«Die Nutztiere in der Schweiz haben genügend Platz»

Die Initiative gegen Massentierhaltung schwächt massiv unsere Ernährnungssicherheit

Interview mit Jakob Hug, Matt*

Jakob Hug (Bild zvg)
Jakob Hug (Bild zvg)

Am 25. September hat das Schweizer Volk die Möglichkeit, über eine Initiative abzustimmen, die die Bestimmungen des Tierschutzes drastisch verschärfen möchte. Es soll allgemein Bio-Standard gelten. Damit wird unsere Landwirtschaft ein weiteres Mal massiv unter Druck gesetzt.

Es ist schon auffallend, dass in immer kürzeren Abständen das Volk über Initiativen abstimmen muss, die massiv in die landwirtschaftliche Produktion eingreifen und den schon bestehenden niedrigen Selbstversorgungsgrad immer weiter senken. Den Bäuerinnen und Bauern wird das Leben dadurch immer schwerer gemacht, und die Ernährungssicherheit, die in der Verfassung festgeschrieben ist, zunehmend geschwächt. Die letzten Jahre haben uns krass vor Augen geführt, wie abhängig wir von reibungslos funktionierenden Lieferketten sind. Doch zeigt sich immer deutlicher, dass dieses System neben der Umweltbelastung vollständig überlastet ist und kleinste Krisen wie eine Havarie im Suezkanal schwerwiegendste Auswirkungen haben und zu massiven Lieferengpässen führen können, ganz abgesehen von grösseren Krisen, wie wir sie seit zwei Jahren erleben. Anstatt unsere Landwirtschaft zu stärken und den Selbstversorgungsgrad zu erhöhen, wirft man der Landwirtschaft immer wieder Sand ins Getriebe. Entweder mit Initiativen oder durch eine verfehlte bundesrätliche Landwirtschaftspolitik. Im folgenden Interview äussert sich ein erfahrener Bio-Landwirt zu den Auswirkungen auf die Landwirtschaft und letztlich auf den Verbraucher, wenn die Initiative angenommen würde.

Zeitgeschehen im Fokus Die Initiative gegen Massentierhaltung verlangt, was Tierschutz und Tierwohl anbetrifft, Bio-Standard. Was bedeutet das für unsere Landwirtschaft?

Jakob Hug Bevor wir darüber reden, müssen wir klären, was Massentierhaltung ist. Grundsätzlich kann man in der Schweiz nicht von Massentierhaltung sprechen, da die Anzahl der Tiere nie solche Ausmasse erreicht wie zum Beispiel in der EU, in den USA oder in China. Zweitens ist nicht nur die Menge der Tiere ausschlaggebend, sondern vor allem der Platz, der dem einzelnen Tier zur Verfügung steht. Und da können wir sagen, dass die Nutztiere in der Schweiz genügend Platz haben.

Wer bestimmt denn, wieviel Platz ein Tier braucht?

Der Artikel 80 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV) regelt den Tierschutz. Im Tierschutzgesetz sind diese Vorgaben festgeschrieben.Etwas kann ich sagen: In der Schweiz werden diese Vorgaben sehr genau kontrolliert. Das heisst, es ist genau festgelegt, wieviel Platz ein einzelnes Tier haben muss. Wird dies nicht eingehalten, hat das unangenehme Folgen für den Tierhalter.

Woher weiss man denn, wieviel Platz ein Tier haben muss?

Diese Erkenntnis hat man aufgrund von Forschungen, Messungen und der Auswertung gewonnener Daten gewonnen. Man hat also sehr genau geforscht, um bei den einzelnen Tieren den von ihnen beanspruchten Platz herauszufinden und zur Verfügung zu stellen. Auch kann man genau erkennen, ab wann es einem Tier unwohl wird, und dann passt man die Ausmasse entsprechend an.

Sie sagen also, dass mit den heutigen Regelungen dem Tierschutz und dem Tierwohl genügend Beachtung geschenkt wird.

Ja, das machen die Landwirte schon aus Eigeninteresse. Eine Kuh bringt nur eine gute Leistung, wenn sie gesund ist und sich wohl fühlt. Damit das der Fall ist, braucht sie ausreichend Platz, gutes und genügendes Futter, gute Durchlüftung des Stalls und gutes Wasser. Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind, fühlt sich das Tier nicht wohl und dementsprechend sinkt die Leistung. Der Vorwurf der Initianten, man würde für mehr Effizienz das Tierwohl systematisch verletzen, ist unsinnig. Die Tierhalter würden sich ins eigne Fleisch schneiden und dadurch selbst ruinieren. Nur gesunde Tiere bilden eine gute Basis für eine erfolgreiche Landwirtschaft.

Was heisst das jetzt für unsere Landwirtschaft, wenn die Initiative angenommen wird?

Als aller erstes wird es einen Verlust an Einkommen in der Landwirtschaft bedeuten. Der einzelne Betrieb muss die Anzahl Tiere reduzieren. Stellen Sie sich vor, ein Pouletbetrieb mit 10 000 Tieren darf nach den Vorgaben der Initianten nur noch 2 000 Tiere haben. Das heisst, das Fleisch von 8 000 Tieren steht dem Endverbraucher nicht mehr zur Verfügung. 

Wie soll das ausgeglichen werden?

Es müssen neue Höfe gebaut werden, um die fehlende Menge zu ersetzten, damit der Umfang des produzierten Fleisches gleich bleibt. Das wird aber kaum möglich sein, weil Investition und Ertrag in einem Missverhältnis stehen. Es ist also zu erwarten, dass mehrere Betriebe ihre Produktion einstellen, weil es sich schlicht nicht mehr lohnt. Damit müssen wir noch mehr Fleisch aus Ländern importieren, deren Qualitäts- und Tierschutzbedingungen oft weit unter unserem Standard liegen. Dazu kommt noch Folgendes: Unser Land macht sich in einem ganz sensiblen Bereich, nämlich der Versorgung mit gesunden Lebensmitteln, vom Ausland abhängig. Gerade die Erfahrungen der letzten Jahre und Monate haben doch deutlich gezeigt, wie schnell die Versorgungskette unterbrochen werden kann. In dieser Situation eine Initiative zu lancieren, die die Abhängigkeit vom Ausland fördert, ist unverantwortlich.

Was wird der Verbraucher in der Schweiz davon spüren?

Das Schweizer Fleisch, das bereits heute eine hohe Qualität besitzt, wird viel teurer. Wer dennoch günstiges Fleisch kaufen will, wird auf ausländische Produkte zurückgreifen müssen. Es könnte aber auch dazu führen, dass der Anteil an Schweizer Fleisch massiv sinkt, weil sich aufgrund der vielen Auflagen eine Produktion nicht mehr rentiert. Das schränkt die Versorgungssicherheit weiter ein. Wir sind heute schon in der Situation, dass die Schweiz fast 50 % der Nahrungsmittel importieren muss. Wenn sich die in letzter Zeit immer wieder prognostizierte Energieknappheit bewahrheitet, dann wird das auch die Transportbranche betreffen. Damit könnten Lücken in der Versorgung entstehen oder die erhöhten Transportpreise unser Portemonnaie empfindlich treffen.

Hat der Verbraucher darauf einen Einfluss?

Bereits heute hat der Käufer oder die Käuferin die Möglichkeit, Bio-Produkte zu kaufen, die aber in der Regel teurer sind. Damit kann er entscheiden, ob er dafür ist, den Bio-Standard auszubauen. Diejenigen, die das nicht möchten, können gute Schweizer Qualität zu günstigeren Konditionen erwerben. Diese Möglichkeit hätten die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes nach Annahme der Initiative nicht mehr. Hier bliebe nur noch der Ausweg, günstigeres Fleisch aus dem Ausland zu konsumieren. Letztlich führt die Initiative – und das muss man ganz klar sagen – zu einer weiteren Zerstörung unserer Landwirtschaft. Das müssen wir unter allen Umständen verhindern.

Herr Hug, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

*Jakob Hug ist Bio-Landwirt auf einem Familienbetrieb in Matt/Thurgau. Er ist im im Vorstand der Mitte-Partei des Kantons Thurgau und war bis 2019 Präsident des Bergbauernverbands

 

9.9.2022

Mediale Berichterstattung als Teil der Kriegsführung

Die Münchener Charta verpflichtet den Journalismus zur Wahrheit

von Thomas Kaiser

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine wird nicht nur auf dem Schlachtfeld mit schweren Waffen wie Artillerie und Panzern geführt, sondern es läuft auch ein massiver Informations- und Propagandakrieg. Um so schwieriger ist es für den einzelnen, sich ein objektives Bild von der Situation zu machen, um zu einer sachlichen Beurteilung zu kommen. Die Unausgewogenheit der Berichterstattung erschwert es enorm, sich eine eigene Meinung zu bilden. Im Westen scheint allgemeiner Konsens zu herrschen, dass Russland mit Putin das Böse schlechthin verkörpert, das mit allen medialen und kriegerischen Mitteln bekämpft werden muss. Etwas anderes ist kaum zu hören oder zu lesen. In Ländern ausserhalb der westlichen Hemisphäre betrachtet man jedoch die Dinge ganz anders. Ist das tatsächlich die Aufgabe der westlichen Medien, die Menschen alle in die gleiche Richtung denken zu lassen? 

Nach der Münchener Charta von 1971, die Jacques Baud im nachfolgenden Interview als wichtige Grundlage journalistischen Schaffens erwähnt, unterliegt der Journalismus und damit die oder der einzelne journalistisch Tätige einem klar formulierten Berufscodex. Es stellt sich die Frage, welche Journalistinnen und Journalisten diesen Codex überhaupt kennen und, wenn sie ihn kennen, ob sie ihn befolgen.

Das Recht auf Wahrheit

Die Charta wurde in München vom europäischen Journalistenverband verabschiedet und hält darin Pflichten und Rechte journalistisch tätiger Personen fest.¹

Im folgenden sind einige Pflichten im Wortlaut zitiert: 

Respektieren Sie die Wahrheit, unabhängig von den Konsequenzen für sich selbst, weil die Öffentlichkeit das Recht hat, die Wahrheit zu erfahren.

Verteidigen Sie die Informations-, Kommentar- und Kritikfreiheit.

Veröffentlich Sie nur Informationen, deren Herkunft bekannt ist. (...) Löschen Sie keine wesentlichen Informationen und ändern Sie keine Texte und Dokumente.

Korrigieren Sie alle veröffentlichten Informationen, die sich als ungenau herausstellen.

Unterlassen Sie Plagiate, Verleumdungen, Diffamierungen, unbegründete Anschuldigungen und erhalten Sie keinen Nutzen aus der Veröffentlichung oder Lösung von Informationen.

Verwechseln Sie niemals den Beruf eines Journalisten mit dem eines Werbetreibenden oder Propagandisten. Akzeptieren Sie keine direkten oder indirekten Anweisungen von Werbetreibenden.

Die wenigen hier im Wortlaut wiedergegeben Paragraphen zeigen, welch hohen Ansprüchen der Journalismus Genüge tun sollte, und man reibt sich die Augen, wenn man Anspruch und Realität miteinander vergleicht. Wer die Berichterstattung über den Ukrainekrieg in den letzten Monaten genau verfolgt hat und sich Informationen aus allen Richtungen beschaffen konnte, wird unzählige Verstösse gegen diese Charta feststellen. Man hat den Eindruck, dass bei vielen Berichten und Reportagen «das Respektieren der Wahrheit», wozu in der ersten Pflicht aufgefordert wird, keine grosse Beachtung mehr erfährt. Es geht kaum um objektive Berichterstattung und das Darlegen von Fakten, sondern vor allem um eine Emotionalisierung. 

Hohe Öleinnahmen statt wirtschaftlichen Zusammenbruchs

Nach den Informationen der westlichen Medien zu Beginn der russischen Offensive hätten die Russen schon lange den Krieg gegen die Ukraine verloren. Es hätten so viele russische Soldaten gestorben sein müssen, weil sie eine unfähige Militärführung hätten, auf veraltete Taktik setzten, den Gegner völlig unterschätzt hätten und durch die Sanktionen so ruiniert würden, dass die Ukraine schon längt als Sieger hätte feststehen müssen. – Noch läuft der Krieg, und Russland macht kontinuierlich Geländegewinne. In den Schweizer Nachrichten ist jetzt sogar zu hören, dass Russland noch nie so hohe Öleinnahmen hatte wie dieses Jahr. 

Die zweite Pflicht, das Verteidigen der «Informations-, Kommentar- und Kritikfreiheit» wird sogar von staatlicher Seite unterlaufen, indem in Deutschland mit dem Verbot von Russia Today (RT) die Informationsfreiheit nicht mehr geben ist. Den mündigen Bürgerinnen und Bürgern Informationsquellen vorzuenthalten, die erklärtermassen eine andere Sicht der Dinge darlegen wollen, ist ein Rückfall in das Zeitalter vor der Aufklärung, als Zensur die Regel war. Die einseitige Berichterstattung hat verheerende Auswirkungen auf den demokratischen Diskurs, der gerade jetzt geführt werden müsste. Jacques Baud zeigt im Interview unter anderem auf, wohin die gezielte Desinformation führt. 

Verhandeln statt kämpfen ist unstatthaft

Im Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, der für sein Friedensengagement schon manche in Pflicht 8 zu unterlassene «Verleumdung und Diffamierung» über sich hat ergehen lassen müssen, berichtet über die erschreckenden Entwicklungen gegen die Meinungsäusserungsfreiheit in Deutschland. Aktuelles Beispiel ist die Kampagne gegen den sächsischen Ministerpräsidenten, Michael Kretschmer, der den Einmarsch Russlands klar verurteilt, aber schon länger ein Ende der Kampfhandlungen fordert und auf Verhandlungen statt auf Kriegsverlängerung und weiteres Sterben setzt. Ihm stellt sich eine mediale Walze entgegen, die eine öffentliche Auseinandersetzung, die dringend geboten wäre, nicht zulässt. Doch Michael Kretschmer bleibt bis jetzt seiner Linie treu. Er weiss, dass die Menschen im Osten Deutschlands das mehrheitlich auch so sehen.

Weitere Beispiele zeigen in erschreckendem Masse auf, wie Journalisten ihre Verpflichtungen zu gutem Journalismus offensichtlich verletzten. Insbesondere die Verpflichtung 9, sich von Propaganda fernzuhalten, wird nur noch in wenigen journalistischen Erzeugnissen wahrgenommen.

Professor Wolf Linder gibt am Ende der Ausgabe einen Ausblick, wie ein neutraler Staat sich in solch einer Krise verhalten müsste, damit seine Neutralität segensreich auf einen dringend benötigten Friedensprozess einwirken könnte. 

Zum Abschluss eine Weisheit aus Goethes Feder, der im Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution gelebt und schon damals wohl ähnliche Beobachtungen bezüglich Medien gemacht hat: 

O Freiheit süss der Presse!

Kommt, lasst uns alles drucken,

Und walten für und für;

Nur sollte keiner mucken

Der nicht so denkt wie wir. 

Quelle: https://gutezitate.com/zitat/176567

¹ https://de.frwiki.wiki/wiki/Charte_de_Munich#google_vignette

9.9.2022

«Nur ein kleiner Teil der Welt beteiligt sich am Wirtschaftskrieg gegen Russland»

«Wer aus dem engen Korridor ausbricht und Bedenken gegenüber den Sanktionen äussert, wird direkt diffamiert»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Verschiedene moderate SPD-Politiker verlangen ein Ende des Krieges und einen ernsthaften Beginn von Verhandlungen. Wie war die Reaktion auf dieses Anliegen?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Die Reaktion war so ähnlich wie gegenüber anderen Initiativen und Aufrufen für ein Kriegsende und Friedensverhandlungen, die es in den letzten Monaten immer wieder gab. Die Personen wurden sehr schnell niedergemacht mit Diffamierungen oder auch Distanzierung selbst von der eigenen Partei oder anderen grossen Parteien. Es gab einen Hype in den Medien, es folgten Artikel mit den Distanzierungen, aber in den letzten Tagen ist es wieder still geworden. Die niedermachenden Schlagzeilen und Kommentare wie zum Beispiel in der Bildzeitung: «Irrer Vorschlag im Ukraine-Krieg – SPD-Linke will China als Vermittler» sollten eine negative Stimmung gegenüber dem berechtigten Anliegen erzeugen.

Ist es nicht auch so, dass man auf den Inhalt eines Vorschlags gar nicht recht eingeht, sondern sofort eine Anti-Stimmung erzeugt?

Ja, es wird sofort auf die Menschen gezielt. Man distanziert sich nicht nur vom Inhalt, sondern es wird die persönliche Integrität der Person angegriffen. Das ist sehr charakteristisch. Die Abläufe sind immer ähnlich: Es gibt einen Aufruf, das wird kurz in den Medien berichtet. Daraufhin folgen die Distanzierungen und als Folge davon die persönlichen Angriffe mit Begriffen wie «Putins Sprechpuppe» oder «Sprachrohr des Kremls». Es wird mit keiner Silbe auf den Inhalt eingegangen.

Ist das typisch? Lässt sich das in der letzten Zeit immer mehr beobachten?

Ja. Ein aktuelles Beispiel zeigt das sehr deutlich und ist ausserordentlich beunruhigend. Vor einigen Tagen sass der sächsische Ministerpräsident, Michael Kretschmer, in der Talk-Sendung «Markus Lanz». Das war eine charakteristische Konstellation. Michael Kretschmer gehört zu den wenigen, die sagen, wir müssen Wege finden, um zu Verhandlungen zu kommen. Er wurde vom Moderator, aber auch von anderen Journalisten, die eingeladen waren, unglaublich niedergemacht. Eine ZDF-Journalistin äusserte sogar allen Ernstes, dass sie dafür sei, dass der Krieg weitergehe.¹ Es wurde nicht stehengelassen, dass es einen anderen Weg geben könnte als den, den die Bundesregierung beschreitet.

Verhandlungen scheinen keine Option zu sein…

Es wird das Bild vermittelt, dass nicht verhandelt werden kann. Denn die einzige Person, die nicht verhandeln wolle, sei ja Putin. Und verhandeln wird auch immer damit gleichgesetzt, dass die Ukraine Teile ihres Territoriums preisgeben müsse. Über mehrere Minuten wird Kretschmer von allen Seiten attackiert und in die Enge getrieben. Man hat zwar den Eindruck, dass er sich wohl bewusst war, was auf ihn zukommen wird, aber dennoch ist der Vorgang ungeheuerlich. Kretschmer ist ein Bürgerlicher und gehört der CDU an. Er ist kein Linker.

Warum vertritt er diese doch eher seltene Position?

In Ostdeutschland ist die Stimmung etwas anders als im Westen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist gegen die Sanktionen und gegen die Waffenlieferungen. In Westdeutschland ist man für beides. Es besteht tatsächlich eine Ost-West-Spaltung in Deutschland. Am Wochenende 27./28. August gab es in Dessau einen ziemlich relevanten Protest von den Handwerkern dort. Es waren 2 000 Menschen an der Demonstration. Das ist für Dessau eine stattliche Anzahl. Hier wird ziemlich mobilisiert, denn die Menschen sind direkt betroffen. Sie sehen, dass die Sanktionen vor allem ihnen schaden und auf keinen Fall der Ukraine helfen.

Wenn die Sanktionen dafür ergriffen wurden, um Russland zum Einlenken zu bringen und den Krieg zu beenden, dann muss man tatsächlich feststellen, dass die Sanktionen eigentlich nichts gebracht haben und wohl auch nichts bringen werden, oder sehen Sie das anders?

Nein, das ist ganz offensichtlich der Fall. Man sieht das ganz deutlich an der Gas-Frage. Ich bin aber nicht sicher, ob man von politischer Seite tatsächlich daran geglaubt hat, den Krieg dadurch zu verkürzen. Man hat vor allem gesagt, man wolle Russland ruinieren bzw. mehr ruinieren als sich selbst. Olaf Scholz hat sich dahingehend geäussert, dass Russland mehr leiden solle als Deutschland selbst. Damit sagt er natürlich, wir leiden auch. Wahrscheinlich unterschätzte man auch, wie stark die Auswirkungen auf Deutschland bzw. auf die EU sein werden. Hinzu kommt die reaktive Drosselung des Gases durch Gazprom. Damit hat sich die EU selbst ins Knie geschossen.

Wie sieht man das mit der Energiefrage denn in Deutschland?

Es gib eine intensive  Diskussion über die Energiearmut im Winter und die sozialen Folgen, die durchaus offen diskutiert werden. Aber es wird komplett tabuisiert, dass Verhandlungen mit Russland, wie man weiter mit den Energielieferungen umgehen will, ein Lösungsbaustein sein könnten. Jeder, der in diese Richtung sich vorwagt wie die SPD-Linken oder auch der sächsische Ministerpräsident Kretschmer, wird sofort von einer riesigen Horde von Journalisten und Twitter-Aktivisten diffamiert. Es wird nicht das Argument widerlegt, sondern es wird diffamiert. 

Damit kann man gewisse Aspekte in der Diskussion abwürgen.

Ja, ein Argument taucht in der öffentlichen Diskussion überhaupt nicht auf, nämlich dass sich nur ein kleiner Teil der Welt am Wirtschaftskrieg gegen Russland beteiligt, im Kern sind das die Nato-Staaten und ihre Verbündeten. Wenn man etwa die Position der südafrikanischen Aussenministerin hört, ist das unglaublich beeindruckend. Sie lässt sich überhaupt nicht von dieser moralisch total aufgeladenen Kultur, wie sie z. B. in Deutschland zu finden ist, einschüchtern. Sie sagt, dass ihr Land es ablehne, dass ein Land ein anderes überfalle, aber die Geschichte des Ukrainekonflikts sei auch etwas komplexer. Sie werde sich nicht auf ein «Wording» einlassen, das eine spätere Verhandlungslösung erschwere, und rückt von dieser Position nicht ab. Man beteiligt sich nicht an den Sanktionen. Diese Haltung haben grosse Teile der Welt trotz massivstem Druck der USA und der EU-Staaten an den Tag gelegt. Südafrika ist da ein Beispiel. Man könnte genauso Indien, Pakistan oder Indonesien erwähnen, sowie einige lateinamerikanische Länder. 

Das ist schon auffallend, dass die westlichen Staaten aufgrund dieses Drucks eingeknickt sind…

Da stellt sich mir schon die Frage, wie genau dieser Druck eigentlich funktioniert. Es läuft natürlich auch viel über die Vergiftung der Diskussionskultur. Wer aus dem engen Korridor ausbricht und Bedenken gegenüber den Sanktionen äussert, wird direkt diffamiert. Vielleicht sind Verhandlungen im Moment schwierig, aber es müsste eine Zielsetzung sein, zu Verhandlungen zu kommen, und man müsste einen Weg dorthin suchen. Das wird sofort verteufelt. Auch von meiner Partei wird gelegentlich behauptet, selbst DIE LINKE sei für Sanktionen, was jedoch überhaupt nicht stimmt. Wir habe da klare Beschlüsse gegen Sanktionen. Das wird von den Medien einfach behauptet. Das ist schon unglaublich. Die grossen Medienhäuser und die transatlantischen Netzwerke spielen dabei sicher eine entscheidende Rolle. 

Was man in letzter Zeit auch verstärkt beobachten kann, ist, dass unterschiedliche Meinungen gar nicht mehr zugelassen werden. Es gibt nur noch eine Meinung, und der haben alle zu gehorchen. Wer das nicht tut, wird quasi entmenschlicht.

Das Ganze wurde massenpsychologisch bereits in der Corona-Krise und dem dortigen Diskurs vorbereitet. Damals war es auch so, dass Kritiker von Impfpflicht oder bestimmten Massnahmen, aber auch die, die auf Evidenz, auf Wissenschaftlichkeit bestanden haben, mit dem völlig dehnbaren Begriff des «Querdenkers» delegitimiert wurden und nach wie vor werden. Diese Menschen wurden praktisch als potentielle Mörder dargestellt, die angeblich so viele Tote in Kauf nehmen würden. Ich denke da zum Beispiel an die Twitter-Kampagne gegen den Virologen Henrik Streek, der sich heute völlig zurückgezogen hat. Unter dem Kaugummibegriff des «Querdenkers» lässt sich alles subsumieren, weil er nicht klar definiert ist. Der Terrorismusbegriff von Erdogan, der von der EU kritisiert wird, ist vergleichsweise präziser als der Querdenkerbegriff.

Wird nicht immer wieder versucht, mit Schlagwörtern unliebsame Menschen ins gesellschaftliche Abseits zu drängen?

Ja, ein Begriff, der neu auftaucht, ist, «rechtsoffen» zu sein. Das ist ein neuer Kampfbegriff aus der pseudolinken Szene. Mir wird niemand vorwerfen können, ich stünde politisch rechts. Das ist zu abwegig, aber «rechtsoffen» wird genauso diffamierend verwendet. Das heisst, dass ich mit jemandem rede, der vor fünf Jahren vielleicht einmal neben einem sass, einem, der politisch rechts stand. Das sind neue Kampf-Begriffe, die wirken. Dazu gehört auch der Begriff des «Verschwörungstheoretikers». Das ist ein Denunziationsbegriff, der völlig dehnbar ist und überhaupt nicht präzisiert wird. Aber es reicht, das zu sagen, dann ist man unten durch. Es blockiert das Nachdenken darüber, dass bestimmte Gruppen im Hintergrund wirken, die eindeutige Interessen vertreten.

Wenn solch eine Diffamierung im Raum steht, ist keine Diskussion mehr möglich. Niemand macht sich mehr Gedanken darüber, was ein anderer gesagt hat. Warum ist das heute so, dass man den wissenschaftlichen Diskurs, der gerade in einer Demokratie ausserordentlich wichtig ist, nicht mehr führen kann?

Das hat sicher mehrere Gründe. Natürlich geht es hier um handfeste Interessen. Die spielen auch in der Kriegsfrage eine wichtige Rolle. Bei Corona ist es der Pharma-digitale Komplex. Es war auffallend, dass die Big-Tech-Firmen wie Youtube, Google etc. das Coronanarrativ massiv gepuscht haben. Beiträge, die nicht ihrer Auffassung entsprachen, wurden markiert und zum Teil auch gelöscht. Auch auf anderen Kanälen wurden Beiträge, Berichte oder Videos einfach gelöscht. Das ist ein Vorgang, der überhaupt nicht angemessen reflektiert wird. Was bedeutet das, wenn ein paar private Big-Tech-Konzerne die Macht haben, den Diskurs in der westlichen Welt zu steuern? Auffällig ist hierbei, dass von Seiten dieser grossen Konzerne, den Big-Techs, massiv an einem Strang gezogen wurde. Offensichtlich spielen hierbei grosse Interessen eine Rolle. Da wird noch viel aufzuarbeiten sein, um das hundertprozentig zu verstehen.

Was vermuten Sie?

Vielleicht befinden wir uns in einem Übergang zu einem autoritären Überwachungskapitalismus.

Wie meinen Sie das?

Politisch bin ich vor allem durch den Neoliberalismus geprägt, der in den 90er und Beginn der 2000er Jahre dem Dogma der Privatisierung unterlag. Es wurde argumentiert, das tue allen gut und allen gehe es am Ende besser. Irgendetwas verschiebt sich hier aber gerade. Die Hegemonie des Neoliberalismus ist nicht mehr unangefochten. Es werden Instrumente eines neuen Überwachungssystems implementiert. Mit dem QR-Code zum Beispiel ist man schon sehr weit fortgeschritten. In ein, zwei Jahren hat man ein unglaubliches System aufgebaut. Ganz grosse Interessen spielen hier eine Rolle, die man wahrscheinlich noch gar nicht vollständig durchschauen kann.

Wenn es in diese Richtung gehen soll, dann ist keine freie Auseinandersetzung zum Beispiel im Suchen nach der besten Lösung möglich…

Ja, es ist doch auffallend, dass im Zusammenhang mit Corona von Anfang an nur ein Weg eingeschlagen wurde, und zwar noch lange bevor Impfstoffe entwickelt waren. Also noch während des Lock-Downs, ein Impfstoff lag noch in weiter Ferne – die «Wissenschaft» sprach von 5 bis 10 Jahren Entwicklungszeit – wurde immer wieder betont, der Ausweg aus der Bedrohung sei nur die Impfung. Die grösste Barriere für das Virus aber bleibt unser Immunsystem. Das reicht manchmal nicht aus, dann muss man mit Medikamenten oder Impfstoffen nachhelfen, das ist ja äusserst sinnvoll. Dazu gehören aber auch eine gute Ernährung und genügend Bewegung, denn das Immunsystem ist das Wichtigste, was wir haben. Aber das wurde komplett ausgeblendet. Auch wenn die anfänglichen Covid-Virusvarianten gefährlicher waren, als etwa eine saisonale Grippe, ist doch ein überwiegender Teil der Menschen damit fertiggeworden und das dank des Immunsystems. Es wäre doch angesagt gewesen, sich damit zu befassen, wie man die natürliche Immunität der Menschen stärken kann.

Das hat man aber kaum getan, im Gegenteil, indem man in manchen Ländern die Bewegungsfreiheit der Menschen eingeschränkt und zum Beispiel die Fitness-Center geschlossen hatte.

Ja, das ist doch alles ganz sonderbar, und deshalb stellt sich einem schon die Frage, was steckt dahinter? Was sind da für Interessen im Spiel? Man hat den neuen Impfstoff propagiert und verkauft. Dabei ist ganz sicher von Bedeutung, wer die neue Technologie, also den mRNA-Impfstoff, kontrolliert. Manche vergleichen das schon in der Dimension mit der Kontrolle der Atomspaltung. In Deutschland geht es sehr stark darum, endlich einmal führend in einer neuen Technologie zu sein. Man war an der Entwicklung des mRNA-Impfstoffs beteiligt und steht damit an der Weltspitze. Man arbeitet seit vielen Jahren daran, aber Corona hat erst die Möglichkeit zum Durchbruch eröffnet.

Aber das ganze Impfszenario scheint ja ein «Rohrkrepierer» zu sein, denn trotz Impfung erkranken die Menschen reihenweise, einmal ganz abgesehen von den Nebenwirkungen.

Es stellt sich tatsächlich immer mehr heraus, dass der Impfstoff in keiner Weise hält, was man uns versprochen hat. Man sprach am Anfang von einer sterilen Immunität, sogar von 90%igem Schutz war anfänglich die Rede. Danach änderte man es auf «Schutz vor schweren Verläufen». Montgomery, der Chef des Weltärzteverbands, sprach von der «Tyrannei der Ungeimpften», weil man propagierte, durch die Impfung werde die Infektionskette unterbrochen. Was da an Stimmungsmache geschah, das darf man nicht vergessen! Heute spricht niemand mehr davon, dass die Impfung die Infektionskette durchbreche. Die natürliche Entwicklung eines Virus ist, dass es sich schneller verbreitet, aber die Verläufe weniger heftig sind. Und dass das pandemische Stadium überwunden wird, ist zum guten Teil dieser Entwicklung geschuldet und nicht einem mRNA-Impfstoff. 

In vielen Ländern lief es nach diesem Schema ab, und das ist schon sehr auffallend. Ein sachlicher, auf Fakten basierter Diskurs kam nicht wirklich zustande. Man liess zwar immer wieder Experten zu Wort kommen, aber nur solche, die in die gleiche Richtung zogen. Namhafte Wissenschaftler kamen nicht mehr öffentlich zu Wort.

Was in dem Zusammenhang auch interessant und in Deutschland bekannt geworden ist, ist, dass es das Projekt «Gegneranalyse» gibt, vom Zentrum «Liberale Moderne». Es handelt sich hierbei um eine Stiftung, die vom rechten Flügel der Grünen gegründet worden ist. Diese Stiftung hat 5 Millionen Euro aus verschiedenen Ministerien bekommen, insbesondere aus dem Familienministerium.

Das sind doch Steuergelder?

Ja, klar, das sind Steuergelder. Und diese Stiftung hat ein Projekt, das nennt sich «Gegneranalyse». Man beschäftigt sich damit, was die Demokratie bedrohe. In dem Zusammenhang haben sie ein Internetportal ins Visier genommen, und zwar die «Nachdenkseiten», die in der Corona-Frage eine kritische Position eingenommen haben. Es wird also eine den Grünen nahe Stiftung mit Millionen von Steuergeldern zur Diffamierung eines kleinen, unabhängigen und politisch links ausgerichteten Informationsportals finanziert. Diffamiert wird es mit dem Begriff des Verschwörungsmediums. Es ist ein ungeheurer Vorgang.

Dazu passt doch, dass die EU ein Gesetz gegen «Fake-News» erlassen will, um die alternativen Nachrichtenportale, die oft aus einer anderen Perspektive berichten, auszuschalten…

Ja, dazu gehört auch der sogenannte «Faktenchecker». In den grossen Medien sind diese in den letzten Jahren entwickelt worden, die selbst den Fakten nicht standhalten.

Ja, es ist tatsächlich auf der EU-Ebene einiges im Gange. Man muss schon sehen, dass diese Diffamierungen, wie sie die «Nachdenkseiten» erfahren haben, am Schluss noch mit öffentlichen Geldern finanziert werden. Meinungsfreiheit war nie eine deutsche Erfindung und kommt eher aus Frankreich oder der Schweiz. Aber der allgemeine Zustand, was die öffentliche Diskussion und den demokratischen Diskurs anbetrifft, ist gegenwärtig sehr schlecht, auch für deutsche Verhältnisse.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ https://www.zdf.de/nachrichten/video/politik-lanz-kretschmer-ukraine-krieg-100.html

9.9.2022

Ukrainekonflikt: Systematisches Hintertreiben einer Verhandlungslösung durch den Westen

«Es geht um die Niederlage Russlands und nicht um den Sieg der Ukraine»

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild zvg)
Jacques Baud (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Bundesrat Cassis hat an der Videokonferenz mit der Ukraine verlangt, dass Russland die Krim zurückgibt und die Grenzen der Ukraine von vor 2014 wieder hergestellt werden. Wie berechtigt ist diese Forderung?

Jacques Baud Die Frage ist weniger, ob sie gerechtfertigt ist, als ob sie realistisch ist. Die Russen haben bereits mehrfach erklärt, dass die Krim russisch bleiben wird.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Zunächst einmal war die Abtretung der Krim an die Ukraine durch Chruschtschow im Jahr 1954 nicht von den damaligen Parlamenten Russlands, der Ukraine und der Sowjetunion ratifiziert worden. Das wichtigste Ereignis war jedoch das Referendum vom 20. Januar 1991. Damals stimmten die Krimbewohner mit 93,6 Prozent der «Wiederherstellung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR) Krim als Subjekt der Sowjetunion und Mitglied des Unionsvertrags» zu. Man befand sich damals noch in der UdSSR, und die Ukraine war noch nicht unabhängig. Im Dezember 1991 wurde die Ukraine unabhängig, und 1992 verabschiedete die ASSR ihre neue Verfassung. Während der folgenden Jahre kam es zu einem Machtkampf zwischen der Ukraine und der Krim. 1995 führte Kiew einen Putsch gegen die Krim durch, hob ihre Verfassung auf, stürzte ihren Präsidenten mit Spezialkräften und annektierte de facto die Krim.

Mit der Unterzeichnung des Budapester Memorandums am 5. Dezember 1994 verpflichtete sich die Ukraine, die auf ihrem Territorium befindlichen Atomwaffen an Russ­land zurückzugeben, im Gegenzug für eine Garantie ihrer Grenzen. Tatsächlich wurde dieses Dokument unter dem Druck der USA unterzeichnet, die befürchteten, dass die Atomtechnologie von den Ukrainern an den Meistbietenden – auch an Terroristen – verkauft werden könnte. Es wird jedoch oft vergessen, dass Russland und die Ukraine am 31. Mai 1997 einen Freundschaftsvertrag geschlossen haben, in dem es heisst, dass die Ukraine «den Schutz der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Originalität der nationalen Minderheiten auf ihrem Territorium»¹ garantiert.

Am 23. Februar 2014, nach dem Maidan-Putsch, schafften die neuen, nicht gewählten Behörden der Ukraine das Kivalov-Kolesnichenko-Gesetz von 2012 ab, das Russisch zur Amtssprache machte. Daraufhin kam es im gesamten Süden des Landes zu einer riesigen Protestbewegung. Auf der Krim gab es einen Massenaufstand der Bevölkerung. Die Regierung setzte die 22 000 auf der Krim stationierten Soldaten ein. Doch 20 000 von ihnen weigerten sich, gegen ihre Landsleute vorzugehen, und schlossen sich den Demonstranten an, wie Ivan Vinnik, Abgeordneter der Rada in Kiew, später bestätigte.² Sie rissen ihre ukrainischen Abzeichen ab, um Verwechslungen zu vermeiden, und wurden zu dem, was der Westen als «kleine grüne Männchen» bezeichnen würde. Kiew schickte daraufhin Neonazi-Milizen, um die Ordnung wiederherzustellen. Als die Gewalt zu eskalieren begann, befahl Russ­land seinen auf der Krim stationierten Männern, um die Stützpunkte und Schlüsselpunkte (Flughafen) herum Stellung zu beziehen, um die Logistiklinien zu sichern. Diese Massnahme stand im Einklang mit dem Status of Forces Agreement (SOFA) zwischen der Ukraine und Russland, das zu diesem Zeitpunkt gerade erneuert wurde.

Die Krim-Behörden beschlossen daraufhin, ein Referendum abzuhalten, um die Situation von 1992 wiederherzustellen. Das Referendum wurde mit 96,77 Prozent³ angenommen und die Krim-Behörden stellten daraufhin einen Antrag auf Anschluss an Russland. Russland stimmte zu und die Krim trat der Russischen Föderation bei.

Das Budapester Memorandum von 1994 wird erwähnt, um zu rechtfertigen, dass Russland nicht berechtigt war, die Krim zu integrieren. Doch 1994 war die Krim als de jure unabhängige Entität zu diesem Zeitpunkt nicht vom Budapester Memorandum betroffen. Man könnte hinzufügen, dass das Memorandum von der Rada in Kiew nicht ratifiziert worden war. Darüber hinaus erwähnte der Westen jedoch nie die Tatsache, dass die Ukraine mit der Abschaffung des Kivalov-Kolesnichenko-Gesetzes von 2012, das Russisch als Amtssprache einführte, gegen den Freundschaftsvertrag von 1997 verstossen hat, der sie zum Schutz der Minderheitenrechte verpflichtete, und dass diese Entscheidung zudem ohne Einhaltung des normalen Gesetzgebungsverfahrens von einer nicht gewählten Regierung getroffen wurde.

Der andere Grund ist, dass sich die Krim-Bevölkerung nie als Ukrainer gefühlt hat. Die Ukraine selbst betrachtete das Volk der Krim nie als Ukrainer. Deshalb erklärten sie bei den Referenden 1991 und 2014 klar, von Moskau abhängig sein zu wollen (und nicht Russland verlassen zu wollen, wie eine Journalistin von France 5 behauptet hat). Es sind die von unseren Politikern unterstützten Neonazis, die versuchten, andere Bevölkerungsgruppen zu eliminieren, um einen rassisch reinen Staat zu schaffen, wie Andriy Biletsky sagte.⁴ Im Jahr 2014 schnitt die ukrainische Regierung einer Bevölkerung, die sie immer noch als ukrainisch ansieht, einfach die Trinkwasserversorgung ab.

Schliesslich ist es interessant zu sehen, dass Wolodymyr Selenskij im März ein Angebot unterbreitet hatte, auf das Russland bereit war, einzugehen. Die Ukraine verpflichtete sich, neutral mit internationalen Garantien zu sein und atomwaffenfrei zu bleiben; die Gebiete Krim und Sewastopol nicht gewaltsam zurückzuerobern und erklärte, dass dies nur durch Verhandlungen möglich sei; die Regionen Donezk und Lugansk als «getrennte Gebiete» zu betrachten; keinem Militärbündnis beizutreten und auf die Stationierung ausländischer Militärstützpunkte und -kontingente sowie auf Militärübungen auf ihrem Territorium ohne die Zustimmung von Garantiestaaten, einschliesslich Russ­lands, zu verzichten.⁵

Selenskij war also bereit, auf die Krim zu verzichten. Es sind die westlichen Länder und die ukrainischen Neonazis, die versuchen, dieses Gebiet zu behalten. Ich weiss nicht, in welche Kategorie man Herrn Cassis einordnen sollte.

Was für einen Sinn hat die Forderung von Bundesrat Cassis für die Schweiz?

In Anbetracht der eindeutig prowestlichen Politik, die die Schweiz verfolgt, unterstreicht dieses Ersuchen nur ihre parteiische Politik.

Im Allgemeinen verfolgt die Schweiz eine Aussenpolitik, die sie auf humanitäre Hilfe und Friedensförderung ausrichten will. Die Länder, in denen sie tätig ist, liegen daher in Afrika und Asien, doch auf diesen Kontinenten wird der Konflikt sehr unterschiedlich wahrgenommen.

Am 24. August veröffentlichten die Amerikaner eine gemeinsame Erklärung anlässlich des sechsmonatigen russischen Eingreifens. Insgesamt 54 Länder, darunter auch die Schweiz, unterzeichneten dieses Dokument. Interessant sind jedoch die Länder, die es nicht unterzeichnet haben.

Die Länder, die diese Erklärung unterzeichnet haben, sind diejenigen, mit denen die Schweiz die meisten Wirtschaftsbeziehungen unterhält. Diejenigen, die nicht unterzeichnet haben, sind im Wesentlichen diejenigen, in denen wir gerne in der Friedensförderung und im humanitären Bereich aktiv sein würden. Mit anderen Worten: Es sind genau die Länder, in denen unsere Neutralität die konkretesten und unmittelbarsten Anwendungen finden kann. (vgl. Abb. 1)

Seit Beginn dieser Krise konnte mir niemand erklären, warum die russische Intervention verwerflicher und sanktionierbarer sein sollte als andere Interventionen, die wir in Afrika und im Nahen Osten durchgeführt haben. Das bedeutet, dass wir den Gesellschaften, die wir zerstören, keinerlei Bedeutung beimessen. Was wir nicht sehen wollen, haben die Länder der südlichen Hemisphäre sofort aufgegriffen. 

Es ist also nicht so sehr die Forderung nach der Krim, die hier wichtig ist, sondern die Tatsache, dass wir in der ganzen Welt klar als mit denjenigen verbunden identifiziert werden, die sich selbst dazu ermächtigen, Katastrophen zu schaffen. 

Die Krim ist für Russland strategisch wichtig. Ist das der Grund, warum Russland die Krim in die Russische Föderation aufgenommen hat?

Die Krim ist für Russland strategisch wichtig. Sewastopol ist sein wichtigster Stützpunkt im Schwarzen Meer, aber nicht der einzige. Russland verfügt auch über den Marinestützpunkt Noworossijsk, der unter anderem die Logistik für die Operation in Syrien sicherstellt.

Es ist also sicher, dass das Referendum 2014 im Sinne der strategischen Interessen Russlands war. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Interessen auch der Grund für das Referendum waren. Dafür gibt es zwei Hauptgründe.

Der erste ist, dass die Ukraine und Russland 2010 das Abkommen erneuert hatten, das die militärische Nutzung der Krim bis zum Jahr 2042 erlaubte.

Der zweite und entscheidende Grund ist, dass die Krim für die Russen und Krimbewohner im Grunde genommen russisch ist. Wir haben gesehen, dass die ukrainische Souveränität über die Krim das Ergebnis von Fehlfunktionen des sowjetischen Systems und später der ukrainischen Staatsführung ist. Die Krimbewohner haben diese Ungerechtigkeit wahrgenommen, als die Ukraine die Rechte der russisch-sprachigen Bevölkerung einschränkte.

Die gesamte russische Bevölkerung begrüsste die Rückkehr der Krim zu Russland. Im April 2021 ergab eine Umfrage des Levada-Zentrums, dass 86 % der Russen die Rückkehr der Krim nach Russland unterstützten und 69 % der Meinung waren, dass dies dem Land gut getan habe.⁶ Ich möchte daran erinnern, dass Aleksej Navalny selbst erklärt hat, dass die Krim nicht zur Ukraine zurückkehren sollte. Es ist festzustellen, dass einige unserer Medien, wie Heidi News, die keine Berufsethik haben und üble Theorien weitergeben, die Opposition gegen Wladimir Putin nur dann ausnutzen, wenn es ihnen passt.

Russland hat das Schutzmachtmandat der Schweiz für die Ukraine gegenüber Russland abgelehnt. Ist die Anfrage der Schweiz nicht völlig an der Realität vorbei, wenn Russland die Schweiz bereits zu einem unfreundlichen Staat erklärt hat?

Man musste schon unglaublich naiv oder furchtbar arrogant sein, um zu glauben, dass Russland einen solchen Vorschlag von der Schweiz, die die meisten Sanktionen gegen Russland verhängt hat, annehmen würde. (vgl. Abb. 2)

Es ist wichtig, an dieser Stelle daran zu erinnern, dass das Ziel von Sanktionen nicht die «Bestrafung» von Einzelpersonen ist, sondern die Destabilisierung eines Staates. Denn es geht darum, die Bevölkerung, die unter den Sanktionen leidet, dazu zu bringen, sich gegen ihre Regierung aufzulehnen. Deshalb richten sich so viele Sanktionen gegen die Russen und ihren Lebensstil. Das ist Subversion, nicht mehr und nicht weniger. Ich erfinde das nicht, sondern es ist genau das, was Richard Nephew vom US-Aussenministerium in seinem Buch «Die Kunst der Sanktionen» beschreibt. Das ist genau das Ziel, das sich die EU und die USA im Februar gesetzt hatten. Wie könnte Russland Rücksicht auf einen anderen Staat nehmen, der seine «Neutralität» für Subversion nutzt und versucht, seine Regierung zu stürzen. Ich denke, dass unsere Entscheidungsträger in Bern nicht wirklich wussten, was es bedeutete, dass wir uns der europäischen Politik anpassten und sogar noch extremer waren.

Allerdings muss man klar sagen, dass die Schweiz nie wirklich neutral war. Sie ist aufgrund ihrer Geschichte, ihres Wirtschaftssystems und ihrer Politik ein integraler Bestandteil Westeuropas. Während des Kalten Krieges haben wir mit allen westlichen Diensten zusammengearbeitet, aber nie mit den östlichen. Ich selbst wurde in den britischen und amerikanischen Diensten ausgebildet. Ihre Verteidigung ist seit den 1990er Jahren auch in einige Logistiknetzwerke der Nato eingebunden, und die militärischen Kontakte zur Nato sind eng. Dennoch betrachtete jeder – einschliesslich Russland – die Schweiz als neutral, weil ihre Politik neutral war.

Doch seit Februar haben alle Medien der Welt, wie Reuters⁷ oder die «Washington Post», behauptet, dass die Schweiz ihre Neutralitätspolitik aufgegeben habe.

Hier steckt sicherlich der Wille der USA dahinter, die Schweiz in eine Richtung zu drängen, mit Folgen für andere Dossiers wie den Iran oder Kuba. Seit 1945 haben die USA die Schweizer Neutralität nie wirklich akzeptiert, aber unter dem Einfluss von Alan Dulles, der während des Krieges Chef des OSS in Bern war, haben sie sie schliess­lich gebilligt. Bereits 2014 wurde die Schweiz durch Erpressung und Bestechung gezwungen, sich an den Sanktionen gegen Russland zu beteiligen. Die USA hatten der französischen Bank Paribas eine Geldstrafe von 9 Milliarden US-Dollar auferlegt, weil sie sich nicht an die US-Sanktionen mit dem Iran, dem Sudan und Kuba gehalten hatte. Die Schweiz wollte nicht, dass ihr das passiert. Die Amerikaner beschliessen nicht nur Sanktionen, die nach dem Völkerrecht illegal sind, sondern bestrafen auch ihre eigenen Verbündeten. Im Jahr 2022 sah sich die Schweiz mit der gleichen Situation konfrontiert. Die USA sind ein «Schurkenstaat», der seinen Willen mit Gewalt und Erpressung durchsetzt.

Das EDA gibt eine bürokratische Antwort auf die Fragen der Öffentlichkeit. Beispielsweise rechtfertigt es die Lieferung von Waffen und Munition an Saudi-Arabien damit, dass der Konflikt im Jemen kein Konflikt zwischen Staaten sei, was eine etwas vereinfachte Sichtweise ist. Das Problem ist, dass Neutralität nicht einfach eine Politik ist: Sie ist nur so wirksam, wie sie wahrgenommen wird. Sehen Sie sich das Beispiel Belgiens während des Zweiten Weltkriegs an. Es war neutral, doch sein Territorium wurde benutzt, es wurde überfallen. Es genügt, dass ein einziger Akteur die Schweiz nicht als neutral wahrnimmt, um ihre Politik zusammenbrechen zu lassen. Aus diesem Grund muss die Neutralitätspolitik rigoros durchgesetzt werden.

Neutralität ist nicht das Mittel, um bei einem Konflikt nichts zu tun, sondern ein Mittel, um etwas besser zu machen. In meiner Funktion bei den Vereinten Nationen bin ich selbst in Situationen gewesen, in denen Schweizer zu sein, meine Aufgabe erleichtert hat. Was die Amerikaner nicht verstehen können, ist, dass ein neutraler Staat dabei helfen kann, einen Ausweg aus einer Krise zu finden. Langsam wird dem Westen klar, was ich schon lange gesagt habe: Sie haben sich mit ihren Sanktionen selbst in die Falle gelockt und haben keinen Plan. Die Schweiz hätte eine Vermittlerrolle spielen können, aber die Russen haben ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nun nicht mehr glaubwürdig ist.

Sehen Sie irgendeine Bewegung, dass man den Krieg von westlicher Seite beenden will?

Nein. Im Westen gibt es keinen Willen, den Krieg zu beenden. Der Westen will weder das Überleben noch den Sieg der Ukraine, sondern die Niederlage Russlands.⁹

Das Szenario, das ich bereits zu Beginn der russischen Offensive angedeutet hatte, wird immer deutlicher und bestätigt sich. 

Nach 2014 stellten die USA fest, dass die Kampagne gegen Russ­land nicht weit genug gegangen war, um dessen Isolation herbeizuführen. Daher musste die Arbeit von 2014 zu Ende gebracht werden. Wie es in einem Bericht der RAND-Corporation aus dem Jahr 2019 heisst, mussten gegen Russ­land «umfassende, multilaterale Sanktionen» verhängt werden, deren Wirksamkeit «von der Bereitschaft anderer Länder abhängt, sich diesem Prozess anzuschliessen».10 

Dazu brauchte es jedoch einen «Zünder», d. h. ein Ereignis, das Russland zu einer Reaktion zwingt, damit neue Sanktionen verhängt werden können. In einem am 18. März 2019 aufgenommenen Video erklärt Oleksij Arestowytsch, Berater von Wolodymyr Selenskij, auf zynische Weise den Mechanismus dessen, was im Februar zu sehen war. Arestowytsch führt sogar aus, dass es zwischen 2021 und 2022 stattfinden sollte.11

Wie Arestowytsch sagte, sollte die Niederlage Russlands die Eintrittskarte für die Ukraine in die Nato sein.12 Die Ukraine plante daher eine Militäroffensive gegen den Donbas, mit dem einzigen Ziel, eine russische Intervention zu provozieren. Sie bereitete sich ab März 2021 auf «niedrigem Niveau» vor, damit eine russische Intervention «unprovoziert und ungerechtfertigt» erscheinen würde. 

Aus diesem Grund begann die ukrainische Armee am 16. Februar damit, die Zivilbevölkerung im Donbas zu bombardieren. Das ist der Grund, warum Joe Biden sagte, er habe gewusst, dass Russland am 16. Februar angreifen würde. Deswegen war die ukrainische Armee in der Donbas-Region und nicht an den Grenzen des Landes zusammengezogen. Das einzige Problem ist, dass die Ukrainer nicht geplant hatten, so lange zu kämpfen.

Da man glaubte, dass Russlands Wirtschaft mit der Italiens vergleichbar sei,13 ging man davon aus, dass die russische Wirtschaft  ebenso verwundbar sein würde. So glaubten der Westen – und die Ukrainer –, dass Wirtschaftssanktionen und politische Isolation Russlands sehr schnell zu seiner Niederlage führen würden,14 ohne zu einer militärischen Niederlage führen zu müssen, wie Oleksij Arestowytsch es ausdrückte. Dies erklärt auch, warum Selenskij Anfang 2022 nicht die Notbremse zog, wie er in seinem Interview mit der Washington Post sagte.15 Ich denke, er war überzeugt, dass Russland auf die Offensive, die die Ukraine im Donbas vorbereitete, reagieren würde (weshalb sich der Grossteil seiner Truppen in diesem Gebiet befand) und dass die Sanktionen schnell die Arbeit erledigen und zum Zusammenbruch Russlands führen würden. Dies hatte übrigens auch BrUno Le Maire, der französische Wirtschaftsminister, «vorausgesagt».16

Der Westen erwartete, dass der wirtschaftliche Zusammenbruch Russlands automatisch zu einem Regimewechsel führen würde und dass sich die Dinge schnell wieder normalisieren würden. Sie trafen Entscheidungen, ohne ihren Gegner zu kennen…

Im Jahr 2014 hatten die Amerikaner festgestellt, dass die Sanktionen gegen die Ölproduktion zu einem Einbruch der Einnahmen Russlands geführt und eine Krise ausgelöst hatten. Im Jahr 2022 wollte der Westen dasselbe wiederholen, aber er analysierte die Situation falsch. Im Jahr 2014 waren die Preise der Ölprodukte auf einem Tiefpunkt angekommen und dieser Preiszerfall kam zu den Sanktionen hinzu, um Russland zu treffen. Im Jahr 2022, als sich die Wirtschaft nach der Covid-Krise (insbesondere in China) erholte, waren die Preise für Kohlenwasserstoffe jedoch bereits sehr hoch. Mit der Entscheidung, Nord Stream 2 zu schliessen, wie Donald Trump es wollte, um ihre Abhängigkeit von Russland zu verringern, haben die Deutschen und Europäer das Angebot an Gas und Öl verringert, als deren Preise stiegen. Dadurch stiegen die Einnahmen Russlands und die Kosten der westlichen Länder. Damit schufen sie das Problem.

In Wirklichkeit wurde die Ukraine missbraucht, um zu versuchen, Russland eine Niederlage aufzuzwingen. Wie Wolodymyr Selenskij in einem Interview auf CNN feststellte,17 wurde sein Land instrumentalisiert, um die für 2019 formulierten Ziele der USA zu erfüllen. Die Ukraine ist heute gleichzeitig Opfer der Perfidie der Amerikaner und Briten, der Dummheit der führenden Politiker Europas, Frankreichs und Deutschlands, der Naivität Selenskijs und der Unprofessionalität unserer Medien.

Die Lügen auf westlicher Seite sind so gross, dass es ihnen praktisch unmöglich ist, umzukehren. Die Vorschläge von Wladimir Putin werden daher automatisch abgelehnt. Aus diesem Grund twitterte Michailo Podoljak, Selenskijs Berater, am 28. Juni: «Die Ukraine hat nicht diesen Krieg begonnen, um ihn ‹auf Befehl› zu beenden».18 Damit bestätigt er, dass der Krieg tatsächlich von der Ukraine provoziert wurde und dass sie nun den gerechten Lohn für ihre Aufopferung verlangt.

Am 25. Februar erklärte sich Selenskij bereit, mit Russland zu verhandeln, doch die EU kam zwei Tage später mit einem ersten Waffenpaket im Wert von 450 Millionen Euro, damit der Krieg weitergehen konnte. Am 5. März wurde Denis Kirejew, einer der ukrainischen Verhandlungsführer, vom ukrainischen Geheimdienst (SBU) ermordet, da er als zu russlandfreundlich und als Verräter galt.19 Dasselbe gilt für den SBU-Offizier Dmitry Demyanenko, der am 10. März ermordet wurde, da er ebenfalls zu sehr für eine Vereinbarung mit Russland plädierte.20

Im März kommt es zu einem ähnlichen Szenario. Wolodymyr Selenskij macht den Vorschlag, über den wir bereits gesprochen haben. Die Russen sind interessiert, aber der Westen nicht. Die Europäische Union bringt ein weiteres Paket von 500 Millionen Euro für Waffen mit und in einem Telefonat am 2. April21 und dann während seines Besuchs am 9. April22 droht Boris Johnson, die westliche Hilfe zurückzuziehen, wenn Selenskij sein Angebot nicht zurückzieht. Die Ukraine war also zu Verhandlungen mit Russland bereit, die wegen Boris Johnson nicht stattfanden.23 Die ukrainischen Medien berichteten über diese Fakten, aber natürlich nicht unsere Medien.

Am 18. August traf sich Erdogan mit Selenskij in Lwow und bot sich als Vermittler gegenüber Moskau an.24 Am 24. August besuchte Boris Johnson Selenskij spontan, um zu erklären, dass es «nicht an der Zeit sei, irgendwelche miesen Verhandlungspläne vorzuschlagen», und brachte weitere 54 Millionen Pfund an Waffenhilfe mit.25 

Schliesslich erklärte Michail Podoljak am 27. August, dass der Krieg nur auf eine Weise beendet werden könne: durch die militärische Niederlage Russlands, die Rückgabe der Gebiete der Ukraine, ein Tribunal für Kriegsverbrecher und den Beginn der Transformation Russlands.26 Deshalb fordert Selenskij weiterhin Sanktionen gegen Russland und die Russen.

Es geht also um die Niederlage Russlands und nicht um den Sieg – oder auch nur das Überleben – der Ukraine. Die Manipulation der Informationen durch unsere Medien führt dazu, dass wir lieber zuschauen, wie Ukrainer sterben, als eine diplomatische Lösung zu suchen. 

Keine unserer Sanktionen hat sich auf den Konflikt ausgewirkt, ausser den Hass und die Gewalt gegen die Russen bei uns zu schüren. Medien wie z. B. RTS in der Schweiz, LCI, France 5 in Frankreich ermutigen die Ukrainer weiterhin zum Kampf. Aber in der Ukraine kämpft die Regierung gegen diejenigen, die verhandeln möchten. Diejenigen, die Verhandlungen befürworten, werden durch Terroranschläge eliminiert, über die keine unserer Medien berichtet. Selbst das Empfangen oder Spenden von russischer humanitärer Hilfe ist «Kollaboration».27 

Die Wahrheit ist, dass niemand im Westen den Frieden will.

Hält der Westen mit den erneut angekündigten Waffenlieferungen den Krieg weiter am Laufen, ohne dass irgendein Erfolg in Sicht ist? 

Die westlichen Länder haben das Ziel, die Niederlage Russlands herbeizuführen, und sie wissen, dass es keinen ukrainischen Sieg geben wird.28 Sie versuchen daher, eine Situation zu schaffen, in der es auch keinen russischen Sieg geben wird. Da es ihnen nicht gelingt, die Ukraine zu einem entscheidenden Sieg zu bringen, haben sie beschlossen, dass die Ukraine kämpfen soll. In Ermangelung eines «Schachmatts» wird versucht, ein «Patt» zu erreichen. 

Aus diesem Grund tut der Westen alles, damit es keine Verhandlungen gibt, wie Boris Johnson es ausdrückte. 

Das Problem ist, dass die Kräfteverhältnisse für die Ukraine ungünstig sind. Man drängt die Ukraine also dazu, ihre Männer in endlosen und sinnlosen Schlachten zu opfern. Man kann Russland vielleicht vorwerfen, dass es die Ukraine angegriffen hat, aber man kann sicherlich auch unseren Regierungen (einschliesslich der Schweizer) und Medien vorwerfen, dass sie die Ukrainer zu Tode getrieben haben. Es ist natürlich bequem, die Menschen in den Kampf zu treiben, wenn man hinter dem Bildschirm sitzt und in Europa sicher ist.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die vom Westen gelieferten Waffen grob geschätzt nur ein Zehntel dessen ausmachen, was die Ukrainer im Februar besassen und zerstört wurde. Zu glauben, dass die Ukraine die Situation durch Waffen umkehren kann, von denen nur 30 bis 40 Prozent das Schlachtfeld erreichen,29 deren Wartung schwierig ist, deren Munition von schwer zu schützenden Logistiklinien abhängt und die von Soldaten bedient werden, die die Gebrauchsanweisungen mit Google übersetzen müssen, ist schlichtweg dumm. 

Andererseits ist bekannt, dass die Waffen, die wir liefern, dazu dienen, die Zivilbevölkerung zu treffen. Dies ist der Fall bei den CAESAR-Kanonen30 und den amerikanischen Kamikaze-Drohnen gegen das Atomkraftwerk in Saporoschje.31

Wenn man die Entwicklung des Krieges und die Situation in der Ukraine betrachtet, kann man feststellen, dass vieles, was Sie eingeschätzt haben, eingetroffen ist. Wie viel kann man auf unsere Medien geben? 

Ich denke, was Russland und China betrifft, kann man unseren Medien nicht den geringsten Glaubwürdigkeitsgrad zubilligen. Das Problem ist, dass unsere Journalisten ihre Meinung mit Fakten verwechseln. 

Für meine Arbeit verwende ich hauptsächlich US-amerikanische Medien wie die «New York Times» und die «Washington Post», ukrainische Medien und Medien der russischen Opposition. Ich verfolge aufmerksam die französischsprachigen Medien der Schweiz, Frankreichs und Belgiens. Mein Ziel ist es, zu zeigen, dass unsere Medien die Informationen, die sie uns geben, filtern, indem sie systematisch alles herausnehmen, was positiv für Russland oder negativ für die Ukraine erscheinen könnte. 

Die angelsächsischen Medien sind in der Ukraine-Frage alles andere als objektiv. Wenn man jedoch genau liest, stellt man fest, dass sie etwas ausgewogenere Urteile fällen als in unserem Land. Beispielsweise habe ich wiederholt festgestellt, dass Radio Télévision Suisse (RTS) und «Le Temps» Dinge erzählen, die manchmal schon Tage zuvor von amerikanischen Medien oder sogar Geheimdiensten widerlegt wurden!

Es ist allgemein bekannt, dass in jedem Konflikt die Protagonisten je nach ihren Interessen informieren. Das ist ganz normal. Aber ziemlich merkwürdig ist, dass Schweizer Medien ihre Quellen nur von der ukrainischen Seite beziehen. Dadurch entsteht ein völlig verzerrtes Bild der Situation.

Das Problem mit diesem verzerrten Bild ist, dass es die Ukraine ermutigt hat, auf Fehlern zu beharren, die Tausende von Menschenleben fordern. Ich denke, dass diese Medien eines Tages für die falschen Entscheidungen und die Toten, die sie verursacht haben, zur Rechenschaft gezogen werden müssen. 

Denn obwohl die Europäische Union und Boris Johnson ausschlaggebend dafür waren, dass Wolodymyr Selenskijs Plan für Verhandlungen im März abgelehnt wurde, war ein anderer Faktor von entscheidender Bedeutung: unsere Medien. Laut der Ukraïnskaya Pravda vermittelten unsere Medien das Bild einer siegreichen Ukraine und eines besiegten Russlands, das die Notwendigkeit einer politischen Einigung überflüssig machte.32

So berichtet RTS beispielsweise von erfolgreichen Meldungen über eine Gegenoffensive auf Cherson im März33,im Juli34, Anfang August35 und Ende August36. Sie berichtet uns von einer Niederlage Russlands im April37 oder Mai38, doch auf der Karte sind die Russen ständig auf dem Vormarsch und die Ukraine auf dem Rückzug. Und wie zu erwarten war, entwickelt sich die letzte Gegenoffensive auf Cherson zu einer Katastrophe…

Unsere Medien sind also in hohem Masse mitverantwortlich für die militärische Fortsetzung des Konflikts und die daraus resultierenden Verluste.

Am 1. September berichteten unsere Medien natürlich über den Schulbeginn der ukrainischen Kinder vor dem Hintergrund des Krieges. Dies ist natürlich ein tragischer Hintergrund, aber keine unserer Medien berichtete über den Schulbeginn zwischen 2014 und 2022 im Donbas, wo russischsprachige ukrainische Kinder regelmässig bombardiert wurden …

Die Arbeitsmethode von Medien wie RTS, BFM TV, France 5 oder LCI besteht darin, ein Narrativ festzulegen und dann die Informationen auszuwählen, die dazu passen. Auf einer rein technischen Ebene und gemäss den anerkannten Definitionen ist dies die Methode des Verschwörungstheoretikers: Man fügt ausgewählte Fakten gemäss einem vorgegebenen Narrativ zusammen. Das ist die gleiche Vorgehensweise wie bei denjenigen, die den Ablauf des 11. September 2001 bestreiten. Der Unterschied besteht darin, dass im Fall des «9/11» das Ereignis in der Vergangenheit liegt, während der Konflikt in der Ukraine noch andauert. Mit anderen Worten: Dieser Verschwörungstheoretiker verhindert tendenziell die Suche nach Verhandlungslösungen und das führt dazu, dass der Krieg weitergeht. 

Unsere Medien arbeiten auf der Grundlage von Glaubensbekenntnissen, während ich auf der Grundlage von Fakten arbeite. Im Gegensatz zu unseren Medien gehe ich davon aus, dass in einem Konflikt beide Seiten ein Interesse daran haben, die Situation zu ihrem Vorteil darzustellen. Theoretisch sollten unsere Medien uns ein Bild der Situation präsentieren, das es uns ermöglicht, uns selbst eine Meinung über die Ereignisse zu bilden. Diese Medien geben jedoch nur die ukrainische Propaganda wieder. Sie sind also zu Konfliktparteien geworden. 

Ich kann daraus ganz klar schliessen, dass die Schweizer und französischen Medien in Bezug auf den Konflikt in der Ukraine mit grosser Wahrscheinlichkeit die schlimmsten sind.

Haben die Medien bewusst falsch informiert oder nicht sauber recherchiert? 

Was ich analysiert habe, hat sich bewahrheitet, weil ich versuche, wie die Russen zu denken und dabei ihre Denkweise zu berücksichtigen. Die meisten unserer Journalisten und anderen «Experten» wenden ihre eigenen Vorurteile auf Russland an. Beispielsweise haben einige unserer Militärs behauptet, dass es den Russen auf der unteren taktischen Ebene, insbesondere den Unteroffizieren, an Initiative mangelt. Das stimmt, aber das liegt daran, dass die russische Armee anders eingesetzt wird. Wo wir beispielsweise eine Kompanie einsetzen würden, würden die Russen ein Bataillon oder sogar ein Regiment einsetzen. Mit anderen Worten: Die Initiative ist auf einer anderen Ebene angesiedelt, weil die Armee in einem anderen Massstab funktioniert.

Auf einer eher strategischen Ebene scheint man sich zu wundern, dass die Russen es «wagen», die Nord Stream 1-Pipeline zu schliessen. Aber nachdem man erklärt hat, man wolle kein russisches Gas mehr, man wolle den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft und man damit gedroht  hat, die Erlöse aus dem Verkauf von russischem Gas zu konfiszieren, muss man schon ein totaler Idiot sein, um nicht zu glauben, dass die Russen reagieren würden.

Generell halten sich unsere Mainstream- und staatlichen Medien in der Berichterstattung über den Ukrainekrieg nicht an die Münchner Charta und betreiben Propaganda. Im Fall der Ukraine haben sie die Informationen, die sie uns präsentierten, absichtlich verfälscht. 

In meinem neuen Buch «Operation Z» habe ich Dutzende von Beispielen aufgedeckt. Ein einfacher Fall ist die Schlangeninsel. Am 25. Februar 2022 berichtete das Schweizer RTS über das «Massaker» an 13 ukrainischen Grenzschützern auf der Schlangeninsel.39 Tatsächlich wurden sie nie getötet und die etwa 50 Grenzschutzbeamten der Garnison wurden gefangen genommen und von der russischen Marine alle gesund und sicher an Land gebracht.40 Wahrscheinlich sind die Ukrainer dem «Nebel des Krieges» zum Opfer gefallen, darum veröffentlicht der Generalstab des ukrainischen Grenzschutzes am 28. Februar ein Korrigendum auf Facebook.41 Doch RTS nimmt im Gegensatz zu anderen Medien keine Korrektur vor und verbreitet weiterhin eine Falschmeldung. 

Anfang Juli behauptet das Schweizer RTS, die Russen seien von den Ukrainern von der Schlangeninsel vertrieben worden.42 RTS hat jedoch desinformiert: Die Insel wurde nicht von der Ukraine zurückerobert, und es gab zu diesem Zeitpunkt keine Militäraktion der Ukraine. Russland hat sich von selbst zurückgezogen, weil die Anstrengungen, sie zu schützen, ihre strategische Bedeutung übersteigen. Ausserdem hat die Ukraine keine Entscheidung getroffen,43 Truppen auf der Insel zu stationieren.44 Am 4. Juli berichtete das Schweizer Fernsehen RTS, dass die ukrainische Flagge wieder auf der Insel weht.45 Aber auch hier lügt das Schweizer Staatsmedium, denn die Ukraine hat lediglich eine Flagge von einem Hubschrauber aus auf der Insel abgeworfen, wie die ukrainischen Medien selbst berichten!46

Unsere Medien haben den Hass auf die Russen geschürt und die Situation durch «Fake News» unnötig dramatisiert. So berichtete RTS beispielsweise, dass Wladimir Putin eine Generalmobilmachung anstrebe47, Kiew in zwei Tagen einnehmen, Präsident Selenskij stürzen und die gesamte Ukraine einnehmen wolle.48

Sie haben nie die Angriffe auf die ukrainische Bevölkerung des Donbas durch die Regierung in Kiew zwischen 2014 und 2022 verurteilt. Beachten Sie auch, dass RTS – und das gilt auch für andere Medien – weder den Terroranschlag auf Daria Dugina noch die Anschläge auf gewählte Vertreter des russischsprachigen Teils der Ukraine verurteilt hat. 

Das Problem ist, dass diese Propaganda zu einer Unterschätzung Russlands durch die westliche und die ukrainische Führung und zu einer Überschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten geführt hat. 

Was hat es mit den Problemen um das AKW Saporoschje auf sich? Es wird davon geredet, dass es von den Russen beschossen wurde. Wie glaubhaft ist das?

In Energodar wurde das Kernkraftwerk Saporoschje (ZNPP) mehrmals beschossen, was die Ukrainer und Russen jeweils der gegnerischen Seite zuschrieben. 

Die russischen Koalitionskräfte besetzten das Gebiet der ZNPP seit dem 4. März. Damals war das Ziel, die ZNPP möglichst schnell einzunehmen, um zu verhindern, dass sie in die Kämpfe hineingezogen wird, um so einen nuklearen Zwischenfall zu vermeiden. Das ukrainische technische Personal, das die Anlage betreute, blieb vor Ort und arbeitet weiterhin unter der Aufsicht des ukrainischen Anlagenbetreibers Energoatom und der ukrainischen Agentur für nukleare Sicherheit (SNRIU). 

Die Russen haben sofort Einheiten eingesetzt, um die Anlage zu sichern und zu verhindern, dass sie zum Ziel von Sabotage oder Kommandoaktionen wird. Die Ukrainer haben selbst erklärt, dass sich russische Truppen im Gebiet der Anlage befinden,49 und es ist nur schwer vorstellbar, warum die Russen ein Atomkraftwerk bombardieren sollten, das sich unter ihrer Kontrolle befindet.50 Tatsächlich deutet alles darauf hin, dass es die Ukrainer sind, die ihr Kraftwerk beschiessen.

Unsere Medien weigern sich jedoch, dies wahrzunehmen und konstruieren fantasievolle Szenarien. Auf France 5 erklärt ein französischer «Experte», die Russen würden das Kraftwerk beschiessen, um den Strom, der in die Ukraine fliesst, zu unterbrechen.51 Das ist idiotisch. Russland hat die Stromversorgung der Ukrainer seit März nicht gestoppt. Ausserdem hat Russland den Erdgasfluss in die Ukraine nicht gestoppt und zahlt der Ukraine weiterhin die Durchleitungsgebühren für Gas, das für Europa bestimmt ist.

Der Beschuss des Kraftwerks könnte zu einem nuklearen Zwischenfall führen. Die Russen befinden sich jedoch in einem Gebiet, in dem die Bevölkerung ihnen im Wesentlichen freundlich gesinnt ist, und es ist kaum nachvollziehbar, warum sie das Risiko einer nuklearen Verseuchung der Region eingehen sollten.

Im Gegensatz dazu scheinen die Motive der Ukrainer überzeugender zu sein.

Zunächst einmal müssen die Ukrainer dem Westen zeigen, dass sie in der Lage sind, wieder die Initiative zu ergreifen. Im Juli versprachen sie eine grosse Gegenoffensive auf Cherson mit einer Million Mann,52 um den Süden des Landes zurückzuerobern, aber sie konnten sie nicht umsetzen. Deshalb führen sie zahlreiche Gegenangriffe durch, die in unseren Medien als «Gegenoffensiven» bezeichnet werden, die jedoch systematisch scheitern.

Zweitens haben in mehreren russischsprachigen Gebieten, die von der Koalition eingenommen wurden, die Behörden erklärt, dass sie Referenden durchführen wollen. Es ist unklar, ob diese Referenden eine Autonomie, Unabhängigkeit oder einen Anschluss an Russland zum Ziel haben, und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie von den westlichen Ländern nicht anerkannt werden. Andererseits wären sie für die Regierung ein schwerer Rückschlag, da sie zeigen könnten, dass sich der südliche Teil des Landes nicht als ukrainische Bevölkerung fühlt.

In diesem Zusammenhang wären Forderungen nach einer Entmilitarisierung des Kraftwerkssektors oder sogar nach dessen Rückgabe an die Ukraine ein politischer und operativer Erfolg für Selenskij. Es wäre sogar denkbar, dass sie absichtlich einen nuklearen Zwischenfall herbeiführen wollen, um ein «No Man‘s Land» zu schaffen, um damit das Gebiet für die Russen unbrauchbar zu machen.

Eine wahrscheinlichere Erklärung ist, dass die Ukrainer versuchen, Spannungen und Kämpfe «um das Kraftwerk herum»53 zu erzeugen, um zu zeigen, dass die Anlage nicht sicher ist und dass die Zone entmilitarisiert oder eine internationale Truppe dorthin entsandt werden muss. Tatsächlich versucht die Ukraine durch den Beschuss des Kraftwerks, Druck auf den Westen auszuüben, damit dieser in den Konflikt eingreift.54 Diese Strategie könnte die Aktion von rund 300 ukrainischen Kommandos erklären, die am frühen Morgen des 1. September, dem Tag der Ankunft der Experten der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), den Dnepr überquerten, um die ZNPP anzugreifen. Das Konzept für diesen Angriff soll von den Briten vorgeschlagen worden sein, was jedoch nicht bestätigt wurde. Natürlich hat keine unserer Medien diese Attacke erwähnt, die zeigen könnte, dass die Ukraine die Europäer erpresst.

Die derzeit verfügbaren Beweise deuten eher darauf hin, dass die Angriffe auf Energodar ukrainisch sind. Die Überreste von Geschossen, die vom anderen Ufer des Dnepr auf die Anlage abgefeuert wurden, stammen aus dem Westen. Es scheint sich um HIMARS-Raketen und britische Geschosse55 des Typs BRIMSTONE56, bei denen es sich um Präzisionsraketen handelt, deren Abschuss von den Briten verfolgt wird, zu handeln. Offenbar ist der Westen also über die Angriffe auf das Kraftwerk Energodar informiert.

Die Ukrainer befürchten, dass die IAEA-Experten bestätigen könnten, dass diese Provokation ukrainischen Ursprungs ist. Daher haben sie alles getan, um einen Besuch der IAEA zu verhindern.57

Ihrerseits stehen die westlichen Länder unter Druck. Die Sanktionen, die sie selber beschlossen haben, schlagen nun auf sie zurück. Die Schwierigkeiten nehmen zu und die Aussicht auf Auswirkungen auf die russische Wirtschaft schwindet. In den meisten westlichen Ländern rumort es in der Opposition. Laut Verisk Meplecroft, die sich auf Risikoforschung spezialisiert hat, hat die Zahl der Unruhen in den letzten Monaten in 101 Ländern zugenommen und «die Welt steht vor einem historisch einmaligen Anstieg der zivilen Unruhen».

Der Regimewechsel, den man in Russland provozieren wollte, bedroht jetzt die europäischen Länder. In dieser Situation drängt der Westen die Ukraine dazu, konkrete Ergebnisse zu zeigen. Aus diesem Grund startet die Ukraine regelmässig «Gegenoffensiven» in Cherson, die jedoch scheitern. Im Vorfeld der «mid-terms» in den USA wird immer deutlicher, dass die amerikanische Strategie versagt hat.

Heute geht es nicht mehr um den Sieg der Ukraine, sondern darum, sich eine bessere Verhandlungsposition zu verschaffen. Jedes Mittel ist recht, um zu versuchen, Russland in eine schwierige Lage zu bringen. Die Angriffe auf das Kraftwerk in Saporoschje könnten zu einem Vorwand für eine westliche Intervention werden, wie Tobias Ellwood, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses des britischen Parlaments, sagt, der mit dem Einsatz von Artikel 5 des Nato-Vertrags droht. (vgl. Abb. 5)

Auf der einen Seite betont man das Leiden der Ukrainer im Westen, aber die Ukrainer im Osten, die unter dem Beschuss der Ukraine leiden, werden nicht erwähnt. Warum merkt das niemand?

Ja, das ist ein Paradoxon. Der Westen scheint sich erst jetzt für die ukrainische Bevölkerung zu interessieren. Acht Jahre lang hat die ukrainische Regierung direkt den Tod von fast 10 000 Ukrainern verursacht, ohne 4 000 ihrer Militärs mitzuzählen, und keins unserer Medien hat darauf reagiert. Man darf nicht vergessen, dass die ukrainische extreme Rechte, die Selenskijs Hauptunterstützerin ist, eine «rassisch reine» Ukraine will und russischsprachige Menschen als «Kakerlaken» betrachtet.

Im Übrigen stelle ich fest, dass keines unserer «Mainstream»-Medien oder -Journalisten in der Schweiz den Anschlag auf Darja Dugin als terroristischen Charakter verurteilt hat. Unsere Medien sind sehr schnell dabei, jede Handlung eines Muslimen als Terrorakt zu bezeichnen, wenden aber nicht dieselbe Regel an, wenn es um die Ukraine geht.

Heute werden Journalisten, die versuchen, die Situation im russischsprachigen Teil der Ukraine und im Donbas aufzuzeigen, systematisch zensiert, von Gerichten verurteilt wie die deutsche Journalistin Alina Lipp58 oder sogar auf westliche Sanktionslisten gesetzt, wie der unabhängige Journalist Graham Phillips59, ganz zu schweigen von jenen, wie Darja Dugin, die auf ukrainischen «Hitlisten» stehen, wie die Website «Mirotvorets»!

Ganz klar haben Medien, indem sie systematisch ukrainische Propaganda ohne jede kritische Analyse berichteten, Selenskij und seine rechtsextremen Unterstützer dazu gebracht, Russ­land zu unterschätzen, ihre eigenen Kräfte zu überschätzen, ihre Strategie nicht zu hinterfragen und auf einem ausweglosen Weg zu beharren. 

Ich möchte daran erinnern, dass die von Wladimir Putin genannten Ziele «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung» der Bedrohung für die Bevölkerung des Donbas waren. Mit anderen Worten: Diese Ziele zielten nicht auf die Eroberung von Territorium, sondern auf die Zerstörung von Kapazitäten. Durch das Reproduzieren der ukrainischen Propaganda haben unsere Medien aktiv zu dieser selbstzerstörerischen Strategie beigetragen. 

So stimmt es zwar, dass unsere Medien den Tod russischsprachiger ukrainischer Zivilisten nie verurteilt haben. Aber sie haben auch nie Selenskijs selbstmörderische Strategie verurteilt, die zum Tod von Tausenden von Soldaten in «Gegenoffensiven» führt, die systematisch scheitern. In Wirklichkeit haben unsere Medien eine tiefe Verachtung für die Ukrainer. Sie streben nur eine Niederlage Russlands an, ungeachtet der menschlichen Kosten.

Selbst das SRK berichtet nur über die Flüchtlinge aus der Westukraine, obwohl die nach Russland Geflohenen die Millionengrenze weit überschritten haben. Wo sind hier die Prinzipien des Roten Kreuzes?

Zuerst einmal muss man zwischen dem Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) unterscheiden. Beide sind humanitäre Organisationen und wenden die Regeln der humanitären Hilfe an, doch das IKRK wendet diese Regeln viel strenger und sogar orthodox an. Letzteres spielt eine wichtigere Rolle bei Verhandlungen zwischen Kriegsparteien, insbesondere was die Behandlung von Kriegsgefangenen betrifft. Aus diesem Grund ist das IKRK sehr streng in Bezug auf seine Neutralität.

Nationale Rotkreuzgesellschaften wie das SRK sind nicht in gleicher Weise wie das IKRK involviert und können es sich leisten, im Interesse eines einzelnen Akteurs zu handeln.

Es ist interessant, dass Sie die ukrainischen Flüchtlinge erwähnen. In der Tat spricht niemand über sie. In Wirklichkeit sind seit 201460 nicht weniger als 3,8 Millionen Ukrainer nach Russland geflohen.61 Natürlich erwähnen unsere Medien dies nicht, weil es zeigen würde, dass diese Millionen Ukrainer sich weder dafür entschieden haben, innerhalb des Landes zu bleiben, noch nach Europa zu gehen!

Seit 2014 ist der Westen der Ukraine gefolgt und die Bevölkerung des Donbas als Untermenschen betrachtet, die es nicht wert sind, dass man sich für sie interessiert. Deshalb hat niemand die Gewalt gegen sie verurteilt. Das erklärt auch, warum man, wenn man von Flüchtlingen spricht, nur die Flüchtlinge seit dem 24. Februar erwähnt. 

Aber auch hier zeigen unsere Medien einen unglaublichen Mangel an Integrität. Die Zeitung «Le Temps» veröffentlichte eine Karte der ukrainischen Flüchtlinge, die auf den Daten des Uno-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) basiert. Anfangs September gab die Karte die Zahl von 5 796 748 Flüchtlingen in Polen und 2 414 075 Flüchtlingen in Russland an. In Wirklichkeit schummelte die Zeitung. Die für Polen angegebene Zahl ist die Zahl der Grenzübertritte (in zwei Richtungen) und nicht die Zahl der Flüchtlinge, die bei 1 353 338 liegt. Natürlich will die Zeitung nicht zeigen, dass sich die Mehrheit der Flüchtlinge für Russland entschieden hat.

Was könnte die Schweiz tun, um mitzuhelfen, den Krieg zu beenden?

An diesem Punkt: schweigen. Die Schweiz hätte eine goldene Gelegenheit gehabt, die Umsetzung des Minsker Abkommens zwischen 2014 und 2022 zu erleichtern. Seit dem Beginn der russischen Offensive hätte sie ihre Vermittlungsfähigkeiten anbieten können. Aber man kann nicht gleichzeitig Richter und Partei sein.

Müsste die Schweiz zurück zur integralen Neutralität, damit sie wieder ernst genommen wird?

Neutralität ist kein Geschenk des Himmels. Sie ist ein Status, den man sich durch Vertrauen erwirbt und der uns von unseren Nachbarn gewährt werden muss. 

Wenn wir uns nicht als vertrauenswürdig erweisen und nicht in der Lage sind, Druck zu widerstehen, um diese Neutralität umzusetzen, dann verdienen wir sie nicht und unsere potenziellen Gegner werden sie uns nicht zuerkennen.

Der Bundesrat spricht von «kooperativer Neutralität». Welcher fremde Staat kann so noch die Neutralität ernst nehmen?

Neutralität kann nicht «mit variabler Geometrie» sein. Sie ist absolut und bezieht ihre Glaubwürdigkeit aus der Tatsache, dass sie nicht opportunistisch ist. Aus diesem Grund wird das IKRK in der ganzen Welt sehr weitgehend respektiert. Das bedeutet jedoch Opfer, die unsere Medien nicht akzeptieren können. Zum Beispiel die Verurteilung einer Konfliktpartei. Sie werden feststellen, dass das IKRK nur sehr selten eine Kriegspartei verurteilt. Für ein Land wie die Schweiz ist es komplizierter. Viele Politiker wollen, dass die Schweiz diesen oder jenen Protagonisten stärker verurteilt.

Ich denke, dass die Neutralität ein Vorteil ist und dass wir, wenn wir mit dieser Politik weitermachen wollen, sie rigoros verfolgen müssen. Leider befinden wir uns in einer Zeit der Intoleranz, in der jeder jeden verurteilen will, der nicht so denkt wie er selbst. Diese Gewalt, die man in den sozialen Netzwerken findet, wird in unseren Mainstream-Medien fortgesetzt, die – das sollten wir nicht vergessen – vom Unglück anderer leben.

Inwieweit ist die türkische Diplomatie erfolgreich? 

Es gibt derzeit zwei Diplomatien, die «aus der Reihe tanzen»: die russische Diplomatie und die türkische Diplomatie. 

Obwohl die Türkei Nato-Mitglied ist, sich in Syrien gegen die Regierung von Baschar al-Assad engagiert und die Ukraine mit Drohnen beliefert, hat sie es geschafft, ihre Verbindungen zu Russ­land aufrechtzuerhalten. Als Selenskij einen Vermittler suchte, um sich an Russland zu wenden, wandte er sich an drei Länder: China, die Türkei und Israel. Letztendlich war es die Türkei, die sich hervorhob.

Ich habe oft mit türkischen Diplomaten zusammengearbeitet. Sie sind hochqualifizierte Individuen und es überrascht mich nicht, dass sich die Türkei in diesem schwierigen Umfeld durchsetzen konnte.

Herr Baud, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschul­institut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete u.a. für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

 

¹ https://apps.dtic.mil/dtic/tr/fulltext/u2/a341002.pdf

² Евгений Мураев и Иван Винник, народные депутаты, в «Вечернем прайме» телеканала "112 Украина", 4 août 2016 (https://112.ua/video/evgeniy-muraev-i-ivan-vinnik-narodnye-deputaty-v-vechernem-prayme-telekanala-112-ukraina-04082016-206216.html)

³ Article « Référendum de 2014 en Crimée », Wikipédia (consulté 27 novembre 2021)

⁴ Український соціальний націоналізм. — Харків: «Патріот України», 2007 (https://web.archive.org/web/20080409023834/ http://www.patriotukr.org.ua/index.php?rub=stat&id=267)

⁵ «Zelensky says Ukrainian neutrality on the table ahead of fresh talks with Russia in Turkey», France 24, 27 mars 2022 (mis à jour le 28 mars 2022) (www.france24.com/en/europe/20220327-live-kyiv-accuses-russia-of-destroying-fuel-and-food-storage-depots-in-ukraine); « Ukraine ready to discuss adopting neutral status in Russia peace deal, Zelenskiy says », Reuters, 28 mars 2022 (https://www.reuters.com/world/europe/ukraine-prepared-discuss-neutrality-status-zelenskiy-tells-russian-journalists-2022-03-27/)

www.levada.ru/2021/04/26/krym/

⁷ Michael Shields & Silke Koltrowitz: «Neutral Swiss join EU sanctions against Russia in break with past», Reuters, 28 February 2022 (www.reuters.com/world/europe/neutral-swiss-adopt-sanctions-against-russia-2022-02-28/)

⁸ Rick Noack & Sammy Westfall: «In move to sanction Russia, Switzerland breaks from long tradition», The Washington Post, 28 February 2022 (www.washingtonpost.com/world/2022/02/28/switzerland-neutral-ukraine-russia-sanctions/)

⁹ «Arestovich: the world no longer thinks about the victory of Ukraine, but what to do with the Russian Federation after the defeat», The Odessa Journal, 13 August, 2022 (https://odessa-journal.com/arestovich-the-world-no-longer-thinks-about-the-victory-of-ukraine-it-thinks-about-what-to-do-with-the-russian-federation-after-the-defeat/)

10 www.rand.org/pubs/research_briefs/RB10014.html

11 «Predicted Russian – Ukrainian war in 2019 – Alexey Arestovich», YouTube, 18 mars 2022 (https://youtu.be/1xNHmHpERH8)

12 https://edition.cnn.com/europe/live-news/ukraine-russia-putin-news-03-20-22/h_7c08d64201fdd9d3a141e63e606a62e4

13 https://youtu.be/Rgy2Bbe3HYE?t=3799

14 George Glover: «Wall Street predicted Russia's economy would collapse after it invaded Ukraine. These 3 charts show that hasn't happened», Business Insider, 28 August 2022 (https://africa.businessinsider.com/markets/wall-street-predicted-russias-economy-would-collapse-after-it-invaded-ukraine-these-3/p75ke69)

15 www.washingtonpost.com/national-security/2022/08/16/zelensky-interview-transcript/

16 «Guerre en Ukraine: ‹Nous allons provoquer l'effondrement de l'économie russe›, affirme Bruno Le Maire», Radio France, 1er mars 2022

17 Chandelis Duster: «Zelensky: ‹If we were a Nato member, a war wouldn't have started›», cnn.com, 20 mars 2022

18 https://twitter.com/Podolyak_M/status/1541766914850045952

19 www.timesofisrael.com/ukraine-reports-claim-negotiator-shot-for-treason-officials-say-he-died-in-intel-op/

20 www.youtube.com/watch?v=ZWHpVnrwfLY

21 www.gov.uk/government/news/pm-call-with-president-zelenskyy-of-ukraine-2-april-2022

22 https://peoplesdispatch.org/2022/05/09/ukrainian-news-outlet-suggests-uk-and-us-governments-are-primary-obstacles-to-peace/

23 Roman Romaniuk: «Possibility of talks between Zelenskyy and Putin came to a halt after Johnson’s visit», Ukrainskaya Pravda, 5 May 2022 (www.pravda.com.ua/eng/news/2022/05/5/7344206/)

24 Grzegorz Kuczyński: «Lviv Summit Confirms Erdogan’s Diplomatic Offensive», Warsaw Institute, 22 August 2022 (https://warsawinstitute.org/lviv-summit-confirms-erdogans-diplomatic-offensive/)

25 Tom Balmforth & Andrea Shalal: «UK's Boris Johnson, in Kyiv, warns against ‹flimsy› plan for talks with Russia», Reuters, 24 August 2022 (www.reuters.com/world/europe/uks-johnson-kyiv-warns-against-flimsy-plan-talks-with-russia-2022-08-24/)

26 www.pravda.com.ua/news/2022/08/27/7365021/

27 https://kyivindependent.com/uncategorized/receiving-distributing-russian-humanitarian-aid-in-occupied-territories-considered-collaborationism

28 Barry R. Posen: «Ukraine’s Implausible Theories of Victory – The Fantasy of Russian Defeat and the Case for Diplomacy», Foreign Affairs, 8 juillet 2022 (https://www.foreignaffairs.com/articles/ukraine/2022-07-08/ukraines-implausible-theories-victory)

29 Adam Yamaguchi & Alex Pena: «Why military aid in Ukraine may not always get to the front lines», CBS News, 7 août 2022 (www.cbsnews.com/news/ukraine-military-aid-weapons-front-lines/)

30 https://lecourrierdesstrateges.fr/2022/06/14/guerre-dukraine-jours-106-109-les-canons-caesar-et-leurs-munitions-livrees-par-la-france-a-larmee-ukrainienne-tuent-des-civils-ukrainiens-a-donetsk-et-gorlovka/

31 www.telegraph.co.uk/world-news/2022/07/20/ukrainian-kamikaze-drones-strike-russian-controlled-zaporizhzhia/

32 www.pravda.com.ua/eng/news/2022/05/5/7344206/

33 www.rts.ch/info/monde/12971418-les-forces-ukrainiennes-sur-le-chemin-de-la-ville-de-kherson-combats-dans-le-donbas.html

34 www.rts.ch/info/monde/13238850-la-contreoffensive-ukrainienne-est-realiste-meme-si-la-situation-est-tres-incertaine-juge-un-expert.html

35 https://twitter.com/RTSinfo/status/1554100386230837248

36 www.rts.ch/info/monde/13344651-la-contreoffensive-ukrainienne-sur-la-ville-de-kherson-pourrait-marquer-un-tournant-dans-la-guerre.html

37 www.rts.ch/info/monde/13054683-vladimir-fedorovski-choisir-de-rejeter-la-russie-a-mene-le-monde-dans-limpasse.html

38 www.rts.ch/emissions/infrarouge/13079683-guerre-en-ukraine-la-russie-dans-limpasse.html

39 https://web.archive.org/web/20220226004357/https://www.rts.ch/info/monde/12895433-larmee-russe-poursuit-son-offensive-en-direction-de-kiev.html

40 https://t.me/intelslava/20649

41 www.facebook.com/navy.mil.gov.ua/posts/324444389723150

42 «L'Ukraine accuse les Russes d'avoir tiré des bombes au phosphore sur l'île aux Serpents», rts.ch, 3 juillet 2022 (www.rts.ch/info/monde/13214212-lukraine-accuse-les-russes-davoir-tire-des-bombes-au-phosphore-sur-lile-aux-serpents.html)

43 Ivan Boïko: «Звільнення Зміїного: у Генштабі розповіли, коли відправлять війська на острів», unian.ua, 30 juin 2022 (www.unian.ua/war/ostriv-zmijiniy-u-genshtabi-zsu-rozpovili-koli-vidpravlyat-tudi-viyska-novini-vtorgnennya-rosiji-v-ukrajinu-11885682.html)

44 Marina Pavertaylo: «Українські військові ще не висаджувалися на Зміїний. Росіяни могли залишити ‹сюрпризи›», 30 juin 2022 (https://suspilne.media/255840-ukrainski-vijskovi-se-ne-visadzuvalisa-na-zmiinij-rosiani-mogli-zalisiti-surprizi/)

45 www.rts.ch/info/monde/13217239-poutine-ordonne-la-poursuite-de-loffensive-russe-apres-la-prise-de-la-region-de-lougansk.html#timeline-anchor-1656936216336

46 «Official: Ukrainian flag dropped on Snake Island but not raised yet», The Kiyv Independent, 4 juillet 2022 (https://kyivindependent.com/uncategorized/official-ukrainian-flag-dropped-on-snake-island-but-not-raised-yet)

47 www.rts.ch/emissions/infrarouge/13079683-guerre-en-ukraine-la-russie-dans-limpasse.html

48 www.rts.ch/play/tv/redirect/detail/13086647?startTime=790

49 https://theins.ru/en/news/253868

50 www.rts.ch/info/monde/13302505-kiev-et-moscou-saccusent-a-nouveau-de-tirs-sur-la-centrale-nucleaire-de-zaporijjia.html

51 https://youtu.be/KZDbFcYAbVE?t=1578

52 «Ukraine attacks Russian-held Kherson, plans counterattack», aljazeerah, 12 July 2022 (www.aljazeera.com/news/2022/7/12/ukraine-strikes-russian-held-kherson-as-kyiv-plans-counterattack)

53 www.rts.ch/info/monde/13342432-combats-intenses-dans-la-quasi-totalite-de-la-region-de-kherson.html

54 www.theguardian.com/world/live/2022/aug/19/russia-ukraine-war-putin-is-losing-information-war-in-ukraine-uk-spy-chief-says-live

55 https://t.me/milinfolive/88735

56 https://mezha.media/en/2022/05/12/brimstone-in-ukraine/

57 www.ilfattoquotidiano.it/2022/06/07/energoatom-contro-il-direttore-dellaiea-grossi-mai-invitato-a-zaporizhzhya-vuole-legittimare-la-permanenza-degli-occupanti/6618145/

58 https://www.maplecroft.com/insights/analysis/101-countries-witness-rise-in-civil-unrest-in-last-quarter-worst-yet-to-come-as-socioeconomic-pressures-build/

59 Dave Lawler: « Ukraine suffering up to 1,000 casualties per day in Donbas, official says », Axios, 15 juin 2022 (https://www.axios.com/2022/06/15/ukraine-1000-casualties-day-donbas-arakhamia)

60 https://charter97.org/en/news/2022/8/20/512116/

61 Lars Wienand: «Behörden ermitteln wegen Kriegspropaganda gegen Alina Lipp», t-online.de, 16 Juni 2022 (www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_92326694/putins-deutsches-sprachrohr-alina-lipp-behoerden-ermitteln-wegen-kriegspropaganda-.html)

62 https://ofsistorage.blob.core.windows.net/publishlive/2022format/ConList.html

63 https://data.unhcr.org/en/dataviz/107?sv=0&geo=0

64 https://data.unhcr.org/en/situations/ukraine

65 https://labs.letemps.ch/chat/custom/guerre-russie-ukraine-2704/

66 https://data.unhcr.org/en/situations/ukraine

9.9.2022

Neutralitätspolitik braucht einen Kompass

von Prof. Dr. Wolf Linder*

Mit der Neutralität haben Politikerinnen und Politiker ein echtes Verwirrspiel angezettelt. Es begann mit Aussenminister Cassis. Er verband die Sanktionen gegen Russland mit der Ankündigung einer Wende in der Aussenpolitik, die US-Präsident Biden prompt als das Ende der schweizerischen Neutralität verstand. Ebenso eilig plädierten die Präsidenten von FDP und Mitte für eine Annäherung an die Nato. Einige Grüne, zu Feldgrünen geworden, wollten starke Sanktionen von Demokratien gegen Nicht-Demokratien, als ob das Völkerrecht nicht für alle gälte. Schliesslich konnten die Wortmeldungen von alt Botschafter Guldimann und alt Bundesrat Blocher gegensätzlicher nicht sein: Der eine hält die Neutralität für überlebt, der andere will die Rückkehr zur integralen Neutralität.

Schulterschluss mit der Nato?

Seine Befürworter vergessen in der tagespolitischen Empörung über den Kriegseinfall Russlands und in der Verunsicherung über die sicherheitspolitische Lage eines: Dass aus dem ehemaligen Verteidigungsbündnis der Nato ein kriegsführender Akteur geworden ist – so in Afghanistan, Libyen, und in Serbien gar unter Missachtung des Völkerrechts. Sodann hätte die grössere, kollektive Wehrfähigkeit, die an der Seite der Nato für den Kriegsfall behauptet wird, einen grossen Preis, nämlich die Abhängigkeit von Dritten und die Einbindung in die geopolitischen Ziele der USA. Heute ist es diese Grossmacht, und weder die Ukraine noch Europa, die im derzeitigen Stellvertreterkrieg als Gewinner hervorgehen wird. Die USA haben nämlich dank der Fehleinschätzungen Putins auf jeden Fall erreicht, worauf sie seit Jahrzehnten hinarbeiten: Russland ist geschwächt, und die von den USA unerwünschte Annäherung zwischen Europa und Russland bleibt auf lange Sicht verhindert. Eine engere Anlehnung der Schweiz an die Nato würde daher bedeuten: 

Unser Land gerät noch mehr ins Schlepptau der Geopolitik der hegemonialen USA und eines von ihr abhängigen Europas.

Neutral aus Opportunismus?

Die Maxime der Neutralität, die fast neunzig Prozent der Stimmbürgerschaft unterstützen, bleibt einleuchtend: Keine direkte oder indirekte Beteiligung an fremden Kriegen, Gleichbehandlung der Kriegsparteien. Allerdings handelt sich diese Neutralität den Vorwurf des Opportunismus ein: Handel mit allen betreiben, aber keine politische Verantwortung übernehmen. Glaubwürdige  Neutralitätspolitik ist daher schwierig. Das zeigte sich vom Golfkrieg 1991 bis jüngstens zum Syrienkrieg, in denen die schweizerische Regierung zu entscheiden hatte, ob und wie weit sie an Sanktionen der Uno, an Interventionen der OSZE oder der EU teilnehmen sollte und konnte. Neutralitätspolitik wird nicht nur zufällig von den einen als opportunistisch, von den andern als aktivistisch bezeichnet. Das ist nicht bloss fehlender Kommunikation zuzuschreiben, sondern einem konzeptionellen Mangel: Der schweizerischen Neutralitätspolitik fehlt ein verlässlicher Kompass. Ein Kompass, der zwar Abweichungen erlaubt, um einzelne Hindernisse zu umfahren, der aber zuverlässig auf den eigentlichen Kurs der Reise zurückführt.

Universalität als Grundlage glaubwürdiger Neutralität

Die Landkarte für die Neutralitätspolitik hat sich verändert. Neutralität orientierte sich während langer Zeit am Raum der Nachbarländer, dann im Kalten Krieg an der West-Ost-Geopolitik, mit klarer ideeller Zuordnung zur westlichen Welt. Dabei kann es allerdings nicht bleiben. Die Position der Neutralität ist heute nur noch glaubwürdig, wenn sie sich als universell ausweist, damit also über Europa und die USA hinaus auch gegenüber China, Indien und den Südländern gilt. Es gibt keine «europäische» Neutralitätspolitik mehr, wenn sich Europa, EU und Nato zunehmend als ein geopolitisch relevanter Block verstehen – ein Machtkonglomerat, das bereit ist, seine Vorzugsstellung in der hoch ungleichen Weltwirtschaft mit allen Mitteln zu verteidigen.

Der Kern des universellen Völkerrechts als Kompass

Das Völkerrecht hat heute keinen besonders guten Ruf: Es gelte für die Schwachen, während Grossmächte sich darüber hinwegsetzten, wenn es ihnen nichts nütze oder gar nachteilig erscheine. Und: Über weite Teile sei das Völkerrecht gar nicht universell, sondern westlich geprägt und werde nur von einem Teil der Völkergemeinschaft anerkannt. Immerhin wird die Uno als Organisation zur Sicherung des Weltfriedens allseitig  akzeptiert; das gleiche gilt für ihre Grundsätze in der Uno-Charta von 1948. Der Kerngehalt dieses Dokuments, wie er in Art. 2 der Charta niedergelegt ist, könnte der Schweiz als Richtschnur für die Neutralitätspolitik dienen: Die Sicherung friedlicher Beziehungen, und das Verbot der Anwendung sowie der Androhung von Gewalt zwischen den Staaten.

Beschränkung auf Sanktionen der Uno

Internationale Sanktionen sind ein Testfall der Neutralitätspolitik: Zwangsmassnahmen, die im Fall des wirtschaftlichen Boykotts recht weit gehen können und mit denen ein Staat gezwungen werden soll, sein völkerrechtswidriges Verhalten zu unterlassen. Sanktionen, die vom Uno-Sicherheitsrat beschlossen werden, sind die einzigen Zwangsmassnahmen, die als universell gelten können. Sie sind für alle Uno-Mitglieder und damit auch für die Schweiz verbindlich. Nun befolgt aber die Schweiz nicht nur Sanktionen des Uno-Sicherheitsrats, sondern kann sich auch Zwangsmassnahmen der EU, der OSZE oder wichtigen Handelspartnern wie der USA anschliessen. Von den derzeit 24 Sanktionsfällen gegen Drittländer gehen zwei Drittel auf die Uno, ein Drittel auf die EU zurück.

Geht man von einer universell verstandenen Neutralität aus, so sollte die Schweiz den Sanktionen einzelner Länder oder auch der EU grundsätzlich nicht folgen. Es sind nämlich Zwangsmassnahmen, die sich nicht auf die Legitimation einer Mehrheit der Staaten der Völkergemeinschaft stützen. Sie erfüllen damit auch nicht das Kriterium völkerrechtlicher Universalität. Eine universelle Neutralitätspolitik der Schweiz müsste deshalb auch Fragezeichen setzen bei der Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland. Zu weltweit verbindlichen Sanktionen kam es bekanntlich nicht, weil Russland sein Veto gegen alle Aktionen im Uno-Sicherheitsrat einlegte. Das offenbart zum einen die Schwäche der Uno. Zum andern aber ist es Tatsache, dass die Russland-Sanktionen der USA, Grossbritanniens und der EU-Mitglieder nur von 36 der 193 Uno-Staaten mitgetragen werden. Das zeigt, dass weite Teile der Welt den Ukraine-Krieg und seine Ursachen anders beurteilen als die Regierungen, die Medien und die öffentliche Meinung in den USA und in Europa.

Selbstverantwortete Sanktionen und ihre Grenzen

Aber hätte es nicht zu einem riesengrossen Aufschrei von links bis rechts geführt, wenn der Bundesrat den EU-Massnahmen gegen den russischen Aggressor nicht gefolgt wäre? Dazu hätte es gar nicht kommen müssen. Denn der Bundesrat hätte, was jedem Land zusteht, eigene Sanktionen gegen Russland beschliessen können. Vielleicht hätte die schweizerische Liste der Massnahmen sehr ähnlich ausgesehen wie jene, welche die EU beschlossen hat. Der Unterschied liegt woanders: Statt die EU-Sanktionen abzusegnen, hätte der Bundesrat seine eigenen Entscheide mit Hinweis auf die schweizerische Neutralitätspolitik ausführlich begründen und verantworten müssen. Und eine nachfolgende parlamentarische Diskussion hätte der öffentlich-demokratischen Auseinandersetzung zur Eigenverantwortlichkeit neutraler Aussenpolitik nicht schaden können.

Nun hat der Nationalrat in der vergangenen Sommersession eine Ausweitung und Verschärfung der Sanktionskompetenzen des Bundesrats verlangt, dies vor allem auch zum stärkeren Schutz der Menschenrechte. Das könnte sich als Irrweg erweisen. Zwar sind Menschenrechte segensreich für den Schutz Einzelner gegen staatliche Willkür und Gewalt. Aber: So sehr sich die Schweiz mit der «westlichen Wertegemeinschaft» von Demokratie und Menschenrechten identifiziert, so wenig eignen sich diese als Massstab für eine neutrale Sanktionspolitik. Die Beispiele Afghanistan oder des Irak stehen für viele.

Denn zum einen werden vermehrt nicht nur Sanktionen, sondern sogar militärische Angriffe der «westlichen Wertegemeinschaft» auf ein anderes Land als «humanitäre Intervention» gerechtfertigt und dabei die geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen ihrer Akteure vernebelt. In solchen Fällen wird der humanitäre Sinn der Menschenrechte korrumpiert und in sein Gegenteil verkehrt. Dasselbe gilt für die zahlreichen «regime change»-Aktionen zur «Verteidigung der Demokratie», wie etwa der Erdöl-Boykott der USA gegen Venezuela, der zum Sturz der Regierung Madura hätte führen sollen. 

Zum andern kommt die «westliche Wertegemeinschaft» noch nicht damit zurecht, dass weniger als die Hälfte der Menschheit in Demokratien lebt und dass der anderen Hälfte mit westlichen Demokratie-Exporten kaum geholfen werden kann. Zu wenig beachtet wird, dass viele Staaten – aufgrund völlig anderer Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen – die Menschenrechte anders auffassen als westliche Länder oder Teile von diesen gar nicht realisieren können: Mehr als vier Milliarden Menschen verfügen heute weder über Einkommenssicherheit noch über die Absicherung durch ein nationales Sicherheitssystem. Sie überleben mit vormonetären Ordnungsvorstellungen, zum Beispiel mit verbindlichen Verwandtschafts-, Geschlechts- oder Generationenrollen, die sich deutlich von unseren individuen-zentrierten Menschenrechtsvorstellungen unterscheiden.

Selbstverständlich soll und kann die Schweiz ihre eigenen Rechtsvorstellungen zu Menschenrechten und Demokratie in allen Handelsbeziehungen zum Ausdruck bringen – das ist ein Prozess von Geben und Nehmen. Etwas ganz anderes ist es, fremdes Recht einseitig als Unrecht zu sanktionieren. Dies verlangt grösste Zurückhaltung, solange darin keine Friedensbedrohung erkennbar ist.

Neutralitätspolitik als Friedensbeitrag

Man soll die Uno nicht idealisieren. Friedenssichernde Aktionen werden oft sabotiert durch das Veto der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats. Die nicht bindenden Resolutionen der Vollversammlung spiegeln oft einzelstaatlichen Egoismus, geopolitische Abhängigkeiten und sind verzerrt durch die einseitigen realen Machtverhältnisse. Von den friedensgefährdenden Völkerrechtsverletzungen kommt nur ein Teil auf die Agenda der Uno, und von ihren Resolutionen bleiben viele kaum beachtet und folgenlos. Wo Macht das Recht aus dem Feld schlägt, braucht es mehr und stärkere Stimmen. Die Schweiz könnte eine von ihnen sein: Eine verlässliche Stimme, die Rechtsverletzungen rechtzeitig benennt – und zwar unabhängig davon, wer sie begeht. Eine Stimme, die auf der Einhaltung des Völkerrechts insistiert, soweit es um das Kernmandat der Uno- Charta geht, nämlich den Gewaltverzicht jedes Staates gegen jeden anderen. Das wäre ein fokussierters Neutralitäts-Mandat, könnte aber unbefangen, unbeirrt und unabhängig gegenüber allen Seiten ausgeübt werden.

Die Schweiz braucht keine aktivistische Aussenpolitik, hingegen eine eng an den Rechtsgrundsätzen der Charta der Vereinten Nationen orientierte Friedenspolitik. Ob sie gegenüber wirtschaftlichen Druckversuchen von aussen standhalten könnte und die Schweiz als glaubwürdigen Vermittler stärken könnte, ist eine offene Frage. Sie verlangte auf jeden Fall Politik im Sinne Max Webers: Das starke, langsame Bohren von harten Brettern. Sie könnte der Neutralität unseres Landes über die Guten Dienste hinaus ein verlässliches Profil geben; eines, das ihr bei Dritten Anerkennung und Vertrauen verschafft. Das IKRK, ebenfalls einem engen Mandat und seinen Rechtsgrundsätzen verpflichtet, ist ein Vorbild für eine unabhängige und glaubwürdige Stimme, die nicht immer schweigt, aber trotzdem weltweites Ansehen geniesst. Solches wünsche ich mir auch für eine zeitgemässe schweizerische Neutralitätspolitik: universell verstandene Neutralität mit einem Kompass.

* Wolf Linder, Jurist und Politikwissenschaftler, war Professor in Lausanne, Genf und Bern. Er ist u.a. Experte für das Schweizerische Politiksystem, für innenpolitische Entscheidungsprozesse und Demokratietheorie. Er ist Autor mehrerer Bücher und Verfasser zahlreicher Aufsätze u.a. zur Schweizer Politik.

9.9.2022

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