Editorial

Während viele in den Ferien weilten, um einmal abzuschalten und die grossen Sorgen zu vergessen, haben die politischen Entwicklungen und weltweiten Konflikte keine Auszeit genommen. Während der Ukraine-Konflikt und die Krise um Taiwan weiterhin die Schlagzeilen bestimmten (vgl. Interviews mit Jacques Baud und Prof. Alfred de Zayas), wurden die Daheimgebliebenen vor allem auch mit den «ungewöhnlichen» Hitzewellen – wir befinden uns im heissesten Monat des Jahres –, der Wasserknappheit, den Affenpocken, möglichen neuen Corona-Varianten oder vielleicht zu erwartender Energieknappheit im Winter auf Trab gehalten. Andere Themen, die eine hohe Relevanz besitzen, wurden kaum behandelt oder verschwinden im Dschungel der Katastrophenmeldung. Was kaum mediale Beachtung erfahren hat, ist die Dreistigkeit des Bundesrates, die Verträge mit den Corona-Impfstoffherstellern zwar öffentlich zu machen, aber dabei den grössten Teil der Dokumente zu schwärzen, so dass Bürgerinnen und Bürger nicht mehr wissen, als dass es irgendwelche ominösen Verträge gibt, bei denen vieles unter Verschluss bleiben soll. Warum wohl? In einem direktdemokratischen Staat wie der Schweiz ist das schon ein starkes Stück. Wie dieses Vorgehen zu beurteilen ist, dazu äussert sich Nationalrätin Yvette Estermann im Interview – eine Politikerin, die sich schon während der Pandemie getraut hat, unangenehme Fragen zu stellen. Auch in anderen Ländern Europas wird das politische Vorgehen während der letzten zwei Jahre untersucht.

Die Ablehnung Russlands, die guten Dienste der Schweiz, das Schutzmachtmandat für die Ukraine für den diplomatischen Austausch mit Russland, zu akzeptieren, wirft die Frage nach der Neutralität der Schweiz auf, die sich seit dem Beginn des Ukrainekriegs offen auf die Seite einer Kriegspartei gestellt hat.

Am Beispiel Kolumbiens (vgl. Interview mit Andrej Hunko) sieht man, dass sich in anderen Teilen der Welt die Dinge anders entwickeln, als man es erwartet hätte. Das gibt Hoffnung, dass Staaten nach wie vor die Souveränität als ein hohes und erstrebenswertes Gut ansehen, nachdem sie jahrzehntelang Vasallen der USA gewesen sind. Man muss wohl konstatieren, dass Europa bzw. der «Westen» nicht länger den Mittelpunkt der Welt darstellt.

Die Redaktion

16.8.2022

 

Impfstoffverträge: «Die sogenannte Offenlegung der Verträge wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet»

Interview mit Nationalrätin Yvette Estermann

Nationalrätin Yvette Estermann, SVP (Bild thk)
Nationalrätin Yvette Estermann, SVP (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Der Bundesrat hat endlich die Verträge mit den Pharmafirmen «offengelegt», wobei weite Teile des Vertragstextes geschwärzt sind. Hätten Sie das so erwartet?

Nationalrätin Yvette Estermann Nein, als ich das hörte, war ich sehr überrascht. Im Parlament hatte ich einige Anfragen zur Offenlegung der Verträge gemacht, die der Bundesrat in dem Sinne beantwortete, dass er dem Ansinnen nachkommen wolle, obwohl er nicht dazu verpflichtet sei. Das Beispiel Deutschlands, bei dem ganze Seiten geschwärzt waren, konnte ich mir für unsere demokratische Schweiz nicht vorstellen. Doch leider ist es bei uns nicht anders als in anderen Staaten auch. Das ist schon sehr ernüchternd.

Warum greift der Bundesrat zu einem solchen Mittel, anstatt die Bürger offen und ehrlich zu informieren?

Das ist eine berechtigte Frage. Für mich ist es erschreckend, welche Macht die Pharmaindustrie hat, die hier dem Bundesrat vorschreibt, was er veröffentlichen darf und was nicht. Das ist «starker Tobak» und einer Demokratie nicht würdig.

Wir sind in Europa der einzige direktdemokratische Staat, und nirgends hat die Staatsbürgerin und der Staatsbürger so umfassende demokratische Rechte. Dennoch werden sie vom Bundesrat wie Untertanen behandelt, und die Pharmaindustrie bestimmt die Politik und nicht die demokratischen Institutionen. Warum ist das so?

Meine Vermutung ist, dass der Bundesrat Angst hat, dass die Pharmafirmen nicht mehr mit der Schweiz zusammenarbeiten wollen. Es wäre für den Bundesrat eine Katastrophe, wenn die Pharmafirmen aufgrund der Offenlegung der Verträge der Schweiz keinen Impfstoff mehr lieferten. Schliesslich richtet der Bundesrat seine Strategie immer noch auf das Impfen aus, da er bereits 33 Millionen Impfdosen für das nächste Jahr reserviert hat, obwohl die Erfahrungen der letzten Monate zeigen, dass der Impferfolg äusserst bescheiden, wenn nicht gar unbedeutend ist, und man grundsätzlich über andere Präventionsmassnahmen nachdenken müsste. Es muss eine Angst sein, dass die Firmen die Schweiz sanktionieren. Das zeigt natürlich auch, wo die Macht zentriert ist, wenn private Firmen einen Staat dermassen unter Druck setzen können. Es erstaunt mich sehr, wer letztlich das Sagen in unserem Land hat. Nicht das Parlament oder die Bevölkerung gibt vor, was der Bundesrat zu tun hat, sondern private Unternehmen. Das ist das Ende der Demokratie. Das dürfen wir nicht zulassen!

Wird hier nicht eine ganze Gesellschaft im Bann gehalten?

Man hat von Anfang an mit Angst gearbeitet. Wenn man den Menschen sagt, es gehe um «Leben und Tod» – ob das der Realität entspricht, ist zweitrangig –, dann ist die Angst ein ständiger Begleiter. Menschen, die Angst haben, sind natürlich viel leichter zu beeinflussen. Man ist tatsächlich bereit, viele Freiheiten aufzugeben, um eine suggerierte Sicherheit zu gewinnen, die es, wie sich je länger, je mehr herausstellt, gar nicht gibt. Am Schluss hat man weder Sicherheit noch Freiheit. Die geschwärzten Verträge zeigen, in welche Richtung es geht und wer am Schluss die Politik des Bundesrats bestimmt: nicht das Volk und das Parlament, sondern die Wirtschaft. Das darf nicht sein!

Das Verhalten des Bunderats zeigt grundsätzlich wenig Transparenz. Man fühlt sich an andere Staatsformen erinnert, die in der Regel ihrer Bevölkerung solche Dinge vorenthalten.

Ja, die Veröffentlichung der zensierten Verträge lässt natürlich auch Tür und Tor für Spekulation offen. Was steht denn noch alles in den Verträgen, was wir nicht wissen dürfen? Auch muss man sagen, dass die sogenannte Offenlegung der Verträge mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet. Gegenüber der Bevölkerung ist das absolut inakzeptabel. Sie hat das alles finanziert und muss am Schluss für alles geradestehen. Damit hintergeht man im Grunde genommen die Bevölkerung, denn letztlich wird das alles mit sauer verdienten Steuergeldern der Menschen in der Schweiz bezahlt. Ich hoffe, dass es noch ein Nachspiel in der Politik gibt. Aber vielleicht will sich auch niemand mit der Pharmaindustrie anlegen. In Bern ist das die stärkste Lobby.

Womit muss man sich die politische Zurückhaltung erklären?

Nächstes Jahr sind Wahlen für den National- und Ständerat. ­Daher resultiert eine politische Zurückhaltung. Niemand will sich die Finger verbrennen und heikle Themen auf den Tisch bringen. Für politische Aufklärung gibt es in dieser Zeit wenig Platz, man verteilt lieber «Geschenke», schliesslich will man wieder gewählt werden. Niemand möchte negativ in den Schlagzeilen der Medien erwähnt werden. Deshalb sind alle schön still, spielen das Politiker-Mikado: Wer sich als erster bewegt, hat verloren. Ich erwarte daher weder vom Parlament noch vom Bundesrat, dass hier eine öffentliche Auseinandersetzung stattfinden wird.

Im Zusammenhang mit Corona hat sich der Bundesrat sehr viel Macht übertragen und vom Parlament bestätigen lassen. Das Schwärzen der Dokumente ist ein weiterer Machtmissbrauch. Bildet sich langsam Widerstand in den Reihen des Parlaments?

Ich glaube nicht. Es sind immer einzelne, die sich gegen das Vorgehen des Bundesrats gewehrt haben, und das wahrscheinlich auch weiterhin machen werden, aber eine parlamentarische Mehrheit sehe ich hier leider keine. Das Parlament wird brav mitmachen, und den Vorgaben des Bundesrats und der Medien folgen. Die Zusammenarbeit Bundesrat – Medien, Medien – Bundesrat funktioniert, das haben wir die letzten zwei Jahre mit Erstaunen feststellen müssen. Gegen diese Macht ist es sehr schwierig, Widerstand zu leisten. Ich fühle mich bei dieser offensichtlichen Entwicklung immer unwohler. Die Demokratie, die unser Land auszeichnet, ist nicht mehr das, was sie einmal war.

Wie könnte man dieser Entwicklung Einhalt gebieten?

Das kann vor allem die Bevölkerung tun. Sie ist das höchste politische «Organ» in diesem Land und muss demokratische Abläufe von unseren Institutionen einfordern. Wenn die Bevölkerung realisiert, dass am Schluss unsere Mitsprache immer weiter eingeschränkt wird, dann gibt es vielleicht einmal Reaktionen. Aber ein Bewusstsein darüber, wo diese Entwicklung hinführen wird, sehe ich im Moment leider nicht. Da sind wir wieder beim Thema Angst. Damit kann man den Menschen an der Nase herumführen. Die Hoffnung bleibt, dass der gesunde Menschenverstand zum Durchbruch kommt und die Vernunft siegt, aber das braucht noch viel Aufklärungsarbeit. Unsere ganze Demokratie ist bedroht, nicht nur in der Frage der Gesundheit, sondern in vielen Belangen. Und verhindern kann man das nur, wenn die Bevölkerung das realisiert und sich deutlich dagegenstellt.

Frau Nationalrätin Estermann, herzlichen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

16.8.2022

Corona-Virus: Italienisches Gericht hebt Berufsverbot für ungeimpfte Person auf

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

In der Toskana untersagte der Berufsverband der Psychologen einer Psychologin, ihren Beruf weiter auszuüben, weil sie der gesetzlichen Impfpflicht für Angestellte im Gesundheitswesen bezüglich Sars-CoV-2 nicht nachgekommen war.¹ Dagegen ging die Psychologin mit Erfolg gerichtlich vor. Am 6. Juli 2022 hob das Gericht (Tribunale Ordinario di Firenze) den Entscheid des Berufsverbandes mit einer einstweiligen Verfügung² auf.³

Im Zentrum des richterlichen Entscheids stehen die Freiheit und die Würde des Individuums⁴, zu denen auch das Recht, seinen Lebensunterhalt zu sichern und das Recht auf Arbeit gehören. Diese Rechte werden der Klägerin, deren berufliche Arbeit ihre einzige Einnahmequelle ist, verweigert. Mit dem Berufsverbot werden ihre Existenzsicherung und damit ihre Freiheit und Würde massiv gefährdet.

Bei diesem Berufsverbot hatte sich der Berufsverband der Psychologen auf das italienische Gesetz zur Impfpflicht im Gesundheitswesen gestützt. Dieses Gesetz zur Impfpflicht – so die Richterin –hat zum Zweck, die Ansteckung, Übertragung und Erkrankung an Sars-CoV-2 zu verhindern und damit die Sicherheit im Gesundheitswesen zu gewährleisten. 

Dieses Ziel ist jedoch nicht erreicht worden. Das zeigen die jüngsten offiziellen Berichte und Daten der italienischen Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Arzneimittel AIFA vom Januar und Mai 2022 und der europäischen Aufsichtsorgane Euromomo und Eudravigilance. Diese «berichten über ein Phänomen, das im Gegensatz dazu steht, was mit der Impfung erreicht werden sollte. Nämlich eine Ausbreitung der Ansteckung durch die Bildung mehrerer viralen Varianten und die zahlenmässige Häufigkeit von Infektionen und Todesfällen gerade bei den mit drei Dosen Geimpften.» Das Gesetz könne daher nicht grundsätzlich angewendet werden, weil der Nutzen für die Gesellschaft fehle, so die Richterin. Artikel 32 der italienischen Verfassung lässt es nach den Erfahrungen mit dem Nazi-Faschismus nicht zu, «dass der einzelne zugunsten eines tatsächlichen oder vermeintlichen kollektiven Interesses geopfert wird, und noch weniger, dass der einzelne ohne seine freie und informierte Zustimmung medizinischen Experimenten unterworfen wird, die einen Eingriff in seine Person darstellen», so die Richterin weiter.

Eine freie und informierte Zustimmung ist zur Zeit nicht möglich. Die Inhaltsstoffe der gespritzten Seren und der Mechanismus ihrer Wirkungsweise unterliegen dem Betriebsgeheimnis und «unverständlicherweise auch einem ‹militärischen› Geheimnis». 

Unterdessen gibt es «bereits Tausende von Todesfällen und schwerwiegenden unerwünschten Nebenwirkungen», konstatiert die Richterin. Artikel 32 der Verfassung sowie verschiedene von Italien unterzeichnete Abkommen verbieten «die Verhängung von medizinischen Behandlungen ohne die Zustimmung der betroffenen Person, weil ihre Würde verletzt werden würde.» Es ist kein Zufall, dass das auch im Artikel 1 des Deutschen Grundgesetzes steht.

Aus diesen Gründen kann die Psychologin, um sich und ihre Familie zu versorgen, nicht dazu ­gezwungen werden, «sich diesen experimentellen Injektionsbehandlungen zu unterziehen, die so gravierend sind, dass sie in ihre DNA eingreifen und diese in einer Weise verändern, die sich als irreversibel erweisen könnte, mit Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Gesundheit, die heute noch nicht absehbar sind.»

Vom epidemiologischen Standpunkt aus ist der Zustand einer geimpften Person ähnlich wie der Zustand einer ungeimpften Person. Beide können sich anstecken, krank werden und andere Menschen anstecken. Darum ist es diskriminierend, wenn nur geimpfte Personen ihren Beruf ausüben dürfen. Das ist gegen die europäische Verordnung Nr. 953/2021, «die eine Diskriminierung europäischer Bürger aufgrund des Impfstatus verbietet.»

Am 6. Juli 2022 hat das Gericht den Entscheid des toskanischen Berufsverbandes der Psychologen aufgehoben.

¹ Ordine Degli Psicologi Della Regione Toscana
² «Im Procedimento cautelare, dem Verfahren der einstweiligen Verfügung, nimmt der Richter nach Anhörung der Parteien und unter Auslassung aller für das Kreuzverhör nicht erforderlichen Formalitäten die Ermittlungshandlungen vor, die er in bezug auf die Räumlichkeiten (fumus boni iuris und periculum in mora) und für die Zwecke der beantragten Maßnahme für unerlässlich hält, und entscheidet durch Beschluss über die Annahme oder Ablehnung des Antrags
(Art. 669 sexies, Abs. 1, ZPO). Wenn die Vorladung der Gegenpartei die Durchführung der Massnahme gefährden könnte, erlässt der Richter, gegebenenfalls nach Einholung einer Kurzinformation, unverzüglich ein mit Gründen versehenes Urteil, in dem er eine weitere Anhörung anberaumt, um die zuvor mit dem Urteil erlassenen Maßnahmen zu bestätigen, abzuändern oder aufzuheben (Art. 669 sexies, Abs. 1, Zivilprozessordnung).» (www.treccani.it/enciclopedia/provvedimenti-cautelari)
Im vorliegenden Fall wird die weitere Anhörung von der Richterin Susanna Zanda auf den 15. September 2022, 10 Uhr angesetzt.
³ N.R.G. 2022/7360, Tribunale Ordinario di Firenze 02 Seconda sezione CIVILE, vom 6. 7. 2022.
⁴ Artikel 4 der italienischen Verfassung

 

Wie hält es das BAG mit der «freien und informierten Zustimmung»?

hhg. Kurz vor der Zulassung des Impfstoffes gegen Sars-CoV-2 wandte ich mich Ende 2020 an das Bundesamt für Gesundheit BAG: 

«Der Bund hat Verträge für Impfstoffe mit verschiedenen Herstellern abgeschlossen. Als Schweizer Bürgerin bilde ich zusammen mit allen anderen Bürgerinnen und Bürgern den Souverän, in dessen Auftrag die gewählten Parlamentarier sowie die Exekutive mit ihren zugehörigen Bundesämtern zu arbeiten haben. Entsprechend sind diese gegenüber den Schweizer Bürgerinnen und -bürgern rechenschaftspflichtig. Daher beantrage ich, dass ich unverzüglich Einblick erhalte in die mit den Impfstoffherstellern Pfizer/BioNTech, AstraZeneca und Moderna abgeschlossenen Verträge.»

Kurz darauf erhielt ich vom BAG folgenden Bescheid:

«Die Verträge mit Herstellern beinhalten vertrauliche Vertragsdetails mit allen Vertragspartnern. Wir bitten Sie daher um Verständnis, dass es nicht möglich ist, die Verträge offenzulegen.»

Am 3. August 2022 erhielt ich vom BAG nun den Bescheid, die Verträge seien jetzt einsehbar, allerdings seien «Berufs-, Geschäfts- oder Fabrikationsgeheimnisse der jeweiligen Hersteller sowie Passagen mit Personendaten geschwärzt.»

Entsprechend dem Urteil von Florenz muss in bezug auf das BAG beziehungsweise in bezug auf Bundesrat Berset davon ausgegangen werden, dass die Impfungen an der Schweizer Bevölkerung ohne die «freie und informierte Einwilligung», die anhand der fehlenden und bis jetzt geschwärzten Daten gar nicht möglich war, vorgenommen worden sind. Eine Untersuchungskommission mit der Fragestellung «Haben die Impfungen gegen Sars-CoV-2 in der Schweiz den Nürnberger Codex verletzt?» steht daher dringend an.

16.8.2022

Neutralität ist ein Friedenskonzept

von Thomas Kaiser

Man kann es drehen und wenden, wie man will. Dadurch, dass die Schweizer Regierung – und somit das ganze Land – willfährig den EU-Sanktionen gegen Russland gefolgt ist, hat ein wesentliches Charakteristikum des Landes, die Neutralität, grossen Schaden erlitten. Mit ungefähr 1350 Sanktionen übertrifft die Schweiz sogar die EU. Die Stellungnahme Russlands gegen ein Schweizer Schutzmachtmandat für die Ukraine gegenüber Russland ist eine logische Folge. Da nützt es nichts, darüber zu fabulieren, wie es Bundesrat Cassis am letzten Donnerstag im Fernsehen SRF machte, indem er die negative Antwort, die aufgrund mangelnder Neutralität der Schweiz erfolgte, herunterspielte: «Es ist eine Frage des Timings. Ein Nein heute muss nicht unbedingt ein Nein morgen sein.»¹ Das ist Augenwischerei, auch wenn Cassis im gleichen Filmbeitrag vom «Stolz auf die ukrainische Anfrage» spricht. 

Neutralitätspolitik ist keine «Frage des Timings», sondern eine politische Haltung, und die scheint Bundesrat Cassis abhandengekommen zu sein. Schon sein Auftritt auf dem Bundesplatz mit Selenskij² legte ein beredtes Zeugnis davon ab. Cassis begründet sein Verhalten damit, dass Selenskijs Video-Auftritt wie ein Staatsbesuch zu werten sei, aber wegen des Krieges hätte man ihn nur per Video zuschalten können. Er habe das machen müssen, so Cassis weiter, «alles andere wäre als Fauxpas in die Geschichtsbücher eingegangen.»³ Diese Aussage spricht Bände und zeigt, wer und was die politische Haltung des Bundesrats bestimmt. Übrigens erfolgt ein Staatsbesuch in der Regel auf Einladung.

Fakten zählen, nicht Worte

Wenn die Schweiz nicht auf den Weg der Neutralität zurückfindet, geht etwas verloren, was das Land über Jahrhunderte entwickelt hat und was Teil seines Staatsverständnisses darstellt. Die Neutralität war bestimmend für die Schweizer Aussenpolitik. Es wird für die Schweizer Regierung grosser Anstrengungen bedürfen, dieses Vertrauen anderer Staaten zurückzugewinnen. Die asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten, die nicht in das Kriegsgeheul der «Nato+-Staaten» eingestimmt haben, werden sich kaum mit irgendwelchen Erklärungen, z. B. man sei doch immer noch neutral, abspeisen lassen. Die Fakten zählen, nicht die Worte eines Politikers, der wahrscheinlich in ein paar Jahren das Departement gewechselt hat oder nicht mehr im Amt ist. 

Gerade in der Entwicklungszusammenarbeit war die Neutralität ein Segen, weil die Schweiz keine «Hidden Agenda» besass, wie der ehemalige Direktor der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), Martin Dahinden, verschiedentlich betonte.⁴ Dies ermöglichte der Schweiz, an Orten in der Welt tätig zu sein, an denen kein anderer Staat als Helfer oder Vermittler akzeptiert wurde.

Friedensstiftend wirken können

Es geht also, wie man bei der aktuellen Entwicklung deutlich erkennen kann, nicht einmal nur um die Schweiz, sondern um die Möglichkeit, friedensstiftend in einer immer unsichereren Welt wirken zu können. Denn Neutralität ist ein Friedenskonzept. Wenn alle Staaten neutral wären, löste man Konflikte tatsächlich nur noch am Verhandlungstisch. Dass das eine Utopie ist, ähnlich wie die Idee, man könne ein Paradies auf Erden schaffen, ist selbstredend. Aber ein neutraler Staat hat die Voraussetzungen, in einem Konflikt mit jeder Partei Verhandlungen aufzunehmen und darauf hinzuwirken, die Kontrahenten an einen Tisch zu bringen. Dies gelang der Schweiz in der Vergangenheit verschiedentlich. Man denke nur an die Minsker-Abkommen, an deren Zustandekommen die Schweiz beteiligt war. Sie hätten auch zu einem dauerhaften Frieden zwischen den Provinzen in der Ostukraine und dem ukrainischen Staat führen können, wenn die darin festgelegten Grundsätze vor allem von der ukrainischen Regierung umgesetzt worden wären. Möglicherweise hätte das den aktuellen Krieg verhindert. 

Opportunismus statt Neutralität

Doch die Schweizer Regierung hat einen anderen Weg gewählt, so dass der US-amerikanische Präsident Joe Biden beim Erlass der Sanktionen triumphierend kommentierte: «Even Switzerland» (sogar die Schweiz). Damit war die Neutralität vorerst beerdigt. Denn wie der ehemalige Schweizer Botschafter Tim Guldimann auf Anfrage der «NZZ» sagte, sieht er «in der Absage Russlands eher Hinweise für den Bedeutungsverlust der Neutralität.» («NZZ», 13.08.2022) 

Diese von Tim Guldimann konstatierte Bedeutungslosigkeit ist kein Problem der Neutralität an sich, sondern das Resultat einer Politik, die sich den Mächtigen andient. Neutralität wird zu Opportunismus.

Das lässt sich auch in den 1. Augustreden des Bundespräsidenten erkennen. In seiner offiziellen Ansprache kommt die «Neutralität» nicht einmal vor.⁵ In den weiteren Reden, die er auf seiner, wie er es nennt, «1. August-Tour» gehalten hat, wird die Neutralität einmal in einem Nebensatz erwähnt, ohne jedoch auf deren Bedeutung einzugehen. Neutralität scheint für diesen Bundesrat keine Relevanz mehr zu haben.⁶

«Kooperative Neutralität»

Dass durch die reale Politik die Neutralität tatsächlich vom Bundesrat verkauft wurde, realisierte man wohl auch im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Findige Spin-Doctors haben schnell eine neue Form der Neutralität aus dem Hut gezaubert: die «kooperative Neutralität».⁷ 

In Tat und Wahrheit hat das nichts mehr mit Neutralität zu tun. «Kooperative Neutralität» heisst nichts anderes als Opportunismus. Ich schliesse mich dort an, wo der Druck am grössten ist, heute den USA und der Nato, morgen vielleicht einer anderen Macht. Das ist keine Neutralität und wird auch von jedem anderen Staat so wahrgenommen.

Dass Russland den Antrag eines Schweizer Schutzmachtmandats für die Ukraine abgelehnt hat, ist für den Präsidenten der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats (APK-N), Franz Grütter, nachvollziehbar. Für ihn ist es ein Zeichen dafür, dass die Schweiz nicht mehr als neutraler Staat wahrgenommen wird, seit sie automatisch die Sanktionen gegen Russland übernommen hat.

«Der Kurs von Aussenminister Cassis hat die Schweizer Aussenpolitik massiv geschwächt. […] Wenn die Schweiz hier helfen will, die Lage zu entschärfen oder zumindest die Kommunikationskanäle zwischen den Parteien aufrechtzuerhalten, darf sie nicht unterscheiden zwischen gut und böse.» («NZZ», 13. 08. 2022) Auf dieser Grundlage ist es nachvollziehbar, dass Russland das Schutzmachtmandat ablehnt. 

Gemeinwohl und Frieden fördern

Die Schweizer Geschichte lehrt, dass die Bevölkerung in hohem Mass auf politische Entwicklungen  Einfluss nehmen kann. Wenn es nicht Menschen gegeben hätte, die sich für die Freiheit und Unabhängigkeit – selbst wenn sie grosse Nachteile dafür in Kauf nehmen mussten – selbstlos, aber mit innerer Überzeugung eingesetzt hätten, gäbe es unseren Staat, wie er sich heute im Grundsatz präsentiert, nicht. Die Einführung der Volksrechte war ein zäher Kampf gegen massiven Widerstand derjenigen, die lieber eine Regierung der Eliten und keine «Volksherrschaft» im eigentlichen Sinne tolerieren wollten. Nur durch das beharrliche Einstehen für Freiheit und Unabhängigkeit und letztlich auch für die Neutralität war es dem Land möglich, eingeklemmt zwischen den europäischen Grossmächten zu überleben und einen eigenständigen Weg zu gehen. Wenn sich die Bevölkerung bewusst ist, was die aus kurzfristigen Interessen von Bundesrat Cassis und den anderen Bundesräten betriebene Politik für Folgen haben wird, dann muss man sie auf eine das Allgemeinwohl und den Frieden fördernde Politik verpflichten. Alles andere führt zu einer Nivellierung und letztlich zur Aufweichung unseres Staatswesens. Wir müssen wieder zurückfinden zu konsequenter Neutralität und nicht versuchen, in Orwell’schem Neusprech die Bevölkerung zu täuschen und den weiteren Abbau unseres Staats zu betreiben. Die direkte Demokratie erlaubt uns, schlechte Entwicklungen zu stoppen und ins Positive zu wenden.

¹ www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/tagesschau-vom-11-08-2022-hauptausgabe?urn=urn:srf:video:93962aa1-adb0-4bee-8ddc-c6bef4b121d4
² www.tagesanzeiger.ch/botschaft-kuendet-live-rede-von-selenski-an-cassis-macht-einfuehrung-742133932530
³ www.swissinfo.ch/ger/wirtschaft/bundespraesident-sieht-schweiz-bei-sanktionspolitik--bei-den-besten-/47536262
www.eda.admin.ch/countries/slovakia/en/home/news/news.html/content/countries/slovakia/en/meta/news/2014/9/29/peole-local-population
www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/reden/ansprachen-zum-nationalfeiertag/2022.html
www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/reden/reden-der-bundesraete.msg-id-89803.html
www.nau.ch/politik/bundeshaus/ignazio-cassis-konkretisiert-kooperative-neutralitat-66224993

16.8.2022

Nur Staaten, die sich schützen können, sind souverän!

von Reinhard Koradi

Gemäss Bundesverfassung verpflichtet sich die Schweiz zur bewaffneten Neutralität. Unter dem Druck der Herrschaftsansprüche von verschiedenen Seiten, mehrheitlich transnationaler Organisationen (Uno, Nato, EU) und durch Propaganda der Mainstreammedien wird diese Neutralität in unserem Land durch die politischen Eliten und den dahinterstehenden Taktgebern in Frage gestellt.

Diese bewusst gestreuten Zweifel decken erhebliche Defizite auf hinsichtlich unserer geistigen Landesverteidigung und der Bereitschaft, Unabhängigkeit und Freiheit zu verteidigen.

Der einst ungebrochene Wehrwille in unserem Land ist durch sogenannte Armeereformen, politische Desorientierung, Anbiederung an die «Grossen», Missachtung der Bundesverfassung und durch Zuwanderung und dem damit verbundenen Kulturwandel erheblich unterwandert worden.

Schutz der eigenen legitimen Interessen setzt neben einer hohen militärischen Verteidigungsbereitschaft auch den Schutz der eigenen Wertekultur und eine umfassende Vorsorge lebensnotwendiger Güter und Dienstleistungen voraus. Im Zuge der Internationalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft wurden diese existenzsichernden Säulen unseres unabhängigen Staates massiv beschädigt.

16.8.2022

Pelosis Besuch in Taiwan: «Eine unverantwortliche Provokation»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Warum hat sich der Konflikt zwischen Taiwan und China in der letzten Zeit immer weiter zugespitzt?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Gewissermassen geht es um eine Flucht nach vorn seitens der USA, die nicht akzeptieren wollen, dass die Welt von 2022 nicht dieselbe ist wie jene von 1945 oder von 1989 nach dem Verschwinden der Sowjetunion, als die USA die einzige Weltmacht war. Viele amerikanische Politiker und die Medien wollen an der Phantasie von Francis Fukuyama festhalten, dass wir die «Sieger der Geschichte» sind – und zwar für immer. Die Realität hat die USA überholt. China und seine 1,5 Milliarden Menschen sind halt da. Die geopolitische und geoökonomische Lage hat sich anders entwickelt, als die USA es möchten. Allein auf militärischem Gebiet bleiben die USA stärkste Weltmacht, allerdings nicht für ewig. Es geht natürlich auch ums Säbelrasseln für die einheimische amerikanische Bevölkerung, nicht anders als zu Zeiten Trumps, als es um «Make America Great Again» ging, wobei «great» imperial bedeutete, nicht etwa führend in der Technik, in der Forschung oder in kultureller Leistung. Durch kriegerische Positionierungen und wiederholte Provokationen bezüglich Taiwans, Hongkongs, Tibets, Xinjiangs wollen die USA die Illusion einer unipolaren Welt am Leben erhalten: ein hoffnungsloses Unterfangen!

Inwiefern gehört Taiwan zu China?

Taiwan ist und war chinesisch (ausser während der Zeit der illegalen japanischen Besetzung, und nach der Flucht von Chiang Kai-Shek nach Taiwan). Seit 1949 hat die kommunistische Regierung Chinas in Beijing stets den Anspruch auf Taiwan aufrecht erhalten. Dies entspricht der «One China Policy». In den 70er Jahren hat US-Präsident Richard Nixon die Beziehungen zu Beijing aufgenommen und dabei versprochen, die «One China Policy» zu respektieren, die auch alle späteren US-Regierungen akzeptiert haben. Kurz darauf übernahm Beijing den Sitz im Uno-Sicherheitsrat. Beijing treibt natürlich viel Handel mit Taiwan, dessen Bevölkerung etwa 23 Millionen zählt. Über die Jahrzehnte beobachten wir, dass Beijing eine Politik betreibt, die durch Geduld und langfristige Planung gekennzeichnet ist. China hat nun mehr als 70 Jahre auf eine friedliche Wiedervereinigung mit Taiwan gewartet. Aber, wir dürfen nicht vergessen, dass China eine Weltmacht ist und Einmischungen in seine internen chinesischen Angelegenheiten – wie die USA natürlich auch – ablehnt.

In welche geopolitische Strategie der USA gehört dieser Konflikt?

Seit Jahren befinden sich die USA auf dem absteigenden Ast, und die Staatsschulden sind ungeheuer. Im Vergleich dazu ist China eine gewaltige Wirtschaftsmacht geworden mit enormen Reserven und Devisen. Allmählich wird der Yuan im Handel verwendet. Mehr und mehr verdrängt China die USA aus Märkten, vor allem in Afrika und Lateinamerika, eine Entwicklung, die auch geopolitische Implikationen hat. Deshalb empfinden manche US-Politiker Chinas Machtzuwachs als bedrohlich, auch wenn China keine Konfrontation mit den USA sucht und bisher vermieden hat. 

Welche Rolle spielt Nancy Pelosi in bezug auf Taiwan?

Nancy Pelosi ist immerhin die dritthöchste Politikerin in den USA. Allerdings ist sie 82 Jahre alt, und viele Amerikaner nehmen sie nicht mehr ernst. Es gibt gewisse «rote Linien» und Nancy Pelosi hat diese Linien ohne Notwendigkeit überquert. Sogar Biden und Blinken waren von Pelosis Besuch in Taiwan nicht begeistert. Glücklicherweise hat Beijing nicht überreagiert, denn die chinesische Regierung will keinen militärischen Konflikt mit den USA. 

Was wollte sie mit ihrem Besuch bezwecken?

Es ist imperiale Arroganz, imperialer Narzissmus. Es ging vor allem um ein Public Relations Spektakel, eine Medien-Extravaganz mit «Photo Opportunities», nicht aber um überlegte Geopolitik. Einige Beobachter wie die australische Journalistin Caitlin Johnstone haben bereits darauf hingewiesen, dass die USA keinen Sieg in der Ukraine erzielen könnten und dass deshalb einige US-Politiker und Medien von der Ukraine ablenken und auf einen anderen «Feind» schiessen wollten. Der bekannte amerikanische Journalist, Patrick Lawrence, der viele Jahre bei der International Herald Tribune gearbeitet hatte, prägte den Begriff «Cold War II» und wies darauf hin, dass Pelosi diesen Zweiten Kalten Krieg zu einem «Two-front»-Krieg erweitert. Nun wollen sich die USA Russ­land und China gleichzeitig zu Feinden machen – unverantwortlich und gefährlich für uns alle.

Auch wenn Biden und Blinken mit dem Besuch nicht ganz einverstanden waren, gehört doch das Verhalten Pelosis zur Art US-amerikanischer Aussenpolitik?

Die US-amerikanische Aussenpolitik ist ein «bipartisan disaster» wie es Professor Jeffrey Sachs von der Columbia Universität in New York formuiert hat. Sowohl Demokraten als auch Republikaner betrachten sich als «hawks» und wollen zeigen, dass die USA noch Nummer eins in der Welt sind. Diese Politik ist aber höchstgefährlich, denn ein Fehler könnte uns die nukleare Apokalypse bescheren. Uno-Generalsekretär António Guterres hat wiederholte Male auf diese Gefahr hingewiesen, aber er wird in Washington nicht gerne gehört. 

Stellt der Besuch eine Verletzung internationalen Rechts dar?

Das Prinzip der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten von anderen Staaten ist Völkergewohnheitsrecht, ausserdem ist es in der Uno-Charta und in vielen Uno-Resolutionen wie in der Res. 2625 der Generalversammlung kodifiziert. Der Besuch war eine unverantwortliche Provokation, die gegen Artikel 1 und 2 der Uno-Charta verstösst. In meinem Buch «Building a Just World Order» (Clarity Press 2021) habe ich 25 Prinzipien der Weltordnung formuliert, die die Präsidentin der Uno-Generalversammlung als «Magna Charta des 21. Jahrhunderts» bezeichnete. Pelosis Taiwan-Besuch verletzte mehrere dieser Prinzipien.

Nach Ihren Ausführungen hat der Konflikt mit China also mit dem Geschehen in der Ukraine zu tun.

Ja, sehr viel. Russophobie und Sinophobie gehen Hand in Hand. Washington und die Medien praktizieren seit vielen Jahren eine gezielte Dämonisierung Russlands und Chinas, eine diffamierende Kampagne gegen Wladimir Putin und Xi Jinping. Beispiel dieser Diffamierung war die Art und Weise, wie die USA über die Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 (noch vor dem Maidan-Putsch) berichteten, und wie die USA die Olympischen Winterspiele in Beijing 2021 boykottierten. Die ständigen Lügen in der Tagespresse haben ein negatives Bild Russlands und Chinas geprägt. Dies bedeutet auch eine direkte Verletzung des Artikels 20 des Uno-Paktes über bürgerliche und politische Rechte, der Kriegspropaganda und rassistische Diffamierungen («cancel culture») verbietet. Der Uno-Pakt wird aber völlig ausser Acht gelassen beim Medien-Mobbing gegen Russland und China – auch gegen russische und chinesische Kultur und russische und chinesische Sportler. Natürlich gibt es ein Junktim, und dieselben US-Politiker, die Krieg in der Ukraine wollen wie z. B. Nancy Pelosi (Demokratin) und Senator Lindsay Graham (Republikaner) sind diejenigen, die gezielt eine Destabilisierung Chinas betreiben. Der Besuch Pelosis war gewiss lästig, aber nicht so ernst wie die ständige Bedrohung, die von den USA ausgeht, die Manöver der US-Navy um Taiwan und das Südchinesische Meer, die US-Militärbasen in Okinawa und auf Hawaii.

Wird hier also ein neuer Kriegsschauplatz eröffnet?

Es geht hier vor allem um einen Informationskrieg. Leider beteiligen sich nicht nur die US-Medien, sondern genauso die Medien in Grossbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, in Deutschland, Polen Norwegen – sogar die Medien in der Schweiz. Ich habe manche Desinformation in der «Neuen Zürcher Zeitung», in der «Tribune de Genève», in «Le Temps» gelesen. Die Strategie ist wohl die alte: calumniare audacter, semper aliquid haeret – diffamiere dreist, denn etwas bleibt immer hängen. Darüber hinaus gibt es auch eine Zensur durch die Mainstreammedien, z. B. werden positive Kommentare und Korrekturen durch Mitglieder des Geneva International Peace Research Institute (GIPRI) häufig von den Redaktionen abgelehnt, weil sie das Mainstream-Liedchen nicht singen. Auch Op-Eds, die ich verfasst habe, werden in den Mainstreammedien abgelehnt, deshalb veröffentliche ich z. B. bei CounterPunch¹ und Truthout².

Sie haben hier die Provokationen angesprochen. Die USA präsentieren sich immer als Hüterin des Völkerrechts und der Menschenrechte. Ist ihre Weste, was das Völkerrecht und die Souveränität der Staaten angeht, wirklich so sauber?

In der Tat kann China auf den US-Putsch gegen das Königshaus auf Hawaii im Jahr 1893 verweisen, auf die Verbrechen der US-Besetzung und den Kolonialismus in Hawaii, auf die Verletzung des Kapitels XI der Uno-Charta durch die USA, die verpflichtet waren, Hawaii in die Selbstbestimmung zu entlassen, auf den Betrug der USA durch ein komplett manipuliertes «Plebiszit» in Alaska und Hawaii, das es dann den USA erlaubte, sich diese begehrten Gebiete als US-Staaten Nr. 49 und 50 einzuverleiben. Insofern wurde dies durch die Uno-Generalversammlung in Resolution 1469 «genehmigt». Ich habe in Kooperation mit Wissenschaftlern aus Hawaii ein Memorandum geschrieben und veröffentlicht³, in dem wir verlangen, dass die Resolution 1469 geprüft und die Selbstbestimmung des Volkes von Hawaii und seine Unabhängigkeit wieder hergestellt werden.⁴ Hawaii hat nichts mit den USA zu tun. Es war und bleibt besetztes Land.

Sehen Sie einen möglichen Ausweg aus dieser Krise?

China muss im Sicherheitsrat der Uno, in der Uno-Generalversammlung und im Menschenrechtsrat stärker auftreten. Ich habe bereits auf ein Junktim zwischen Taiwan und Hawaii hingewiesen, das China mit guter völkerrechtlicher und historischer Begründung aufnehmen könnte. Es ist zu begrüssen, dass China tatsächlich im Uno-Menschenrechtsrat aktiver geworden ist, wie an seiner Beteiligung in Debatten zu sehen ist. Ausserdem war es federführend in der Annahme der Resolution 48/7 über die Konsequenzen des westlichen Imperialismus und des Kolonialismus im 19. und 20. Jahrhundert, und über die Notwendigkeit, Wiedergutmachung gegenüber den Opfern zu leisten.⁵ Die europäischen Staaten, allen voran Deutschland, müssten sich endlich aus dem Vasallen-Status gegenüber den USA befreien und tatsächlich Verantwortung in der Welt übernehmen. Das heisst aber nicht, wie Ex-Bundespräsident Joachim Gauck es formulierte, mehr imperiale Kriege in der Welt im Schlepptau der USA zu führen und an der Seite der USA genauso brutal aufzutreten, wie es heute Frau Baerbock ebenfalls verlangt. Konkret sollte Deutschland die Provokationen der Nato als völkerrechtswidrig bezeichnen und für eine strikte Einhaltung der Uno-Charta durch die USA plädieren, nicht nur in der Ukraine, sondern auch gegenüber China. Mehr Verantwortung würde heissen, sich für einen dauerhaften und gerechten Frieden auf der Grundlage der internationalen Bestimmungen einzusetzen und nicht das Völkerrecht zu eigenen Gunsten ­auszulegen. Wenn Europa sich vom US-amerikanischen Kriegskurs befreien würde, müssten auch die USA ihre Strategie ändern. Das scheint im Moment utopisch, aber einen anderen Weg wird es nicht geben, wollen wir weiterhin auf unserem Globus leben können. 

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser

¹ www.counterpunch.org/author/alfred-de-zayas/
² truthout.org/authors/alfred-de-zayas/
³ https://talesofhawaii.net/tag/unga-resolution-1469-xiv/
⁴ ebenda

https://digitallibrary.un.org/record/3945630

www.alfreddezayas.com

https://dezayasalfred.wordpress.com/

http://www.extempore.ch

16.8.2022

«Die EU-Sanktionen wurden nur, um zu schaden, nach dem Prinzip ‹Der Zweck heiligt die Mittel› verabschiedet»

«Selenskij ist ein Gefangener der Lügen, die ihm der Westen erzählt hat»

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild zvg)
Jacques Baud (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Vor einigen Tagen wurde zwischen der Ukraine und Russland ein Abkommen unterzeichnet, das Lieferungen von Getreide über das Schwarze Meer ermöglichen sollte. Waren tatsächlich alle Getreidelieferungen aus der Ukraine blockiert?

Jacques Baud In der Tat wurde der Transport von Getreide und anderen Lebensmitteln nicht von Russland, sondern von der Ukraine blockiert. Mit Beginn der russischen Offensive hatte die Ukraine in ihre Häfen alte Seeminen verlegt, um eine Küstenlandung zu verhindern. Diese schlecht verlegten Minen neigen dazu, abzudriften, was die gesamte Seeschifffahrt im Schwarzen Meer gefährdet.¹ Bereits im März 2022 musste die türkische Marine Seeminen entschärfen, die bis in den Bosporus gelangt waren.² Diese Minen töteten sogar ukrainische Schwimmer an der Küste im Süden des Landes. Mitte Juni 2022 erklärte David Arakhamia, ein enger Berater Selenskijs, das ukrainische Militär sei «standhaft gegen die Idee, die ukrainischen Schwarzmeerhäfen im Gegenzug für die Erlaubnis, Getreide über Russland zu exportieren, zu entminen».³

Waren russische Häfen auch vermint?

Auf russischer Seite sind die Schwarzmeerhäfen einsatzbereit, darunter auch der Hafen von Mariupol, der bereits seit Anfang Juni wieder in Betrieb ist. Was den Hafen von Odessa betrifft, hat Russ­land Zugangskorridore für die Versorgung der Stadt offengelassen. Diese Korridore sind ständig geöffnet und ihre geografischen Koordinaten werden regelmässig über internationale Radiofrequenzen mitgeteilt.

Es steht vom Westen der Vorwurf im Raum, dass Russland mit der Blockade die Hungerwaffe einsetzen wolle, um die Welt in ein Chaos zu stürzen. Wie glaubwürdig ist ein solches Szenario?

Das ist Desinformation. Zunächst einmal muss man daran erinnern, dass Russland während des Kalten Krieges Getreide importierte. Ab 1990 begann Russland, Getreide zu exportieren, aber erst mit dem Amtsantritt von Wladimir Putin im Jahr 2000 stieg die Getreideproduktion deutlich an. Die Sanktionen, die ab 2014 gegen Russland verhängt wurden, gaben der Getreideproduktion einen grossen Schub. Heute ist Russ­land mit einem Marktanteil von 18 bis 19 Prozent der grösste Getreideexporteur der Welt.⁴ Russland hat also kein Interesse daran, eine Knappheit in der Welt zu schaffen. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Russland gegen das Prinzip von Sanktionen ist, weshalb es keine «Gegensanktionen» gegen den Westen verabschiedet hat. Diese Politik könnte sich vielleicht in der Zukunft ändern, aber derzeit ist dies nicht der Fall.

Karte © Jacques Baud

Karte © Jacques Baud 

 

Was heisst das jetzt für den internationalen Handel?

In Wirklichkeit werden die Rohstoff- und Getreideexporte nicht von Russland verhindert, sondern von den westlichen Sanktionen und der Ukraine. An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass es die Strategie ist, die 2019 von den USA festgelegt und genau beschrieben wurde und die von den westlichen Ländern brav umgesetzt wird: Russland auf der internationalen Bühne zu isolieren, um es zu ersticken, auch wenn der Rest der Welt darunter leiden muss.⁵ Die Amerikaner sehen die Schweiz dabei als finanzielle Drehscheibe und als wesentliches Element dieser Strategie. Dies erklärt, warum die Schweiz mit 1360 Sanktionen (Stand: 5. August 2022) das Land ist, das am meisten Sanktionen gegen Russland verhängt hat.⁶ Nach meinen Informationen haben die Amerikaner dies durch eine Kombination aus Druck und Erpressung erreicht.

Laut westlichen Medien habe Russ­land erklärt, dass die weltweite Knappheit an Getreide ein Resultat der Sanktionen darstelle. Welche Auswirkungen haben die Sanktionen auf die Getreidelieferungen tatsächlich?

Das ist nicht genau das, was Russland sagt. Am 17. Juni 2022 gab Wladimir Putin beim 25. Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg eine Lagebeurteilung ab.⁷ Es mag Propaganda sein, aber seine Analyse deckt sich mit der von BBC News im Juli 2022, in der es heisst, dass es dem westlichen Getreideanbau aufgrund der klimatischen Bedingungen und des Zugangs zu Düngemitteln schlecht geht. Das britische Medium stellt fest, dass nur Russland und China (und in geringerem Masse Kanada) 2022 eine Ernte haben werden, die im Vergleich zum Durchschnitt des Zeitraums von 2016 bis 2021 steigt.⁸

Warum besteht dann eine Knappheit?

In der Tat ist die weltweite Knappheit in erster Linie das Ergebnis unserer Landwirtschaftspolitik und des Zustands unserer Landwirtschaft. Genau wie im Fall von Covid-19 hat unsere Politik unsere Krisenreaktionsfähigkeit strukturell geschwächt. Zudem haben die westlichen Sanktionen die Situation nur noch weiter verschärft.

Theoretisch ist der Seetransport von Getreide und Düngemitteln von den US-Sanktionen nicht betroffen. In der Praxis machen jedoch viele Faktoren den Güterverkehr unmöglich.

Können Sie einige der Faktoren nennen?

Erstens werden die Zahlungen durch den Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System erschwert. Zweitens befürchten die Importeure, dass sie wegen ihrer Handelsbeziehungen mit Russland sanktioniert werden und ihre Zahlungen vom Westen konfisziert werden. Drittens betreffen die Sanktionen belarussische und russische Düngemittelexporte. Viertens sind die ukrainischen Getreideexporte nicht auf den Seetransport beschränkt, sondern könnten auch per Zug transportiert werden; aufgrund der unterschiedlichen Spurweiten der europäischen und russischen Schienen müssen jedoch Umladebahnhöfe passiert werden. Die Ukraine verfügt jedoch nicht über genügend dieser Umladebahnhöfe, um einen reibungslosen Export zu gewährleisten, und muss die weissrussischen Umladebahnhöfe nutzen; die EU-Sanktionen verbieten jedoch die Durchfahrt ukrainischer Züge durch Weissrussland! Schliesslich trugen die Sanktionen, die es Versicherungsgesellschaften (und Rückversicherern) untersagten, den russischen Seeverkehr zu decken, zur Verschärfung der Situation bei. Die Importeure haben das Vertrauen in die irrational schwankenden westlichen Entscheidungen verloren und zögern mit ihren Bestellungen.

Was wird in dem Vertrag zwischen Russland und der Ukraine, der aus mehreren Teilen besteht, genau festgehalten?

Eigentlich ist die Reihe von Abkommen, die in Istanbul unterzeichnet wurden, ein dreifacher Erfolg für die russische Diplomatie. Erstens lockern sie die Auswirkungen der Sanktionen gegen Russ­land und seinen Aussenhandel mit Getreide und Erdöl. Zweitens bestätigen sie, dass die ukrainischen Häfen von den Ukrainern selbst vermint wurden, und zwingen sie, diese zu räumen. Schliesslich zeigen sie, dass die westliche Rhetorik über eine «russische Blockade» nichts weiter als Propaganda und Desinformation war.⁹

Sind noch weitere Sanktionen gelockert oder aufgehoben worden?

Diese Abkommen heben auch die Sanktionen in bezug auf die Versicherung und Rückversicherung des Seetransports von Erdölprodukten und die Lieferung von Ersatzteilen für Flugzeuge auf. Es handelt sich also um einen Rückschritt der westlichen Länder, der auf den Rückzieher der Europäischen Union beim Export von Düngemitteln und beim Warentransit zwischen Russland und Kaliningrad durch Litauen folgt. Sie beweisen, dass die EU-Sanktionen ohne Überlegung, ohne Intelligenz und nur, um zu schaden, nach dem Prinzip «Der Zweck heiligt die Mittel» verabschiedet wurden.

Die westlichen Medien behaupteten, das ausgehandelte Abkommen sei ein Erfolg für die Ukraine.

Wahrscheinlich nicht. Tatsächlich konnte die Ukraine bis Anfang Juni zwischen zwei Dritteln und vier Fünfteln ihrer Ernte von 2021 bis 2022 exportieren10. Die Lage ist also weit weniger dramatisch, als unsere Medien berichtet haben. Eigentlich wollte die Ukraine das Druckmittel ihrer Exporte nutzen, um eine westliche Intervention im Schwarzen Meer zu provozieren, aber sie wurde in ihrem eigenen Spiel gefangen. Nun ist sie gezwungen, ihre Häfen zu entminen, und Schiffe, die von und nach der Ukraine fahren, werden daraufhin überprüft, ob sie Waffen transportieren.

Man könnte sich fragen, ob die Ukraine in der gegenwärtigen Situation wirklich ihre gesamte Produktion exportieren sollte. Das Beharren des Westens darauf, dass die Ukraine ihre Produktion exportiert, könnte mit der Ernährungsunsicherheit in der Ukraine kollidieren.11 Man vergisst, dass die Ukrainer seit dem Holodomor in den 1930er Jahren eine grosse Angst vor Hungersnöten haben. Nun ist ihre Ernährungssicherheit aufgrund des Konflikts nicht gewährleistet und die Bevölkerung befürchtet, dass mit der Ausfuhr ihres Getreides ihre Probleme zunehmen werden. Daher versuchten die Einwohner in einigen Städten, die Abfahrt von Getreidekonvois zu verhindern. Natürlich wurde dies von keinem westlichen Medium gezeigt.

Bisher wurde in unseren Medien Putin als verhandlungsunwillig dargestellt, und das Bild soll wohl weiterhin aufrechterhalten werden. Beweist dieser Vertrag nicht gerade das Gegenteil?

Ich glaube nicht, dass Wladimir Putin Verhandlungen ablehnt. Tatsächlich waren die Russen Ende Februar und im März zu Verhandlungen bereit. Auch die Ukrainer waren bereit zu verhandeln.12 Es war der Westen, der Selenskij unter Druck setzte, damit er nicht verhandelt. Das hat dazu geführt, dass die Russen Gespräche mit einer Ergebnisperspektive führen und sich nicht in aussichtslose Prozesse verstricken wollen.

Warum hat der Westen eine Verhandlungslösung sabotiert?

In der Überzeugung, dass Russ­land unter den Sanktionen zusammenbrechen würde, lehnte der Westen jede Möglichkeit von Verhandlungen ab. Doch mit der steigenden Inflation, der Energiekrise, die sich für das Jahresende ankündigt, dem wachsenden Interesse an den BRICS-Staaten und den «Midterm»-Wahlen in den USA beginnt der Westen umzukehren. Die Vereinbarungen von Istanbul zeigen, dass der Westen heute Verhandlungen sucht und einen Rückzieher machen muss.

Der von Antony Blinken eingeleitete Versuch, einen Gefangenenaustausch zu organisieren, zeigt, dass der Westen um jeden Preis eine Öffnung für Verhandlungen sucht. Blinken ist jedoch kein Ehrenmann, und Putin weiss das. Übrigens liess Blinken einen Russen aus Griechenland ausliefern,13 um mit Viktor Bout einen «2 gegen 2»-Tausch gegen die Sportlerin Brittney Griner und Paul Whelan machen zu können. Daher bin ich mir nicht sicher, ob dieser Austausch der Beginn eines echten Verhandlungsprozesses ist.

Gerhard Schröder hat Selenskij geraten, mit Putin zu verhandeln, was dieser als zynisch zurückgewiesen habe. Sehen Sie Angebote auf russischer Seite?

Das Problem ist, dass Gerhard Schröder weder glaubwürdig noch in der Lage ist, die Dinge zu beeinflussen. Die Realität ist, dass die Russen zwei Verhandlungsprozesse eingeleitet haben: den ersten an der Grenze zu Weissrussland am Tag nach dem Ausbruch ihrer Offensive. Doch die Dinge liefen schief. Denis Kirejew, einer der ukrainischen Verhandlungsführer, der zu russlandfreundlich war, wurde vom ukrainischen Sicherheitsdienst (SBU) liquidiert.14 Und am 27. Februar kam die Europäische Union mit einem ersten «Paket» von 450 Millionen Euro für Waffen. Im März, als Russland bereit war, Selenskijs Vorschlag zu akzeptieren, kam die EU erneut mit einem Waffenpaket im Wert von 500 Millionen Euro, und Boris Johnson rief Selenskij an, um ihn zu bitten, seinen Vorschlag zurückzuziehen.15

Heute wollen die Russen ernsthafte Verhandlungen und keine Verhandlungen, die von der Ukraine gefordert werden, um Vorbereitungen für neue Militäroperationen zu ermöglichen.

Es sind also nicht die Russen, die sich weigern zu verhandeln, sondern der Westen, der die Ukrainer als Geiseln nimmt. Selenskij glaubt weiterhin, dass die Rettung der Ukraine in der totalen Niederlage Russlands liegt und dass diese Niederlage nur mit westlicher Hilfe erfolgen kann. Er ist also ein Gefangener der Lügen, die ihm der Westen erzählt hat…

Im übrigen versucht die deutsche Regierung, Ex-Kanzler Schröder einzusetzen, um die Krise um die Nord Stream 1-Turbinen zu lösen,16 aber gleichzeitig stoppt das Parlament die Finanzierung seines Amtes17, und man versucht, ihn auf eine Sanktionsliste zu setzen!18 Die deutsche Politik ist inkohärent und schizophren. Wie könnte Wladimir Putin sie ernst nehmen?

Wenn man Zeitungsartikel, die vor einigen Monaten geschrieben worden sind, nochmals liest, dann müsste die Ukraine den Krieg gegen Russland schon längst gewonnen haben: mangels russischer Soldaten, durch die Überlegenheit westlicher Waffen, weil die Kampfmoral der russischen Truppen schlecht und die russische Armeeführung unfähig sei, weil Putin die Ukraine und die westliche Unterstützung unterschätzt habe und die Sanktionen Russland lahmlegten. Welchen Einfluss haben die Waffenlieferungen tatsächlich auf das aktuelle Kriegsgeschehen?

Die Antwort hat zwei Aspekte. Der erste ist, dass es so aussieht, als hätten unsere Medien und Politiker die ukrainischen Schwächen systematisch Russland zugeschrieben. Dies ist ein in der Propaganda recht üblicher «Spiegeleffekt», der dazu dient, die eigenen Schwächen hinter den vermeintlichen Schwächen des Gegners zu verstecken. Die ukrainische Kriegsführung ist ausschliesslich politisch, während die russische Kriegsführung ausschliesslich militärisch ist.

Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie die Operationen geführt werden. Aus diesem Grund konnte man von Anfang an behaupten, dass die Ukraine verlieren würde. Ich erinnere Sie daran, dass Russland die Ukraine mit einer zahlenmässigen Unterlegenheit von etwa 1:2 angegriffen hat: Die Ukraine hatte also alle Chancen. Aber paradoxerweise hat niemand im Westen den Krieg wirklich ernst genommen. Man hat einen politischen und wirtschaftlichen Krieg geführt, dessen Ziel nicht darin bestand, in der Ukraine zu siegen, sondern Russland zum Zusammenbruch zu bringen. Das hatte Oleksej Arestowitsch im März 2019 gesagt.19

Selenskij gab sich in seinem grünen Leibchen jeweils sehr siegessicher…

Selenskij seinerseits glaubte, dass die Sanktionen und die massive Unterstützung des Westens ausreichen würden, um Russland zu besiegen, ähnlich wie der Westen im Irak gesiegt hatte. Das Problem ist, dass der Westen weder den Wunsch noch die Fähigkeit hat, sich an der Seite der Ukraine zu engagieren. Sie haben Russ­land, seine Wirtschaft und die Unterstützung der Bevölkerung für Wladimir Putin unterschätzt. Die an die Ukraine gelieferten Waffen hätten in einem Konflikt wie im Irak vielleicht einen Unterschied gemacht, aber nicht gegen Russ­land. Innerhalb von sechs Monaten hat der Westen der Ukraine eine Hilfe zur Verfügung gestellt, die grösser ist als der russische Verteidigungshaushalt – ohne Erfolg.

Dann nützen die Waffen nahezu nichts?

Zu Beginn der russischen Offensive hatten die Ukrainer etwas weniger als 500 Mehrfachraketenwerfer, die sie verloren haben. Heute haben sie ein bisschen weniger als insgesamt 30 HIMARS und MLRS M270 aus den USA und Europa erhalten, von denen ein Teil bereits zerstört oder von den Russen gekauft wurde. Die Behauptung, dass dies Auswirkungen auf den Verlauf des Konflikts haben wird, ist «wishful thinking». In Wirklichkeit geht es darum, den Konflikt zu verlängern und zu verhindern, dass die Ukrainer vor den amerikanischen «mid-terms» in einen Verhandlungsprozess eintreten. Wie der republikanische Senator Lindsey Graham es ausdrückte, geht es darum, die Ukrainer bis zum letzten Mann kämpfen zu lassen.20

Ist die Qualität der Waffen schlecht oder hat die Ukraine zu wenig Waffen bekommen?

Offensichtlich ist nicht die Anzahl der Waffen das Problem, sondern die Art und Weise, wie sie eingesetzt werden. Die vom Westen gelieferten Waffen sind nicht für diese Art von Krieg konzipiert. Sie sind zwar präziser als die der Russen, aber weniger effektiv und empfindlicher. So müssen 30 Prozent der US-amerikanischen M777-Haubitzen regelmässig zur Reparatur abgezogen werden.21

Darüber hinaus verfügen die Ukrainer kaum noch über gepanzerte Fahrzeuge, um Offensiven durchführen zu können. Sie setzen daher ihre hochmobilen westlichen Artilleriemittel ein, um eine Art «Guerillakrieg» zu führen, bei dem die ukrainische Bevölkerung in den russischsprachigen Gebieten eingeschüchtert wird, um sie von der Teilnahme an den Referenden zur Selbstbestimmung abzuhalten. Dies ist die gleiche Strategie wie die Kampagne von Terroranschlägen auf russischsprachige ukrainische Führungskräfte in der Oblast Cherson.

Das erklärt auch den Beschuss bewohnter Gebiete in Donezk mit PFM-1-Antipersonenminen («Schmetterlings»-Minen), die wie Spielzeug aussehen, oder den Beschuss des Atomkraftwerks in Saporoschje. Deshalb will Selenskij keine Untersuchungskommission vor Ort.22 Unsere Medien weigern sich, diese Strategie anzuerkennen, und erfinden fantasievolle Erklärungen. Laut einem französischen Experten beschiessen die Russen das von ihnen kontrollierte Kraftwerk, um den Stromfluss in die Ukraine zu unterbrechen!23 Anscheinend haben die Russen den Schalter nicht gefunden!!!

Man führt also nicht nur Krieg gegen Russland, sondern auch gegen die eigene Bevölkerung. Sie haben erwähnt, dass die westlichen Waffen von der Ukraine an Russland verkauft werden. Man muss sich fragen, ob die Art und Weise, wie die Ukraine den Krieg führt nicht Ausdruck eines korrupten Regimes ist…

Die Lieferungen des Westen geschahen unter der Bedingung, dass die Waffen an der Front ankommen! Es scheint nun bestätigt zu sein, dass Ukrainer amerikanische HIMARS-Raketenwerfer und französische CAESAR-Selbstfahrlafetten an die Russen verkauft haben. Was verlogene Journalisten im Juli als «russische Desinformation» bezeichneten,24 scheint durch einen Dokumentarfilm von CBS News mit dem Titel «Arming Ukraine» bestätigt zu werden, in dem festgestellt wird, dass nur 30 bis 40 Prozent der gelieferten Waffen ihre Empfänger erreichen.25 Nach dem Protest aus Kiew wurde diese Dokumentation schnell zensiert…26 Aber Realität bleibt Realität: Die USA haben sich geweigert, der Ukraine vier MQ-1C GRAY EAGLE Drohnen zu liefern, weil die Gefahr eines Technologielecks bestand.27

Der Focus titelte kürzlich eine Aussage von Timothy Snyder: «US-Experte analysiert sieben Kriegsfaktoren – und prophezeit Putins Niederlage.» Das scheint billige Kriegsrhetorik zu sein, die ständig bemüht wird?

Die westliche (und ukrainische) Art, diesen Krieg zu führen, besteht darin, unsere Wünsche für die Realität zu halten. Das hat die Ukrainer dazu verleitet, die Russen zu unterschätzen und ihre eigene Operationsführung zu überschätzen. Tatsächlich sind es diese Pseudo-Experten, die falsche Informationen verbreitet haben, die das Desaster in der Ukraine seit 2014 verursacht haben. Die Art und Weise, wie eine Krise verstanden wird, bestimmt die Art und Weise, wie sie gelöst wird. Unsere Journalisten und Pseudo-Experten haben eine falsche Realität geschaffen, die als Grundlage für politische Entscheidungen diente, indem sie systematisch versuchten, der Ukraine gegen alle Beweise Recht zu geben. Meiner Meinung nach sollten diese Journalisten als Kriminelle verurteilt werden, da sie absichtlich Informationen unterschlagen haben, die die Ukrainer zu Verhandlungen hätten bewegen und damit Leben hätten retten können.

Immer mehr afrikanische und asiatische Staaten stehen dem westlichen Blick auf den Konflikt kritisch gegenüber. Verliert der Westen durch seine Einmischungs- und Sanktionspolitik nicht immer mehr an Einfluss und Reputation?

In Wirklichkeit hatte das bereits vor der russischen Offensive in der Ukraine begonnen. Die malische Regierung hatte Frankreich und dann auch die anderen Länder der westlichen Koalition aufgefordert, ihre Truppen aus Mali abzuziehen. Diese Soldaten hatten wie z. B. die Esten keine Ortskenntnisse und kein nationales Interesse an der Region: Sie kamen lediglich, um an lebenden Zielen zu üben. Terrorismus lässt sich nicht mit Scharfschützen bekämpfen. Französische Offiziere, die in Mali im Einsatz waren, sagten mir: «Wir töten einen und kreieren zehn». Das ist eine dumme Methode, um den Terrorismus zu bekämpfen, und das erklärt, warum der Terrorismus immer weiter wächst. Der Terrorismus kann nur mit einer holistischen Strategie (die der Westen immer noch nicht hat) effizient bekämpft werden. Deshalb hat Mali Russland um Hilfe gebeten. Die Zentralafrikanische Republik hat das gleiche wie Mali getan. Dies löste den Zorn Frankreichs aus, dessen Aussenminister Le Drian begann, Lügen über die Russen zu erfinden. Er wurde von der Aussenministerin der Zentralafrikanischen Republik – zu Recht – als Lügner bezeichnet.28

Am 15. Juli 2022 besuchte Joe Biden Mohammed bin Salman (MbS) mit zwei Zielen: Saudi-Arabien daran zu hindern, sich Russland und China anzunähern, und ihn zu bitten, seine Ölproduktion zu erhöhen. Doch vier Tage zuvor hatte MbS einen offiziellen Antrag auf Mitgliedschaft in den BRICS-Staaten gestellt!29 Und eine Woche später, am 21. Juli, rief MbS Wladimir Putin an und bestätigte ihm, dass er sich an die OPEC+ -Entscheidungen halten werde.30 Mit anderen Worten: keine Erhöhung der Produktion. Das war eine Ohrfeige für den Westen und seinen mächtigsten Vertreter.

Warum haben diese Länder andere Schlüsse gezogen als die westlichen Staaten?

Das ist in der Tat logisch. Die Hysterie des Westens, die auf den Beginn der russischen Operation folgte, wurde vom Rest der Welt analysiert. All diese Länder haben festgestellt, dass es keine Sanktionen, Verurteilungen oder Zensur gibt, wenn der Westen arabische Länder angreift, die Zivilbevölkerung massakriert, die Wirtschaft zerstört und Folter betreibt. Heute werden im Westen diejenigen, die versuchen, ein wenig Vernunft und Ausgewogenheit einzubringen, gewalttätig angegriffen, meist von Journalisten, die für ihren Rassismus, ihren Hass auf Muslime und ihre Missachtung des Völkerrechts bekannt sind…

Die ehemalige französische Botschafterin in Russland, Sylvie Bermann, stellt fest, dass «82 Prozent der Weltbevölkerung sich weigern, Wladimir Putin zu verurteilen».31 Die «internationale Gemeinschaft», die Sanktionen gegen Russland verhängt, beschränkt sich also auf westliche Länder.

Das Problem ist, dass wir immer noch glauben, dass der Westen die internationale Gemeinschaft repräsentiert. Das ist nicht wahr. Am 4. Juni 2022 erklärt der indische Aussenminister Subrahmanyam Jaishankar auf dem GLOBSEC 2022 Bratislava Forum zu Recht: «Europa muss sich von seiner Position, dass seine Probleme die Probleme der Welt sind, wegbewegen!»32 Weisheit ist nicht mehr westlich…

Herr Baud, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ Hilmi Hacaloglu, Umut Colak & Ezel Sahinkaya, «Amid Russia-Ukraine War, Turkey Worries About Floating Mines in Black Sea », Voice of America News, 8 avril 2022 (www.voanews.com/a/amid-russia-ukraine-war-turkey-worries-about-floating-mines-in-black-sea/6521222.html)
² Yoruk Isik & Azra Ceylan, «Turkey defuses mine after Russia warns of strays from Ukraine ports», Reuters, 26 mars 2022 (www.reuters.com/world/middle-east/turkey-finds-mine-like-object-floating-off-black-sea-2022-03-26/)
³ Dave Lawler, «Ukraine suffering up to 1 000 casualties per day in Donbas, official says», Axios, 15 juin 2022 (www.axios.com/2022/06/15/ukraine-1000-casualties-day-donbas-arakhamia)
4 www.aljazeera.com/news/2022/2/17/infographic-russia-ukraine-and-the-global-wheat-supply-interactive

5www.rand.org/pubs/research_briefs/RB10014.html
6 www.castellum.ai/russia-sanctions-dashboard
7 en.kremlin.ru/events/president/news/68669
8 Stephanie Hegarty, «Satellites give clues about the coming global harvest», BBC News, 15 juillet 2022 (www.bbc.com/news/world-62149522)
9 «Blocus de la mer Noire, le compte à rebours pour les céréales d‘Ukraine a commencé», rts.ch, 27 mai 2022 (www.rts.ch/info/monde/13127524-blocus-de-la-mer-noire-le-compte-a-rebours-pour-les-cereales-dukraine-a-commence.html)
10 John Reidy, « Ukraine grain exports reach 47.2 million tonnes so far for 2021-22 », world-grain.com, 6 juin 2022 (https://www.world-grain.com/articles/16997-ukraine-grain-exports-reach-472-million-tonnes-so-far-for-2021-22)
11 Hannah Eliason, «Fears of Mass Food Insecurity in Ukraine», Borgen Magazine, 9 mars 2022 (www.borgenmagazine.com/food-insecurity-in-ukraine/)
12 Роман Романюк, «Від "капітуляції" Зеленського до капітуляції Путіна. Як ідуть переговори з Росією», pravda.ua, 5 mai 2022 (www.pravda.com.ua/articles/2022/05/5/7344096/); Abdul Rahman, «Ukrainian news outlet suggests UK and US governments are primary obstacles to peace», Peoples Dispatch, 9 mai 2022 (peoplesdispatch.org/2022/05/09/ukrainian-news-outlet-suggests-uk-and-us-governments-are-primary-obstacles-to-peace/)
13 www.rferl.org/a/russian-national-vinnik-greece-extradited-united-states-bitcoin/31975304.html
14 “Reports claim Ukraine negotiator shot for treason; officials say he died in intel op”, Times of Israel, 6 mars 2022 (https://www.timesofisrael.com/ukraine-reports-claim-negotiator-shot-for-treason-officials-say-he-died-in-intel-op/)

15 Роман Романюк, « Від "капітуляції" Зеленського до капітуляції Путіна. Як ідуть переговори з Росією », pravda.ua, 5 mai 2022 (https://www.pravda.com.ua/articles/2022/05/5/7344096/); Abdul Rahman, « Ukrainian news outlet suggests UK and US governments are primary obstacles to peace », Peoples Dispatch, 9 mai 2022 (https://peoplesdispatch.org/2022/05/09/ukrainian-news-outlet-suggests-uk-and-us-governments-are-primary-obstacles-to-peace/)
16 «Berlin has a candidate to negotiate with Moscow», News on News, August 12, 2022 (newonnews.com/berlin-has-a-candidate-to-negotiate-with-moscow/)
17 «Ex-Chancellor Schröder loses part of state privileges», dw.com, 19 mai 2022 (p.dw.com/p/4BUDC)
18 Sabine Kinkartz, «Germany's ex-Chancellor Gerhard Schröder under attack», dw.com, 8 août 2022 (p.dw.com/p/4BWyL)
19 «Predicted Russian – Ukrainian war in 2019 – Alexey Arestovich», YouTube, 18 mars 2022 (https://www.youtube.com/watch?v=1xNHmHpERH8)
20 https://www.youtube.com/watch?v=-MSWezIB06g
21 Stew Magnuson, «Ukraine to U.S. Defense Industry: We Need Long-Range, Precision Weapons», National Defense Magazine, 5 juin 2022 (www.nationaldefensemagazine.org/articles/2022/6/15/ukraine-to-us-defense-industry-we-need-long-range-precision-weapons)
22 www.ilfattoquotidiano.it/2022/06/07/energoatom-contro-il-direttore-dellaiea-grossi-mai-invitato-a-zaporizhzhya-vuole-legittimare-la-permanenza-degli-occupanti/6618145/
23 https://www.youtube.com/watch?v=KZDbFcYAbVE                             
24 Gilles Sengès, «La Russie instille le doute sur la destination des armes occidentales livrées à l’Ukraine», L’Opinion, 15 juillet 2022 (www.lopinion.fr/international/la-russie-instille-le-doute-sur-la-destination-des-armes-occidentales-livrees-a-lukraine)
25 Adam Yamaguchi & Alex Pena, «Why military aid in Ukraine may not always get to the front lines», CBS News, 7 août 2022 (www.cbsnews.com/news/ukraine-military-aid-weapons-front-lines/)
26 Sinéad Baker, “CBS partially retracts documentary that outraged Ukraine by claiming that US weapon shipments were going missing”, Business Insider, 8 août 2022 (https://www.businessinsider.com/cbs-partially-retracts-ukraine-docuemtnary-alleging-missing-us-weapons-2022-8)
27 Inder Singh Bisht, «Pentagon Postpones Armed MQ-1C Drone Sale to Ukraine», The Defense Post, 21 juin 2022 (www.thedefensepost.com/2022/06/21/pentagon-postpones-mq1c-drone-ukraine/)
28 «Centrafrique: la ministre des Affaires Etrangères accuse Le Drian de ‹propos mensongers›», TV5Monde, 21 octobre 2021 (afrique.tv5monde.com/information/centrafrique-la-ministre-des-affaires-etrangeres-accuse-le-drian-de-propos-mensongers)
29 Abraham Blondeau, «Saudi Arabia Abandons the United States», The Trumpet, 11 juillet 2022 (www.thetrumpet.com/25851-saudi-arabia-abandons-the-united-states)
30 «Telephone conversation with Crown Prince of Saudi Arabia Mohammed bin Salman Al Saud», kremlin.ru, 21 juillet 2022 (en.kremlin.ru/events/president/news/69042); Mark Trevelyan, «Putin discusses oil market with Saudi crown prince who hosted Biden last week», Reuters, 21 juillet 2022 (www.reuters.com/world/putin-saudi-crown-prince-underline-importance-opec-framework-kremlin-2022-07-21/)
31 twitter.com/Malbrunot/status/1521547132808871938; ne-np.facebook.com/Soninkara-TV-24-115045376537305/videos/guerre-russieukraine-82-de-la-population-mondiale-refuse-de-condamner-vladimir-p/1105355363729532/
32 https://www.youtube.com/watch?v=ZWi9t-JX_VU&t=3241s

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete u.a. für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

16.8.2022

Regierungswechsel in Kolumbien: «Wir beobachten das Ende der unipolaren, US-geführten Weltordnung und den Beginn einer multipolaren Welt»

«Die linken Regierungen streben traditionell eine grössere Souveränität gegenüber den USA an»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, Bogotá

Andrej Hunko, MdB DIE LINKE, in Bogotá (Bild zvg)
Andrej Hunko, MdB DIE LINKE, in Bogotá (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Was für einen Eindruck haben Sie von der Inauguration der neuen Regierung in Kolumbien gewonnen?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Was Sie als Inauguration bezeichnet haben, nennt man hier Posesión, und die war, das muss ich sagen, sehr beeindruckend. Auf den ersten Blick habe ich einen guten Eindruck von der ersten linken Regierung in Bogotá. Auch zum ersten Mal gibt es eine Frau, dazu noch eine Schwarze, als Vizepräsidentin. Das ist natürlich eine Provokation für die konservativen Eliten des Landes, während die Bevölkerung grosse Hoffnung in die neue Regierung setzt.

Was kann man von der Regierung erwarten?

Ich habe mir die Kabinettsbildung im Vorfeld genau angeschaut und empfinde sie als ziemlich klug, denn der Präsident Gustavo Petro und die Vizepräsidentin Francia Márquez haben eine gigantische Aufgabe vor sich und viele mächtige Gegner. Kolumbien hat eine unfassbar gewalttätige Geschichte und einen Bürgerkrieg mit 800 000 Toten seit den 50er Jahren. Der letzte populäre linke Politiker, der ein aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat war, ist 1948 erschossen worden. Das war Jorge Eliécer Gaitán. Später wurden auch liberale Kandidaten ermordet. Der jetzige Wahlsieg eines Ex-Guerilleros und die friedliche Machtübergabe sind als historisch zu bezeichnen. Das ist auch der Grund, warum ich hier vor Ort bin, um das mitzuerleben.

Kolumbien war ein gehorsamer Vasall der USA und hat z. B. in bezug auf Venezuela eine ganz schäbige Rolle gespielt. Haben die Menschen in Kolumbien das realisiert?

Das war keines der zentralen Themen in Kolumbien. Es gibt ungeheuer viele interne Themen, die die Menschen beschäftigen. Sicher ist, dass die neue Regierung sich mehr öffnet. Kolumbien ist in der Tat das einzige Land, das ein sogenannter globaler Partner der Nato ist. Es gibt hier vier US-Militärstützpunkte. Von Kolumbien aus wurde 2019 auf Druck der USA ein Umsturzversuch in Venezuela organisiert. Es gab damals die Aussage des scheidenden kolumbianischen Präsidenten Duque: «Maduro, deine Stunden sind gezählt.» Ich traf mich im Vorfeld der Posesión mit Unterstützern von Petro Gustavo, die nun sagten: «Duque, deine Stunden sind gezählt» und damit auf das Ende seiner Amtszeit anspielten, während in Venezuela Nicolás Maduro weiterhin Präsident ist. 

Wie wird der Regierungswechsel von aussen beurteilt?

Allen Linken in Lateinamerika wird unterstellt, eine ähnliche Situation herbeizuführen, wie wir sie in Venezuela oder vielleicht auch in Kuba haben. Dabei wird aber immer verschwiegen, dass das Ganze auch ein Ausdruck der Sanktionen ist. Ich will nichts beschönigen: Die Krise in Venezuela ist auch hausgemacht. Aber die von den USA angeführte Blockadepolitik war darauf ausgelegt, die Wirtschaft des Landes vollends zu ruinieren, um die Bevölkerung gegen die Regierung aufzubringen. Während Ersteres mit enormen sozialen Kosten gelungen ist, war Zweiteres ganz offensichtlich nicht erfolgreich. 

Präsident Gustavo Petro hat immer klargemacht, dass er keine Entwicklung wie in Venezuela möchte. Dennoch ist er interessiert, das Verhältnis zu Venezuela zu normalisieren. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Kolumbien und Venezuela sind abge  brochen worden und werden jetzt wieder hergestellt. Der neue Aussenminister Kolumbiens hat sich bereits mit seinem venezolanischen Amtskollegen getroffen. Dabei ging es um die Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen und auch um Grenzfragen, die zu klären sind. Es gibt eine enorm lange Grenze zwischen Kolumbien und Venezuela. Gleichzeitig möchte Petro aber einen engen politischen Schulterschluss mit Maduro oder Ortega in Nicaragua vermeiden.

Woran lässt sich das erkennen?

Die Präsidenten der beiden Länder waren bei der Amtseinführung nicht anwesend bzw. eingeladen, da er im Augenblick nicht zu viel Öl ins Feuer giessen möchte. Man muss wissen, dass die Einladungen immer von der alten Regierung verschickt werden und nicht vom neuen Präsidenten. Aber Petro hat sich öffentlich zur Nicht-Einladung Maduros geäussert, und diese in der aktuellen Situation als «vernünftig» bezeichnet.

Muss man bei so einem klaren Richtungswechsel nicht Befürchtungen haben vor Entwicklungen wie 1973 bei Allende, der schliess­lich weggeputscht wurde?

Das ist auch meine Befürchtung gewesen, als ich als Wahlbeobachter nach Kolumbien gekommen bin. Auf der einen Seite, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen könnte und die Wahl dadurch verunmöglicht wird oder zum andern, Petro einem Attentat zum Opfer fallen könnte – wir kennen die Parallelen in der Geschichte Lateinamerikas – was im Bereich des Möglichen lag. Was sich im Hintergrund noch alles abspielt, weiss man natürlich nicht. Welches Unruhepotential die engen Beziehungen zwischen den kolumbianischen und US-amerikanischen Militärs und Geheimdienstleuten hier noch entfalten könnten. Aber dieser Weg schien zuerst einmal verworfen. Der Direktor des nationalen Sicherheitsrates der USA für die westliche Hemisphäre, Juan González, sagte, vor 40 Jahren hätten die USA alles unternommen, um eine Regierung Petro zu verhindern, diese Zeiten seien aber vorbei. Die USA und EU scheinen erst einmal zu beobachten, wie sich die Situation in Kolumbien entwickelt und wollen offenbar nicht von Anfang an der neuen Regierung Steine in den Weg legen. 

Warum schätzen Sie das so ein?

Es ist die extreme Gewalt, die hier herrscht. Das Scheitern des Kriegs gegen die Drogen ist offensichtlich auch im US-Aussenministerium angekommen. Bis zu einem gewissen Grad besteht von US-amerikanischer Seite ein Interesse, dass das Land nicht weiter in Gewalt versinkt, Petro möchte den Friedensprozess ernsthaft umsetzen. Ich habe bisher nicht den Eindruck, dass aktiv von aussen der Prozess gestört wird, wie wir es damals in Chile oder auch noch 2019 in Bolivien hatten. Aber wie gesagt, wir wissen nicht, was sich im Hintergrund abspielt, und man muss aufmerksam bleiben. 

Kolumbien gehört zu den grössten Ländern Südamerikas …

Ja, es ist das zweitgrösste, wenn man die Bevölkerungszahl zugrunde legt …

Welche Rolle hat das Land im Verbund mit den übrigen südamerikanischen Ländern gehabt?

Bisher war Kolumbien das Rückgrat der rechten Regierungen. Lateinamerika ist in dieser Beziehung durchaus gespalten, auch in der Beteiligung an internationalen Organisationen. Die rechten Regierungen sind meistens identisch mit der US-amerikanischen Politik im Gegensatz zu linken oder links gerichteten Regierungen, die sehr stark die Souveränität ihrer Länder betonen. Kolumbien war immer das US-treueste und eines der konservativsten Länder Lateinamerikas. Das ist natürlich sehr spannend, wie sich das auf das lateinamerikanische Gefüge auswirkt. Wichtig dabei wird die Wahl in Brasilien sein, die dann im Oktober stattfindet. 

Woran denken Sie dabei?

Es ist in bezug auf die politischen Entwicklungen in Lateinamerika von einer zweiten progressiven Welle Lateinamerikas die Rede, anlehnend an die erste Ende der 90er Jahre. Mit den linken Wahlsiegen unter anderem in Venezuela (1998), Argentinien (2003), Brasilien (2003), Bolivien (2006), Ecuador (2007) oder Uruguay (2010) hatte ein Grossteil Lateinamerikas mehr oder weniger linke Regierungen. Dann kam ein rechter Roll-Back, noch vor wenigen Jahren waren fast alle diese Länder rechts regiert. Zuletzt haben in zunehmendem Masse linksorientierte Regierungen die Wahlen gewinnen können, zum Beispiel in Chile, in Peru, auch in Argentinien, Bolivien oder Honduras. Das ist sehr interessant. In den brasilianischen Präsidentschaftswahlen im Oktober wird dieser Zyklus erst einmal abgeschlossen sein.

Was hat das zur Folge?

Das bedeutet eine deutliche Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Interessanterweise war die amtierende brasilianische Regierung bei der Posesión nicht vertreten, während die ehemalige Präsidentin Dilma Rousseff anwesend war. 

Wer war denn sonst noch an Staatsvertretern dort?

Chiles Präsident Gabriel Boric, der argentinische Staatschef Alberto Fernández, der bolivianische Präsident Luis Arce sowie die Präsidentin von Honduras Xiomara Castro. 

Sie wurden unter grossem Jubel empfangen. Das Ganze war ein Staatsakt, bei dem die diplomatischen Vertreter anwesend waren. Aber dahinter war der ganze Platz rappelvoll mit Interessierten aus der Bevölkerung. Die Staatsoberhäupter und Regierungsvertreter wurden einzeln begrüsst und dann vom Publikum mit Jubel oder auch mit Pfiffen bedacht. Das war etwa beim spanischen König, der auch geladen war, der Fall oder beim Präsidenten von Ecuador, der rechts orientiert ist.

Gab es europäische Vertreter?

Im sogenannten High Level, auf Präsidentenebene, war nur der spanische König anwesend, als Vertreter der ehemaligen Kolonialmacht, und er wurde sehr unfreundlich von der Bevölkerung dort empfangen. Ansonsten war auf höchster Ebene niemand aus Europa anwesend, was ich ausserordentlich bedauerlich finde. Deutschland war nur mit dem Geschäftsträger der deutschen Botschaft vertreten. Es wäre natürlich ein ganz starkes Signal gewesen, wenn etwa der Bundespräsident dort anwesend gewesen wäre oder die Aussenministerin. Aber in Berlin werden offenbar andere Prioritäten gesetzt. 

Gibt es bei der neuen linken Regierung Bestrebungen, sich mehr mit China oder Russland zu assoziieren? 

Dazu muss man sagen, dass die Begriffe «Links» und «Rechts» traditionell anders geprägt sind, als wir das in Europa kennen. Die linken Regierungen streben traditionell eine grössere Souveränität gegenüber den USA an und bemühen sich entsprechend um Beziehungen zu anderen Teilen der Welt auf gleicher Augenhöhe. So war der Iran auch auf «Hoher Ebene» vertreten als einziges nicht lateinamerikanisches Land neben dem spanischen König. Bei seiner Rede hat Gustavo Petro wenig zu den USA gesagt, aber einiges vom Aufbau neuer Beziehungen zu Afrika oder Asien bzw. in anderen Teilen der Welt. Das ist klassisch im Verständnis lateinamerikanischer Aussenpolitik. Zum Krieg in der Ukraine hat er weder Russland noch die Ukraine namentlich erwähnt. Er hat nur gesagt, dass ein Einmarsch in ein anderes Land zu verurteilen ist. In seiner Eröffnungsansprache hat er auf alle Fälle aussenpolitisch kein grosses Fass geöffnet. 

Wie schätzen Sie die Ziele Petros ein?

Die Politik Petros ist so, dass er einerseits eine reale Veränderung anstrebt, auch in der internationalen Politik, aber immer bedacht ist, den Widerstand nicht zu gross werden zu lassen, der seinen Bestrebungen entgegensteht. Das bezieht sich auf die Situation im Land, aber auch auf die Aussenpolitik. Er hat einen Aussenminister, den ich für sehr klug halte, in sein Kabinett berufen, der eine sehr ausgewogene Aussenpolitik führen und einen Konflikt mit den USA vermeiden möchte. Aber das ist natürlich nicht garantiert. Auch Hugo Chávez oder Fidel Castro haben ihre Ämter nicht als Kritiker der USA übernommen, sondern die Politik hat sich mit der Zeit in diese Richtung entwickelt, vor allem weil die USA die Souveränität der Staaten nicht akzeptiert hat. 

Beobachten Sie in der letzten Zeit auch eine Verschiebung der Kräfte im globalen Verhältnis?

Auffällig ist, dass es der Nato+, also der Nato und ihren Verbündeten, nicht gelingt, andere Teile der Welt zu einer Beteiligung an den Sanktionen gegen Russland zu bewegen. Viele Staaten verurteilen zwar den Krieg, sind aber nicht bereit, sich in einen Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland hineinziehen zu lassen. Das ist sehr auffallend, handelt es sich doch um bedeutende Staaten wie Indien, Indonesien, die Türkei etc. 

Wie ist das einzuordnen?

Es markiert schon einen Umbruch in den internationalen Beziehungen. Diese Nato+-Staaten, das sind die 50 Länder, die seinerzeit Juan Guaidó als Präsidenten Venezuelas anerkannt haben und teilweise immer noch anerkennen. Kürzlich hat ein britisches Gericht geurteilt, dass das venezolanische Gold, das in Grossbritannien gelagert ist, Guaidó gehöre. Das ist unglaublich. Es sind ungefähr die 50 Staaten, die sich an dem Wirtschaftskrieg gegen Russland beteiligen. Es ist bemerkenswert, dass es vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs nicht gelungen ist, mehr Staaten dafür zu gewinnen. Aktuell versucht der US-Aussenminister Blinken, afrikanische Staaten in die Politik zur Isolation Russ­lands einzubeziehen, und ist offenbar wenig erfolgreich. Hier findet ein Umbruch in den internationalen Beziehungen statt. Das hat sicherlich auch mit dem Aufstieg Chinas zu tun, denn in gewisser Weise beobachten wir aktuell das Ende der unipolaren, US-geführten Weltordnung und den Beginn einer multipolaren Welt. Diese Entwicklung hat natürlich enormes Konfliktpotential.

Wie spielt hier der Konflikt um Taiwan hinein?

Die Zuspitzung der Taiwan-Frage durch die USA und durch Deutschland muss man ganz sicher vor diesem Hintergrund sehen. 

Wie ist die soziale Lage in Kolumbien?

Kolumbien gehört zu den Ländern mit der grössten sozialen Ungleichheit weltweit, insbesondere im ländlichen Raum. Das ist auch der Hintergrund des Konfliktes im Land. Sieben Millionen Menschen haben aktuell nur eine Mahlzeit am Tag. Also der Hunger ist bei der ländlichen Bevölkerung, aber auch in den Slums der grossen Städte ein ständiger Begleiter. Der Kampf gegen die Armut und die Ungleichheit ist eine zentrale Aufgabe. Dazu kommt noch ein weitgehend privatisiertes Bildungssystem und ein ungerechtes Steuersystem, das die hohen Einkommen begünstigt und den Armen unverhältnismässig hohe Steuern aufbürdet. Das sind die Gründe, die sicher dazu geführt haben, dass dieses konservative Land einen Linken, einen Ex-Guerillero, zum Präsidenten gewählt hat. Wie viel er von seinen Zielen umsetzen kann, wird die Zukunft weisen. Aber man sollte den Fokus darauf legen.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

16.8.2022

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