Covid-19: Zeit, die Strategie zu überprüfen

von Prof. Dr. med. Pietro Vernazza*

In den letzten Tagen hat sich eine gewisse Nervosität breitgemacht. Plötzlich werden neue, dringliche Massnahmen, eine Ausweitung der Teststrategie, ja sogar ein Lockdown gefordert. Lassen wir uns etwas Zeit, die Lage gründlich zu analysieren! So können wir allfällige Schlussfolgerungen interdisziplinär ziehen und Massnahmen im Konsens umsetzen. Dabei sollten wir Fragen zur Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit unserer Massnahmen einbeziehen und auch Fragen zur Akzeptanz in der Bevölkerung. Es ist Zeit für eine Standortbestimmung und die fundierte Planung der weiteren Schritte.

https://infekt.ch/2020/10/covid-19-zeit-die-strategie-zu-ueberpruefen/

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Wo stehen wir heute? Im Moment sind wir beeindruckt von den hohen Fallzahlen. Gestern [08.10.20]wurde sogar die Rekordmarke von 1464 übertroffen. Bereits dreimal vierstellig! Während der gesamten ersten Welle lagen die Fallzahlen «nur« gerade elfmal bei über tausend pro Tag. Bereits spricht man von einer zweiten Welle. Doch der Eindruck täuscht.

Der aktuelle Anstieg der Fallzahlen ist eine direkte Folge der heutigen Strategie. Diese wird oft bei neuen Infektionskrankheiten eingesetzt: Mit dem «Containment«, der Strategie des Einschliessens, will man die weitere Ausbreitung des Virus stoppen. Dies durch frühzeitige Erkennung und Isolation von möglichst allen Infizierten und Quarantäne von deren Kontaktpersonen. Diese Strategie war beispielsweise erfolgreich bei SARS oder Ebola.

Der Anstieg der Testungen auf 15 000 pro Tag ist somit als Erfolg zu werten; dass die Fälle zunehmen, ist die logische Konsequenz. Es sind vorwiegend milde Fälle, denn die Hospitalisationszahlen  bleiben auf tiefem Niveau (s. Abb.). Wir haben die Strategie gut umgesetzt. Bei den hohen Fallzahlen handelt es sich mehrheitlich um milde oder symptomlose Fälle, die während der ersten Welle in der «Dunkelziffer« untergingen.

Dennoch müssen wir nun auch europaweit erkennen, dass die Strategie längerfristig kaum aufrechtzuerhalten ist. Das Ziel des «Einschliessens« wird unrealistisch. Das Virus ist in allen Ländern verbreitet. Von Stoppen kann keine Rede mehr sein. Mit den Wintermonaten werden die Zahlen weiter ansteigen.

Haben wir also versagt? Nein, im Gegensatz zu SARS und Ebola wird Covid-19 in rund der Hälfte der Fälle von symptomlosen Personen übertragen. Gemeint sind nicht (nur) Personen, die nie Symptome zeigen, sondern die Phase der Infektion, bevor die Betroffenen Symptome entwickeln. Man schätzt, dass rund die Hälfte der Infektionen zu einem Zeitpunkt übertragen werden, wo die Infizierten noch keine Symptome zeigen. Es ist deshalb an der Zeit, einen Strategiewechsel zu prüfen. Denn der Aufwand für die Containment-Strategie wächst ins Unermessliche. Alleine die Testungen würden uns in sechs Monaten über eine Milliarde Franken kosten. Die Quarantäne-Massnahmen werden Arbeitsausfälle im Gegenwert von mehreren Milliarden Franken verursachen. Sie sind nicht wirtschaftlich und – schlimmer noch – sie sind nicht wirksam. Von allen Reiserückkehrern in der Quarantäne bleiben über 99 Prozent ohne Erkrankung. Ein ineffizienter Ressourcenverschleiss.

Ein Verzicht auf die Aufrechterhaltung der Containment-Strategie bedeutet: Keine umfangreiche Testung und keine grossangelegten Quarantänemassnahmen mehr – dies zugunsten der neuen Strategie der Abschwächung («Mitigation«). Das heisst, wir wollen nicht mehr jede Infektion verhindern, sondern wir wollen die Häufigkeit der Infektionen reduzieren. Denn letztendlich geht es immer noch um das Ziel, die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Das ist durchaus möglich. Wenn wir kranke Personen zu Hause isolieren für die Zeit, in der sie Symptome zeigen, dann können wir rund die Hälfte aller Infektionen verhindern. Ein Test ist nur sinnvoll bei Personen, die so krank sind, dass sie hospitalisiert werden müssen. Denn eines bleibt wichtig: Wir müssen die Gefährdung des Gesundheitssystems rechtzeitig erkennen können. Dazu brauchen wir verlässliche Daten zu den Hospitalisationen. Hinzu kommen die Hygienemassnahmen, sie behalten ihre Gültigkeit, sind nachvollziehbar und breit akzeptiert, insbesondere bei gefährdeten Personen.

Weitere Aufgaben gibt es zuhauf. Wichtig wäre eine gute Überwachung der Infektionshäufigkeit bei besonders gefährdeten Gruppen. Dazu braucht es eine systematische Erfassung insbesondere in Alters- und Pflegeeinrichtungen. Erste Erkenntnisse lassen vermuten, dass wir die Gefährlichkeit der Erkrankung bei alten Menschen überschätzt haben. Das müssen wir überprüfen. Vielleicht sind auch bei älteren Menschen mildere Erkrankungen häufiger als angenommen. Nicht überraschen würde uns, wenn die Aggressivität des Virus über die Zeit abnimmt. Um solche Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, brauchen wir eine gut durchgeführte Surveillance.

Covid-19 wird nicht verschwinden. Es wird Teil unseres Lebens werden. Gut zu wissen, dass unser Abwehrsystem in den Jahrmillionen der Evolution Methoden entwickelt hat, die uns helfen, mit solchen Erregern umzugehen. Letztendlich bin ich überzeugt, dass unser Immunsystem uns mehr hilft als alle Plastikwände, Masken und Desinfektionsmittel. 

Quelle: https://infekt.ch/2020/10/covid-19-zeit-die-strategie-zu-ueberpruefen/

* Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist Chefarzt der Infektiologie und seit 1985 beim Kantonsspital St. Gallen, Klinik für Infektiologie/Spitalhygiene, tätig.

 

Italien – Maskenpflicht im Freien als neues Geschäftsmodell?

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Als ich am 8. Oktober aus einem kleinen Dorf in Italien in die Schweiz zurückfahre, höre ich in den Nachrichten, dass ab heute in ganz Italien die Maskenpflicht auch im Freien gilt. Und das in Italien, das in weiten Teilen aus nur schwachbesiedelten Landschaften besteht? Eine unverständliche Massnahme, die ich nur noch mit «Die spinnen, die Römer!« (frei nach Goscinny/Uderzo) kommentieren kann. 

Zwei Wochen später finde ich in einer Sitzung der «Stiftung Corona Ausschuss» einen interessantenHinweis¹, der die von der italienischen Regierung verfügten Massnahme einer Maskenpflicht auch im Freien erklären könnte. 

Die Rechtsänwältin und Volkswirtin Renate Holzeisen aus dem italienischen Südtirol berichtete zum wirtschaftlich-politischen Hintergrund der Maskenpflicht in Italien folgendes:

«In Italien sind unsere Leitmedien besonders konzentriert auf zwei Interessengruppen, und dabei ist besonders jene Gruppe interessant, die von der Familienholding der Agnellis, der Gruppe Fiat-Chrysler, gehalten wird. Dazu gehören wichtige Tageszeitungen wie ‹La Republica› oder ‹La Stampa› oder eben eine Wochenzeitung wie ‹L’Espresso›  usw. und so fort. Das ist insofern wichtig zu wissen, da die Gruppe Fiat-Chrysler mittlerweile sozusagen zum grössten industriellen Partner der Regierung in der ‹Bekämpfung des Virus›, wie die Parole heisst, geworden ist, und deshalb die Gruppe Fiat-Chrysler den grössten Auftrag zur Produktion von chirurgischen Masken erhalten hat. Sie produzieren 27 Millionen Masken pro Tag, das führt zu einem Umsatzvolumen – das wurde berechnet und das kam auch in ganz wenigen kritischen Medien – von 13,5 Millionen Euro pro Tag, 400 Millionen im Monat, das wären dann 5 Milliarden Euro im Jahr, ein Umsatz für eine Gruppe mit diesen chirurgischen Masken. Also das ist der absolut grösste Auftrag für Maskenproduktion, den die Regierung gegeben hat. Das ist natürlich auch für einen Automobilkonzern interessant in dieser Grössenordnung, wo doch der Umsatz mit den Autos drastisch eingebrochen ist. Mit dieser Massnahme konnten über 600 Arbeitsplätze in Italien jetzt einmal erhalten werden. Das hat natürlich auch die Zustimmung der Gewerkschaften. Man kann sich natürlich dann vorstellen, wie die Berichterstattung ist über die generelle Maskenpflicht auch im Freien. Man kann über eine Maskenpflicht in bestimmten Situationen diskutieren, aber eine generelle Maskenpflicht im Freien ist doch etwas, was dem durchschnittlichen Hausverstand einfach widerspricht. Hier geht es jetzt darum, dass man natürlich diese Masken unter die Leute bringen muss. 

Hier gibt es jetzt ein Abkommen zwischen der Regierung und dieser in Italien nach wie vor äusserst wichtigen Unternehmensgruppe, das im August abgeschlossen wurde. Das führt jetzt eben dazu, dass täglich 11 Millionen chirurgische Masken allein den Schulen geliefert werden, abgesehen von den 170 000 Litern Desinfizierungsgel pro Woche, die den Schulen geliefert werden. Dieser Masken-Deal, der eine grosse wirtschaftliche Bedeutung auch für diese Gruppe hat und eine sehr auffällige Berichterstattung in den Medien, die zu dieser Gruppe gehören, die soweit geht, dass man in den Artikeln beispielsweise den Eltern nahelegt, den Kindern das Maskentragen schmackhafter zu machen. Man solle doch den Stofftieren, also dem Teddybär so eine Kindermaske aufziehen, damit die Kinder mit dem Teddybär mit der Kindermaske spielen, das ist dann doch etwas, was sehr, sehr nachdenklich stimmt. […] Von diesem Abkommen wissen die Wenigsten, weil es in den Leitmedien nicht kommt.» 

Was die Rechtsanwältin hier äussert, stimmt auch mich sehr nachdenklich. Noch im Frühjahr war aus Bern zu hören, dass die Wirksamkeit von Gesichtsmasken sehr bezweifelt werden muss. Und jetzt wird in der Schweiz eine  flächendeckende Maskenpflicht im Innern von Gebäuden verordnet als die Präventionsmassnahme? Unterhält man sich mit seinen Mitbürgern in der Stadt und auf dem Land, spürt man immer wieder Missbehagen. So meinte eine alte Bäuerin: «De Chalber händ’s de Muulchorb verbote, aber mir müend en anzieh?» 

1 live-Stream Sitzung 21: Die Konzerne und die Korruption 

 

«Der Westen korrumpiert den Menschenrechtsrat als Instrument für den «Regime-change««

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas (Bild thk)
Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Welche Zielsetzungen hat der Uno-Menschenrechtsrat?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Dieselben wie die 1946 gegründete Menschenrechtskommission, die die bis 2006 Bestand hatte, die Universelle Deklaration der Menschenrechte annahm und etliche menschenrechtliche Verträge erarbeitete. Die Zielsetzung ist einfach: Die Menschenrechte für alle Menschen in allen Ländern zu fördern. Dafür sind drei Kompetenzen notwendig: Erarbeitung der Normen (standard setting), Beobachtung der Praxis der Staaten (monitoring) und die Umsetzung der Menschenrechte (implementation) durch geeignete Mechanismen. Hinzu kommt die Beratung (advisory services) und Umsetzungsunterstützung (technical assistance) des Uno- Hochkommissars für Menschenrechte, um den Staaten, die solche Hilfe bei der Einführung der Menschenrechte beantragen, zu unterstützen. In etlichen Resolutionen ist die Zielsetzung, die Menschenwürde durch konstruktive Aktionspläne konkret zu fördern. 

Wie würden Sie die Menschenrechte definieren?

Eine lebenslange Beschäftigung mit den Menschenrechten – als Sekretär des Uno-Menschenrechtsausschusses, als Chef der Petitions-Abteilung, als Uno-Sonderberichterstatter, als Präsident einer Nicht-Regierungsorganisation für Menschenrechte und als Völkerrechtsprofessor – hat mich gelehrt, dass die Menschenrechte ein holistisches System bilden, dass sich die Menschenrechte gegenseitig stützen und voneinander abhängig sind. Der triviale Slogan, wonach alle Menschenrechte gleich sind, trifft natürlich nicht zu. Gewiss gibt es Prioritäten bzw. eine Hierarchie der Menschenrechte. Eigentlich kann man die Menschenrechte unter zwei Hauptkategorien subsumieren: Erstens, das Recht auf Leben, welches das Recht auf die persönliche Integrität, auf Nahrung, Wasser, Gesundheitsversorgung und angemessene Wohnverhältnisse notwendigerweise voraussetzt. Zweitens, das Recht auf effektiven Schutz der Menschenwürde, das Recht auf die eigene Persönlichkeit, auf die eigene Kultur und Identität, das Recht, sein Leben frei zu gestalten, was eben ein individuelles und kollektives Recht auf Selbstbestimmung bedeutet.  Alle anderen Rechte können diesen beiden Hauptkategorien untergeordnet werden. 

Werden diese Vorgaben von allen gleich verstanden?

Leider nicht. Der Westen will den Menschenrechtsrat vor allem als Waffe gegen geopolitische Rivalen einsetzen und verwendet dabei die Methode des «Naming and Shaming», gezielt natürlich gegen bestimmte Gegner, nicht objektiv gegen alle Menschenrechtsverletzer. Man dämonisiert einen geopolitischen oder geoökonomischen Gegner, um ihn dann als Konkurrent ausschalten zu können. Der Westen denkt nicht daran, alle anderen Völker als gleichberechtigt anzusehen – und korrumpiert den Menschenrechtsrat als Instrument für den «Regime-change» so wie in den Verleumdungskampagnen gegen Belarus, Kuba, Nicaragua, Syrien, Venezuela usw. Der Westen – nicht nur die USA, sondern auch Grossbritannien, Frankreich, Deutschland – benimmt sich wie Gladiatoren in der Uno-Arena und ihnen wird von einer Meute Nichtregierungsorganisationen, die sich gerne «Civil Society» nennt, applaudiert. Und natürlich berichten die Mainstream-Medien entsprechend. 

Wie werden von den westlichen Staaten die Menschenrechte vertreten?

Die sogenannt Westliche Gruppe befürwortet vor allem «business friendly» Menschenrechte wie das Recht auf Privateigentum und das Recht der Privatkonzerne, also, das Recht, Geld zu verdienen.  Was andere bürgerliche und politische Rechte betrifft, werden nur die Verfehlungen von geopolitischen Rivalen angeprangert, nicht aber jene von alliierten Ländern, so werden z. B. die täglichen gröbsten Menschenrechtsverletzungen in Brasilien, Chile, Ecuador, Honduras, Kolumbien, Peru und Israel von der westlichen Gruppe bagatellisiert bzw. ignoriert.

Nach welchen Kriterien werden die Mitgliedsländer ausgewählt?

Im Prinzip gibt es keine Kriterien. Es reicht, Uno-Mitglied zu sein. Danach kommen die politischen Geschäfte, «do ut des», Intrigen, Schikane etc. Deshalb habe ich vorgeschlagen, dass der Menschenrechtsrat genauso wie die Generalversammlung universal sein muss. Alle Staaten haben etwas zu sagen, und sie sollten nicht vorweg ausgeschlossen werden. 

Man spricht in unseren Zeitungen von Autokratien, die in den Menschenrechtsrat gewählt wurden, und meint damit Kuba, China und Russland. Teilen Sie diese Auffassung?

Absolut nicht. Die Zeitungen vergessen, dass die Uno für alle da ist und dass die Generalversammlung etliche Male klargestellt hat, dass es nicht nur ein Modell von Demokratie gibt, dass alle Staaten Probleme haben, welche die Uno durch internationale Solidarität und Multilateralismus zu korrigieren versucht.

Wie ist das zu verstehen?

Also – nicht allein die Demokratien westlicher Prägung sind gut – alle Regierungsformen, die eine gewisse Beteiligung der Bevölkerung aufweisen, gehören dazu. 

Demokratie bedeutet Demos plus Kratos – Regierung durch das Volk. Leider gibt es das so gut wie nirgends auf der Welt – gewiss nicht in den USA, Kanada, UK, EU – wo das Volk relativ wenig zu sagen hat. Ja, man kann für Kandidat A oder Kandidat B seine Stimme abgeben, aber diese Kandidaten tun, was die Lobbys, was die Banken, was der militärisch-industrielle Komplex verlangen. 

Welche «Demokratie» erfüllt diesen Anspruch? 

Nur die direkte bzw. semi-direkte Demokratie, in der das Initiativ- und Referendumsrecht garantiert sind und praktiziert werden – nur dort kann man von Demokratie reden. Das trifft in grossem Masse auf die Schweiz zu. Das einzige Land, in dem die Bürger so viele Möglichkeiten der politischen Mitsprache und der direkten Entscheidung auf komunaler- und Bundesebene haben. Ein Staat ist noch keine Demokratie, wenn alle 2 oder 4 Jahre Wahlen abgehalten werden. Die sogenannte repräsentative Demokratie ist keine Demokratie, denn die Erfahrung zeigt, dass die Repräsentanten eben nicht repräsentieren bzw. die Interessen des Volkes nicht vertreten, sondern vor allem die Interessen der Lobbys. Und sogar in der Schweiz gibt es nicht immer diese Korrelation zwischen der Politik und dem, was das Volk will oder benötigt. Man muss bedenken, dass das Geld überall, auch in der Schweiz, grossen Einfluss hat und dass die grossen Zeitungen und Medien regelmässig «fake news» und «fake law» verbreiten, so dass das Volk nicht immer objektiv informiert ist, um sich ein eigenständiges Urteil zu bilden.

Der Menschenrechtsrat ist also ein Gremium des Westens, das wie die Kommission den anderen Ländern sagt, was sie zu tun haben?

Der Menschenrechtsrat und die Kommission standen und stehen beide unter ökonomischem Druck des Westens. Beide gaben und geben Lippenbekenntnisse über die Bedeutung der Menschenwürde ab, aber oft genug fördern sie nur «wirtschaftsfreundliche Menschenrechte« und vergessen dabei die sozialen und kulturellen Rechte. Für einen hungernden Afrikaner, Inder, Jemeniten ist das Recht zu investieren kaum relevant, auch das Recht auf Meinungsfreiheit besitzt einen niedrigen Stellenwert, denn was sie dringender brauchen ist Arbeit, Brot, Trinkwasser und würdige Wohnverhältnisse. Ich erinnere mich, wie die Staaten der Europäischen Union in den Jahren 2003 und 2004 die USA in Schutz nahmen, um eine unabhängige Untersuchung der gulagartigen Situation und der Folter in Guantanamo zu blockieren.

Die USA haben unter Trump, aber auch schon unter Bush, den Menschenrechtsrat verlassen. Entziehen sie sich somit der Kritik an den von ihnen begangenen Menschenrechtsverletzungen?

Eigentlich nicht. Viele Staaten kritisieren nach wie vor die Politik der USA, und am 9. November 2020 wird sich der Universal Periodic Review mit den USA beschäftigen.¹ 

Nicht formelle Mitgliedschaft im Menschenrechtsrat bedeutet auch nicht, dass die USA ihren Einfluss verloren hätten, denn der US- Botschafter setzt andere Botschafter nach wie vor unter Druck. Drohungen aus der US-Mission sind an der Tagesordnung – oder die ausländischen Botschafter werden in Washington durch das State Department direkt «bearbeitet«. Die USA haben immer «Bullying» als Methode eingesetzt.

Wo sehen Sie einen Ansatz, dass die Menschenrechte besser umgesetzt und geschützt werden könnten?

Ein Uno-Generalsekretär und ein Uno-Hochkommissar für Menschenrechte, die wirklich von den Menschenrechten beseelt sind, könnten viel bewirken. Aber die Menschenrechte sind so politisiert worden, dass man nirgends einer echten Verpflichtung zur Menschenwürde begegnet. Die Nichtregierungsorganisationen sind längst korrumpiert worden, und viele sind nur Instrumente Washingtons bzw. europäischer Staaten, Australiens oder Kanadas. Die amerikanische «National Endowment for Democracy» und «USAID» tun ihr Bestes, Begriffe wie Demokratie und Menschenrechte zu korrumpieren. Hinzu kommen die «Philantrokapitalisten» wie George Soros, die überall Geld geben, um Regierungen zu destabilisieren. Natürlich im Namen der «Menschenrechte».

Welche Wirkungen könnte die neue Mitgliedschaft von Kuba, China und der Russischen Föderation auf die Arbeit des Menschenrechtsrats haben?

Nun, da diese drei Staaten ab Januar 2021 Mitglieder des Menschenrechtsrates sind, kann man erwarten, dass die Bevormundung des Gremiums durch die USA und EU etwas geschwächt sein wird.  Vor allem werden sich die Prioritäten etwas ändern. Man wird vermehrt gegen Militarisierung und Krieg argumentieren. Man wird das Menschenrecht auf Frieden fördern. Man wird die Sanktionspolitik der USA ablehnen, die ohnehin völkerrechtswidrig ist. Man wird konkret für die Sustainable Development Goals (Ziele für nachhaltige Entwicklung) arbeiten.² 

Was müsste geändert werden?

Man muss auf alle Fälle versuchen, wieder auf konstruktive Programme abzustellen, auf respektvollen Dialog, auf internationale Solidarität. Man muss die «Naming and Shaming»-Maskerade aufgeben und statt dessen darüber nachdenken, wie durch Multilateralismus und internationale Kooperation die Menschenrechte konkret gefördert werden können und wie globale Probleme wie Climate Change und Pandemien durch gemeinsam koordinierte Aktionen gelöst werden können. Man müsste auch für die Post-Covid-Welt planen, denn die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen der Pandemie sind kolossal.

Die Hauptkrankheiten des Menschenrechtsrates heissen: Selektivität und Doppelmoral. Das Völkerrecht wird nach Belieben angewandt, die Menschenrechte hier so, dort anders – à la carte. Das ist nicht im Sinn und Geist der Uno- und ihrer Prinzipien. Hier müsste viel mehr ein ehrlicher und aufrichtiger Umgang mit den Menschenrechten und ein verlässlicher Dialog unter allen Staaten gefördert werden. 

Herr Professor de Zayas, ich danke Ihnen für das Interview.

Interview Thomas Kaiser

¹ https://www.ohchr.org/EN/HRBodies/UPR/Pages/USIndex.aspx

² https://www.un.org/Depts/german/gv-70/band1/ar70001.pdf

Gefahren von «frozen conflicts« im europäischen Raum

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Seit einigen Wochen ist der Ende der achtziger Jahre entstandene Konflikt um Bergkarabach wieder virulent. Die Kriegshandlungen, die mutmasslich von Aserbaidschan ausgegangen sind und sich gegen das Gebiet Bergkarabach richten, haben bereits eine Vielzahl von Toten und Verwundeten gefordert. Verschiedene Allianzen scheinen sich im Hintergrund des Konflikts gebildet zu haben, und es ist bis jetzt nicht klar, wer welche Suppe darin kocht. Offensichtlich sind nicht religiöse Spannungen der Auslöser dieser Auseinandersetzung, wie manche Medien glauben machen wollen. Auch in und um Zypern gibt es seit einigen Wochen erhöhte Spannungen, die gewisse Parallelen zum Konflikt in Armenien aufweisen. Die folgenden Interviews setzen sich mit den Ursachen der Konflikte auseinander und versuchen, die undurchsichtige Lage etwas zu erhellen; dabei spielt die völkerrechtliche Einordnung eine wesentliche Rolle. 

Zeitgeschehen im Fokus Was ist die Ursache für die Zuspitzung zwischen Griechenland und der Türkei? 

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Dabei geht es vor allem um Zypern. In der Ausgangslage ist es eine ähnliche Situation, wie wir sie zwischen Armenien und Aserbaidschan haben, nämlich einen ungelösten eingefrorenen Konflikt (frozen conflict). Ausserdem gibt es grosse Gasvorkommen, die in der exklusiven Zone von Zypern liegen. 

Wie ist die aktuelle Situation in Zypern?

Ein Teil Zyperns ist nach wie vor von der Türkei besetzt. Nordzypern wird als Staat einzig von der Türkei anerkannt. Die Auseinandersetzungen spielten sich in den 70er Jahren ab. Zwischen beiden Teilen gibt es eine neutrale Zone, die auch von einer Uno-Mission kontrolliert wird. Militärische Auseinandersetzungen finden keine mehr statt. Aber gelöst ist das Problem nicht.

Was muss man sich in Bezug auf Zypern unter einem «eingefrorenen Konflikt« vorstellen?

Völkerrechtlich sind die Ansprüche geklärt, aber von der Türkei wird das nicht akzeptiert. Damit haben wir dort seit den 70er Jahren juristisch gesehen eine klare Situation, die im Widerspruch zur tatsächlichen Situation steht. Und es bewegt sich seit langem so gut wie nichts.

Warum wird dieser Konflikt nun wieder virulent?

Es gab im östlichen Mittelmeer in den letzten Jahren umfangreiche Erdgasfunde. Hier stellt sich grundsätzlich die Frage, ob es ökologisch sinnvoll ist, grosse Explorationsgeschäfte im östlichen Mittelmeer zu starten. Dennoch haben verschiedene Akteure ein grosses Interesse an den Erdgasvorkommen. Die Türkei ist seit einigen Jahren in der Wirtschaftszone aktiv, die eigentlich zu Zypern gehört. Aber die Türkei anerkennt Zypern in der Form nicht. Zypern verfügt über verschiedene Öl- und Gasfelder und hatte mit internationalen Ölkonzernen Verträge über Bohrungen abgeschlossen, z. B. mit ENI aus Italien oder TOTAL aus Frankreich. Das ignoriert die Türkei und ist dort mit eigenen Bohrschiffen unterwegs, um in der exklusiven Zone zu forschen. Zunächst mit Schalluntersuchungen, aber in der jüngsten Vergangenheit haben sie auch begonnen, dort zu bohren. Sie sichern ihre Aktivitäten mit militärischer Präsenz ab. Das ist ein ziemlicher Affront gegenüber Zypern.

Zypern ist EU-Mitglied. Wie verhält sich die EU?

Im Europäischen Rat gab es in den letzten Wochen heftige Auseinandersetzungen zwischen Zypern, unterstützt von Griechenland und im Hintergrund von Frankreich, auf der einen Seite und Deutschland auf der anderen um die Frage von Sanktionen gegen Belarus. Man hat im Zuge der Gewalt, die nach der mutmasslich gefälschten Präsidentschaftswahl ausgeübt wurde, gegen ranghohe Regierungsvertreter, die für Gewalt, Folter und Wahlmanipulation verantwortlich sein sollen, Sanktionen erlassen. So etwas muss im Europäischen Rat immer einstimmig beschlossen werden. Die Aussenpolitik muss im Europäischen Rat noch mit Einstimmigkeit festgelegt werden. Zypern hat klar gemacht, dass es grundsätzlich nichts gegen Sanktionen gegen Belarus hat, aber nur wenn auch Sanktionen gegen die Türkei wegen der illegalen Bohrungen ergriffen werden.

Diese Sanktionen gegen die Türkei hat es aber nicht gegeben?

Nein, Deutschland hat das um jeden Preis verhindern wollen. Zypern hat jetzt den Sanktionen zugestimmt und damit die Blockade gelöst. Dazu gab es einen Deal im Hintergrund, nämlich dass die Türkei die Bohrschiffe abzieht, was tatsächlich auch geschehen ist. Auch gab es im Beschluss des Europäischen Rates einen Verweis auf eine Uno-Resolution betreffend die Situation in Zypern. Damit war dann Zypern zufrieden. Die Auseinandersetzung hat sechs Wochen gedauert, man wollte schon vor mehr als einem Monat die Sanktionen verhängen. Diese Auseinandersetzung hat sich also sehr lange hingezogen. 

Warum hat Deutschland diese pro-türkische Position in dieser Auseinandersetzung eingenommen?

Für mich ist es eine der eindrücklichsten Erkenntnisse in meiner Bundestagstätigkeit, wie stark die Bindungen der Deutschen zu historischen Bündnispartnern sind. Deutschland war historisch mit dem Osmanischen Reich verbunden. Es gibt bei uns auch eine Debatte, wie weit deutsche Militärs am armenischen Völkermord beteiligt waren. In dem Zusammenhang wird deutlich, dass es immer eine feste Achse zwischen dem Deutschen Reich und der Türkei bzw. seinem Vorgängerstaat gegeben hat. Gegenüber Zypern und Griechenland ist die deutsche Aussenpolitik viel zurückhaltender, um es einmal diplomatisch auszudrücken. Das Ganze ist schon absurd, denn Griechenland ist Mitglied der EU und Zypern ebenfalls. Eigentlich müsste die EU sich an die Seite Griechenlands stellen und der Türkei sagen, dass so etwas nicht toleriert wird.

Warum geschieht das nicht?

Hier wird ganz klar von Deutschland blockiert. Jenseits aller Rhetorik von gemeinsamen Werten in der EU oder dem deutsch-französischen Motor sieht man die alten historischen geopolitischen Linien. Vor drei Wochen war Angela Merkel im Europaausschuss, und ich habe sie wegen der weichen Haltung gegenüber der Türkei befragt. Sie hat das bestätigt, dass die alten historischen Linien noch da seien und dass die Türkei für Deutschland der Schlüssel zur ganzen Region sei. Auch der Flüchtlingsdeal ist ein Ausdruck dieser geopolitischen Linien. Dieser Deal war eine Idee von Deutschland mit dem Ziel, die EU auf dieser türkeifreundlichen Linie zu halten.

Quelle: wikimedia.org

Quelle: wikimedia.org

 

 

Inwieweit gibt es Parallelen zum Konflikt um Bergkarabach?

Es gibt natürlich Parallelen. Wir haben auch hier eine religiöse Überlagerung. Die griechischen Zyprioten sind griechisch-orthodox und die türkischen Zyprioten sind muslimisch. In Aserbaidschan leben Muslime, und Armenien ist christlich geprägt. Das ist nicht die Ursache, aber es überlagert die Konflikte, und die Religion wird zum Instrument solcher Auseinandersetzungen. Im Konflikt um Bergkarabach prallen wie im Konflikt um die Krim zwei völkerrechtliche Prinzipien aufeinander. Einerseits die territoriale Integrität und auf der anderen Seite das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Mehrheit der Menschen in Bergkarabach sind Armenier, die entweder unabhängig sein oder zu Armenien gehören wollen. Es ist eine ähnliche Lage wie auf der Krim, im Kosovo oder auch in Katalonien.

Der Konflikt ist doch schon älter, warum jetzt diese Eskalation?

Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es einen heftigen Krieg und seitdem gibt es einen «frozen conflict» und Verhandlungen in der Minsk-Gruppe unter der Leitung der USA, Russlands und Frankreichs. Russland ist neben der Türkei eine dominierende Macht in der Region und seit 22 Jahren kommen diese Verhandlungen nicht voran. Man trifft sich in Minsk, aber es gibt kaum Fortschritte. Im letzten Jahr ist die Rhetorik von Aserbaidschan aggressiver geworden. Es kam auch jetzt zur militärischen Auseinandersetzung, und zwar eher von Aserbaidschan angetrieben, unterstützt durch die Türkei.

Inwieweit mischt hier, wie behauptet wird, Erdogan mit?

Es ist skandalös und schlimm, dass er den Konflikt weiter vorantreibt, indem er Dschihadisten aus Syrien nach Bergkarabach schickt, die an der Seite Aserbaidschans Geländegewinne im Krieg gegen Armenien erzielen sollen. Darüber gibt es glaubwürdige Berichte. Es ist Ausdruck der aggressiven Aussenpolitik Erdogans.

Was für eine Gefahr steckt hinter den «frozen conflicts» im europäischen Raum?

Man sieht hier gut, dass diese immer wieder aufbrechen und zu schweren Auseinandersetzungen führen können. Wir haben Transnistrien, die Krim und die Ost-Ukraine, Südossetien und Abchasien, Bergkarabach, Kosovo und was häufig vergessen wird, ist Zypern. Das kommt daher, dass hier Russland nicht beteiligt und deshalb für die Medien nicht so interessant ist. Man kann das Aufbrechen des Konflikts in Bergkarabach auch auf die internationalen Spannungen zurückführen. Bei Beginn der Corona-Ausbreitung hat der Uno-Generalsekretär António Guterres zur Beendigung aller Konflikte und zum Aufheben der Sanktionen aufgerufen. In Tat und Wahrheit können wir eine Zuspitzung verschiedener Konflikte feststellen. Das ist im gesamten wenig erfreulich, und man kann nicht sagen, wohin sich das alles entwickelt.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, ich danke Ihnen für das Interview.

Interview Thomas Kaiser

Armenien / Aserbaidschan: Selbstbestimmungsrecht der Völker vor territorialer Integrität?

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Professor Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Professor Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie ist der aufgeflammte Konflikt um Bergkarabach völkerrechtlich zu beurteilen?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Seit dem Urteil des Internationalen Gerichtshof von 2010, der die Abspaltung des Kosovo vom Mutterland Serbien in einem Gutachten legitimiert hat, muss das auch für Nagorno-Karabach gelten.

Wie kam es zu dem Gutachten?

Die Serben haben eine Resolution durch die Generalversammlung beantragt, der stattgegeben wurde, um ein Gutachten durch den IGH zu ersuchen, um die Frage der Gewichtung des Prinzips der territorialen Integrität zu klären. Die Serben meinten, die territoriale Integrität sei wichtiger als das Selbstbestimmungsrecht der Völker, und daher müsste Kosovo bei Serbien bleiben. Sie haben aber nicht Recht bekommen. Abs. 80 des Gutachtens stipuliert, dass im Völkerrecht und insbesondere in der Uno-Praxis das Prinzip der territorialen Integrität nur nach aussen gilt, aber nicht im Inneren eines Staates. Mit anderen Worten, das Prinzip der territorialen Integrität kann nicht das Selbstbestimmungsrecht der Völker aushebeln.

Was heisst das für Bergkarabach?

In diesem Gebiet herrschte seit 30 Jahren mehr oder weniger Ruhe. Es ist eine Region, die armenisch ist und historisch auch immer armenisch war. Das Gebiet war seit mehr als tausend Jahren mehrheitlich armenisch besiedelt. Dort stehen das berühmte Kloster Amaras (4. Jahrhundert) und das Kloster Gandzasar (13. Jahrhundert). Im Jahre 1918 hat sich Bergkarabach für unabhängig erklärt, sie wurden aber gleich von den Osmanen bedrängt und massakriert. Während der Sowjetzeit hat Aserbaidschan Muslime in diesem Gebiet angesiedelt mit dem Ziel, die demographische armenische Mehrheit zu zerstören. Diese Region war aber traditionell immer ein katholisch-orthodox-armenisches Gebiet. So wie viele ehemalige Sowjetterritorien hat sich Bergkarabach bereits 1991 für unabhängig erklärt, und zwar nach einem deutlichen Referendum.

Bereits 1991 gab es eine Auseinandersetzung um das Territorium…

1991-1994 fand ein Krieg statt, bei dem Aserbaidschaner aus dem Gebiet geflohen oder vertrieben worden sind. Russland hat 1994 einen Waffenstillstand verhandelt, und seitdem kontrollierten Armenier das Gebiet. Die Unabhängigkeit Bergkarabachs wird jedoch international nicht anerkannt. Der Vergleich mit Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und später dem Kosovo, die ebenfalls unilateral ihre Unabhängigkeit erklärt hatten und was international anerkannt wurde, beweist, dass das armenische Volk ebenfalls das Recht auf Selbstbestimmung hat, und wirft die Frage auf, weshalb die europäischen Staaten ihre eigenen «europäischen Werte« verraten, wenn sie die Anerkennung der Unabhängigkeit Bergkarabachs weiterhin verweigern. Wo liegt der Unterschied? Warum wird der Kosovo anerkannt und Bergkarabach nicht? Die Frage verlangt eine Antwort – und zwar sofort – , denn Menschen sterben jeden Tag.

Was hat aktuell zum Konflikt geführt?

Aserbaidschan hat eine Aggression begangen. Artikel 2 Abs. 4 der Uno-Charta verbietet den Einsatz von Gewalt, und Aserbaidschan hat Gewalt angewendet in einer Situation, in der seit bald 30 Jahren Ruhe herrschte, um das zu ändern. Es will sich das Gebiet gewaltsam zurückholen. Das hat Parallelen zum Verhalten von Georgien unter Sakaschwili, als er 2008 den Krieg gegen Südossetien begonnen hat. Ich hoffe nicht, dass die Entwicklung in diese Richtung geht. Ich kann mir vorstellen, dass Putin den Aserbaidschanern klarmachen wird, wenn ihr so weitermacht, wird es dem Land so ergehen wie Georgien 2008. Natürlich hoffe ich, dass es nicht dazu kommt. Aber Aserbaidschan spielt mit dem Feuer.

Summa summarum, wie beurteilen Sie die gesamte Situation?

Aserbaidschan ist der Aggressor und Alijev sollte deshalb angeklagt und verurteilt werden. Aber das Völkerrecht wird nach Belieben angewandt, und so geniessen Alijev wie Erdogan und Netanjahu Straffreiheit. Was mich erschreckt, ist nämlich, dass die Türkei, indem sie Aserbaidschan unterstützt und Dschihadisten aus Syrien ins Kampfgebiet nach Bergkarabach geschickt hat, den Völkermord an den Armeniern 1915-23 fortsetzt – und dies trotz der 1948 verabschiedeten Völkermordkonvention.

Die Anerkennung der Unabhängigkeit Bergkarabachs durch die Weltgemeinschaft ist die beste Lösung, um aus dem ewigen Krieg und der Fortsetzung des Völkermordes auszusteigen.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Über das Unbehagen bei der Kehrichtverbrennung

Gedanken über das «Entsorgen» von Sorgen, die wir uns heute selber schaffen

Ein Essay von Dr. phil. Helmut Scheben* 

An einem Samstagmorgen um halb zehn ist in der Zürcher Kehricht-Verbrennungsanlage Hagenholz ziemlich Betriebslärm. Das kracht und splittert, wenn die Leute ihre alten Pfannen, WC-Deckel und Bürosessel in die Mulden werfen. Man muss schon ein wenig laut werden, um sich mit den Einweisern zu verständigen, die einem sagen, wo denn die Spanplatten hinkommen. Und wo die kaputten Lautsprecherboxen, die Kabel und zerbrochenen Kaffeetassen. Die Autos fahren vollbeladen rein in die Halle und erleichtert wieder hinaus. Erleichtert wäre vielleicht auch das Adjektiv, um die Gesichter der Wegfahrenden zu beschreiben, schliesslich befindet man sich an einem Ort, der als «Entsorgung» bezeichnet ist: Recycling und Entsorgung Zürich.

Ich weiss nicht, wann die moderne Industriegesellschaft das Wort «Entsorgung» erfunden hat, um einen Vorgang zu beschreiben, bei dem Müll von einem Ort an einen anderen geschafft wird. Es muss gegen Ende des 20. Jahrhunderts gewesen sein. Die Sorge, derer man sich dabei entledigt, ist vermutlich die Sorge, dass der Mensch im grossen Haufen der Gegenstände ersticken könnte, die er sich zugelegt hat.

Die Verbrennungsanlage ist ein faszinierender Ort. Eine merkwürdige Stimmung kennzeichnet die Geschäftigkeit des Wegwerfens. Die meisten Leute sind ruhig und entschlossen. Sie sind auch nicht unhöflich miteinander, aber alle machen schnell vorwärts, man merkt ihre Hast, hier wegzukommen von diesem Friedhof der überflüssigen Dinge. Da ist in manchen Blicken eine Mischung aus Nonchalance und mildem Erschrecken, denn wenn es ein Symbol gibt für die kapitalistische Wegwerfindustrie, dann ist es hier. Unser Wirtschaften ist ein System, das die Leute zwingen muss, Gegenstände zu kaufen, die sie bald wegwerfen müssen, damit sie neue Gegenstände kaufen können. Es ist im Grunde eine unaufhörliche Produktion von Sorgen für die Entsorgung. Nirgendwo wird dies so ohrenbetäubend und augenbetäubend sichtbar wie in der Müllverbrennungsanlage samstagmorgens um halb zehn. Doch das Entsetzen der meisten Leute hält sich in Grenzen.

Die Vergänglichkeit der Waren

Der Ökonom Marc Chesney von der Uni Zürich machte 2017 in einem Interview auf den fatalen Zirkelschluss unserer Wirtschaft aufmerksam: Schulden seien nötig, um Wachstum zu fördern, andererseits sei Wachstum nötig, um die Schulden zurückzuzahlen. Wachstum erfordere aber nicht nur einen Anstieg der Schulden, sondern stütze sich auf einen zweiten Faktor, nämlich die Vergänglichkeit der Waren: «Viele sind so konzipiert, dass sie nur eine gewisse Zeit halten, was den Konsum anheizen soll (…). Statt Konsumenten, die von aggressivem Marketing infantilisiert sind, weshalb sie Ramschware konsumieren, braucht die Gesellschaft aktive Bürgerinnen und Bürger, die fähig sind, Antworten auf die aktuellen Herausforderungen zu finden (…). Dieses ‹immer mehr›, welches das gegenwärtige Krebsgeschwür nährt, sollte ersetzt werden durch das ‹Genügende› und ‹Notwendige›, das man braucht, um ein anständiges und menschenwürdiges Leben zu führen.» Der Tiroler Fotograf Lois Hechenblaikner zeigte im Alpinen Museum in Bern einmal eine Ausstellung über die Auswirkungen von Massentourismus und Unterhaltungsindustrie in den Alpen. Die Bilder waren nicht lustig. Am Eingang zu der Ausstellung lag ein enormer Haufen Abfall: geschredderte Skier, zwei Meter hoch aufgetürmt. Ein Symbol für Hunderttausende von Skiern, die Jahr für Jahr verschrottet werden, damit neue gekauft werden können. Auf einem der Fotos sah man die leeren Alu-Bierfässer hinter dem Berggasthaus, so hoch wie das Hausdach türmten sich diese Restbestände von Alkoholgemütlichkeit. In seinem Vortrag in Bern sprach Hechenblaikner davon, dass man hier und da hinter den Kulissen von Heidiland die «hässliche Fratze der Ökonomie» zu Gesicht bekäme.

Ende der siebziger Jahre lebte und arbeitete ich in Peru. Wenn man in Lima am Ufer dem Río Rímac entlangfuhr, sah man in etwa zwei Kilometern vom Zentrum den berüchtigten «Montón». Das ist ein spanisches Wort für Haufen oder Berg, aber es war eher eine ganze Hügellandschaft aus Abfall. Man sah von Ferne, dass sich da oben etwas bewegte. Die Leute sagten mir, es seien Kinder und Schweine. Die Kinder suchten nach Verwertbarem im Abfall, und es gab eine florierende Schweinezucht auf jenem «botadero».

Solche Bilder sind bekannt aus vielen Millionenstädten der Dritten Welt. Filmteams aus aller Welt sind nach Lima, nach Kairo und an andere Schaufenster des Entsetzens gekommen, um die Verelendung zu filmen. Den Geruch können sie zwar nicht filmen, aber manche Dok-Filmer behaupteten, sie zeigten «nichts anderes als die Realität«. Wo die Realität zu filmen doch bedeuten würde, das Räderwerk der ökonomischen Ursachen zu erklären, nicht aber die Symptome.

Das Publikum ist von derartigen Dokumentationen so abgestossen wie fasziniert. Den Europäern dienen die Bilder von den Ressorts der Rückständigkeit als Abwechslung und Zerstreuung in ihrem Alltagsleben. Die Bilder der im Dreck wühlenden Kinder, Geier und Schweine sind schrecklich und stimulierend zugleich. Sie lassen sich in Europa als Sensation verkaufen. Eine ähnliche Funktion hat die Darstellung von Mord, Totschlag und extremer Gewalttätigkeit in Ländern der sogenannten Dritten Welt. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, es sei Psychohygiene im Spiel, das heisst Probehandlungen der Bewältigung unserer eigenen verleugneten Grausamkeit. Es handele sich darum, unsere eigenen Verdrängungen sichtbar zu machen. Ich würde es eher Voyeurismus nennen.

Die Müllhalde unter freiem Himmel war früher auch bei uns das Normale. Eine Untersuchung von 1937 ergab, dass von 380 Schweizer Gemeinden nur gerade zwei (Zürich und Davos) eine Verbrennungsanlage für Müll betrieben. Alle anderen haben ihren Abfall zum Teil kompostiert, zum grossen Teil aber in Gruben, hinter Flussdämmen oder an Seeufern aufgeschüttet. Fast die Hälfte dieser Ablagerungen gefährdete oberirdisches Gewässer oder Grundwasser. Das änderte sich erst 1957 mit Inkraftsetzung des Gewässerschutzgesetzes.

Mit Sockenstopfen die Weltwirtschaft sanieren?

Die meisten der Leute, die am Samstagvormittag in der Kehrricht-Verbrennungsanlage in Zürich ihre alten Kaffeemaschinen auf den Müll werfen, wollen in diesem Moment lieber nicht wissen, was sie nur allzu gut wissen: dass man dieses Gerät reparieren und nochmals verwenden könnte. «In Afrika», wie man metaphorisch sagt.

Es gibt eine Menge Initiativen, die das Ziel verfolgen, den Wahnsinn der Wegwerfproduktion zu stoppen. In Bern-Liebefeld hat der Verein Velafrica seinen Sitz. Ausrangierte Velos werden repariert und nach Süden verfrachtet. Da wären ein paar tausend Organisationen weltweit aufzuführen, die ähnlich operieren. Vom WWF bis hin zu kleinsten Initiativen auf Gemeinde-Ebene.

Der ehemalige Weltbank-Ökonom Herman Daly erhielt 1996 den Right Livelihood Award, auch Alternativer Nobelpreis genannt. Daly vertritt die Auffassung, dass die herrschende Form der Wachstums-Ökonomie nicht funktionieren könne. Er forderte, menschliches Wirtschaften müsse auf ein Mass begrenzt werden, das innerhalb der Tragfähigkeit der Erde liege und somit nachhaltig sei.

Ein anderer Preisträger der Institution ist der chilenische Ökonom Manfred Max-Neef (Berkeley University, ex-Mitglied des Club of Rome), der in den neunziger Jahren die Kipp-Punkt-These formulierte, dass ab einem bestimmten Punkt der wirtschaftlichen Entwicklung die Lebensqualität der Menschen abnehme.

In einem Dokumentarfilm über Extrem-Snowboarder sieht man den jungen Reto Kestenholz daheim in Boltigen im Simmental an seiner Nähmaschine hocken und einen Handschuh reparieren: «Obwohl ich von meinen Sponsoren die Ausrüstung bekomme, flicke ich gern mal meine Sachen selbst oder bringe ein Brett mal wieder in Ordnung, statt einfach etwas in die Ecke zu stellen und etwas Neues zu nehmen.»

Sicher wird die Welt nicht vor der Vermüllung gerettet, wenn einer Hemdenknöpfe annäht oder seine Socken selber flickt. Es ist eine Haltung, ein Prinzip des Respektes und der Verantwortlichkeit. Jens Ole von Uexküll, Geschäftsführer der Right-Livelihood-Stiftung, sagte 2015 in einem Interview mit dem Zürcher Tages-Anzeiger, über Jahrtausende hinweg hätte der Mensch die Natur als feindliche Macht gesehen, der es zu entrinnen galt. Dass es nun umgekehrt sein könnte, dass also wir die Erde bewahren müssten, das müssten wir erst lernen:

«Deswegen klingt es nach einer fast unmöglichen Aufgabe: Die Beschränkung wünschenswert zu machen. Darin ist auch die Umweltbewegung bisher gescheitert. Bis heute ist alles, was mit Beschränkung zu tun hat, negativ belegt.»

Letzten Winter suchte ich eine kleine Werkstatt in Samstagern auf, von der ich gehört hatte, sie repariere Skischuhe. Der Schuhmacher betrachtete meinen Skischuh und sagte: «Raichle, achtziger Jahre, den Schuh bringt niemand so schnell entzwei. Die haben damals noch nicht soviel Weichmacher in das Plastik getan, deshalb wird der Schuh nicht so schnell rissig.» Er erneuerte mir eine Schnalle, die abgerissen war. In seinem Ersatzteillager hatte er etwas Passendes gefunden. Es dauerte zehn Minuten und kostete neun Franken.

Schwerer Rucksack oder leichtes Tablet?

von Dr. phil. Carl Bossard*

Wissen büffeln ist out. Sicher zu Recht. Die alte Paukerschule ist passé. Und doch kommt kein Können ohne Wissen aus. Es gibt keine Einsicht ohne Wissen. Auch in digitaler Zeit nicht.

Gut gefüllte Schulsäcke hätten wir Kinder. So lobte uns der kantonale Schulinspektor nach dem Schlussexamen in der fünften Klasse. Für den weiteren Lern- und Lebensweg seien wir genügend gerüstet. Da sei er ganz sicher, fügte er augenzwinkernd bei. Der Lehrer lächelte, und die Eltern nickten erleichtert. Wir Kinder waren zufrieden; wir hatten gezeigt, was wir können: sicheres Kopfrechnen, laut lesen, ein Lied singen, und zwar auswendig, etwas Schweizer Geographie. Dazu helvetische Heldengeschichte, eingeordnet am Zeitstrahl. Manches war eingeübt, einiges vorbesprochen, vieles gar auswendig gelernt. Ein bisschen Show gehörte dazu. Das störte niemanden. Das Leben kennt ja die Anklänge an die Theaterbühne.

Ein müdes Lächeln für den antiquierten Rucksack

Die alpine Rucksack-Metapher für die schulischen Inhalte? Das Bild scheint überholt. Es entlockt den Zuhörern vom Fach höchstens ein mildes, müdes Lächeln. Eine Vorstellung aus der pädagogischen Mottenkiste! Was sollen da der Schulsack und sein Inhalt, das Wissen? Er beschwere nur und hindere am zügigen, leichtfüssigen Vorwärtskommen. Darum: keine unnötige Last, kein überflüssiger Ballast.

Der Ruf ist allgegenwärtig: Mit der Digitalisierung lasse sich leichter lernen. Lernen 4.0 brauche keinen Rucksack mehr. In Zeiten von Alexa und Siri sei Wissen jederzeit und überall abrufbar, Faktenwissen darum überflüssig. So die Botschaft der Technikkonzerne und ihr unentwegtes Mantra. Die Digitalisierung revolutioniere den Unterricht und verändere alles.

Lernen bleibt Lernen

Für bestimmte Bereiche mag das zutreffen: für die Arbeitswelt und die Industrie beispielsweise. Die technische Innovation wälzt vieles rasant um. Doch der digitale Lockruf verkennt eines: Es gibt anthropologische Konstanten. Die menschliche Evolution ist nicht mit der digitalen Revolution gleichzusetzen.¹ Lernen bleibt Lernen, ob digital oder analog. Und damit Lernen gelingen kann, braucht es nach wie vor Anstrengung und Einsatz, gezieltes und ausdauerndes Üben und Wiederholen sowie den menschlichen Kontakt mit positiven Beziehungen.

Die Technik in der Schule braucht den Menschen, damit sie wirken kann. Das galt für die bisherigen Medien wie Lehrbuch und Taschenrechner; das gilt auch für den Einsatz von Computer, Tablet und Smartboard. Bildung ereignet sich in der Interaktion zwischen Menschen, in Lehr-Lern-Prozessen. Bildung braucht Beziehung. Eben: Pädagogik vor Technik.²

Ohne Wissen kein Denken und kein Tun

Doch wo liegt die Wahrheit? Im alten Bildungsrucksack oder im neuen Tablet? Weder da noch dort allein. Wir stehen vor keinem Entweder-Oder. Effektives Lernen resultierte stets aus der Dynamik eines Sowohl-als-Auch.

Gute Lehrerinnen und Lehrer unterschieden schon immer zwischen notwendigem Faktenwissen als Voraussetzung des Denkens und verstehender Einsicht als Grundlage des Könnens. Sturer Drill war ihnen so fremd wie leeres Pauken, das Vollstopfen des Rucksackes ein Tabu. Das führt lediglich zu trägem Wissen. Erfahrene Pädagogen wissen um den Zusammenhang von Oberflächenverständnis und Tiefenverständnis. Damit Schülerinnen und Schüler kreativ und problemlösend denken und handeln können, müssen sie ein gewisses Mass an reproduzierbarem Wissen erworben haben. Durch intensives Üben und Wiederholen – wie die junge Geigerin oder der kleine Himmelsforscher. Eben: Sie brauchen einen gezielt gefüllten Rucksack. Nur so können sie in den Bereich des Tiefenverständnisses gelangen. Tiefenverständnis basiert auf Oberflächenverständnis. Es reicht darum nicht aus, nur zu wissen, wo etwas steht und wo eine Information zu finden ist. Damit die Schüler in die Tiefe vordringen und die Informationen weiterverarbeiten können, müssen die Fakten im Kopf sein, im geistigen Rucksack – und nicht nur im Tablet.

Ich hab’s gefunden! – Ergo weiss ich es

Die Einsicht, dass es eine grundlegende Differenz zwischen dem Abrufen von Informationen und dem Verstehen einer Sache gibt, droht verloren zu gehen. Im Zeitalter des Internets werden Aneignen und Begreifen vielfach durch Finden ersetzt, geleitet von der Vorstellung: Alles, was es an Wissen gibt, ist schon da. Man muss es nur suchen. Wenn ich es gefunden habe, kommt es automatisch auf die innere Festplatte. Dann habe ich es und weiss es. Zu lernen brauche ich’s kaum mehr; die Kunst liegt einzig darin, etwas zu finden. Doch wer nur weiss, wo und wie er nachschauen muss, um etwas zu wissen, weiss in Wirklichkeit nichts.

Wissen kann ich nicht konsumieren, so wie ich mir ein Glas Wasser einflösse. Das versucht nur der Nürnberger Trichter. Schon Sokrates karikierte diesen Versuch: Es sei, wie wenn man einem Blinden das Gesicht einsetzen wolle. Das Aneignen von Wissen muss durch mich hindurchgehen; ich muss es erarbeiten, in mich einarbeiten, verarbeiten und reflektierend in Zusammenhang setzen. Erst dann kann ich verstehen. Friedrich Nietzsche nannte diesen (Aneignungs-)Vorgang sinngemäss: «Ich verdaue es.»³ Und in diesem «Verdauen« realisiert sich der Bildungsprozess. Bildung als angemessenes Verstehen.

Intelligenz oder Kreativität ohne Wissen taugen nichts

Bildung als angemessenes Verstehen basiert auf verstandenem Wissen, auf Netzen von Sachzusammenhängen; sie müssen den Kindern und jungen Menschen einsichtig sein. Doch ohne Wissen gibt es keine Einsicht und kein Verstehen – und auch kein Können. Darin liegt die moderne Deutung des alten Rucksacks. In diesem Sinn darf er auch gut gefüllt sein. Mit leeren Händen löst man keine Probleme; Intelligenz oder Kreativität ohne Wissen taugen nichts. Das gilt auch für den Umgang mit den neuen Medien. Den Laptop bedient man am besten mit gutem Wissen und Können aus dem persönlichen Rucksack.

Das meinte wohl unser Schulinspektor – auch wenn er andere Fertigkeiten im Kopf hatte als den Umgang mit dem Tablet.

¹ Klaus Zierer: Die Grammatik des Lernens. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ, 4.10.2018, S. 7.
² Ders.: Lernen 4.0. Pädagogik vor Technik. Möglichkeiten und Grenzen einer Digitalisierung im Bildungsbereich. Baltmannsweiler: Hohengehren: Schneider Verlag, 2018, S. 93.
³ Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hg. von Giorgio Colli, Mazzini Montinari, Berlin/New York, 1988. Bd. 11. S.539, 608f.

* Dr. phil. Carl Bossard, dipl. Gymnasiallehrer, war Rektor des Nidwaldner Gymnasiums in Stans, Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Heute leitet er Weiterbildungen und berät Schulen.

Das Zwischenmenschliche lässt sich nicht digitalisieren

von Dr. phil. Carl Bossard*

Die Pandemie beflügelt bei einigen Experten die Phantasie einer digitalisierten Bildung. Wer Online-Unterricht aber für die Zukunft hält, übersieht den Kern jeder Pädagogik.

«Lieber mit Maske die Kollegen treffen als ohne Maske allein zu Hause sitzen», sagte mir vor kurzem eine Schülerin der Allgemeinen Berufsschule Zürich – dies auf die Frage, ob Home-Schooling bei den derzeitigen Corona-Zahlen nicht viel vernünftiger wäre. «Auf keinen Fall zurück zum Fernunterricht!», meinte sie dezidiert. Warum denn? «Ich habe das Zusammensein mit der Klasse vermisst – und natürlich auch die Lehrer!», fügte sie verschmitzt bei.

Damit verweist die Berufsschülerin auf das wichtigste Fundament schulischen Lebens: das menschliche Miteinander und die soziale Interaktion – und mit ihrem Nachsatz auch auf die Bedeutung der Lehrperson. Eltern oder Geschwister sind eben keine Ersatzlehrer, ein Esstisch ist etwas anderes als ein Pult im Klassenzimmer und der Wohnraum kein Pausenplatz; der kleine Laptop-Bildschirm verkörpert keine menschlichen Beziehungen, und der Lebensrhythmus einer Familie folgt keinem Stundenplan. Darum ist der digitale Fernunterricht selbst für junge Erwachsene anspruchsvoll. Kinder und Jugendliche aber überfordert er vielfach.

Und doch setzt die IT-Industrie auf die digitale Transformation unseres Bildungssystems und will Lehren und Lernen in den virtuellen Raum verlagern. Das bleibt vielen Eltern und Pädagogen unverständlich. Sie ahnen, was die Bildungsforschung nachweist: Der Online-Unterricht ist ein wertvolles Instrument; E-Learning erweitert und ergänzt die Lernformen. Doch der Präsenzunterricht im Klassenraum lässt sich nicht ohne Verluste in digitale Lernformate übertragen. Keine noch so raffinierte virtuelle Methode und kein noch so lebendiger Chat können den analogen Unterricht mit kooperativen Arbeitsformen und das gezielte Gespräch über komplexe Sachverhalte aufwiegen.

«Der Mensch wird am Menschen zum Menschen«

«Im Andern zu sich selbst kommen«, so fasst der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel das Wesen der Bildung zusammen. Der Mensch wird am Menschen zum Menschen. Das meiste, was wir lernen, lernen wir von anderen. Darum kann auch das beste Digitalprogramm das menschliche Visavis nicht ersetzen. Das neue Setting benachteiligt vor allem lernleistungsschwächere und mittelmässige Schüler, dazu Jugendliche aus sozial weniger privilegierten Familien.

Der Einsatz digitaler Medien ist für die meisten Schülerinnen und Schüler zwar unproblematisch. Was sie für ein gutes Lernen aber brauchen, ist ein vital präsentes Gegenüber. Schule und Unterricht sind in vielem eben ein Resonanzprozess, ein Beziehungsgeschehen zwischen Menschen. Bildung entfaltet sich «in dichten Interaktionsprozessen mit Menschen und Dingen», analysiert der Soziologe Hartmut Rosa. Genau diese Dichte fehlt beim Distant Learning.

Unterricht ist kein linearer Start-Ziel-Lauf

Die Digitalisierung geht davon aus, dass der Unterricht ein kontrollierbarer und damit planbarer Prozess sei – sozusagen ein linearer Start-Ziel-Lauf, präzis berechenbar und von Algorithmen steuerbar. Das Nebenhinaus, das Abweichende fehlt vielfach. Darum bringen nicht alle Kinder die notwendige Ausdauer auf, über längere Zeit einem digitalisierten Unterricht zu folgen. Sie langweilen sich bald einmal, weil keine Person wahrnehmbar ist und keine zwischenmenschliche Energie animiert. Es ist dieses «Dazwischen» – das Emotionale, das Beziehungshafte, das Dialogische –, das den jungen Menschen die unentbehrlichen analogen Resonanzerfahrungen vermittelt. Zudem erzielen diese Einflussgrössen überdurchschnittlich hohe Wirkwerte auf die Lernleistung.

Vielschichtige Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer

Wissen und Können aufbauen, Verstehen und Verhalten fördern, das ist die vielschichtige Aufgabe von Lehrpersonen und ihrem Unterricht. Sie müssen da sein fürs konstruktive Feedback, für einen heiteren Zwischenruf, für Anerkennung und Anregung, für Widerstand und Widerrede, fürs Üben und Vertiefen. Schülerinnen und Schüler brauchen die verstehende Zuwendung ihrer Lehrerin; sie müssen sich vom Lehrer wahr- und ernst genommen fühlen.

Der Ort schulischer Bildung ist eben nie die Struktur allein, nie die Methode allein und auch nie das (digitale) Medium allein. Der Ort schulischer Bildung ist die Interaktion zwischen Menschen. Von Spitzbergen bis Feuerland ist heute alles abrufbar. Allein mit digitalen Plattformen zu arbeiten oder miteinander ein Phänomen durchzudenken, gemeinsam im Gewölbe einer imposanten Burgruine zu stehen – das sind zwei grundverschiedene Dinge. Im realen Dialog über Fragen und Impulse Zusammenhänge erkennen erleichtert das Verstehen einer Sache.

Ich habe die Klasse vermisst – und auch die Lehrer, bemerkte die Berufsschülerin in Zürich. In diesem menschlichen Zwischenraum geschieht Entscheidendes. Es ist vielleicht das, was uns zu Menschen macht. Diese Nische kann nicht durch Digitales ersetzt werden. 

«Es kann nicht sein, dass sogenannte Ökoextremisten die produzierende Landwirtschaft an die Wand fahren«

Gaucho-Verbot: Das ist der Tod des Schweizer Zuckers

von Philippe Egger*

In den letzten 10 Jahren wurden sehr viele Pflanzenschutzmittel in der Schweizer Landwirtschaft verboten. Meist hatten wir Landwirte eine Alternative oder zumindest zwei bis drei Jahre eine Aufbrauchfrist. 

Mit dem Verbot von Gaucho (Imidacloprid) 2019, das für die Saatgutbeizung der Zuckerrüben gebraucht wurde, sind wir zum ersten Mal in eine richtig grosse Sackgasse geraten. Dabei hat die Zuckerrübenbranche damals noch davor gewarnt, dass die Viröse Vergilbung massiv zunehmen könnte und dass wir keine Alternativen haben. 

Und siehe da, nicht einmal zwei Jahre später müssen die Rübenbauern enorme Ernteeinbussen in Kauf nehmen, weil sich die Grüne Blattlaus explosionsartig ausbreitete im Frühling 2020.1 Und da kommt jetzt der grösste Frust: Der Bauer muss mit der Pflanzenschutzspritze Insektizide ausbringen, die nur sehr schlecht gegen den Schädling wirken, aber zum Teil nun die Nützlinge schädigen. Eine verkehrte Welt für den Rübenbauer, der seit 25 Jahren fast keine Insektizide mehr mit der Pflanzenschutzspritze ausgebracht hat. 

Natürlich wird nicht abgestritten, dass Neonicotinoide für Bienen gefährlich sind, aber ich habe noch nie Honig von Zuckerrüben in der Schweiz bekommen, und das aus einem einfachen Grund: Die Zuckerrübe blüht erst im zweiten Jahr und ist somit absolut nicht attraktiv für Bienen im ersten Anbaujahr. Noch dazu werden pro 10 000 m2 nur 90 Gramm Imidacloprid für das Rübensaatgut, was 2 cm unter der Erde steckt, benötigt – genau so viel Wirkstoff ist in vier bis fünf Antifloh-Halsbändern für Hunde enthalten. 

Das Verbot von Gaucho hat eine besonders gravierende Folge, und zwar: den Tod des Schweizer Zuckers. Denn, wenn nicht sehr schnell reagiert wird, werden 2021 zu wenig Rübenflächen ausgesät. Dann haben wir nicht genügend Zuckerrüben, um unsere Zuckerfabriken in Aarberg und Frauenfeld auslasten zu können. Und eins ist klar, wenn ein Zuckerwerk schliesst, ist das für immer!

Es kann in Zukunft nicht mehr sein, dass sogenannte Ökoextremisten bei uns in der Schweiz die produzierende Landwirtschaft an die Wand fahren und auf der anderen Seite dann Lebensmittel aus Südamerika einfliegen lassen, wo der Urwald gerodet wird und wir absolut keine Kontrolle darüber haben, wie Nahrungsmittel produziert werden.

¹ Anm. d. Red.: Dabei verursachen nicht die Blattläuse den Hauptschaden, sondern das von ihnen übertragene BYV Virus. Das Virus lässt die Pflanzen vergilben, was zu Ertragsverlusten von 30 bis 50 Prozent führt.

* Philippe Egger ist Zuckerrübenproduzent und Vorsitzender der Rübenerzeuger in der Orbe-Ebene im Kanton Waadt sowie Mitglied des Ausschusses des Schweizerischen Verbands der Zuckerrübenpflanzer.

 

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