurz vor dem Konkurs. Die Schiffsversicherungen wollen die Schiffe, die Richtung Eilat fahren, nicht mehr versichern.
Den USA ist es nicht gelungen, die Huthis zu zerschlagen. Sie können nach wie vor den Druck auf Israel aufrechterhalten, so lange, bis Israel einen Waffenstillstand mit der Hamas akzeptiert. In dem Sinne haben die Huthis unilaterale Sanktionen gegen Israel ergriffen. Damit wenden sie die gleiche Strategie wie der Westen an und bleiben konsequent, so wie es die USA mit Kuba, Syrien, Iran, Russland und so weiter exerzieren. Das zeigt doch, dass ein kleines Land mit wenig Ressourcen etwas tun kann. Um so mehr könnten Frankreich, Deutschland oder sogar die Schweiz Israel in die Schranken weisen. Ich selbst bin gegen unilaterale Sanktionen, egal ob die USA oder die Huthis sie verhängen. Sie stellen einen Verstoss gegen das internationale Recht dar. Der Westen hat Sanktionen als einen Teil seiner Aussenpolitik ständig angewandt und tut das bis heute. Gemäss der Washington Post rangiert die Schweiz an der zweiten Stelle aller Länder, die Sanktionen gegen ein anderes ergriffen haben. Das ist völlig absurd und ein Bruch des Völkerrechts. Sanktionen dürfen nur mit Zustimmung des Uno-Sicherheitsrats erfolgen, andernfalls sind sie illegal. Die Huthis halten den westlichen Ländern einen Spiegel ihrer eigenen Aussenpolitik der «doppelten Standards» vor.
Wird Netanjahu unter diesen Umständen sein Ziel erreichen?
Zunächst müssen wir festhalten, von welchem Ziel wir sprechen. Bisher hat Netanjahu keines der im Oktober 2023 formulierten Ziele erreicht, und es ist unwahrscheinlich, dass sich die Dinge in naher Zukunft verbessern werden. Man sieht auf dem Schlachtfeld, dass die Koordination der einzelnen Palästinensergruppen gut funktioniert. Sie hat sich sogar verbessert. Die Palästinenser haben neue Waffenarten auf dem Schlachtfeld eingesetzt. Man kann sagen, die Israeli haben nach acht Monaten Krieg im Gazastreifen nichts unter Kontrolle. Im Töten von Zivilisten waren sie erfolgreich, aber ohne einen taktischen Vorteil. Das Weisse Haus hat Dokumente über die Lieferung von Kriegsmaterial zugänglich gemacht. Aufgrund der Zahlen kann man sagen: Die Israeli brauchen 20 bis 40 Tonnen Bomben, um einen Hamas-Kämpfer zu töten. Das ist ausserhalb jeglicher Proportion, und sie haben nicht einmal Erfolg.
Wie kann man sich das erklären?
Die Israeli haben nicht die richtige Strategie. Sie führen den Krieg wie gegen einen konventionellen Feind. Sie haben nicht verstanden, dass die Hamas und die Palästinenser eine Widerstandsbewegung sind. In meinem Buch, das am 7. Oktober mit dem Titel «Die Niederlage des Siegers» auf Deutsch herauskommen wird, zeige ich die ganze Problematik auf.
Das bedeutet, dass der strategische Erfolg nicht die Summe der taktischen Erfolge ist. Was wir als Feldsiege sehen, nährt in Wirklichkeit eine immer schärfere und tiefere Kritik an Israel. Für unsere Journalisten wird der Erfolg in der Anzahl der getöteten Palästinenser gemessen. Für den Rest der Welt zeigt dies Israels Unfähigkeit, ein Problem anders als mit Brutalität anzugehen. In Wirklichkeit kontrollieren die israelischen Streitkräfte trotz der vielen getöteten Palästinenser keines der Gebiete, die sie besetzt und zerstört haben. Die Anwendung von Folter und Massakern, die von der Uno als solche anerkannt und angeprangert wurden, haben Israel von einem respektierten Staat zu einem verachteten Staat gemacht. Wie auch immer das Endergebnis aussehen mag, Israel hat diesen Krieg schon jetzt verloren.
Es gab Lösungen für diese Situation. Aber die Israeli akzeptieren weder Ratschläge noch Kritik. Wenn sie über ihr Verhalten nachdenken würden, könnte das Problem in wenigen Wochen gelöst werden. Aber das wollen sie nicht.
Aber was will Israel? Es müsste doch merken, dass seine Strategie nicht aufgeht.
Die Israeli wollen das Problem lösen, indem sie alle Palästinenser vernichten. Dabei haben sie die volle Unterstützung unserer Politiker und Journalisten. Die strategische Lage wird immer schlimmer. Innerhalb des Landes, im Norden mit der Hisbollah und dem Iran. Die Situation in Israel ist katastrophal. Dazu kommt noch der moralische Zustand im Land. In den letzten Wochen wurde bekannt, dass die Israeli regelmässig Palästinenser foltern. Es gibt einige Fälle von Vergewaltigungen. Im israelischen Parlament, der Knesset, gibt es Diskussionen darüber, was man eigentlich als Vergewaltigung gegenüber Gefangenen bezeichnen kann. Man sieht hier eine Gesellschaft, die keine moralische Basis hat, wenn sie solche Fragen im Parlament diskutieren muss.
Der Iran war an der Konferenz der Organisation Islamischer Staaten (OIC). Was konnte er dort erreichen?
Bevor der Iran zurückschlagen will, strebt er auf der Konferenz der OIC Unterstützung an. Diese Sitzung fand am 7. August statt. Am Ende veröffentlichten die Staaten ein Kommuniqué. Das Kommuniqué ist vier Seiten lang und besteht aus einer Liste von Punkten, die zeigen, dass alle islamischen Staaten, auch Saudi-Arabien, uneingeschränkt den Iran und die Palästinenser unterstützen. Sie haben die Tötung Ismail Hanijas und das Vorgehen im palästinensischen Gebiet verurteilt und bestätigt, was der Internationale Gerichtshof schon vor Monaten gesagt hat. Die Annäherung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien unter der Vermittlung von China hat sich in diesem Kommuniqué manifestiert. Auf diese Erklärung hat der Iran gewartet, um zu entscheiden, wie er auf die israelische Aktion reagieren will. Dabei darf man nicht vergessen, dass der Iran sowie die Hisbollah Schiiten sind, während die Mehrzahl der islamischen Länder Sunniten sind.
Was bedeutet diese Einheit der islamischen Länder für die allgemeine Lage in Israel und die Stimmung gegenüber dem Land?
Die Stimmung gegenüber Israel, zum einen in der arabischen, zum andern in der westlichen Welt, wird negativer. Die USA sind zwar immer noch mit Israel verbündet, aber man sieht in der US-Bevölkerung eine grosse Unterstützung für die Palästinenser. In den westlichen Ländern gibt es eine horizontale Spaltung in der Gesellschaft. Die politischen Eliten wagen nicht, sich gegen Israel zu stellen, aber die Mehrheit der westlichen Bevölkerung steht auf der Seite der Palästinenser mit einigen Ausnahmen wie zum Beispiel Frankreich. Hier gibt es eine starke Bewegung gegen die Araber. Das sind Rechtsextreme wie Marine le Pen oder Éric Zemmour. Sie sind aus diesem Grund gegen die Palästinenser. Genau diese Einstellung haben auch unsere Medien und unsere Journalisten. Als Beispiel kann man den Journalisten des RTS nennen, der Anders Breivik zu seiner Bluttat inspiriert hat. In der Öffentlichkeit präsentieren sich diese Personen als tolerante Demokraten, aber in Tat und Wahrheit sind sie allesamt gegen die Araber, gegen den Islam. Das wird in den Medien und von der Öffentlichkeit toleriert. Antisemitismus nicht.
Wie werden die USA reagieren, wenn Israel versucht, überall Feuer an die Lunte zu legen?
Netanjahu setzt weiterhin auf Krieg und will die USA im Nahen Osten zu einem militärischen Einsatz zwingen. Das ist auch der Grund, warum er nach Washington gereist war. In seiner ganzen Rede dort warb er um die Unterstützung der USA. Er wollte Rückendeckung. Wenn man die Rede analysiert, dann geht es um die unbegrenzte Unterstützung durch die USA.
Die USA wollen aber im Jahr der Präsidentschaftswahlen keinen Krieg. Sowohl im Ukraine-Krieg als auch im Nahen Osten würde Biden gerne eine diplomatische Lösung finden, um einen politischen Erfolg vorweisen zu können.
Es gab letzte Woche eine Meldung, dass die USA Flugzeugträger und U-Boote in die Region verlegt hätten. Welche Bedeutung muss man diesem Umstand beimessen?
Ja, sie werden U-Boote bringen und ihre Muskeln spielen lassen, das ist klar. Aber sie wollen keinen Regionalkrieg im Nahen Osten. Ob sie diesen verhindern können, ist offen. Sie haben Netanjahu nicht unter Kontrolle. Netanjahu ignoriert alles, selbst wenn Joe Biden etwas sagt. Er macht, was er will. Das gleiche Verhalten kann man bei Selenskyj beobachten. Die USA steuern nichts mehr.
Ein weiteres Ereignis der letzten Wochen war der Raketeneinschlag auf dem Fussballplatz von Madschdal Schams. War dafür die Hisbollah verantwortlich, wie Israel behauptet?
Das war eine Rakete des israelischen Raketenabwehrsystems «Iron Dome». Das sagen alle ehrlichen Analysten. Die Abwehrrakete hat das anvisierte Ziel nicht getroffen und ist abgestürzt. Zu dem Zeitpunkt, als das geschah, hatte die Hisbollah einen militärischen Stützpunkt Israels angegriffen. Der lag etwa sechs Kilometer von dem Ort entfernt, wo sich der Zwischenfall ereignet hat. Die Hisbollah ist bei ihren Angriffen immer sehr präzis und wollte sicher keine Araber treffen. Israel hat die Bewohner dieses Dorfs als Israeli präsentiert. Das ist reine Propaganda. Der Golan ist offiziell syrisches Staatsgebiet. Die Drusen, die dort leben, sind syrische Staatsbürger. Die Bewohner des Dorfs hatten explizit die israelische Staatsbürgerschaft abgelehnt. Auch wenn unsere Medien von Israeli gesprochen haben, sind es keine Israeli. Das Gebiet ist illegal besetzt und völkerrechtswidrig annektiert, nota bene mit der Unterstützung von Donald Trump. Alle unsere Journalisten haben dem zugestimmt. Sie unterstützten, was Trump dazu gesagt und gemacht hat. Das ist doch seltsam. Obwohl unsere Journalisten ihn als den schlimmsten, gemeinsten, dümmsten und so weiter Präsidenten beschrieben, unterstützten sie alle seine Entscheidungen im Nahen Osten – wie die Beseitigung von General Sulemaini, der sich damals auf einer Friedensmission befand – und seine Aktionen gegen Russland oder China. Keiner der Journalisten des Westens widersprach der Annexion des Golan, niemand kommentierte das in irgendeiner Weise kritisch. Dies zeigt einmal mehr ihr Niveau an Berufsethik.
Es war doch auch Donald Trump, der die US-amerikanische Botschaft nach Jerusalem verlegt hatte…
Es geht nicht primär um die Botschaft, sondern um Jerusalem. Von der Uno ist explizit festgelegt, dass Jerusalem unter internationaler Kontrolle steht und keine Hauptstadt sein darf. Dass darüber hinweggegangen wird, akzeptierten alle unsere Journalisten. Daran sieht man, dass unsere Journalisten – ich sage bewusst nicht Medien, denn die Medien werden von Journalisten gemacht – respektieren das Recht nicht. Sie benutzen das Recht à la carte, so wie es ihnen gerade passt. Genauso macht es auch Israel.
Unsere Journalisten stellen die Situation immer so dar, als ob die Hisbollah Israel ständig provoziere und Israel Vergeltung üben müsse. Kann man das tatsächlich so sehen?
Nein, das ist immer das gleiche Spiel. Israel sucht nach Möglichkeiten, die Hisbollah dazu zu bringen, sie anzugreifen, um auch hier die USA ins Boot zu holen. Aus diesem Grund gibt es ständige Provokationen. Wenn man die Berichte der Unifil, der Uno-Mission im Libanon, die es seit dem Krieg 2006 gibt, liest, dann sieht man, dass Tausende von Militärflugzeugen der Israeli den Luftraum über dem Libanon verletzten. Laut der Website Air Pressure hat Israel zwischen 2007 und 2022 mehr als 22 000 Mal den libanesischen Luftraum verletzt¹ – mit 8231 Kampfflugzeugen und 13 102 Drohnen.² Sie greifen Libanon an. Das ist alles illegal und wird rapportiert. Aber das kümmert niemanden. Keiner prangert das an. Israel ignoriert ständig die Gesetze und stellt sich über das Recht. Genau dieses Verhalten bestätigte der Internationale Gerichtshof am 19. Juli: Israel respektiert das internationale Recht nicht und will es auch nicht. Der Internationale Gerichtshof hat festgehalten, dass Israel Apartheid und rassistische Diskriminierung in den Gebieten betreibt, die unter seiner Kontrolle stehen. Es ist unverständlich, warum der Internationale Gerichtshof so lange zuwartet, bis er einen Entscheid über die Klage von Südafrika fällt. Je länger sich das hinzieht, um so grösser wird das Problem für alle übrigen Länder. Hätte man ein Dokument, in dem bestätigt wird, dass Israel einen Völkermord verübt, dann hätte man eine Grundlage zu sagen: Jetzt ist es genug! Jeder wartet darauf. Gäbe es ein Urteil des IGH, dann könnten sich die Staaten nicht mehr entziehen, sondern wären verpflichtet, sich dazu zu äussern.
Herr Baud, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete unter anderem für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.
¹ Anna Ahronheim: Israel flew in Lebanese airspace over 22 000 times in last 15 years – study, The Jerusalem Post, 12 june 2022
www.jpost.com/israel-news/article-709182
veröffentlicht am 28. August 2024
«Stopp den deutschen Waffenlieferungen an Israel»
Ende Juli 2024 hielt der aus Israel stammende Politökonom, Dr. Shir Hever, in Karlsruhe einen Vortrag zum Thema «Stopp den deutschen Waffenlieferungen an Israel». Deutschland ist nach den USA der zweitgrösste Rüstungsgüterlieferant für Israel. Waffenlieferungen an Staaten, bei denen der Verdacht auf Kriegsverbrechen oder Völkermord besteht, sind völkerrechtswidrig und müssen daher eingestellt werden. Zudem ist beim Internationalen Gerichtshof immer noch die Klage von Nicaragua gegen Deutschland wegen illegaler Beihilfe zum Völkermord hängig. Im folgenden Interview begründet Shir Hever, selbst Jude, warum die deutschen Waffenlieferungen an Israel sofort gestoppt werden müssen.
Zeitgeschehen im Fokus Deutschland liefert Waffen an Israel. Wer ist verantwortlich für diese Waffenlieferungen?
Dr. Shir Hever Normalerweise liegt die Verantwortung beim Verteidigungsministerium, das jede Waffenexportbewilligung genehmigen muss. Im Falle des Völkermordes in Gaza gibt es eine spezielle Vereinbarung zwischen dem Aussenministerium und dem Wirtschaftsministerium, die ein Arbeitskommitee gegründet haben, um Rüstungsausfuhrgenehmigungen nach Israel zu beschleunigen. Die beiden Ministerien, geführt von der Grünen Partei, sind daher mehr verantwortlich für die Waffenexportbewilligungen als andere Gremien in Deutschland. Aber ohne die Genehmigung des Verteidigungsministeriums geht es natürlich nicht.
Hat das Parlament nichts zu sagen bei den Waffenexportbewilligungen?
Natürlich kann der Deutsche Bundestag ein Gesetz erlassen, das Rüstungsexporte in Kriegsgebiete oder bei Verdacht auf Völkermord verbietet. Das macht der Bundestag aber nicht. Die Koalition, die die Mehrheit im Bundestag hat, wird von der SPD, den Grünen und der FDP bestimmt. Diese Parteien unterstützen den Völkermord im Gaza-Streifen. Oppositionelle Parteien im Bundestag können kleine Anfragen stellen an die Regierung. Das haben zwei weibliche Abgeordnete aus der neuen Partei von Sarah Wagenknecht gemacht. Sie haben unser Netzwerk gefragt, welche Informationen wir brauchen. Dann haben sie die Anfrage an die Regierung gemacht und die Antwort an uns geliefert.
Welche Waffen werden nach Israel geliefert?
Das ist eine sehr umfassende Frage. Deutschland hat eine Kategorie erfunden, die nur in Deutschland existiert: einen Unterschied zwischen Kriegswaffen und anderen Waffen. Diesen Unterschied kennt kein anderes Land, denn Waffen sind Waffen und töten. «Kriegswaffen» sind eine deutsche Kategorie, die mehr kontrolliert werden sollte. Kriegswaffen sind zum Beispiel die Kriegsschiffe und die U-Boote, die Deutschland an Israel verkauft hat. Deutschland sagt, die U-Boote werden nicht gegen Gaza eingesetzt, deswegen seien sie nicht relevant. Auch Grossmunition gehört zu den Kriegswaffen.
Aber es gibt auch viele Waffen, die von Deutschland nicht als Kriegswaffen eingestuft sind, zum Beispiel die Motoren für die Panzer, die der deutsche Triebwerkhersteller MTU Aero Engines AG produziert. Wir haben sehr viele Beweise und Indizien aus Gaza, dass israelische Soldaten mit ihren Panzern absichtlich gezielt Zivilisten überfahren haben. Also sind diese Motoren eine tödliche Waffe, das weiss natürlich die deutsche Regierung. Damit keine Kritik kommt, benutzt die deutsche Regierung diese zwei Kategorien, um zu behaupten, die Kriegswaffenlieferung an Israel sei fast gestoppt. Gleichzeitig verkaufen sie immer mehr Waffen. Es gibt auch Kleinmunition, für die 5,56 Millimeter und die 7,62 Millimeter Gewehre, die Israel täglich in Gaza und auch im Westjordanland gegen Zivilisten einsetzt.
Bei den Waffenlieferungen nach Israel sind die USA auf dem ersten Platz, Deutschland ist auf dem zweiten Platz. Deutschland verkauft nicht nur Waffen an Israel, Deutschland liefert auch Waffen an Israel, die aus den USA stammen.
Bis im April 2024 gab es mehr als 100 Lieferungen von amerikanischen Waffen mit Flugzeugen. Es gibt das Transportflugzeug C-17, das 77 Tonnen Munition tragen kann. Manchmal müssen die Flugzeuge einen Stopp machen, den sie entweder auf dem Shannon Flughafen in Irland oder in Ramstein in Deutschland machen. Ramstein ist klar, ich habe Bilder von der amerikanischen Luftwaffe. Sie laden in Ramstein die Bomben auf ein Flugzeug Richtung Israel.
Irland ist eine ganz andere Geschichte. Irland hat ein Gesetz, dass Waffen nicht über den Shannon Airport geliefert werden dürfen. Das ist einfach verboten, egal an wen, egal welche Waffen. Es ist einfach nicht erlaubt. Aber manchmal rufen die Amerikaner beim irischen Transportminister an und sagen ihm, sie hätten ein Flugzeug mit 77 Tonnen Bomben an Bord, das fliege Richtung Europa und habe technische Probleme an Bord. Sie müssten um eine Ausnahmebewilligung bitten, dieses Flugzeug in Shannon zu landen, sonst sei es gefährlich. Wenn ein solches Flugzeug abstürzt, kann es in Europa eine ganze Stadt zerstören. Diese Bomben gehen dann nach Israel. Das bedeutet, dass die Israelis mit diesen 77 Tonnen dann Gaza bombardieren.
Ich bin in Kontakt mit irischen weiblichen Parlamentsabgeordneten. Sie haben dem Transportministerium Fragen gestellt. Wann genau war diese Ausnahme? Wie viele Ausnahmen? An wen wurden diese Waffen geliefert? Die Parlamentsabgeordneten haben herausgefunden, dass diese Ausnahmen auch Israel betroffen haben. Sie haben daraufhin einen Gesetzesentwurf geschrieben, der leider vom Parlament noch nicht erlassen wurde. Der Gesetzesentwurf lautet in etwa so: «Wenn eine Ausnahme sein muss und ein Flugzeug mit Bomben in Shannon landen muss, um eine grosse Katastrophe zu vermeiden, dann wird eine Ausnahme bewilligt. Aber die Waffen werden konfisziert.» Ich finde das eine gute Lösung. Das wollen wir auch in Deutschland so einführen, in Ramstein.
Wurden und werden diese Waffen gegen die Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen eingesetzt?
Ja, absolut. Das Problem ist, Informationen vor Ort zu sammeln. Wenn wir um Zeugenaussagen oder Fotos bitten, ist das natürlich eine sehr schwierige Situation. Menschen, die gerade ihre Familien verloren haben, sind nicht gerade in der Lage, die richtige Dokumentation für uns zu machen. Aber sie versuchen es trotzdem unter sehr gefährlichen Bedingungen. Beim Treibstoff oder bei den kleinen Kugeln ist es fast unmöglich, diese kleinen Codes zu lesen. Bei den grossen Waffen ist es einfacher. Die deutsche Regierung ist sehr schlau und hat verstanden, dass es keine gute Idee ist, grosse Bomben an Israel zu verkaufen, das überlassen sie den USA. Wir finden solche Codes an amerikanischen Waffen in Gaza überall.
Ein gutes Beispiel, wie deutsche Waffen gegen Zivilisten genutzt werden, sind die Corvetten. Das sind eine Art Kriegsschiffe, die Israel von Anfang an benutzt hat, um in Gaza ganz massiv zivile Nachbarschaften zu bombardieren. Das sind Terrorangriffe gegen Zivilisten, gegen Menschen, die sich nicht wehren können. Der Vertrag für die Lieferung dieser Corvetten war schon vor dem 7. Oktober 2023 unterschrieben worden. Aber die letzten zwei Corvetten wurden erst nach Kriegsanfang im Dezember 2023 an Israel geliefert, als die Videos von israelischen Schiffen, die Gaza bombardiert haben, schon bekannt waren. Das ist ein sehr klares Beispiel.
Werden diese Waffen auch im Westjordanland eingesetzt?
Das Westjordanland ist etwas komplizierter. Es wird nicht behauptet, dass Israel dort Völkermord betreibt. Aber trotzdem: Die tägliche Tötung von Zivilisten im Westjordanland ist ein Kriegsverbrechen. Dafür Waffen zu liefern, ist auch illegal. Im Februar 2024 drangen als Zivilisten und Ärzte verkleidete israelische Soldaten – undercover – in das Ibn-Sina Krankenhaus in Jenin ein und erschossen Patienten in ihren Betten. Dabei haben sie diese kleine Munition benutzt. Ob diese aus Deutschland stammt, können wir aber nicht beweisen.
Ein wichtiges Beispiel ist auch das palästinensische Flüchtlingslager Nur Shams bei Tulkarem. In den letzten Wochen gab es dort ständige israelische Angriffe, und viele Menschen wurden getötet. Auch am 1. Juli hat eine israelische Rakete Nur Shams getroffen. Ein palästinensischer Journalist vor Ort hat den Raketenangriff dokumentiert. Auf einer kleinen Komponente der Rakete, einem Druckregler, stand «Made in Germany». Dieser stammt von der Firma Jumo in Fulda und war in eine Rakete eingebaut, die Menschen tötet. Hier handelt es sich um «dual use items». Protestbriefe wurden an die Jumo geschickt, dass ihre Produkte benutzt werden, um Menschen zu töten. Sie müssten aufhören, diese Produkte an Israel zu verkaufen. Jumo hat geantwortet, sie seien eine tolle Firma und ein guter Arbeitgeber in Fulda. Sie nähmen diese Vorwürfe sehr ernst, aber es bräuchte keine Genehmigung, um diese Druckregler zu verkaufen und zu exportieren. Diese würden nicht als Waffe eingestuft, sondern als zivile Güter. Zudem bezweifeln sie, dass ihr Produkt für diese Rakete benutzt wurde, das heisst, sie glauben, dass der palästinensische Journalist lügt. Tatsache ist, dass ich mit dem Journalisten aus Nur Shams verifiziert habe, dass das Foto echt ist und am 1. Juli in Nur Shams gemacht worden ist. Ich kann das Foto auch weiterschicken, wenn das jemand will. Wir sind sicher, dass es ein Jumo-Gerät ist. Das nennt man bei Rüstungsexporten «dual use items».
Man kann einen Vergleich machen mit der Türkei. Die Türkei hat gesagt, solange Israel nicht erlaubt, humanitäre Hilfe nach Gaza zu bringen und Menschen an Hunger und an Krankheiten sterben, werde die Türkei «dual use items» nach Israel verbieten. Das haben sie konsequent gemacht. Für die israelische Wirtschaft ist das ein grosses Problem, auch für die zivile Nutzung dieser Geräte. Sie können sie nicht aus der Türkei importieren, weil sie auch für Kriege benutzt werden könnten.
Es ist schwierig, die Herkunft von Waffen nachzuweisen. In Nur Shams ist es gelungen. Wie ist das in Gaza?
Forensische Informationen zu sammeln, ist sehr schwierig. Wir haben zwei Quellen, die wir nutzen können. Erstens ist das die Dokumentation, zum Beispiel die kleinen Anfragen im Bundestag oder verschiedene Dokumente. Es gibt eine sehr gute Organisation, die Forensic Architecture, die von einem ehemaligen israelischen Professor gegründet worden ist. Sie hat einen Hauptsitz in London und einen Nebensitz in Berlin, mit dem wir eng zusammenarbeiten. Forensic Architecture hat einen sehr detaillierten Bericht geschrieben über die deutschen Rüstungslieferungen an Israel mit sehr vielen Informationen, vor allem mit Analysen von Dokumenten, den man kostenlos als pdf herunterladen kann. Zweitens sind das die Informationen der israelischen Soldaten selbst. Es gibt Tausende, Zehntausende, Hunderttausende Bilder, Videos, wo die israelischen Soldaten sich selber dokumentieren bei dem Völkermord. Sie schreiben Texte über die Granaten, machen ein Foto und schiessen die Granaten. Es gibt sogar einen Befehl der israelischen Armee, der den Soldaten verbietet, ihre Handys nach Gaza mitzunehmen. Diese Soldaten brechen diesen Befehl. Sie machen, was sie wollen, niemand wird bestraft, mit einer Ausnahme. Am 25. Juli 2024 wurde zum ersten Mal seit Beginn des Krieges ein israelischer Soldat zu Gefängnis verurteilt, weil er dokumentiert hat, wie die Armee vier Leichen von Geiseln eingesammelt hat. Mit dieser Dokumentation wusste man dann genau, wo und wann die Leichen gefunden worden waren. Die Familien der Geiseln waren noch gar nicht informiert, dass die Leichen gefunden worden waren und dass die Geiseln nicht mehr am Leben sind. Der Soldat hatte das aber schon veröffentlicht. Deswegen wurde er bestraft, aber nicht wegen seiner Verbrechen gegen Palästinenser.
Für die Soldaten, die dokumentieren, wie sie Menschen in Gaza töten, morden, gibt es keine Strafe. Sie machen das immer noch, und sie laden das auf hebräisch auf soziale Medien, Tiktok, Instagram und so weiter hoch. Es gibt sehr viele freiwillige Menschen, die aus Israel stammen und hebräisch können, die mit mir Kontakt haben oder mit Forensic Architecture. Sie sitzen und schauen diese Tausende von Fotos und Videos an, um zu sehen, oh, hier ist eine Rakete, hier ist eine Bombe. Sie suchen nach diesen Codes, um zu wissen, ob diese aus Deutschland stammen oder aus den USA.
Wie ist es vom rechtlichen Standpunkt aus zu beurteilen? Sind die deutschen Waffenlieferungen an Israel mit deutschem und internationalem Recht vereinbar?
Das ist absolut nicht vereinbar. Wenn es einen Verdacht gibt auf schwere Kriegsverbrechen oder einen möglichen Völkermord, dann gibt es drei Regelungen für Drittstaaten:
Drittstaaten dürfen einem solchen Staat keine Waffen verkaufen.
Drittstaaten dürfen von einem solchen Staat keine Waffen kaufen, um die Kriegsmaschinerie dieses Staates nicht zu finanzieren. Deutschland hat Israel vier Milliarden Euro bezahlt für das israelische Raketenabwehrsystem Arrow-3-System. Damit finanziert man die israelische Kriegsmaschinerie mit vier Milliarden Euro. Ich habe viele Interviews gelesen in israelischen Medien von israelischen Generälen, die sagen: «Ja, wir haben wirklich ein Problem mit unserm Budget. Wir haben nicht genug Geld für die Munition, aber glücklicherweise hat Deutschland die Arrow-3 gekauft und jetzt haben wir ein bisschen Luft, den Krieg weiterzuführen.»
Drittstaaten dürfen keine Waffen an diesen Staat liefern beziehungsweise transportieren. In verschiedenen Häfen am Mittelmeer gab es Proteste der Gewerkschaften der Hafenarbeiter. Sie stoppten Waffentransporte nach Israel nicht aus ethischen Gründen, sondern weil diese laut internationalem Völkerrecht illegal sind. Dass in Deutschland der Flughafen Ramstein durch die amerikanische Luftwaffe benutzt wird, um Waffen nach Israel zu bringen, ist klar verboten. Und die deutsche Regierung weiss das sehr gut. Als Nicaragua gegen Deutschland wegen Beihilfe zum Völkermord geklagt hat, war die Antwort der deutschen Anwälte am Internationalen Gerichtshof (IGH) nicht: «Wir dürfen Waffen an Israel liefern, weil es das Recht hat, sich zu verteidigen.» Eine solche Sprache hört man in der Politik, aber nicht im Gerichtshof. Im Gerichtshof haben sie gesagt: «Wir liefern aber wenig.» Das ist keine Rechtfertigung. Eine Kugel ist schon eine Kugel zu viel. Aber, wenn sie sagen, wir liefern wenige Waffen, zeigt das, sie verstehen, dass es illegal ist.
Nicaragua hat im Frühling beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag einen Eilantrag eingereicht, um die deutschen Waffenlieferungen nach Israel zu stoppen. Der IGH hat diesen Eilantrag abgewiesen. Wie ist das zu beurteilen?
Das ist ein bisschen missverständlich. Es gab drei Anträge. Nicaragua hat zwei Anträge gestellt. Ein Antrag war, dass der IGH Deutschland wegen illegaler Beihilfe beim Völkermord verurteilen müsse. Der zweite Antrag war ein vorläufiges Urteil, dass Deutschland sofort damit aufhören muss. Deutschland hat den dritten Antrag gestellt: Solange es kein Urteil im Prozess Südafrikas gegen Israel wegen Völkermord gibt, kann Nicaragua keine Klage stellen, und die Klage muss zurückgewiesen werden. Der IGH hat die zwei letzten Anträge zurückgewiesen, aber nicht den ersten. Das heisst, der Prozess läuft noch, und es kann gut sein, dass Deutschland für schuldig befunden wird wegen illegaler Beihilfe zum Völkermord.
Gibt es in Deutschland Klagen gegen diese Waffenlieferungen?
Es gibt mehrere Klagen. Palästinenser haben nicht viel Geld, nicht viele gute Netzwerke und keine grosse Lobbygruppe wie die Israelis. Ich kenne viele von diesen Anwälten und Anwältinnen, die diese Klagen führen. Sie haben wenig Erfahrung mit Klagen, um Waffenausfuhren zu stoppen. Sie versuchen, schnell zu lernen. Es gibt tägliche Tötungen in Gaza, und wir müssen alles tun, was wir können. Bis jetzt hatte der Gerichtshof in Deutschland gesagt, solange es kein Urteil gibt, darf Deutschland keine Waffen exportieren. Wir waren froh. Dann kam das Urteil. Der Gerichtshof sagte: «Weil wir keine Kriegswaffenlieferungen an Israel gefunden haben, ist die Klage zurückgewiesen.» Das ist dieses Problem mit dieser deutschen Erfindung von Kriegswaffen. Jetzt arbeiten die Anwälte an einer neuen Klage, die besser formuliert wird, so dass diese Ausrede nicht mehr verfügbar ist.
Mit der neuen Entscheidung des IGH vom 19. Juli, dass die Besetzung des Westjordanlandes, des Gaza-Streifens und Ostjerusalems völkerrechtlich illegal ist, sind die Chancen viel besser. Das heisst, wir müssen nicht mehr beweisen, dass die Waffen, die Deutschland an Israel liefert, in Gaza benutzt werden, um zu sagen, dass das illegal ist. Es genügt bereits, wenn diese Waffen in Ostjerusalem oder im Westjordanland benutzt werden, das ist auch illegal. Trotzdem hat Scholz am 24. Juli gesagt: «Wir haben Waffen an Israel geliefert und werden noch weitere Waffen an Israel liefern.»
Wie ist ein militärisches Embargo gegen die deutschen Waffenlieferungen an Israel zu beurteilen?
Meine Rolle in der BDS-Bewegung ist, diese mit der Bewegung zum Rüstungsembargo gegen Israel zu koordinieren. Deswegen ist es klar, was ich über das Militärembargo denke. Das Rüstungsembargo betrifft nicht nur Deutschland, das Rüstungsembargo ist international, es ist weltweit. Es gibt eine Pflicht für jeden Staat, das als Politik zu übernehmen. Spanien hat ein Gesetz erlassen, ein Rüstungsembargo gegen Israel. Wir arbeiten immer noch in Spanien, weil das Rüstungsembargo in Spanien leider nur zwei von den drei Punkten betrifft: Sie liefern keine Waffen an Israel, sie transportieren keine Waffen nach Israel, aber sie kaufen Waffen aus Israel. Das muss auch gestoppt werden. Spanien hat einen Vertrag mit Elbit Systems, den grössten israelischen Rüstungsfirmen. Kolumbien und Chile haben schon ein hundertprozentiges Rüstungsembargo in Kraft gesetzt. Frankreich hatte bei der grossen «Paris Air Show» in Paris den israelischen Firmen verboten teilzunehmen. Das gab einen grossen Skandal, eine Klage dagegen und so weiter. Die Franzosen waren nachträglich bereit, dieses Verbot aufzuheben, nachdem die Waffenmesse schon vorbei war. Wir werden sehen, was nächstes Mal passieren wird. Das Rüstungsembargo ist sehr, sehr wichtig. Es ist eine Art Druck, um den Krieg zu stoppen, den Völkermord zu stoppen, Menschen zu schützen.
Die BDS-Bewegung ist in der Regel nicht für ein Embargo. Boykott und Embargo sind nicht das Gleiche, das heisst, man darf Produkte an Israel verkaufen, problemlos, also Nahrungsmittel, Medikamente und alles. Man will die Israelis nicht aushungern wie Israel die Menschen in Gaza aushungert. Eine Ausnahme sind die Waffen. Waffen sollen nicht an Israel verkauft werden. Das ist ein echtes Embargo, das Rüstungsembargo.
Was man über das Vorgehen des israelischen Militärs gegen die Zivilbevölkerung liest und hört, ist entsetzlich. Das sind Menschen wie wir, die das machen. Wie ist das möglich? Ich habe einmal länger mit Nurit Peled gesprochen, die sich mit den Inhalten in den israelischen Schulbüchern befasst hat.
Hat sie Ihnen gesagt, was ihr passierte, als sie nach dem 7. Oktober auf WhatsApp Jean-Paul Sartre zitierte? Sartre sprach über die französische Kolonialherrschaft in Algerien: «Nach so vielen Jahren, in denen der Nacken des Besetzten unter eurem eisernen Fuss erstickt wird, und dieser plötzlich die Chance bekommt, seine Augen zu heben, was für einen Blick habt ihr da erwartet?» Nurit Peled fügte nach dem 7. Oktober diesem Zitat hinzu: «Wir haben diesen Blick gesehen». Sie wurde sofort von ihrer Arbeit als Professorin an der Hebräischen Universität in Jerusalem gefeuert.
Zur Frage, wie können Menschen Kinder töten? Es gab in der Knesset eine Diskussion nach dem 7. Oktober, und eine palästinensische Knessetabgeordnete hat die Frage gestellt, «Warum töten Sie so viele Kinder?» Meirav Ben-Ari, eine Knessetabgeordnete aus einer sogenannten linkszionistischen Partei, also nicht in der Regierung, sondern in der Opposition, hat geantwortet: «Die Kinder sind selber schuld, dass wir sie töten.» Ihre Frage: «Wie können Menschen das tun?», ist eine Frage, die ich als Jude, der vom Holocaust von seinen eigenen Grosseltern gehört hat und von ihren Erfahrungen, die ich mir seit meiner Kindheit stelle: «Wie können Menschen an diesen Punkt gebracht werden, dass sie bereit sind, ihre Menschlichkeit zu vergessen?» Das kann ich nicht im Rahmen eines Interviews beantworten.
Für die Menschen, die dieses Interview lesen und etwas tun oder etwas helfen wollen, ist es nicht hilfreich, sich auf die Greueltaten zu fokussieren. Man kann auf Al-Jazeera so viele Bilder und Videos schauen, das ist wirklich unerträglich, das ist traumatisierend, das verletzt die Seele. Ich empfehle das nicht. Das hilft auch den Palästinensern nicht, wenn man selbst traumatisiert wird. Wir müssen uns nicht auf diese Leiden fokussieren, sondern auf konkrete Aktionen, wie wir das stoppen können.
Herr Hever, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Henriette Hanke
Güttinger
veröffentlicht am 28. August 2024
«Krieg ist Frieden» – oder: 2024 ist 1984
Es ist soweit. Mit vierzigjähriger Verspätung sind wir endgültig im Orwell‘schen 1984 angekommen. Und ausgerechnet das SPD-Präsidium liefert Sätze, die eins zu eins von diesem Klassiker aller Dystopien abgeschrieben sein könnten.
Bitte setzen Sie sich mal bequem hin, bevor Sie den folgenden Text lesen. Und passen Sie auf, dass Sie nicht trotzdem gleich vom Stuhl fallen!
Alles klar? Okay, es kann losgehen: «Als SPD übernehmen wir Verantwortung dafür, dass kein Kind, das heute in Deutschland geboren wird, wieder Krieg erleben muss. Die Vereinbarung der SPD-geführten Bundesregierung mit der US-Administration, ab 2026 US-amerikanische Raketen mit grösserer Reichweite in Deutschland zu stationieren, ist dafür ein wichtiger Baustein.»
Jawohl, Sie haben richtig gelesen! Dies ist die Stellungnahme des SPD-Parteipräsidiums vom 12. August zur von Bundeskanzler Olaf Scholz Mitte Juli im Handstreich dekretierten «Nachrüstung 2.0» – der Stationierung von unter anderem Marschflugkörpern und de facto im Anflug nicht mehr zu eliminierenden Hyperschallraketen einer Reichweite um die 2500 Kilometer –, die nicht etwa nur jedes Kind in Deutschland, sondern schlicht uns alle im Krisen- oder gar Kriegsfalle zur Zielscheibe russischer Präventiv- oder Vergeltungsschläge machen wird. Sätze, die dem Fass den Boden ausschlagen.
Nicht mal beim Lügen Mühe gegeben
Als Scholz auf der Nato-Jubiläumskonferenz in Washington die Bombe platzen liess, tönte er lediglich nebulös, dies sei eine sehr gute Entscheidung gewesen, um dann wörtlich fortzufahren: «Wir wissen, dass es eine unglaubliche Aufrüstung in Russland gegeben hat, mit Waffen, die europäisches Territorium bedrohen.» Sein forscher Kriegstüchtigkeitsminister wischte mit einer saloppen Handbewegung vom Tisch, was jedem der vom SPD-Präsidium so rührselig bemühten «Kinder in Deutschland» mit etwas Erklärung sonnenklar sein dürfte: Die Gefahr, das Land drohe selbst zum Kriegsschauplatz zu werden, sei, so Pistorius, «blanker Unsinn». Basta! Und Annalena Baerbock, frühe Avantgardistin des aktuell so hippen Orwell-Sounds – «Waffen retten Menschenleben» –, nahm diese Massnahme prompt zum Anlass, künftige Kritiker präemptiv zu beschimpfen: Diese seien nämlich «nicht nur verantwortungslos, sondern auch naiv gegenüber einem eiskalt kalkulierenden Kreml».Dass Scholz in jungen Jahren mal als strammer Juso gegen die Stationierung von Pershing II-Raketen und – man höre und staune! – Marschflugkörpern auf deutschem Boden demonstriert hatte, Baerbock laut Wikipedia als Kind von ihren Eltern auf eben diese Demos mitgenommen wurde und Pistorius über sechs Jahre Oberbürgermeister der «Friedensstadt Osnabrück» war, demonstriert lediglich, wie sternenweit sich diese Protagonisten, stellvertretend für ihre Parteien, mittlerweile von ihren Wurzeln entfernt haben.
Warum russische Raketen in Kaliningrad?
Aber warum stehen eigentlich russische Iskander-Raketen, mit denen der «eiskalt kalkulierende Kreml» (Baerbock) «europäisches Gebiet bedroht» (Scholz), im Kaliningrader Oblast? Denn diese – genauere Angaben zu machen, hielt man offiziellerseits bekanntlich für unnötig – werden ja wohl gemeint gewesen sein.
Dazu reicht es schon fast völlig aus, einen zeitgenössischen Artikel aus dem Berliner Tagesspiegel nochmals zu studieren. Dort stand nämlich am 13. November 2008 unter dem Titel «Russland schlägt ‹Null-Lösung› für Raketenstationierung vor» zu lesen, der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedew habe seinem designierten US-Kollegen Barack Obama vorgeschlagen, keine Raketen in der Exklave Kaliningrad zu stationieren, wenn die USA ihrerseits die Stationierungspläne von Modulen des globalen AEGIS-Raketen‹abwehr›-systems – das aufgrund seiner «Offenen Architektur» mit einer einfachen Softwareveränderung in ein Angriffssystem verwandelt werden kann – in Polen und Tschechien (später: Rumänien) aufgäben (By the way: Dass dieses System überhaupt «legal» weltweit installiert werden konnte, verdankt sich der von Russland völlig unprovozierten Kündigung des ABM-Vertrages über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen durch die USA, Ende 2001). Die USA waren zu einem Verzicht auf die Stationierung dieser Module vor der russischen Haustür nicht bereit, und das hatte laut unbarmherziger Abschreckungslogik seine Folgen. Als Donald Trump dann auch noch – ebenfalls, ohne sich eine plausible Begründung einfallen zu lassen – Anfang 2019 den INF-Vertrag, der landgestützte Kurz- und Mittelstreckenraketen einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern verbot, kündigte, war der «eiskalt kalkulierende Kreml» seinerseits ebenfalls nicht mehr an eine Reichweitenbegrenzung gebunden.
Kurz: Die «europäisches Gebiet bedrohenden» russischen Raketen waren eine Gegenmassnahme Russlands, die der Westen seinerzeit mit etwas gutem Willen sehr leicht hätte verhindern können. Diese Gegenmassnahmen nun selbst für weitere Gegen-Gegen-Massnahmen – denen natürlich wiederum russische Gegen-Gegen-Gegen-Massnahmen folgen werden – in Anspruch zu nehmen, stellt die Klimax westlicher Heuchelei dar.
Dass man die Chronologie dieser neuen Rüstungsspirale im Kurz- und Mittelstreckenbereich regierungsamtlich wohlweislich verschweigt, ist natürlich kein Zufall; sonst könnten ja – nicht auszudenken! – der Bevölkerung ganz grundsätzliche Zweifel an der westlichen «Sicherheitspolitik» kommen… Die «Begründungen», die statt dessen geliefert werden, sind in ihrer Dreistigkeit und ihrem Kitsch nichts anderes als eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand. Und dass die Qualitätsmedien, statt dies zu entlarven, im selben Orwell-Sprech – «Waffen, auch aus Deutschland, helfen, pazifistische Grundsätze durchzusetzen» – assistieren, verschlägt einem die Sprache.
Mit einem Wort: Mit vierzigjähriger Verspätung sind wir alle nun tatsächlich im Jahre 1984 angekommen!
Diese Regierung «hat fertig»
Halten wir fest: Diese Regierung «hat fertig». Sie ist moralisch restlos verkommen, und man fleht zu Gott, sie lieber heute als morgen endlich auf das verdiente Altenteil zu katapultieren – würde sich denn am Horizont zumindest eine halbwegs akzeptablere realistische Alternative abzeichnen!
Aber bis das BSW die Geschicke dieses Landes massgeblich mitbestimmen kann, wird wohl noch einiges Wasser den Rhein hinunterfliessen (und man mag sich nicht ausmalen, welche rüstungspolitische Fakten bis dahin noch geschaffen sein werden …).
Zuerst veröffentlicht in:
https://globalbridge.ch/krieg-ist-frieden-oder-2024-ist-1984/ am 20.08.2024
Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.
veröffentlicht am 28. August 2024
Die Lage in Venezuela – was und wem kann man glauben?
Zeitgeschehen im Fokus Unsere Medien überstürzen sich mit Vorverurteilungen: Maduro sei ein Diktator, und die Wahlen seien gefälscht. Es würde mich interessieren, wie Sie das beurteilen. Aber zuerst möchte ich in die Vergangenheit gehen, um die aktuelle Situation von der Geschichte her zu verstehen. Sie waren in Ihrer Funktion als Unabhängiger Uno-Experte auf offizieller Mission im November/Dezember 2017 in Venezuela. Damals herrschte ebenfalls eine starke Medienstimmung gegen das Land. Können Sie Ihre Eindrücke von damals schildern?
Prof. Dr. Alfred de Zayas Lassen Sie mich erst etwas Allgemeines zu den Medien sagen, um dann auf Venezuela zu sprechen zu kommen. Die grosse Medienlandschaft im Westen ist seit Jahrzehnten nicht mehr frei und dient vor allem politischen Zielen. Dies ist in den USA, Grossbritannien, Frankreich, Deutschland und leider auch in der Schweiz der Fall. Darum muss man sich besonders bemühen und Informationen und Kommentare verschiedener Quellen konsultieren.
Bereits in den 90er Jahren erlebten wir eine grosse Manipulation der Realität bei der Berichterstattung über die Auseinandersetzungen in Jugoslawien. Die Schwarz-weiss-Malerei war unerträglich. So war es auch in den frühen 2000er Jahren bezüglich Afghanistan und Irak. In den 2010er Jahren betraf das die Berichterstattung über Libyen, Syrien, Russland und die Ukraine. Heute erleben wir die Manipulation der öffentlichen Meinung in Bezug auf Belarus, China, Kuba, Nicaragua, Palästina und so weiter. Alle Medien¹ – nicht nur die westlichen – vermitteln neben Informationen Eindrücke, Gefühle, Emotionen, Voreingenommenheit. Uns wird nahegelegt, was und wem zu glauben, wer zu preisen, wer zu hassen ist. Es geht um eine bestimmte Epistemologie, und der Mensch will glauben. Wie Julius Caesar schrieb: «Quae volumus, ea credimus libenter» – «Wir glauben, was wir glauben wollen.»²
Bezüglich Venezuela entfaltete die westliche Propaganda bereits seit 1999 eine konsequente «Fake news»-Kampagne. Ich war auch Opfer dieser Propaganda und glaubte vielen der Karikaturen, die in der New York Times zu finden waren. Um mich auf meine Uno-Mission 2017 vorzubereiten, habe ich etliche Berichte und Untersuchungen lesen müssen, unter anderem aus der Washington Post, dem Wall Street Journal, CNN, Reuters, der FAZ, der NZZ, dem US-Aussenministerium, Amnesty International, Human Rights Watch, der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte und so weiter. Als ich dann in Venezuela war und Gelegenheit hatte, selbst zu fragen und zu hinterfragen, selbst zu sehen und zu beurteilen, mit venezolanischen Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) wie Fundalatin, Grupo Sures, Red Nacional de Derechos Humanos, mit Professoren verschiedener Universitäten, mit Studenten, mit Vertretern der Kirchen, mit dem diplomatischen Corps, mit den Regierungsinstanzen zu sprechen, habe ich allmählich verstanden, dass die Medienstimmung im Westen nur auf einen Regime-Change abzielte und die Lage im Land bewusst verfälschte. Es ging nicht nur um falsche Informationen, die man in der westlichen Presse las, sondern um bedeutende Auslassungen. Damals wie heute kann man viele Medien im Westen nicht nur als «Lügenpresse», sondern vor allem als «Lückenpresse» bezeichnen. Es werden Ursachen und Folgen umgedreht. Wenn man etwas über Venezuela verstehen will, muss man viele Informationsquellen konsultieren, nicht nur irgendwelche «Fakten» empfangen, sondern auch diese proaktiv suchen. Die venezolanische Regierung hat es seit 1999, als Hugo Chávez Präsident wurde, mit einem hybriden Informationskrieg zu tun, einer orwellschen «Fake news»- und «Hate speech»-Maschinerie, die eine Doppelmoral besass, teleologisch arbeitete und die Realität noch weiter verdrehte.
Professor Dr. Alfred de Zayas mit seinen Assistentinnen beim Besuch in Venezuela (Bild zvg)
Sprechen wir zunächst noch etwas über Ihren Aufenthalt in Venezuela 2017. Sie hatten im Land mit verschiedenen Politikern und Vertretern der Zivilgesellschaft Kontakt. Eine wichtige Rolle spielen NGOs. Sie haben mit vielen Vertretern von NGOs gesprochen. Welches Bild haben Sie dabei gewonnen, und wie nehmen die NGOs Einfluss auf die Politik?
Als ich im November/Dezember 2017 das Land besuchte, habe ich mit etwa 45 NGOs gesprochen, habe sie individuell oder auch in Gruppen getroffen. Ich habe nicht nur die menschenrechtlichen NGOs, sondern auch die «speziellen», die sich für Religionsfragen, Musikunterricht, Arbeitsrecht, Frauenrechte, Behindertenrechte, aber auch für Rechte für LGBT engagieren, unter anderem viele echte NGOs wie Fundalatin und Grupo Sures, die mir Dokumente, Videos und Statistiken zur Verfügung stellten. Es waren natürlich auch die Vertreter von Amnesty International, Human Rights Watch, Provea und so weiter, die meine vielen Fragen beantworteten und mir zusätzliche Informationen vermittelten.
Viele NGOs sind konstruktiv und für das Wohl der Allgemeinheit engagiert. Andere sind politisch und stellen auf Konfrontation mit der Regierung ab. Natürlich ist es legitim, die Regierung zu kritisieren, auf Korruption und andere Missstände hinzuweisen, für mehr Freiheit zu demonstrieren – aber dies sind nicht die einzigen Aufgaben der NGOs. Es geht nicht nur um «Naming and Shaming». Die Zivilgesellschaft muss bemüht sein, den Dialog zu fördern, friedliche Vorschläge zu unterbreiten, die Ursachen gesellschaftlicher Probleme zu suchen und konstruktive Lösungen zu entwickeln, nicht nur zu protestieren, Lärm zu machen, Angstmacherei zu betreiben, nichtfundierte Anklagen zu verbreiten. Tatsächlich sind einige NGOs nur da, um einen Regime-Change zu fördern, und sie werden natürlich von den superreichen Venezolanern, von USAID, vom National Endowment for Democracy, von Soros und von der Europäischen Union unterstützt und finanziert.
Als ich in Venezuela war, entfachten einige NGOs eine Kampagne gegen mich. Ich wurde auf Facebook und mit Tweets angegriffen, diffamiert, bedroht, weil sie aus meiner Bodylanguage beziehungsweise aus meiner Zurückhaltung merkten, dass ich nicht bereit war, ihr Spielchen mitzumachen. Sie befürchteten nämlich, dass ich meine Arbeit unabhängig anpacken, alle Seiten anhören und nach den Ursachen der Probleme suchen würde. Diese NGOs wollten nur eins: eine globale Anklage gegen Maduro. Ich sah meine Aufgabe nicht darin, die Regierung im voraus zu verdammen, sondern zunächst alle Seiten anzuhören, um mir ein differenziertes Bild zu machen und eine eigene Meinung zu bilden. Ich erhielt auch Todesdrohungen. Die Diffamierungskampagne dieser sogenannten NGOs setzte sich nach meiner Rückkehr nach Genf fort und ging wieder los, als mein Bericht im September 2018 dem Menschenrechtsrat vorgelegt wurde. Solche Diskreditierungsmethoden werden oft gegen unabhängige Sonderberichterstatter angewandt, unter anderem gegen die Sonderberichterstatter über Palästina, über internationale Solidarität, über unilaterale Zwangsmassnahmen.
Es scheint nicht gewünscht zu sein, einen anderen Standpunkt einzunehmen. Wer waren Opfer solcher Kampagnen oder Todesdrohungen?
Ich weiss von Drohungen gegen Dr. Idriss Jazairi, Prof. Alena Douhan, Reem Alsalem, Prof. Richard Falk, Prof. Francesca Albanese. In meinem persönlichen Fall erinnere ich mich, dass eine Vertreterin der NGO Provea mich vor der OAS diskreditierte und behauptete, dass ich nichts in Venezuela getan hätte, ausser Fotos in einem Supermarkt zu machen. Tatsächlich hatte ich auch mehrere Supermärkte besucht und Fotos gemacht, um zu belegen, dass es 2017 noch keine «humanitäre Krise» gab, die als Rechtfertigung für eine militärische «humanitäre» Intervention hätte instrumentalisiert werden können. Ich dokumentierte, wie die venezolanische Regierung bemüht war, und es zu dem Zeitpunkt noch erreichte, Regale voller Fleisch, Fisch und Konserven zu bieten, obwohl die unilateralen Zwangsmassnahmen durch die USA der Wirtschaft Venezuelas enorm geschadet hatten.
Dann gibt es NGOs, die nicht die Situation im Land verbessern, sondern als eine Art fünfte Kolonne das Land schwächen wollen, um sich schliesslich als Retter zu präsentieren und die Regierung zu stürzen?
Viele Beobachter sind dieser Meinung, und sie nennen diese Kategorie NGOs «trojanische Pferde», denn sie wollen den Staat zersetzen. Da sind genügend Parallelen zu finden. Diese Organisationen werden weitestgehend von den USA und der EU finanziert, und ihre Hauptaufgabe hat nichts mit Menschenrechten zu tun, sondern schlicht und einfach mit Regime-Change. Genau deshalb hat das venezolanische Parlament einen Gesetzesentwurf angenommen, der vorsieht, die Finanzierung aller NGOs zu überprüfen, denn einige können durchaus als «foreign agents» bezeichnet werden, im Sinne des amerikanischen Gesetzes «Foreign Agent Registration Act» von 1938.³ Aber, wie wir alle wissen, quod licet Iovi, non licet bovi – was dem Hegemon erlaubt wird, wird anderen Völkern nicht gestattet.⁴
Sie haben vorhin die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) erwähnt, die Venezuela gerügt hat und die Wiederwahl Maduros nicht anerkennt. Was für Ziele verfolgt die OAS?
Die OAS ist eine von den USA im Jahre 1948 ins Leben gerufene Organisation, die seitdem die Interessen der USA verfolgt, nicht aber jene der lateinamerikanischen und karibischen Völker. Seit 2015 ist der Uruguayer Luis Almagro Generalsekretär. Weitestgehend unterstützt er die Politik der USA, betreibt seine Propaganda⁵ und so die Unterminierung von lateinamerikanischen Regierungen wie in Bolivien, Peru und Venezuela. Jüngst hat er an den Internationalen Strafgerichtshof appelliert und gebeten, dass Nicolas Maduro verhaftet werde.⁶
Es ist offensichtlich, dass die OAS nicht das Ziel anstrebt, Stabilität und ein friedliches Miteinander der Staaten zu garantieren, sondern beim Regime-Change der genannten Länder mithilft. Gibt es eine Möglichkeit, die OAS wieder auf ihre eigentliche Aufgabe zurückzuführen?
Ich denke, die OAS gehörte abgeschafft. Lieber heute als morgen. Diese Organisation gehört in die Zeit des Imperialismus und Kolonialismus, aber nicht mehr ins 21. Jahrhundert. Es existiert eine andere regionale Organisation, die repräsentativer ist – die CELAC – Comunidad de Estados de Latino America y del Caribe,⁷ die nach ihrem Statut, die Interessen der Völker Amerikas vertritt, etwa durch die 2014 Erklärung der Region zu einer «Zone of Peace».⁸
Seit der Wahl von Hugo Chávez ist das Land ständigen Angriffen ausgesetzt. Die aktuellen Angriffe der OAS, die Attacken aus dem Ausland und die scharfen Sanktionen – sind das nicht wieder Beispiele, wie es einem Land ergeht, das sich nicht dem US-amerikanischen «Imperialismus unterwirft?
Venezuela ist ein enorm reiches Land, hat die grössten Ölreserven der Welt, auch Gold und etliche wichtige Mineralien. Wenn die Regierung Maduros gestürzt wird, öffnen sich Wirtschaftsmöglichkeiten für die amerikanischen Konzerne. Alle die sozialen Reformen in Venezuela werden schnell abgeschafft, und man wird die Geschichte Chávez' und Maduros ausradieren. Dies wird zu einem Rückschritt in sozialen Rechten und zur Neu-Kolonisierung Venezuelas durch die USA führen. Schliesslich geht es um die Hegemonie der USA in Südamerika. Es geht um die sogenannte Monroe Doktrin und den Sieg des Kapitalismus, um die Verwirklichung der Fantasien von Fukuyama und seinem dummen Buch «The End of History». Die USA wollen auf keinen Fall erlauben, dass ein sozialistisches System Erfolg in Lateinamerika hat. Es wäre ein «schlechtes Beispiel» für andere Staaten der Region, die ihren Bürgern auch gerne wirtschaftliche und soziale Rechte garantieren möchten. Salvador Allende versuchte es 1970 in Chile, 1973 wurde er gestürzt. Manuel Zelaya versuchte es in Honduras und wurde 2009 weggeputscht, Evo Morales hat es in Bolivien versucht und wurde 2019 aus dem Amt gejagt. Pedro Castillo versuchte es in Peru. Ihn ereilte 2022 das gleiche Schicksal. Er sitzt im Gefängnis. So etwas geschieht nicht nur in Lateinamerika. Die Hände der USA scheinen auch bei der Absetzung Imran Khans in Pakistan im Spiel gewesen zu sein. Auch scheint der Putsch gegen Sheik Hasina in Bangladesch von den USA mitorganisiert worden zu sein.⁹ Die USA haben viel Erfahrung bei der Manipulation von fremden Wahlen, Destabilisierung und Putsch, wie wir von Professor Stephen Kinzer wissen.10
Bei den letzten Präsidentschaftswahlen versuchte die Opposition, die Strasse für Proteste aufzumischen, was nicht gelungen ist. Maduro konnte sich trotz starkem Druck aus dem Ausland und Versuchen im Inland, ihn zu stürzen, halten. Wie ist das zu erklären?
Mein persönlicher Eindruck ist, dass eine Mehrheit der Venezolaner die Reformen von Chávez und Maduro befürworteten und noch immer gut finden. Das grosse Problem liegt bei den drakonischen US-Sanktionen, die enorme wirtschaftliche Schäden verursachen und Arbeitslosigkeit, Krankheit und Tod zur Folge haben. Diese illegalen einseitigen Zwangsmassnahmen (UCM) zwangen auch Millionen Menschen dazu, das Land zu verlassen. Dabei handelt es sich nicht um politische Flüchtlinge, die die Reformen von Chávez/Maduro ablehnen, sondern um wirtschaftliche Migranten, die von den einseitigen Zwangsmassnahmen der USA direkt oder indirekt betroffen sind. Zweifelsohne gibt es einen Mangel an Medikamenten und an medizinischen Geräten, auch an einigen Nahrungsmitteln, wie drei Uno-Sonderberichterstatter, die das Land besuchten, ausführlich belegt haben: Prof. Alena Douhan11 und Prof. Michael Fakhri.12 Diese kamen zu ähnlichen Schlussfolgerungen, wie ich in meinem früheren Bericht von 2018.13 Alles verursacht durch das wirtschaftliche Embargo, das zudem die Korruption im Land fördert. Der vom Westen und der Opposition in Venezuela erhobene Vorwurf der Misswirtschaft trifft so nicht zu. Misswirtschaft gibt es in den USA, in der EU, in Indien, in China und auch in Venezuela. Aber der Hauptgrund der Misere ist nicht Misswirtschaft. Ich habe in Venezuela äusserst kompetente Minister kennengelernt. Erstaunlich ist, dass die Regierung sich trotz allem einer grossen Popularität beim Volk erfreut. Wirtschaftsprofessorin Pasqualina Curcio von der Universität Caracas hat mehrere Bücher über die Ursachen der wirtschaftlichen Misere geschrieben, die belegen, dass die Krise artifiziell ist und von aussen in das Land eingreift.14
Ich habe ihre Analysen mit ihr in Venezuela und in Genf diskutiert. Man muss sie lesen. Auch Professor Miguel Tinker Salas von der Pomona University in Kalifornien hat darüber geschrieben.15 Ganz wichtig sind die Studien des Center for Economic and Political Research in Washington D.C (CEPR),16 und auch die Analyse der Wahlen von 2024.17
Der Westen hat nach den Wahlen 2019 den selbsternannten Präsidenten, Juan Guaidó, zu Unrecht als rechtmässigen Präsidenten anerkannt. Nachdem mehrere Putschversuche nicht gelangen, hat man nichts mehr von ihm gehört.
Guaidó war ein Opportunist, der sich lange der Unterstützung von Donald Trump und Mike Pompeo und seit 2021 auch von Joe Biden und Anthony Blinken erfreute. Er war der venezolanische Selenskyj, die nützliche Marionette Washingtons. Auch er liess sich vom US-Kongress in Washington feiern und hat jedenfalls genug profitiert. Nun ist Guaidó nicht mehr nützlich und wird durch andere Marionetten ersetzt. Die USA haben neue Vasallen, nämlich Edmundo Gonzalez Urrutia und Maria Corina Machado. Wieder einmal sehen wir eine Posse, eine Scharade, eine Opera Buffa. Warten wir ab, wie es ihnen am Ende ergeht.
Kommen wir auf die aktuelle Entwicklung in Venezuela zu sprechen. Interessant ist es, zu sehen, ob es Parallelen zu den Wahlen 2018 gibt. Seit den Wahlen vor gut vier Wochen wirft man Maduro Wahlfälschung vor. Der nationale Wahlrat, Consejo Nacional Electoral (CNE), hat die Wahlen als rechtmässig anerkannt. Wie glaubwürdig ist die Behörde?
Als ich im November/Dezember 2017 in Venezuela weilte, besuchte ich diese Behörde und verbrachte etwa zwei Stunden mit dem Chef und seinen Mitarbeitern, die mir ausführlich erklärten, wie das alles funktioniert, nicht nur die technischen Aspekte, sondern auch, wie sie die Resultate nachprüfen. Das System ist durchdacht, um Manipulationen auszuschliessen. Ausserdem haben der CNE-Chef und das Personal alle meine Fragen beantwortet und einen seriösen, professionellen und keinen politischen Eindruck hinterlassen. Dies garantiert aber nicht, dass die CNE 2024 unpolitisch handelte. Immerhin waren etwa Tausend ausländische Wahlbeobachter 2024 in Venezuela, die berichteten, dass die Wahlen am 28. Juli korrekt verlaufen seien. Ich kenne eine Beobachterin, die Kollegin beim Geneva International Peace Research Institute ist.
Warum hat Maduro dennoch an den venezolanischen Obersten Gerichtshof appelliert?
Genau das ist in der venezolanischen Verfassung vorgesehen. Maduro hat also rechtsstaatlich gehandelt. Man muss bedenken, dass ernste Cyberattacken gegen das CNE-System registriert wurden und dass das Nachprüfen der digitalen Beweise somit erschwert wurde.
Am 22. August hat der Oberste Gerichtshof sein Urteil gefällt. Was kam dabei heraus, und wie argumentierte er?
Drei Wochen lang hat der Oberste Gerichtshof alle Klagen gegen die Regierung angehört, Gegenbeweise von der Opposition verlangt, die CNE-Unterlagen nachgeprüft.18 Das Gericht kam zur einhelligen Entscheidung, dass Maduro mit 52 Prozent der Wählerstimmen wiedergewählt wurde. Die Opposition und die US-Medien haben bereits das Gerichtsurteil abgelehnt. Aber der Oberste Gerichtshof ist die letzte Instanz.
Ist dieser Vorgang in Venezuela aussergewöhnlich oder kennt man das in anderen Ländern auch?
Ja, zum Beispiel waren die Wahlen in den USA im November 2000 in mehreren Staaten umstritten. Man wollte alles nachprüfen lassen, aber am 8. Januar 2001 hat der amerikanische Oberste Gerichtshof das Nachprüfen gestoppt und die Wahl George W. Bush geschenkt. Nach beinahe neun Wochen hatte man also ein vom Obersten Gerichtshof der USA angeordnetes Ergebnis. Ich persönlich meine, es gab zu viele «Unregelmässigkeiten», und man hätte die Wahlen in mehreren Staaten nachprüfen, oder die Wahlen in diesen Staaten wiederholen sollen. Persönlich denke ich, dass Al Gore der Gewinner gewesen ist. Auch die Wahlen im November 2020 liefen schief, und viele Republikaner sind bis heute überzeugt, dass die Demokraten die Wahl «gestohlen» hätten. Aber damals bestimmten die Gerichte die Wahl Joe Bidens. Ob die US-Gerichte seriös gearbeitet haben, weiss ich nicht, hege aber meine Zweifel. Hier dauerte es auch viele Wochen, bis man eine endgültige Entscheidung getroffen hatte.
Verschiedene Staaten verlangen einen Einblick in die venezolanischen Wahlergebnisse. Ist das nicht ein Eingriff in die Souveränität eines Staats?
Das wäre völkerrechtswidrig als eine ungeheure Einmischung in die innere Angelegenheiten Venezuelas und eine Verletzung seiner Souveränität zu betrachten. Natürlich geht das nicht. Man muss sich vorstellen, was geschehen würde, wenn Indien oder China die Ergebnisse der Wahlen in den USA, in Grossbritannien, Frankreich oder Deutschland nicht anerkennten und überprüfen möchten!
Aufgrund des Ergebnisses des Obersten Gerichtshof, kann man sagen, dass die Behauptungen der Opposition nicht berechtigt sind. Wird das Ergebnis nun akzeptiert?
Es ist merkwürdig, dass die Medien in den USA und in mehreren lateinamerikanischen Staaten wie Argentinien und Peru immer mit einem Sieg der Opposition rechneten und dies in den Wochen vor der Wahl auch als gesichert behaupteten. Nach meiner Erfahrung im November/Dezember 2017 genoss Maduro eine deutliche Popularität, aber inzwischen sind mehr als sechs Jahre vergangen, und die Aktivitäten von US- und EU-finanzierten Organisationen und NGOs in Venezuela sind nicht zu unterschätzen. Ausserdem haben die US-Zwangsmassnahmen – fälschlicherweise als «Sanktionen» bezeichnet – wie bereits erwähnt, eine grosse Misere in Venezuela verursacht. Freunde, die neulich in Venezuela weilten, sagten mir, dass in Teilen der Bevölkerung eine Kapitulationsstimmung herrscht, dass einige denken, dass die Abkehr vom «Chavismus» der Preis ist, um den brutalen Wirtschaftskrieg gegen Venezuela zu beenden. Vielleicht haben sie für Gonzalez Urrutia gestimmt, in der Hoffnung, dass er endlich aufhört. Der Preis: die Akzeptanz einer von den USA installierten Regierung.
Kann man also sagen, dass Edmundo Gonzáles und Maria Machado wie damals Guaidó als Hoffnungsträger von den USA aufgebaut wurden, mit der Absicht über Wahlen einen «legitimen Regime Change» zu erreichen?
Ja, es ist wieder das gleiche Spiel, ein ähnlicher «B-Film» aus Hollywood. Die Opposition versucht, durch politischen und diplomatischen Druck aus den USA und mehrerer anderer Staaten die Wahlen von 2024 zu delegitimieren. Manche Staaten haben die Wahl Maduros nicht anerkannt. Dies hat zu diplomatischen Streitigkeiten unter anderem mit Argentinien und Peru geführt.
Das erinnert an diverse sogenannte farbige Revolutionen. Würden Sie den Vorgang in Venezuela auch so einordnen?
«Colour Revolution» ist ein Euphemismus für Putsch. So war es zum Beispiel 2003 in Georgien, 2009 in Moldawien, 2014 mit dem «Euromaidan» in der Ukraine, Anfang 2022 in Kasachstan (allerdings ohne Erfolg) – alle mit Hilfe der USA und der EU. Auch der Versuch des Westens, die Wahlen in Belarus 2020 zu beeinflussen, und dann die Wiederwahl Lukaschenkos als «scam» abzulehnen, ist gescheitert. Daraufhin hat der Westen die Oppositionsführerin Sviatlana Tsikhanouskaya zur «legitimen» Präsidentin erklärt.19 Peinlicher geht es nicht, aber die USA und die EU verfolgen eine imperialistische Aussenpolitik und lernen nichts aus ihren Misserfolgen.
Gab es in den letzten Monaten nicht eine gewisse Entspannung und Annäherung zwischen Venezuela und den USA?
Ja, es gab sie, aber die USA machten keinen Hehl aus ihrer Absicht, Maduro zu beseitigen. Die USA haben durch ihren weltweiten Propagandaapparat und durch die Medien versucht, die Welt davon zu überzeugen, dass eine Mehrheit der Venezolaner für die Opposition stimmen würde. Persönlich denke ich, dass Maduro tatsächlich wiedergewählt wurde. Aber die USA und die Opposition werden von ihren internationalen Unterstützern zusätzliche «Sanktionen» gegen Venezuela verlangen.
Häufig ist zu lesen, dass Maduro kein legitimer Präsident sei, was man mit der angeblichen Wahlmanipulation in Verbindung bringt.
Alle Regierungsformen stützen sich auf die Legitimität. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation war die Kaiserwahl ein grosses Problem, bis 1356 Kaiser Karl IV. die Goldene Bulle von Prag absegnete.20 Napoleon, der das tausendjährige Heilige Römische Reich 1806 mit Gewalt auslöschte, hatte selbst keine Legitimität. Er kam 1798 an die Macht durch einen Putsch gegen das französische post-Robespierre Direktorium und hat sich im Jahre 1804 in der Notre Dame in Anwesenheit des Papstes Pius VII. selbst zum Kaiser gekrönt. Napoleon war ein Megaloman, Haudegen, Opportunist, Aggressor ohne jegliche Legitimität. Leider loben manche historischen Bücher und Journalisten bis heute diesen Usurpator und haben einen Helden aus ihm gemacht, obwohl er ganz Europa in etliche Kriege verwickelte und Hunderttausende von Toten zu verantworten hat.
Heute hat Wolodymyr Selenskyj ebenfalls keine Legitimität. Zunächst wurde er 2019 als Friedenskandidat gewählt. Er hat seine Wähler betrogen, denn er hat nur Konfrontation und Krieg betrieben. Seine Präsidentschaft galt bis Mai 2024, aber es wurden keine Neuwahlen abgehalten. Er regiert weiter ohne Legitimität. Dies wird von den westlichen Medien stillschweigend akzeptiert. Wenn man ein historisches Beispiel sucht, möchte ich auf die Wiederwahl von Franklin Delano Roosevelt im Jahre 1944 erinnern, eine vierte Wahl, die Roosevelt mitten im Zweiten Weltkrieg gewann. Selenskyj hat auf die von der ukrainischen Verfassung vorgesehene Wahl in 2024 verzichtet. Er hat die Macht und behält sie ohne Neuwahlen. Maduro hat immerhin eine friedliche Wahlkampagne durchgeführt, und 60 Prozent der Bevölkerung gingen an die Urne.
Wenn man die ganzen Abläufe und die mediale Beeinflussung betrachtet, die Vorwürfe von Vetternwirtschaft und Putschversuchen, stellt sich für den Aussenstehenden die Frage: Wem kann man eigentlich noch vertrauen?
In hochpolitischen Angelegenheiten wird häufig gelogen. Können wir unseren Regierungsinstanzen immer glauben? Sollen wir die offiziellen Berichte unserer Regierungen als bare Münze nehmen? Ich weiss selbst nicht, ob man sich auf den venezolanischen CNE verlassen kann. Auch er kann manipulieren. Ich weiss auch nicht, ob man der Entscheidung des venezolanischen obersten Gerichtshofs hundertprozentigen Glauben schenken kann. Auch in anderen Bereichen müssen wir Zweifel hegen, weil wir nicht genau wissen, was sich tatsächlich abgespielt hat. In zu vielen Fällen haben uns die Medien an der Nase herumgeführt und uns nur Halbwahrheiten gesagt oder uns schlicht angelogen. Das lässt sich auch in der Berichterstattung über den Ukraine-Krieg erkennen. Aktuelles Beispiel sind die Enthüllungen über die angebliche Täterschaft bei der Sprengung von Nordstream II. Aber wer glaubt die US-Ukraine-Polen-Phantasie, dass Nordstream II von sechs Männern aus der Ukraine und Polen gesprengt worden sei? Das wirkt völlig illusorisch, wenn man die Recherchen von Seymour Hersh und Professor Jeffrey Sachs daneben legt, die auch die enormen technischen Anforderungen und die notwendige Expertise für solch ein Unternehmen dargelegt haben. Mich überzeugt mehr deren Analyse, dass die USA – vielleicht mit Hilfe von Norwegen oder der Komplizenschaft von Schweden – diesen Anschlag durchgeführt haben.21
An der Pressekonferenz in Washington nach dem Besuch von Olaf Scholz in den USA hat Joe Biden unmissverständlich gesagt, dass bei einem Angriff Russlands auf die Ukraine die Pipeline nicht länger existieren wird. Die USA werde ihr Bestehen beenden.22
Wer glaubt noch, dass John F. Kennedy allein von Lee Harvey Oswald erschossen wurde? Der offizielle US-Bericht über den Mord an JFK ist eine Zumutung. Wer glaubt, dass der Angriff auf die World Trade Center Towers am 11. September 2001 allein durch Al Kaida vollbracht wurde? Der offizielle US-Bericht ist voller Löcher und Widersprüche. Wer glaubt, dass der Oberste Gerichtshof der USA über US-Wahlen 2000 korrekt entschied? Ich nicht. Wer glaubt an die britische Justiz in Sachen Julian Assange?23 Wer glaubt an die US-Justiz in der Angelegenheit der illegalen Verhaftung des Venezolanischen Diplomaten Alex Saab?24 Man kann immer Zweifel an Gerichtsentscheidungen hegen. Was aber nicht zweifelhaft ist, ist, dass unsere wiederholten Einmischungen in die inneren Angelegenheiten von Belarus, Kasachstan, Kuba, Libyen, Nicaragua, Syrien, Venezuela und so weiter etliche völkerrechtliche Prinzipien verletzen.
Was ist Ihr Fazit aus dieser lang andauernden Geschichte?
Man liest überall in den Medien dreiste Lügen und stellt Doppelmoral fest. Auch nachdem der Oberste Gerichtshof Maduro als Präsidenten bestätigt hat, werden die Schikanen nicht aufhören. So oder so wird Venezuela keine Ruhe haben. Die USA haben versucht, Hugo Chávez 2002 durch einen Putsch zu stürzen. Eigentlich hätte Chávez getötet werden sollen, so wie Salvador Allende – ich glaube nicht an den «Selbstmord» Allendes – im Jahre 1973. Als 2002 der Putsch gegen Chávez fehlschlug, wurde der Wirtschaftskrieg verschärft. Als Chávez 2013 an Krebs starb, erhöhten die USA den Druck auf Maduro. Aber keiner stellt die Frage, ob Venezuela den sozialen Frieden hätte erlangen können, wenn die Opposition in den Jahren 2014 oder 2020 die Präsidentschaft übernommen hätte. Würde heute der Friede in Venezuela mit Gonzalez/Machado kommen? Ich glaube es nicht, denn es sind Millionen Chavistas in Venezuela, die die Zerstörung des sozialistischen Models nicht hinnehmen würden. Es würde sicherlich Bürgerkrieg bedeuten.
Zusammenfassend: Es geht nicht nur um die Wahl Maduros. Mir persönlich ist es einerlei, ich bin kein Venezolaner und möchte nur, dass der Wille des venezolanischen Volks respektiert wird. Es geht nicht nur um die Souveränität Venezuelas und um das Selbstbestimmungsrecht des venezolanischen Volkes. Es geht um die Notwendigkeit, das Völkerrecht gleichmässig anzuwenden und zwar nicht im Sinne des US-amerikanischen «Exeptionalismus». Es muss nicht sein, dass sich die USA und die EU in die Wahlen aller möglichen Länder einmischen, und selbstherrlich bestimmen, welche Wahlen legitim sind und welche nicht. Jedenfalls haben Dutzende Regierungschefs in der Welt die Wahl Maduros als legitim anerkannt. Man muss andere Meinungen auch respektieren: Audiatur et altera pars.
Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
1 Siehe meine Analyse der Medien, Kapitel 7: The Human Rights Industry, Clarity Press, 2023.
² Gaius Iulius Caesar: De bello civile 2,27,2
³ https://www.justice.gov/nsd-fara
⁴ paraphrasiert von Terentius
⁵ https://freedomhouse.org/article/luis-almagros-defense-democracy-venezuela
⁶ https://www.msn.com/en-gb/news/world/oas-chief-demands-indictment-and-icc-arrest-warrant-for-maduro/ar-BB1r1cyE
⁷ https://caricom.org/institutions/the-community-of-latin-american-and-caribbean-states-celac/
⁸ https://wpc-in.org/news/celac-declare-zone-peace
⁹ https://www.jeffsachs.org/newspaper-articles/5x2zh8emrax3hs3dltf4hbcf6d2mmw
https://www.business-standard.com/external-affairs-defence-security/news/bangladesh-why-is-st-martin-s-island-in-news-and-what-sheikh-hasina-said-124081201401_1.html
10 Overthrow, Times Books, New York 2006; Kinzer: All the Shah’s Men: An American Coup and the Roots of Middle Eastern Terror, John Wiley and Sons, New York 2003
11 https://www.ohchr.org/en/documents/country-reports/ahrc4859add2-visit-bolivarian-republic-venezuela-report-special
12 https://www.ohchr.org/en/documents/country-reports/ahrc4859add2-visit-bolivarian-republic-venezuela-report-special
13 https://www.ohchr.org/en/documents/country-reports/ahrc3947add1-report-independent-expert-promotion-democratic-and-equitable
14 https://archive.org/details/THEVISIBLEHANDOFTHEMARKET.ECONOMICWARFAREINVENEZUELA.PASQUALINACURCIOC
15https://www.migueltinkersalas.com/
16 Jeffrey Sachs and Marc Weisbrot: “Economic Sanctions as Collective Punishment”. 2019, https://cepr.net/images/stories/reports/venezuela-sanctions-2019-04.pdf
17 https://cepr.net/report/venezuelas-disputed-election-and-the-path-forward/
18 https://www.telesurtv.net/sala-electoral-del-tsj-de-venezuela-certifica-triunfo-de-nicolas-maduro-el-28j/
19 https://tsikhanouskaya.org/en/news/c5161b391648792.html
https://www.chathamhouse.org/publications/the-world-today/2022-06/interview-sviatlana-tsikhanouskaya
20 https://www.unesco.de/kultur-und-natur/weltdokumentenerbe/weltdokumentenerbe-deutschland/goldene-bulle
21 https://seymourhersh.substack.com/p/how-america-took-out-the-nord-stream
https://www.wsws.org/en/articles/2023/02/18/vaoq-f18.html
https://www.counterpunch.org/2023/02/15/hersh-the-us-and-the-sabotage-of-the-nordstream-pipelines/
22 https://www.youtube.com/watch?v=pXAVOq5GX00
23 vgl. Nils Melzer: The Trial of Juian Assange, Verso Books, New York 2022
24 https://www.oas.org/dil/esp/constitucion_venezuela.pdf
veröffentlicht am 28. August 2024
«Bildung ist an Beziehung gebunden»
Zeitgeschehen im Fokus Für viele Lehrerinnen und Lehrer und ihre Jugendlichen beginnt im August ein neues Schuljahr. Worauf haben Sie sich als Lehrer beziehungsweise als Rektor jeweils anfangs Schuljahr gefreut?
Dr. Carl Bossard «Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne», hat Hermann Hesse in seinem Gedicht «Stufen» geschrieben. Das habe ich als Lehrer auch immer gespürt. Der Start in ein neues Schuljahr ist wie ein Aufbrechen in etwas Unbekanntes, zu etwas Neuem. Es ist ein Navigieren in die offene See – wie es der Philosoph Friedrich Nietzsche am Strand von Genua empfunden hat: «Hinaus, hinaus, ins Offene!» Unterrichten ist für mich darum Segeln und nicht Bahnfahren. Wir sitzen in einem Boot, wir haben ein Ziel, wir müssen miteinander einen Kurs einschlagen. Auf diesem Boot sind alle verschieden, und ich als Kapitän, sei es als Klassenlehrer oder als Rektor, bin hauptverantwortlich, dass wir das gemeinsame Ziel erreichen. Wir haben aber Wind und Wellen, wir haben Unbekanntes, das wir nicht beeinflussen können. Ich muss darauf achten, dass wir in einem guten Geist miteinander unterwegs sind und dabei das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Das hat mich fasziniert.
Heute hingegen besteht die Tendenz, Bildungsprozesse als A-B-Korrelationen zu steuern, zu kontrollieren und effizienter zu machen. Mit Schülern lernend unterwegs zu sein, funktioniert anders.
Bleiben wir beim Bild des Kapitäns. Er braucht ein Ziel und einen Kompass, um sich auf offener See zu orientieren. Übertragen auf den Schulalltag, was ist für Sie der Kompass?
Die Metapher bedeutet: Das Ziel ist klar vorgegeben. Es kann ein stoffliches Ziel sein, es sind aber auch prinzipielle Ziele, Haltungsziele, die ich anstreben will. Den Kompass brauche ich fürs sorgfältige Justieren des eigenen Tuns, heute nennt man das Reflexion. An den Pädagogischen Hochschulen ist der Begriff, weil inflationär gebraucht, in Misskredit geraten. Für mich war er wichtig, auch als ehemaliger Orientierungsläufer. Deshalb ist das Nachbereiten von Lektionen oder eines Schultags so wichtig. Ich möchte wissen, ob der Kompass richtig eingestellt war. Dazu gehört auch die moralische Frage: «Carl, bist du dir und deinen Grundsätzen treu geblieben?» Lehrer zu sein heisst auch, mit moralischen Dilemmata umzugehen; denn man muss immer wieder ethische Entscheide treffen. «War ich dem Schüler gegenüber, den ich heute zurechtgewiesen habe, gerecht? Hätte ich auch einen andern zur Rede gestellt – oder wäre ich ausgewichen?» Das hat mich einerseits belastet, mir andererseits aber auch das Gefühl gegeben, dass das, was ich tue, einen Sinn hat. Für mich war dies das Schönste im Lehrerberuf und auch als Rektor: Meine Tätigkeit hatte einen Sinn. Ich konnte Sinn geben und ich erhielt Sinn.
Heutzutage wird der Lehrer zum Coach degradiert. Eine Junglehrerin hat mir erzählt, man habe ihr vorgeworfen, sie sei zu präsent im Unterricht. Inwiefern ist der Lehrer als Person entscheidend für ein erfolgreiches Lernen?
Der vor Kurzem verstorbene Bremer Neurologe Gerhard Roth hat ein Buch publiziert: «Bildung braucht Persönlichkeit». Das bedeutet im übertragenen Sinne: «Ich bin wichtig für meine Schülerinnen und Schüler!» Aber nicht in dem Sinn, dass ich sie zu mir führen müsste. Nein! Ganz im Gegenteil, wichtig ist, dass ich sie mit meiner Person, mit meinen Impulsen und Fragen zu sich selbst führe: Denken als innerer Dialog zwischen mir und mir selbst. Das geht nur über ein verantwortungsbewusstes Gegenüber. So führe ich junge Menschen zum Verstehen. Darum bin ich wichtig als Lehrer – das sagt auch John Hattie. Deshalb habe ich diesen Bildungsforscher so gerne. Er hat mir meine Bedeutung zurückgegeben und mich vom dekretierten Coach-Sein befreit.
Ich war Lehrer am Seminar in Zug. Unser gemeinsamer Auftrag zielte darauf ab: «Lehrerbildung ist Persönlichkeitsbildung». Heute ist das Wort über die Political Correctness abgewertet. Man ist von der «Persönlichkeit» weggekommen und hin zur «Professionalität» geschwenkt. Das ist ein technischer Begriff, ein kalter, leerer Ausdruck. Renommierte Bildungsforscher – zu ihnen zählen der erwähnte John Hattie, dann beispielsweise Gerd Biesta aus Schottland oder der Augsburger Ordinarius für Schulpädagogik, Klaus Zierer – betonen, wie wichtig das «Lernen in Beziehungen» ist. Und in Beziehung treten und eine unsichtbare kognitive wie emotionale Brücke aufbauen, kann ein junger Mensch nur zu Lehrerinnen und Lehrern, die er als Persönlichkeit achtet. Zu einem «gläsernen» Lehrer kann er nur erschwert in Beziehung treten. Der Arzt und Neurowissenschaftler Joachim Bauer hat mehrfach beklagt, dass in Deutschland die Lehrer zu gläsernen Gestalten würden, die kein eigenes Profil mehr hätten. Bildung ist an eine Beziehung gebunden, die mich zu mir selbst führt. Ich kann aber nur Achtung vor Menschen haben, die auch als Person glaubwürdig sind.
Zahlreiche empirische Untersuchungen belegen, wie wichtig die Glaubwürdigkeit des Lehrers im Bildungsprozess ist. Deshalb kann ich Dozierende an Pädagogischen Hochschulen nicht verstehen, die die Lehrpersonen als Coaches bezeichnen. Ein Lehrer kann nicht nur einfach an der Seitenlinie stehen. Auch ein Lucien Favre, der frühere Head-Coach von Borussia Dortmund, war mehr als lediglich Coach. Er nahm Einfluss und trainierte mit den Spielern, er führte Gespräche und gab Feedback, er korrigierte; kurz: Er war nicht einfach nur Coach, er war Fussball-Lehrer. Es ist eine semantisch gefährliche Veränderung, wenn man den Lehrer als Coach benennt. Der deutsche Lernforscher Ulrich Trautwein sagt, dass das Wesentliche im Unterricht unsichtbar sei: also Vertrauen, Zuneigung oder der Pygmalion-Effekt – unsichtbar, nicht messbar, nicht kontrollierbar. Diese Faktoren, die Tiefenmerkmale, müssten wir wieder betonen. Bildungspolitiker kennen oft nur Oberflächenmerkmale. Danach die Schule zu reformieren – zum Beispiel durch Abschaffung der Noten und der Hausaufgaben, durch den Wegfall der Selektion – führt nicht weiter. Unsere Lehrerverbände, angefangen bei Dagmar Rösler, Präsidentin des LCH, über Thomas Minder, den Präsidenten der Schweizer Schulleiterinnen und Schulleiter, reden kaum vom pädagogisch Wesentlichen. Sie surfen an der Oberfläche; entsprechend hören sich auch ihre Voten an.
Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden unter Depressionen, Einsamkeit, Angstzuständen, Selbstverletzungen bis hin zu Suizidgedanken. Mit den Reformen der letzten Jahre sind die Kinder und Jugendlichen zunehmend auf sich allein gestellt. Sind die Schulen allenfalls Teil des Problems und mitverantwortlich für den schlechten Zustand vieler Kinder und Jugendlicher?
Thomas Fuchs, Inhaber der Karl-Jaspers-Professur in Heidelberg, hielt kürzlich einen Vortrag zum Thema «Lernen in Beziehungen». Das ist vermutlich der Kern des Bildungsvorgangs. Ich persönlich habe dort gelernt, wo ich mich angenommen und verstanden gefühlt habe, wo ich mich als Individuum ernst genommen fühlte. Das sind wieder diese unsichtbaren Faktoren, die man in den letzten Jahren als weniger wichtig betrachtet hat. Wir haben das Selbstorganisierte Lernen (SOL) gestärkt, haben digitalisiert, haben die Arbeitsblätter optimiert. Konkret: Wir haben das Kind auf sich selbst zurückgeworfen. Es hat aber noch nicht die Ich-Stärke, alles selbst zu regulieren. Gemäss dem Berner Hochschullehrer Hans Aebli braucht der junge Mensch ein Vis-à-vis, das ihn ernst nimmt, zur Autonomie führt und sich nach und nach überflüssig macht. Wenn ich Hans Aeblis berühmte «Zwölf Grundformen des Lehrens» betrachte, so sind das alles interpersonale Prozesse wie beispielsweise Vorzeigen-Nachmachen, Erzählen-Nacherzählen und so weiter. Und diese interpersonalen Prozesse wie auch den Klassenunterricht vernachlässigen wir heute. Das ist ein Verlust. Jede Ausschliesslichkeit sei inhuman, hat der Basler Philosoph und Psychiater Karl Jaspers einmal gesagt.
Warum? Welche Bedeutung hat die Klassengemeinschaft fürs Lernen?
Ich habe in der Primarschule wie später auf der Sekundarstufe unsere Klasse als lebendiges Miteinander erfahren, als eine verschworene Gemeinschaft. Das sehe ich beim heutigen stark individualisierten Unterricht weniger. Wir müssten uns darum in der Ausbildung auch das Gemeinschaftliche des Unterrichts wieder vergegenwärtigen – oder anders gesagt: Lernen wird erst im gegenseitigen Austausch zur Bildung. «Die Welt liegt zwischen den Menschen», sagte die Philosophin Hannah Arendt. Ein Kernsatz für die Pädagogik. Das zielt auf eine sozial und mit-verantwortlich gedachte Individualität. Es ist das pädagogische Sowohl-als-auch. Die Individualität und das Gemeinschaftliche, das Einzelne und das Soziale müssen sich gegenseitig ergänzen und beleben, praktiziert im Klassenzimmer.
Ein guter Klassenunterricht hat darum immer die Individualität des Einzelnen wie das Gemeinschaftliche im Blick. Klassenunterricht ist ein Zusammenspiel von Individuation und Sozialisation. Unsere Gesellschaft braucht heute mehr denn je ein Verständnis von Miteinandersein oder eben eine Dimension des WIR, das zum gemeinsamen Handeln fähig ist.
Mit «singulär plural sein» liesse sich diese Haltung wohl umschreiben. Die Klassengemeinschaft als Biotop fürs spätere Leben, der Klassenunterricht als gemeinschaftsfördernde Lernform: Kinder lernen, sich in Gemeinschaft auf eine Thematik zu konzentrieren. Sie profitieren von den Stärken der Leistungsfähigeren oder setzen sich mit den Schwierigkeiten der schwächeren Mitschüler auseinander. Das hat mich als Teil des Klassenteams belebt. Eine gemeinsame Aufmerksamkeit, eine «joint attention», sei grundlegend für die gemeinsame Wirklichkeit, sagt der US-amerikanische Evolutionsbiologe Michael Tomasello.
Doch die heutige Ausbildung, so mindestens höre ich es von jungen Absolventinnen der PHs, bekommt Unterricht als lebendiges Miteinander-Sein, als gemeinsames Nachdenken kaum mehr in den Blick. Das Gemeinsame und Soziale und damit auch das Emotionale werden wie ausgeblendet. Im Zusammenspiel mit digitalen Tools entstehen neue Formen des Lernens. Gefragt und gepusht ist das isolierte Lernen in der Atmosphäre eines digitalisierten Grossraum-Schulbüros. Vereinzelung pur! Ob Kinder dabei zu postmodernen Einzellern werden? Die Gefahr ist gegeben.
Als dialektisches Gegengewicht zur forcierten Individualisierung ist der Klassenunterricht, das gemeinsame WIR, darum so notwendig wie dringend. Die empirische Unterrichtsforschung ist sich einig: Nicht digitalisierte oder virtuelle Formate, sondern verkörperte Lehre und persönliche Präsenz sind für die Primarschule die wirksamste Form des Unterrichts – in gemeinsamer Interaktion. Ich betone nochmals: Lernen wird erst im gegenseitigen Austausch zur Bildung. Sie ist ein gemeinsamer Prozess, der Mikrokosmos der Klassengemeinschaft das entsprechende Gefäss. Kurz gesagt: Wir sollten im guten und anregenden Klassenunterricht wieder einen Bildungswert erkennen.
Immer wieder wird der Lehrermangel beklagt. Tatsache ist, dass viele Junge motiviert sind, den Lehrerberuf zu erlernen, und auch erfolgreich eine Pädagogische Hochschule absolvieren. Nach wenigen Jahren quittieren sie jedoch den Dienst, gehen in die Administration oder zurück an die Universität. Sie gehen der Schule verloren. Wie erklären Sie dieses Phänomen?
Es werden genug Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet. Aber wir haben zu wenig Lehrpersonen, die sich ein ganzes Pensum zutrauen und damit auch die so wichtige Aufgabe der Klassenverantwortlichen. Viele reduzieren sehr schnell das Pensum. Das mag zunächst dem Praxisschock geschuldet sein. Junglehrer sind vielfach zu wenig eingeübt und damit zu wenig vorbereitet aufs «Classroom-Management». Die Ausbildung an den PHs zielt eher aufs Individualisieren und weniger aufs anspruchsvolle Führen einer Klasse.
Zudem ist unser Schulsystem immer komplexer geworden. Seit dem PISA-Schock von 2000 haben wir Reform um Reform lanciert. Die jungen Lehrerinnen und Lehrer kommen in ein hochkomplexes System, wo ganz viel koordiniert und administriert werden muss. Das Wesentliche, weshalb sie Lehrerin, Lehrer geworden sind, nämlich das Unterrichten, kommt vielfach zu kurz. Konkret: Sie müssen unter schwierigen Bedingungen arbeiten. Der deutsche Philosoph, Jürgen Habermas, hat von «entgegenkommenden Verhältnissen» an Schulen gesprochen. Aufgrund der maximierten Heterogenität haben wir vielerorts deutlich erschwerte Verhältnisse. Das führt zu Unterrichtsituationen, die oft nicht mehr zu bewältigen sind. Und wenn man etwas nicht bewältigen kann, so zweifelt man als Erstes nicht am System, sondern an sich selbst. Das weiss ich aus Gesprächen mit jungen Lehrpersonen. Sie ziehen dann die Reissleine und reduzieren ihr Pensum. Sie werden Fachlehrer oder unterrichten Deutsch als Zweitsprache, wo sie weniger Verantwortung tragen. Sie wagen sich nicht mehr ins «Haifischbecken» heutiger Klassen. Der Beobachter spricht vom «Tohuwabohu» und davon, dass Unterricht in gewissen Klassen gar nicht mehr möglich sei. Meine besten Studierenden haben teilweise nach zwei Jahren an die Uni gewechselt und weiterstudiert. Sie gingen dem Schulalltag verloren. Das dürfte nicht sein. Doch Bildungspolitik und Stäbe schauen weg.
Spätestens die Resultate der PISA-Studie müssten doch den Politikern zu denken geben: Am Ende des neunten Schuljahres können 25 Prozent der Schweizer Schülerinnen und Schüler nur ungenügend Lesen und Schreiben! Warum?
Das Kernproblem liegt beim Verstehen. Textlesen und Sinnverstehen werden für manche Jugendlichen zur Schwerstarbeit. Umso mehr müsste die Schule Gegensteuer geben, nicht zuletzt im Interesse von Kindern, die aus sozial eher schwächeren Familien kommen und es schwerer haben. Und hier liegt meines Erachtens eines der grössten Probleme: Leseverstehen muss eben geübt werden. Aber dafür haben wir keine Zeit mehr. Die Reformen haben zu einer curricularen Überfülle der Primarschule geführt. Kennzeichen der letzten 25 Jahre war die Addition.
Unterricht besteht aus vielen dialektischen Prozessen. Jeder Inhalt braucht als Gegenwert das Festigen. Wenn wir nun die Inhalte erhöhen – Frühenglisch, Mittelfrühfranzösisch – dann entsteht auf der Gegenachse eine Subtraktion: das Üben. Es gibt eine Formel, die ich meinen Studierenden mitgegeben habe: L = V x Ü x A, was so viel heisst wie: Lernen = Verstehen x Üben x Anwenden in verschiedenen Situationen. Wenn man die Inhalte maximiert, erfolgt auf der Übungsebene eine Reduktion. Das zeigt sich in den PISA-Resultaten.
Das heisst, die Inhalte werden zwar «durchgenommen», man kann sie abhaken, aber mangels Übung bleiben sie den Schülerinnen und Schülern nicht.
Genau. Es bräuchte einen Schulunterricht jenseits der Erledigungsmentalität. Dieser Satz stammt von Horst Rumpf, einem phänomenalen Pädagogen und eigenständigen Denker. Ein Ding richtig zu können ist eben mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Aus der Gedächtnispsychologie wissen wir: Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren. Das gilt insbesondere für die grundlegenden Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Sie sind zu trainieren. Viel Nebensächliches aus dem Lehrplan 21 kann weggelassen werden. Das wussten meine Studierenden. Es gäbe, so habe ich ihnen gesagt, aus der Verantwortung für gutes Lernen ihrer Schülerinnen und Schüler das Gebot der kreativen Dissidenz der Unterlassung. Das ist ein wirksames Mittel, um an den Anforderungen nicht zugrunde zu gehen. Ein Kapuziner hat mir einmal gesagt: «Carl, du wirst Fehler machen, entschuldige dich einfach. Sich etwas zu schämen, tut übrigens nicht lange weh.» Zum Glück wird mit jedem Kind auch ein Widerspruchsgeist geboren. Freiheit lässt sich auch in der Pädagogik nicht über Vorgaben und Vorschriften von oben eliminieren.
Welche Bedeutung hat eine umfassende Bildung, wie Sie sie eingangs beschrieben haben, für unsere direkte Demokratie, für unser gesellschaftliches Zusammenleben in Freiheit?
Die Bildung muss alles daransetzen, dass die jungen Leute lesefähig werden und zum Verstehen gelangen – interessiert am Sozialen, an der Gemeinschaft, an der Welt. Zur Veranschaulichung dieser Aufgabe zeichnete ich meinen Studierenden drei Kreise. Der innere Kreis: «Die Kinder im Individuellen stärken», der mittlere Kreis: «die Kinder im Sozialen stärken», und im äussersten Kreis: «die Kinder hinführen zur Citoyennität». Ein Citoyen ist mehr als ein gewöhnlicher Bourgeois – er partizipiert an unserer Kommunität, zeigt Interesse an unserem Staatswesen, an unserer Gemeinschaft; er engagiert sich. Es sind die drei schulischen Grundaufträge: Individuation, Sozialisation, Enkulturation – die ursprüngliche Idee der Aufklärung. Dafür kämpfte der helvetische Bildungsminister Philipp Albert Stapfer um 1800; das war Pestalozzis Anliegen. Voraussetzung sind die drei grossen «G»: Grundwissen, Grundfertigkeiten, Grundhaltungen: Eine pädagogisch-didaktische Trias, die gar nicht veralten kann, weil sie so etwas wie ein NON PLUS ULTRA darstellt. Man muss etwas wissen, man muss etwas können, und beides zusammen soll uns besser denken und handeln lassen. Davon hat mein Lehrer in der fünften und sechsten Primarklasse immer und immer wieder gesprochen. Das war ihm wichtig – für uns als seine Schüler.
Es beschäftigt mich: Wir haben heute in der Schweiz rund 800 000 Illiteraten und gegen 400 000 Leute, die mit «Alltagsmathematik» überfordert sind. Dem teuersten und wohlgenährtesten Bildungssystem der Welt gelingt es nicht, alle zu literarisieren – davon spricht niemand!
Zum Glück gibt es auch vermehrt Stimmen, die sich der Bedeutung einer umfassenden Bildung bewusst sind. Dieses Frühjahr erschien zum Beispiel der von Ralf Lankau herausgegebene Sammelband «Die pädagogische Wende», an dem Sie aktiv mitgewirkt haben. Welches Anliegen verbindet die Autoren?
Uns verbindet das Anliegen – etwas plakativ formuliert –, die Pädagogik wieder ins Schulzimmer zurückzubringen. Es ist die gemeinsame Einsicht, dass wir eine (Rück-)Besinnung auf das Unterrichten bräuchten, eine Art Renaissance der Konzentration auf den Nukleus der Schule, den Kern, auf das Kind und sein Lernen: systematisch aufgebaut, strukturiert und angeleitet. Es ist das Junktim von Lehren und Lernen, diese unerlässliche Kombination von Instruktion und Konstruktion – das Zusammenspiel von Interpersonalem und Intrapersonalem: diese für die Lernqualität so konstitutiven Elemente des Sowohl-als-auch. Vieles davon fehlt in der aktuellen Debatte und im Bildungsdiskurs weitgehend. Darauf möchten wir uns besinnen.
ISBN: 978-3-407-25907-3
Damit verbunden ist das Selbstverständliche, nämlich die Bedeutung der Lehrerinnen und Lehrer. Sie vermitteln eben nicht nur Stoff, sondern sie prägen als Lehrerpersönlichkeiten ihre Schülerinnen und Schüler weit über das Fachliche hinaus. Nicht formale Vorschriften, Leistungstests und Evaluationen sind der Kern von Schule und Unterricht, sondern das pädagogische Wirken der Lehrenden als Persönlichkeit. «Junge Menschen zu sich selber zu führen», ist ihre Aufgabe. Nur so können Kinder ihre Potenziale entfalten.
Einen solchen Klassenlehrer hatten wir beispielsweise in der fünften und sechsten Primarschule. Als passionierter Theatermensch wollte er uns zum guten Lesen und Sprechen führen und natürlich zum korrekten, kohärenten Schreiben. In zwei Jahren verfassten wir über 20 Aufsätze. Jeden Text hat er sauber korrigiert und mit jedem Einzelnen seiner rund 50 Schüler persönlich besprochen. Das bedeutete mehr als tausend Gespräche. Noch heute höre ich einige seiner Aufsatz-Feedbacks. «Carl, zwischen diesen beiden Abschnitten stimmt der Übergang nicht.» – «Das Wichtige kommt in den Hauptsatz, nicht in den Nebensatz. Probiere nochmals! Und dann kommst du wieder!» Er praktizierte das, was der Philosoph Hegel für die Kurzform der Bildung hält: «Im Anderen zu sich selber kommen.» Ich habe von all jenen Lehrern am meisten mitbekommen, die mich unerbittlich im Detail gefordert, dies aber mit einer humanistischen Grundverpflichtung verbunden haben: streng in der Sache, menschlich zur Person. Ich spürte, dass sie mich ernst nahmen und mich weiterbringen wollten. Ihnen bin ich mein Leben lang dankbar.
Ein Pädagoge muss also den Mut haben, im Gegenwind zu stehen.
Ja, das ist es. Der deutsche Pädagoge Thomas Ziehe sagte einmal, die Lehrer müssten mit einer charmanten Autorität die Kraft aufbringen, die Schüler aus ihren Eigenwelten herauszuholen und sie in Kulturwelten zu führen. In diesem Sinne seien sie heute eine Art «Fremdenführer». Darum müsse die Schule auch Gegenläufiges verlangen und gegenhalten; sie kann nicht immer mit dem Wind ziehen und dem Zeitgeist huldigen. Das ist die anspruchsvolle Aufgabe der Schule. Erziehen und Unterricht sind eben dialektische Prozesse. Darin liegt das Faszinosum unseres schönen Berufs.
Herr Bossard, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Susanne Lienhard und Andreas Kaiser
veröffentlicht am 28. August 2024