«Ich war ein Sprecher für mein Volk der Tamilen für mehr Gerechtigkeit»

Rückkehr nach Sri Lanka nach 21 Jahren im Exil

Interview mit Professor S. J. Emmanuel, katholischer Priester und Präsident des «Global Tamil Forum»

Professor S. J. Emmanuel (Bild thk)
Professor S. J. Emmanuel (Bild thk)

Professor S. J. Emmanuel war über zwei Jahrzehnte im Exil und kehrte letztes Jahr in seine Heimat nach Sri Lanka zurück. Sein Leben lang hat er sich für Versöhnung und Frieden eingesetzt. Ein Weg, der bei den vielen Ungerechtigkeiten, die er und das Volk der Tamilen erlebt haben, vorbildhaft ist. In folgendem Interview lässt er einige seiner Lebensstationen Revue passieren und erklärt, wie sich die Situation der Tamilen in Sri Lanka fast 10 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs darstellt.

Zeitgeschehen im Fokus Nach wievielen Jahren haben Sie Sri Lanka wieder besucht?

Prof. S. J. Emmanuel Ich war 21 Jahre im Exil, von 1996 bis 2017. Zunächst war ich ein Jahr in London, danach 20 Jahre in Deutschland. Dort habe ich 10 Jahre als Pastor in einer Gemeinde, St. Maria Magdalena in Horneburg, und 10 Jahre als Vikarius Kooperator in St. Nikolaus in Darfeld gearbeitet. Während dieser Exilzeit wollte ich immer eine starke Stimme gegen den ungerechten Krieg sein. Als ich noch in Sri Lanka war, war ich in Jaffna bereits 10 Jahre vom Krieg betroffen.

Sie haben sich schon früh für den Frieden engagiert?

Schon in jungen Jahren hatte ich eine gottgegebene starke Abneigung gegen jede Form von Diskriminierung. Als ich 18 Jahre alt war, habe ich gegen meinen Vater protestiert. Er gehörte einer oberen Kaste an und hat einem Freund von mir aus einer niederen Kaste den Stuhl weggenommen, weil er sitzen blieb. Als Student an der Universität habe ich zusammen mit den Singhalesen für die Rechte der Bauern gekämpft.

Gegen wen richtete sich der Kampf?

Gegen die Grossgrundbesitzer, die die Bauern unterdrückt haben. Als Priester habe ich mich für die Gleichwertigkeit aller Kasten eingesetzt. Ich habe eine Hochzeit zelebriert mit einem Paar aus einer tiefen Kaste. Dagegen haben ganz viele Katholiken protestiert und waren gegen mich.

Wie haben Sie darauf reagiert?

Ich habe ihnen gesagt, dass in der Kirche alle Kinder Gottes gleichwertig seien. Die Kirche sei für alle Menschen offen, und wenn sie damit nicht einverstanden seien, sollten sie zum Bischof gehen und dagegen protestieren. Der Bischof hat sie in ihrem Protest nicht unterstützt, sondern befürwortete die Auflösung des Kastensystems. Mein Leben habe ich immer verstanden als einen Kampf gegen Ungerechtigkeiten.

Sie haben die Anfänge des Konflikts zwischen Singhalesen und Tamilen hautnah miterlebt?

Im Jahre 1956 verpflichteten die Singhalesen, die die politische Mehrheit hatten, alle Volksgruppen in Sri Lanka auf Singhalesisch als einzige Sprache. Die Minderheit der Tamilen hat dagegen gewaltlos protestiert. Deswegen gab es als Reaktion darauf Angriffe von Singhalesen auf Tamilen. Davon war ich auch betroffen. Von Anfang an war ich ein Beobachter des Konflikts, des Mobterrors der Singhalesen und des Staatsterrors des Militärs. Nach 10 Jahren priesterlichen Dienstes unter den Singhalesen ging ich 1986 nach Jaffna, als dort der Krieg zwischen den Tamilen und Singhalesen im Gange war. 

Wie beurteilen Sie heute die Ursachen des Konflikts?

Im Jahr 1949, als die Briten Sri Lanka verlassen haben, haben wir Tamilen vom politischen System der Schweiz erfahren und vom Föderalismus gehört. Unsere tamilische Partei nannte sich Federal Party. Wir Tamilen wollten einen föderalistischen Staatsaufbau für das multiethnische Sri Lanka. Als Student habe ich vom Schweizer föderalen System erfahren und es und die Schweiz schätzen gelernt. Wenn die Mehrheit der Singhalesen richtig verstanden hätte, was das föderale System wirklich bedeutet, hätte man den Krieg verhindern können. Leider hat die Mehrheit der Singhalesen Föderalismus aber immer als Separatismus verstanden. Dazu kam noch, dass wir in Sri Lanka eine Mehrheitsdemokratie haben, die die Minderheit, in diesem Fall die Tamilen, dominiert.

Wie äusserte sich diese Dominanz?

Die Singhalesen hatten immer die Mehrheit im Parlament und konnten somit diskriminierende Gesetze gegen die Tamilen einbringen. Und die Regierung hat die mehrheitlich aus Singhalesen bestehende Armee in die Tamilengebiete geschickt, um dort alles zu kontrollieren. Unsere gewaltlosen Proteste wurden immer mit Gewalt beantwortet. Es war regelrechter Staatsterror. Das ist in der westlichen Welt unbekannt. Das heisst, Militär und Polizei schlugen gewaltlose tamilische Proteste brutal nieder.

Wurden die Tamilen im öffentlichen Leben diskriminiert?

Ja, z. B. an den Universitäten gab es neue Gesetze für die Ausbildung. Es gab weniger Ausbildungsplätze für die Tamilen. Die jungen Leute haben diesen Staatsterror erlebt. Sie haben keine Zukunft für sich gesehen, da die Ausbildungsplätze begrenzt waren, und sich gegen den Staatsterror gewehrt. Das war singhalesischer Staatsterror gegen Tamil-Tiger-Terror, was sich im Laufe der Jahre zu einem schrecklichen Bürgerkrieg entwickelt hat. Dieser Krieg dauerte 26 Jahre. Zehn Jahre davon habe ich in ­Jaffna miterlebt.

Was haben Sie in Jaffna gemacht?

Ich war Generalvikar. Während dieser Zeit hat die Regierung zwei Kirchen bombardiert, die Peter und Paul Kirche in Navaly und die St. Jakob Kirche in Jaffna. Dabei starben über 200 Personen. Als Generalvikar, als Vertreter eines Volkes ohne Stimme, habe ich diesen Vorgang stark kritisiert. Es warmeine Aufgabe, dazu Stellung zu nehmen.

Wie hat die Regierung darauf reagiert?

Sie hat mich als Unterstützer der Terroristen bezeichnet. Aber in Tat und Wahrheit war ich ein Sprecher für mein Volk, für mehr Gerechtigkeit. So entstand ein loser Kontakt zu den Tamil Tigers. Ich wollte als glaubwürdiger Priester an die Medien gelangen. So habe ich mich für Gerechtigkeit einsetzen wollen.

Sie haben sich damit für einen friedlichen Weg eingesetzt?

Ja, ich habe Gewalt nie unterstützt. Aber ich konnte verstehen, warum die jungen Tamilen zu den Waffen griffen. Von den Tamilen aus war das ein Verteidigungskrieg, von der Regierungsseite war es ein Unterdrückungskrieg. Ich habe darüber auch Bücher geschrieben.

Waren Sie Verfolgungen ausgesetzt?

Ja, nachdem ich 1995 aus Jaffna hatte fliehen müssen, verbachte ich ein Jahr im Dschungel, bevor ich nach Europa ins Exil ging. In dieser Zeit reiste ich durch die Welt. Ich war in diesen 25 Jahren mindestens einmal pro Jahr in Genf an der Uno, um mein Volk zu verteidigen.

Hatte die singhalesische Regierung internationale Unterstützung im Krieg?

Diese Frage stellte sich mir nach dem Ende des Krieges. Wer hat den Krieg von aussen mitgetragen. Alleine 27 Staaten haben die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) auf die Terrorliste gesetzt, was vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush vorangetrieben wurde. Dazu haben 20 Nationen den Krieg von Präsident Rajapaxe mit Geld und Waffen unterstützt, um die Tamilen zu besiegen. Ich habe versucht, darüber aufzuklären, aber die Kirche hat mich nicht richtig verstanden. 

Wie hat sich die Kirche verhalten?

Kein Bischof, kein Priester hat mich in Sri Lanka verteidigt. Die Zeitungen haben über mich geschrieben. Ich sei kein Priester, sondern ein Politiker und solle das Priesteramt abgeben. Das hatte seine Ursache darin, dass ich die Regierung kritisiert hatte. Aber die Kirche ist so apolitisch, sie distanziert sich von der Politik, sie gibt den stimmlosen Opfern keine Stimme. Für mich ist es ganz wichtig, dass wir als Jünger Christi auf der Seite der schwachen und notleidenden Menschen stehen.

Wie war das für Sie nach dem Krieg?

Nachdem der Krieg nach 20 Jahren beendet war, hofften wir, dass eine neue Phase des Friedens beginnen würde. Aber die Situation ist immer noch sehr schlimm. Die Sieger des Krieges präsentieren sich noch immer als Helden und feiern diesen Sieg über die Tamilen als Sieg über den Terrorismus. Sie haben den Tamilen verboten, öffentlich um ihre verstorbenen Männer und Frauen zu trauern. Das ist schrecklich. Gleichzeitig haben sie die Militarisierung im Norden vorangetrieben, Singhalesen in Tamilengebieten angesiedelt und buddhistische Tempel gebaut. Sie wollen die tamilischen Wurzeln der Kultur zerstören und überall die singhalesisch-buddhistische Kultur verbreiten.

Was können die Tamilen machen?

Wir haben uns einen Regierungswechsel gewünscht. Der ist eingetroffen. Nach den letzten Wahlen im Januar 2015 gab es zum erstenmal eine Koalitionsregierung beider Parteien, der United National Party, UNP, und der Sri Lanka Freedom Party, SLFP. Bis anhin hatte nur eine Partei das Sagen, jetzt müssen sie gemeinsam eine neue Verfassung schaffen. Die Tamilen haben grosse Hoffnung, die singhalesische Seite ist skeptisch. 

Hat sich mit der Koalitionsregierung für das Leben der Menschen etwas geändert?

Es gibt keine Verfolgungen mehr, die Menschen verschwinden nicht mehr auf der Strasse, ohne dass man weiss, wohin. Die Menschenrechte werden eher beachtet, das ist besser. Aber die vom Krieg betroffenen Tamilen sind noch immer nicht in das normale Leben zurückgekehrt. 

Das kann man sich vorstellen. Die Auswirkungen des Krieges sind immer verheerend und halten an, wenn der Krieg schon lange zu Ende ist. Worunter leiden die Tamilen am meisten?

Sie haben Land verloren, ihr eigenes Land ist ihnen genommen worden. Von Menschen, die verschwunden sind, fehlt jede Spur. Sie wurden aus ihren Häusern geholt, und man weiss nicht, wo sie sind, ob sie noch am Leben sind. Das ist schrecklich für die Betroffenen. Hunderte politisch Angeklagter bleiben ohne Gerichtsprozess Jahrzehnte im Gefängnis.

Unternimmt die heutige Regierung nichts, die Dinge aufzuklären?

Doch, aber nur sehr langsam. Seit 2016 ist die Regierung in Sri Lanka verpflichtet, eine Resolution des Uno-Menschenrechtsrats umzusetzen. Nach einem Jahr wollte die Regierung noch zwei weitere Jahre Zeit, um das zu erfüllen, was der Uno-Menschenrechtsrat gefordert hat. Leider sind wir Tamilen alle frustriert, dass die Regierung keinen echten Willen zeigt, das zu erfüllen, was die internationale Gemeinschaft von ihr erwartet.

Was hat Ihren Entscheid bestimmt, nach SriLanka zurückzukehren?

Ich wurde vom neuen Präsidenten eingeladen zurückzukehren, um für Versöhnung und Frieden zu arbeiten. Deshalb bin ich in mein Heimatland zurückgekehrt.

Wie war das bei Ihrer Ankunft auf dem Flughafen von Colombo?

Ich wurde von Regierungsvertretern in Empfang genommen und konnte bei einem Abgeordneten übernachten, um langsam mein Leben in Colombo einzurichten. Ich kleidete mich immer in ein Priestergewand, und als ich langsam in Colombo heimisch war, ging ich in meine alte Heimat nach Jaffna. 

Wie lange waren Sie dort?

Ich habe jetzt 7 Monate dort im Bischofshaus gelebt. 

Wie sieht Ihr Leben in SriLanka aus?

Ich lebe jetzt in Jaffna und halte regelmässig Vorlesungen am Priesterseminar; ich predige in der Kirche. Ich gebe Interviews im Fernsehen und in Zeitungen, denn ich habe eine wichtige Aufgabe für mein Volk. Zum Teil sind die Menschen noch sehr radikal und extremistisch; es sind frustrierte, entmutigte Menschen. Ich muss ihnen Hoffnung geben, ihnen die Wahrheit von Jesus Christus erzählen. Einige haben mich als Verräter bezeichnet, weil ich mit der Regierung in Colombo zusammenarbeite. Aber so einfach ist das nicht. Wenn die Regierung etwas Positives macht, dann lobe ich sie, aber ich kritisiere sie auch. Als Priester kann ich beides tun. 

Was sagen Sie der Regierung?

Ich erzähle ihnen von der Not der Menschen. Zusammen mit den internationalen Botschaften in Colombo versuche ich ebenfalls, die Situation zu verbessern. Zusätzlich habe ich noch zwei Hilfsprojekte. Eines ist für Mädchen, die auf den Teeplantagen arbeiten. Das zweite Projekt ist eine Stiftung, gegründet vor 8 Jahren, für die kriegsbetroffenen Kinder in Vavuniya. Als Präsident Maithripala Sirisena mich nach Sri Lanka rief, sagte ich zu ihm, ich sei kein Politiker, um zu helfen, aber ich könne etwas Positives beitragen, nämlich eine interreligiöse Unterstützung für den Frieden. Während 10 Jahren von 1986 bis 1996 hatte ich ein Zentrum für interreligiöse Zusammenarbeit geleitet. Das kann ich nun weiterführen. Jetzt begegne ich Hindus und Muslimen und beginne mit meiner Arbeit. 

Sie leben jetzt nur noch in SriLanka?

Ja, aber ich bin immer noch deutscher Staatsbürger. Ich habe nur einen Pass und ein Visum für Sri Lanka, verlängert jeweils um ein Jahr. Aber ich bin zufrieden. Ich habe immer gesagt: Zufriedenheit, Dankbarkeit und Frieden im Herzen – das habe ich, und das gibt mir den Mut zum Weitergehen.

Herr Professor Emmanuel, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Washingtons geheucheltes Interesse am venezolanischen Volk

von Ron Paul*

Diese Woche wurden wir Zeugen eines schrecklichen Schauspiels. Präsident Trumps Uno-Botschafterin Nikki Haley hatte sich einem Protest ausserhalb des Uno-Gebäudes angeschlossen und rief das venezolanische Volk dazu auf, seine Regierung zu stürzen. «Wir werden für Venezuela kämpfen», schrie sie ins Megaphon, «wir werden weitermachen, bis Maduro weg ist!»

Das ist die Mentalität der Neokonservativen: Die USA haben irgendwie die Machtbefugnis, dem Rest der Welt zu sagen, wie er zu leben und wer die politische Macht auszuüben hat, ungeachtet dessen, wen ein Volk gewählt hat. 

Nachdem Washington seit über einem Jahr durch haltlose Behauptungen, die Russen hätten unsere Wahlen beeinflusst, gelähmt ist, haben wir ein leitendes US-Regierungsmitglied, das öffentlich fordert, eine ausländische, vom Volk gewählte Regierung zu beseitigen. 

Stellen Sie sich vor, Präsident Putins Nationaler Sicherheitsberater hätte sich in New York ein Megaphon geschnappt und das Volk der Vereinigten Staaten aufgefordert, seine Regierung gewaltsam davonzujagen.

Lügen für den Regime Change 

An der Uno beschuldigte der venezolanische Präsident Maduro die westlichen Medien, die Krise in seinem Land stark aufzubauschen, um damit eine weitere «humanitäre Intervention» zu rechtfertigen. Man kann eine solche Behauptung lächerlich finden, aber die jüngste Geschichte zeigt, dass Interventionisten stets Lügen verbreiten, um einen Regime Change voranzutreiben, und die Medien spielen mit.

Erinnern Sie sich an die Lügen über Gaddafi, er habe seinen Truppen Viagra geben lassen, damit sie auf ihrem Weg durch Libyen Frauen vergewaltigten? Erinnern Sie sich an «die Babies, die aus den Brutkästen herausgerissen und auf den Boden geworfen» worden seien und an die «mobilen chemischen Labors» im Irak?

Aufgrund historischer Erfahrungen sind Maduros Behauptungen durchaus plausibel. 

Wir wissen, dass Sozialismus nicht funktioniert. Er ist ein Wirtschaftssystem, das eher auf Zwang als auf wirtschaftlicher Entscheidungsfreiheit beruht. Aber während viele Amerikaner über das Scheitern des Sozialismus in Venezuela in Panik zu geraten scheinen, sind sie überhaupt nicht betroffen darüber, dass Präsident Trump gerade jetzt ein Haushaltsgesetz unterzeichnet hat, das Ausgaben von 1,3 Billionen Dollar vorsieht und in einem Masse Sozialismus liefert, den Venezuela sich nicht einmal vorstellen könnte. Tatsächlich beläuft sich diese Ausgabenvorlage auf die dreifache Höhe des gesamten BIPs Venezuelas. Habe ich all die amerikanischen Demonstrationen gegen diesen Kriegs- und Wohlfahrtssozialismus verpasst?

Weltweit grösste Ölreserven

Warum machen sich all die Neokonservativen und humanitären Interventionisten «Sorgen» um das venezolanische Volk?

Ein Schlüssel könnte die Tatsache sein, dass Venezuela auf den weltweit grössten Ölreserven sitzt – sie sind noch grösser als diejenigen Saudi-Arabiens. Es gibt viele Länder, deren unsinnige Wirtschaftspolitik zu grossem Leiden führt, aber Nikki [Haley] und die Neokonservativen sind nirgends zu finden, wenn es um «Sorgen» um diese Leute geht. Könnte das nicht doch mit dem venezolanischen Öl zu tun haben?

Glauben Sie nicht an dieses geheuchelte Interesse am venezolanischen Volk. Wenn sich Washington wirklich um die Venezolaner Sorgen machte, würde es in diesem Land keinen Regime Change anzetteln, weil man weiss, dass eine solche «Befreiung» anderswo mit einer Verschlechterung der Lage für die Menschen geendet hat.

Völkerrechtswidrige Sanktionen müssen beendet werden

Nein, wenn Washington und wir übrigen uns wirklich Sorgen um die Venezolaner machten, würden wir verlangen, dass die schrecklichen Wirtschaftssanktionen der USA gegen dieses Land beendet werden, denn sie machen die schlimme Situation nur noch schlimmer. Wir würden für viel mehr Unterstützung und Handel eintreten. Und vielleicht könnten wir sogar mit gutem Beispiel vorangehen, indem wir uns dem real existierenden Sozialismus hierzulande entgegenstellen, bevor wir sozialistische Ungeheuer im Ausland erledigen. 

Übersetzung «Zeitgeschehen im Fokus»

Quelle: www.ronpaulinstitute.org/archives/featured-articles/2018/october/01/venezuelas-socialismand-ours/

Copyright © 2018 by Ron Paul Institute

* Ronald Ernest «Ron» Paul (geboren am 20. August 1935 in Green Tree, Pennsylvania) ist ein US-amerikanischer Arzt und Politiker. Er ist Mitglied der Republikanischen Partei und war zwischen 1976 und 2013 (mit Unterbrechungen) Abgeordneter im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten. Paul war bei der US-Präsidentschaftswahl 1988 Kandidat der Libertären Partei und hatte sich um die republikanische Kandidatur für die US-Präsidentschaft 2008 und 2012 beworben.

Der Bundesrat darf sich nicht zum Handlanger der global agierenden Wirtschaft machen

Rahmenabkommen tangiert die staatliche Souveränität der Schweiz im Kern

von Thomas Kaiser

Es ist entlarvend, wie sich der Erweiterungskommissar der EU, der Österreicher Johannes Hahn, im NZZ-Interview vom 22. September zur Situation der Schweiz und den Verhandlungen um das fragwürde Rahmenabkommen äussert. Neben dem politischen Druck, den er gegenüber der Schweiz aufbaut, kommt vor allem eine ungeheure Arroganz gegenüber dem Land und seinem direktdemokratischen System zum Ausdruck. Entweder hat er keine Ahnung, wie das Schweizer System funktioniert, und interessiert sich auch nicht im geringsten dafür, oder er wertet die Schweiz und ihr politisches System ab, weil es für die übrigen EU-Staaten auf keinen Fall positiv besetzt sein darf, damit kein Mitgliedsstaat auf die Idee kommt, mehr Freiheit und Souveränität zu verlangen. 

Seit mehreren Jahren werden die Bürgerinnen und Bürger der Schweiz mit dem institutionellen Abkommen zwischen der EU und der Schweiz auf Trab gehalten. Bis heute weiss niemand so recht, was darin alles geregelt werden soll, aber einzelne Aspekte, die in den letzten Monaten ans Tageslicht gekommen sind, lassen nichts Gutes erahnen. Ein Beispiel sind die in den letzten Wochen viel diskutierten flankierenden Massnahmen zum Schutz vor Lohndumping, die die EU am liebsten aus der Welt geschafft haben will und Bundesrat Schneider-Ammann auch. Sie sind bedeutend für den Schutz der Arbeitnehmer in unserem Land und damit für den Arbeitsfrieden. Eine staatspolitisch viel gössere Tragweite aber hat die Einführung einer Schiedsgerichtsbarkeit, die als Schlichtungsinstanz bei Streitfragen zwischen der EU und der Schweiz Recht sprechen und die vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) dominiert werden soll. Damit würden Richter, die keine Ahnung vom Schweizer Rechts- und Staatssystem haben, Entscheide fällen, die für die Schweiz bindend wären. 

Entscheide des EuGH sind verbindlich

Die EU hat bereits 2012, als José Manuel Barroso noch EU-Kommissionspräsident war, unmissverständlich klargestellt, dass eine «dynamische Rechtsübernahme» auf keinen Fall in Frage komme¹, sondern dass die Entscheide des EuGHs verbindlich seien und nicht nur Empfehlungen, die man umsetzen könne oder nicht, wie später der ehemalige Bundesrat Didier Burkhalter zu beschwichtigen versuchte. Sollte die Schweiz sich herausnehmen, diese Entscheide zu ignorieren, drohte die EU schon damals mit «Retorsionsmassnahmen», was nichts anderes bedeutet als eine Bestrafung, meist in Form von Sanktionen. Ein Müsterchen dazu ist die von der EU auf ein Jahr limitierte Anerkennung der Gleichwertigkeit der Schweizer Börse. Sollte es Fortschritte in den Verhandlungen im Sinne der EU geben, würde die Anerkennung um ein Jahr verlängert. 

Bei der ganzen Übung wird offensichtlich, dass die EU die Schweiz zur Übernahme der EU-Rechtsprechung zwingen will. In der Konsequenz würde das bedeuten, dass die Schweiz auch EU-Recht übernehmen müsste: Eine Übernahme von fremdem Recht, das keinem Referendum unterstellt und damit der direktdemokratischen Mitbestimmung entzogen ist.

Kantonalbanken im Visier der EU

Ein wesentlicher Punkt, der im Rahmenabkommen geregelt werden soll, ist der Abbau des Schweizer Service public. In einem Interview mit der «Aargauer Zeitung»² bestätigte Bundesrat Ueli Maurer, dass bei Abschluss des jetzt vorliegenden Rahmenabkommens die Kantonalbanken in der Schweiz geschlossen werden müssten, da die EU Banken mit Staatsgarantie nicht akzeptiert, weil sie zu einer «Marktverzerrung» beitrügen und, was natürlich nicht ausgesprochen wird, nicht in das neoliberale Konzept der EU passen. Gleiches gilt übrigens auch für die kantonalen Gebäudeversicherungen.

Bereits zu Beginn des laufenden Jahres war die «Unionsbürgerrichtlinie» ein Thema. Diese führte die EU 2004 als Weiterentwicklung des Freizügigkeitsabkommen ein. Der Bundesrat lehnte die Übernahme dieser Richtlinie damals ab. Sie sichert den EU-Bürgern weiterführende Rechte zu als das Freizügigkeitsabkommen, das die Schweiz mit der EU 1999 abgeschlossen hatte. Jetzt hat der Bundesrat angeblich der EU einen Deal vorgeschlagen. Wenn dem so ist, ist es ungeheuerlich. Damit die EU beim Lohnschutz nachgebe, würde die Schweiz die Unions­bürgerrichtlinie übernehmen. Das heisst, vollständig EU-Recht umsetzen zu müssen. Konkret bedeutet das, dass EU-Bürger u. a. das Recht auf Sozialhilfe erhalten, ohne dass sie vorher im Land erwerbstätig waren, und zusätzlich das Kommunalwahlrecht im Gastland ausüben dürfen.³

Mehr Respekt vor der direkten Demokratie der Schweiz gefordert

Betrachtet man nur diese wenigen Beispiele, wird offensichtlich, was der Schweiz bei einer weiteren Annäherung an die EU unter anderem blühen würde: Aufgabe des Service public, Verlust der direkten Demokratie in wesentlichen Bereichen, Übernahme von EU-Recht und Unterstellung unter die EU-Gerichtsbarkeit. Es ist klar, ein Rahmenabkommen ohne einen Verlust an Souveränität im Kern wird nicht möglich sein. 

Das eingangs erwähnte Interview mit Johannes Hahn zeigt nur zu deutlich, dass die EU auf die staatlichen Besonderheiten der Schweiz keine Rücksicht nehmen wird, wenn sie gedenkt, das Rahmenabkommen abzuschliessen. Hahn spricht tatsächlich davon, dass die EU auf die «Sensibilitäten der Schweiz» mit «sehr viel Flexibilität und Kreativität» reagiert habe. Bei dieser Aussage müssen sich jedem Demokraten die Nackenhaare sträuben. Die EU zeigt in keinem Bereich ein Entgegenkommen gegenüber der Schweiz, sonst würde sie mit Respekt vor der direkten Demokratie eine ganz andere Haltung einnehmen. 

Hier sind wir an einem wesentlichen Punkt der Diskussion angelangt. Die zentralistische EU, die mit allen Mitteln versucht, den politischen Spielraum der einzelnen Mitgliedsstaaten immer mehr einzugrenzen, ist das absolute Gegenteil zu einem System, in dem die Bürgerinnen und Bürger das letzte Wort haben. Die Schweiz verfügt über das Initiativ- und Referendumsrecht auf allen staatlichen Ebenen: Bund, Kantonen, Gemeinden. Eingeführt wurden diese Volksrechte im vorletzten Jahrhundert, als in den meisten europäischen Staaten noch autoritäre Monarchien (z. B. im Deutschen Reich, in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, im Russischen Reich, im Königreich Italien usw.) an der Tagesordnung waren. In keinem europäischen Land entstand jemals ein so hochentwickeltes demokratisches System wie in der Schweiz. Anstatt dass sich die übrigen Staaten der EU, die sich allesamt Demokratien nennen, an der Schweiz orientiert hätten, verlangen sie heute, dass die Schweiz ihren eigenständigen direktdemokratischen Weg aufgibt und sich der EU-Gesetzgebung und dem Brüsseler Zentralismus unterwirft. 

Bundesrat muss staatliche Souveränität verteidigen

Für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land stellt sich die Frage, ob wir diese politische Freiheit, über Verfassungsinitiativen und Gesetzes- und Staatsvertragsreferenden abstimmen zu können, einer weiteren, wie auch immer gearteten Annäherung an die EU opfern wollen oder nicht. Schon mit den bilateralen Verträgen sind wir weitgehendst an die EU-Gesetzgebung gebunden, wie die neue Waffenrichtlinie des Vertrags von Schengen unschwer erkennen lässt. Ob der immer wieder auch von links beschworene Wohlstand, der angeblich mit einer engeren Anlehnung an die EU gesichert werden könne, ein Argument für den Verlust an politischer Freiheit und Mitbestimmung und damit an Souveränität ist, scheint mehr als fragwürdig. 

Der Bundesrat muss bei seiner Verhandlungsposition auf Respektierung der direkten Demokratie und der Neutralität beharren, nur so können die Vertragspartner ein gleichwertiges Abkommen aushandeln, das beiden Seiten etwas gibt und auf Schweizer Seite auf keinen Fall zu einer Aufweichung der Volksrechte führt. Der Bundesrat darf sich nicht zum Handlanger der global agierenden Wirtschaft machen. Als wichtigste Aufgabe hat er, die staatliche Souveränität und somit die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger mit allen Mitteln zu verteidigen. Unsere Freiheit findet in der direkten Demokratie mit ihren umfassenden Volksrechten, im Föderalismus und in der Gemeindeautonomie ihren Ausdruck. Darin liegt die Aufgabe des Bundesrates und nicht im «Regieren», wie die scheidende Bundesrätin Leuthard so vollmundig verkündete. Den Willen des Volkes haben die Volksvertreter zu respektieren und umzusetzen, sonst sind sie in Bundesbern fehl am Platz. 

¹ www.srf.ch/news/schweiz/hart-aber-herzlich-barrosos-nein-an-die-schweiz

² www.aargauerzeitung.ch/schweiz/svp-bundesrat-ueli-maurer-da-und-dort-werden-unsere-leute-faul-133018252 

³ www.tagblatt.ch/schweiz/gilt-eu-recht-bald-auch-in-der-schweiz-ld.705142

«Der Föderalismus beruht auf der Liebe zur Komplexität»

Gedanken Denis de Rougemonts* zu einem föderalistischen Europa

von Susanne Lienhard

Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges stellte sich die Frage dringender denn je, wie ein friedliches Zusammenleben der Völker Europas gesichert werden kann. Anlässlich des Kongresses der Union europäischer Föderalisten hielt Denis de Rougemont bereits 1947 eine bemerkenswerte Rede, in der er ausgehend von der Schweiz die geistigen Grundlagen eines föderalistischen Europas als einzige Möglichkeit, den totalitaristischen Kräften zu widerstehen, differenziert darlegte.¹ Angesichts der aktuellen Entwicklung der EU zu einem zunehmend autoritären Machtgebilde einerseits und den Autonomiebestrebungen in verschiedenen Regionen der Welt andererseits haben de Rougemonts Ausführungen nichts an Aktualität verloren und mögen in vielerlei Hinsicht inspirierend sein, wenn es darum geht, das friedliche Zusammenleben der Völker in Europa, aber auch andernorts zu fördern und Kriege zu verhindern (siehe Interview auf Seite 1).

Denis de Rougemont geht von einem personalen Menschenbild aus, von einem Menschen, der weder «isoliertes Individuum, das aller Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen enthoben ist», noch «politischer Soldat ist, der im Dienste am Gemeinwesen völlig aufgeht». (S. 36)² Er ist überzeugt, dass der Mensch sich nur vollständig verwirklichen kann, wenn er sich als freies Individuum im sozialen Zusammenhang engagiert. 

In den folgenden Ausführungen spricht er deshalb auch nicht von föderalistischen Strukturen oder Systemen, sondern von der «föderalistischen Haltung» und beschreibt deren Auswirkungen am Beispiel der Schweizerischen Eidgenossenschaft.

«Einer für alle, alle für einen»

De Rougemont definiert wahren Föderalismus wie folgt: «Für die einen heisst sich föderieren einfach: sich vereinigen. Für die anderen heisst Föderalist sein, bei sich zu Hause frei bleiben. Dabei liegen die einen wie die anderen falsch, denn sie haben beide nur zur Hälfte Recht. Der wahre Föderalismus besteht im fortwährenden neu regulierten Gleichgewicht zwischen der Autonomie der Regionen und ihrer Vereinigung. Er besteht im dauernden Zusammenfügen dieser beiden gegensätzlichen Kräfte mit der Absicht, sie gegenseitig zu stärken.» (S. 41) Die Schweizer Devise «Einer für alle, alle für einen» drückt dieses Verständnis von Föderalismus hervorragend aus. Er erläutert, dass das föderalistische Denken nicht eine Utopie vor sich hinprojiziert, die es einfach zu erreichen gälte, oder statische Pläne, die man in vier oder fünf Jahren durch schonungslose Beseitigung von Lebensrealitäten, die den Plan stören, realisieren müsste. Im Gegenteil, es ist die ständige Suche nach einem flex­iblen Gleichgewicht, das sich hin und her bewegt zwischen Gruppen, die es zu respektieren gilt, anstatt die einen durch die andern zu unterwerfen oder sie nacheinander auszulöschen. 

In der Folge versucht de Rougemont, ansatzweise einige Leitprinzipien herauszuarbeiten, die auf ganz empirische Art den Schweizer Bundesstaat gebildet haben und ihm für Europa unmittelbar anwendbar erscheinen: 

Erstes Prinzip:
Die Föderation kann nur aus dem Verzicht auf jegliche Idee organisierender Hegemonie durch eine der beteiligten Nationen hervorgehen.  

«Unsere ganze Geschichte ­illustriert dieses Prinzip. Jedes Mal, wenn einer unserer Kantone, zum Beispiel Zürich, oder eine Gruppe von Stadtkantonen, wohlhabender oder bevölkerungsdichter als die anderen, gemeint hat, ihre Vorstellung durchsetzen zu können, ­haben sich die anderen gegen sie zusammengeschlossen, sie gezwungen ins Glied zurückzutreten, und der föderalistische Bund hat einen Fortschritt verzeichnet. Während unserer letzten schweren Krise, dem Bürgerkrieg von 1847, in dem sich Katholiken und Protestanten gegenüberstanden, hatten die Sieger nichts Eiligeres zu tun, als den ­Besiegten die volle Rechtsgleichheit zurückzugeben. Und aus diesem Akt des Verzichts auf die ­eroberte Hegemonie resultierte die Verfassung von 1848, die eigent­liche Grundlage unseres modernen föderativen Staates. Darum wird die Schweiz nie ohne ein gewisses Misstrauen hinschauen, wenn gewisse ‹Grosse› die ­Initiative zu ­einem kontinentalen oder globalen Zusammenschluss ergreifen. Das Scheitern von ­Napoleon und dann das von Hitler in ihrem Bestreben, die Einheit Europas herbeizuführen, sind nützliche Mahnungen. Sie bestätigen uns in der Idee, dass man das Ziel einer Vereinigung nicht mit imperialistischen Mitteln erreichen kann. […]» (S. 45)

Zweites Prinzip:
Der Föderalismus kann nur
aus dem Verzicht auf jeglichen Systemgeist entstehen. 

«Was ich über den Imperialismus oder die Hegemonie einer Nation gesagt habe, ist gleichermassen gültig für den Imperialismus einer Ideologie. Man könnte die föderalistische Haltung definieren als eine ständige und instinktive Zurückweisung von systematischen Lösungen, von einfachen linearen Plänen, die klar und befriedigend sind für die Logik, aber gerade dadurch untreu gegenüber der Realität, beleidigend für die Minderheiten, zerstörerisch für die Vielfalt, welche die Voraussetzungen von jeglichem organischen Leben sind. […] Föderieren heisst einfach die konkreten und vielschichtigen Realitäten der Nationen, der ökonomischen Regionen, der politischen Traditionen gemeinsam zu ordnen und so gut es geht zusammenzufügen, […] indem man sie einerseits respektiert und andererseits in einem Ganzen zur Geltung bringt.» (S. 45)

Drittes Prinzip:
Der Föderalismus kennt kein Minderheitenproblem

« […] Für den Föderalismus ist es selbstverständlich, dass eine Minderheit gleichviel Wert haben kann oder in gewissen Fällen sogar mehr als eine Mehrheit, weil sie in seinen Augen eine unersetzliche Qualität darstellt. […] Dieser Respekt vor der Qualität wird in der Schweiz nicht nur in die Regel der Ständeratswahl übersetzt, sondern vor allem und in viel effizienterer Weise in den ganzen Habitus unseres politischen und kulturellen Lebens, in dem man die französische und die italienische Schweiz eine Rolle spielen sieht, die in keinem Verhältnis zur Zahl ihrer Bewohner oder ihrer Quadratkilometer steht.» (S. 46)

Viertes Prinzip:
Der Föderalismus hat zum Ziel, nicht die Vielfalt auszulöschen und alle Nationen zu einem einzigen Block zu verschmelzen, sondern im Gegenteil, ihre spezifischen Qualitäten zu erhalten.

«Der Reichtum der Schweiz liegt beispielsweise in der Vielfalt, die eifersüchtig verteidigt und gepflegt wird. So ginge auch der kulturelle Reichtum und das Wesen von Europa verloren, wenn man das Bestreben hätte, den Kontinent zu vereinheitlichen, alles darin zu vermischen und eine Art europäische Nation zu bekommen, wo Lateiner und Germanen, Slawen und Angelsachsen, Skandinavier und Griechen sich unter die gleichen Gesetze und Gewohnheiten stellen müssten, die keine der Gruppen befriedigen und alle stören würden. Wenn Europa sich zusammenschliessen soll, dann muss es darum gehen, dass jedem seiner Mitglieder die Hilfe der anderen zugutekommt und dadurch ein jedes seine Eigenheiten und seine Autonomie bewahren kann. […] (S. 46)

Fünftes Prinzip:
Der Föderalismus beruht auf der Liebe zur Komplexität, im Gegensatz zur brutalen Vereinfachung, die den Geist des Totalitarismus charakterisiert.

«Ich sage bewusst Liebe und nicht Respekt oder Toleranz. Die Liebe zu den kulturellen, psychologischen und selbst zu den wirtschaftlichen Komplexitäten ist die Gesundheit der föderalistischen Regierungsform. […] Wenn Ausländer sich über die extrem komplizierten schweizerischen Institutionen wundern, die sich etwa so bewegen wie ein feines Uhrwerk, zusammengesetzt aus unseren kommunalen, kantonalen und eidgenössischen Räderwerken, die so differenziert ineinander greifen, dann muss man ihnen zeigen, dass diese Komplexität die Voraussetzung für unsere Freiheiten ist. Ihr verdanken wir es, dass unsere Funktionäre fortwährend an das Konkrete erinnert werden, und dass unsere Gesetzgeber in einem aufmerksamen Kontakt mit den menschlichen und natürlichen Realitäten des Landes stehen müssen. Die Schweiz besteht aus einer Vielzahl von Gruppen und politischen, administrativen, kulturellen, sprachlichen, religiösen Organismen, die nicht die gleichen Grenzen haben und die sich auf hundertfach verschiedene Weise überschneiden. […] Sicher ist es viel einfacher, auf einem leeren Blatt Papier Verfügungen zu erlassen, Lebenswirklich­keiten mit einem Federstrich zu vereinfachen, in einem Büro Pläne mit dem ­Lineal zu ziehen und anschliessend ihre Ausführung zu erzwingen, indem alles, was Widerstand leistet oder nicht zum Plan passt, ausgemerzt wird. Aber das, was man ausmerzt, ist die zivile Vitalität eines Volkes. […]» (S. 49)

Sechstes Prinzip:
Eine Föderation entwickelt sich durch die Nähe und durch Personen und Gruppen und geht gerade nicht von einem Zentrum oder von Regierungen aus.

«Ich sehe die europäische Föderation sich langsam bilden, an vielen Orten und auf alle möglichen Arten. Hier ist es ein wirtschaftliches Übereinkommen, da ist es eine kulturelle Verwandtschaft, die sich bekräftigt. Hier sind es zwei Kirchen nachbarschaftlicher Konfessionen, die sich für einander öffnen, und da ist es eine Gruppe von kleinen Ländern, die eine Zollunion eingehen. Und vor allem sind es Personen, die allmählich vielfältige europäische Netzwerke bilden. […] Die europäische Vereinigung wird nicht das Werk der Regierungen sein, die den Auftrag haben, die Eigen­interessen ihrer Nationen gegen den Rest der Welt zu verteidigen. […] An dem Tag, wo die Völker Europas verstehen werden, dass sie in Wirklichkeit schon viel solidarischer und vereinter sind, als es ihre Regierungen je sein können, werden sie gewahr werden, dass die Föderation nicht nur möglich, sondern einfach und schnell zu realisieren ist, wie diejenige der Schweizer Kantone im Jahr 1848. […] (S. 51)

Föderalistische Politik ist für Denis de Rougemont Politik schlechthin, das heisst, die Kunst, das Gemeinwesen zum Wohl seiner Bürger zu organisieren.

Wo stehen wir heute, rund 70 Jahre später?

Während die heutige Schweiz aus dem freien Zusammenschluss der Bürger entstanden ist, ist die EU ein Produkt politischer Eliten, die sich nicht an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientierten. Heute beobachten wir, wie sich die EU zunehmend zu einem hegemonialen Machtgebilde entwickelt. Länder, die nicht nach den Vorgaben Brüssels marschieren, sehen sich mit Drohungen und Sanktionen konfrontiert. Mitgliederländer wie Griechenland, Ungarn, Portugal, Italien können ein Lied davon singen. Selbst der Schweiz, deren Bürger sich wiederholt gegen einen EU-Beitritt ausgesprochen haben, droht Brüssel mit Massnahmen, unterschreibt sie nicht endlich das Rahmenabkommen. Der Dialog mit den Bürgern wird nicht gesucht, sondern wo immer möglich vermieden. Nachdem die französischen Bürger 2005 zur EU-Verfassung Nein gesagt hatten, vermied es die französische Regierung tunlichst, den Lissabon-Vertrag 2008 dem Referendum zu unterstellen. Als die irische Bevölkerung 2001 zum Nizza-Vertrag und 2008 zum Lissabon-Vertrag Nein sagte, wurde Irland so lange bearbeitet, bis die Bürger in einer zweiten Abstimmung Ja sagten. Nichtsdestotrotz haben nun 2016 die Bürgerinnen und Bürger Englands entschieden, ganz aus der EU auszutreten. Bei den Austrittsverhandlungen unternimmt Brüssel nun alles, damit dieser Entscheid England teuer zu stehen kommt, damit nicht weitere Mitgliederländer auf die Idee kommen, auszutreten.

Es ist offensichtlich, dass der von Brüssel eingeschlagene Weg einem friedlichen Zusammenleben freier Völker wenig dienlich ist. Die sechs Leitprinzipien einer wahren Föderation, wie Denis de Rougemont sie 1947 formuliert hat, sind durchaus auch heute bedenkenswert, wenn es darum geht, nach Formen des Zusammen­lebens zu suchen, die der Vielfalt und der Autonomie der Völker Rechnung tragen.

Es ist der Westschweizer Vereinigung «L'Aubier» zu verdanken, dass die lange vergriffene Rede von Denis de Rougemont «Die föderalistische Haltung» in der französischen Originalversion und in deutscher, italienischer und englischer Übersetzung 2012 in einem sehr lesenswerten Bändchen neu aufgelegt wurde.  ISBN 978-2-940501-17-5

Es ist der Westschweizer Vereinigung «L'Aubier» zu verdanken, dass die lange vergriffene Rede von Denis de Rougemont «Die föderalistische Haltung» in der französischen Originalversion und in deutscher, italienischer und englischer Übersetzung 2012 in einem sehr lesenswerten Bändchen neu aufgelegt wurde. 

 

ISBN 978-2-940501-17-5

¹ Denis de Rougemont: L’attitude fédéraliste. Editions de La Baconnière. Neuchâtel 1947.

² Denis de Rougemont: L’attitude fédéraliste – Die föderalistische Haltung – L’attitudine federalista – The federalist attitude. L’AUBIER, Montézillon 2012. ISBN 978-2-940501-17-5

* Denis de Rougemont (1906–1985) war Schweizer Schriftsteller, Philosoph und Universitätsprofessor. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges diente er als Offizier in der Schweizer Armee und gehörte zu den Mitbegründern des «Gotthardbundes», einer überparteilichen Widerstandsgruppe gegen die Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland, die den Willen zur Landesverteidigung und zur Überwindung von Interessensgegensätzen zu stärken versuchte. In rund 8000 Ortsgruppen organisierten die Mitglieder Pressekonferenzen, Versammlungen und Kurse, um für die gemeinsame Bewältigung gesellschaftlicher Aufgaben wie Anbauschlacht, Familienschutz und Altersvorsorge und Arbeitsbeschaffung zu werben. 
   Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde de Rougemont von der Union europäischer Föderalisten eingeladen, im Rahmen ihres Kongresses vom 27. August 1947 in Montreux, über die geistigen Grundlagen des Föderalismus zu sprechen und anlässlich des Haager Europa-Kongresses 1948 konzipierte er das Abschlussmanifest, das den Anstoss zur Gründung des Europarates gab. 1950 gründete er das Centre Européen de la Culture in Genf, das er bis zu seinem Tod leitete. 

 

Über den Sinn des Wirtschaftens

von Reinhard Koradi

In den letzten Wochen zogen immer dichtere Wolken am Wirtschaftshorizont auf. Vor allem in den sogenannten Schwellenländern wie der Türkei, Venezuela und Argentinien, aber auch in Indien sind die wirtschaftlichen Perspektiven durch den Zerfall der Landeswährungen düster. Es wäre jedoch überheblich, würden wir den Niedergang der Volkswirtschaften in der westlichen Hemisphäre einfach negieren und uns allein auf wirtschaftspolitische Verfehlungen in den weniger entwickelten Ländern einschiessen. 

Griechenland ist noch lange nicht über dem Berg und ­Italien stellt nach wie vor eine ernsthafte Bedrohung für den Euro-Raum dar. Die enorme Staatsverschuldung gefährdet auch weitere westeuropäische Staaten, und der von den USA ausgelöste Handelskrieg hängt gleich einem Damoklesschwert über der Wachstums- und Wettbewerbswirtschaft. Die Probleme der durch die Globalisierung in Ketten gelegten Volkswirtschaften haben vielfältige Ursachen. Mit Bezug auf Venezuela und die Türkei stehen politische Turbulenzen als Auslöser der Krise im Vordergrund, vorangetrieben durch Eingriffe von aussen sowie innenpolitischen Machtkämpfen. Bei den anderen krisengeplagten Volkswirtschaften ist es primär die durch den neoliberalen Einfluss auferlegte Wirtschafts-, Geld- und Haushaltspolitik, welche die Länder an den Abgrund führt. Sie sind das Resultat der absoluten Ökonomisierung von Gesellschaft, Politik und letztlich der natürlichen Lebensgrundlagen. Die Wirtschaft, genauer die Ausbeutung der Schwächeren durch die Mächtigen, hat das Zepter übernommen. Die Diktatur des Geldes zerstört historisch und organisch gewachsene Strukturen und damit auch die Lebensqualität innerhalb dieser Strukturen. Dramatisch bei dieser Entwicklung ist der Verlust der nationalen Souveränität. Gefangen in einem weltübergreifenden neokonservativen Konstrukt haben die Nationalstaaten ihre Freiheit zur Gestaltung ihrer eigenen Volkswirtschaft an Konzerne, internationale Organisationen (IWF, (Internationaler Währungsfonds), WTO (Welthandelsorganisation), OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), Weltbank und staatenübergreifende Bündnisse (Europäische Union) sowie transnationale Handelsabkommen abgetreten. Die Inhalte all dieser Bündnisse und Abkommen rauben dem Nationalstaat die Fähigkeiten und Werkzeuge, eine nationale Wirtschafts-, Geld- und Haushaltspolitik zu verfolgen, die den Interessen der einzelnen Staaten und deren Bewohnern gerecht werden. Sie werden gezwungen, statt dem Bürger den Märkten und damit der Finanzaristokratie zu dienen. Ein Zwang, der sich bei der Aufarbeitung der Wirtschaftskrise nicht nur fortsetzt, sondern noch um ein Vielfaches verstärkt.

Was ist schiefgelaufen?

Souveräne Staaten wurden unter dem massiven ­Globalisierungsdruck gezwungen, die auf die ­nationalen Bedürfnisse ausgerichteten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Regulierungen gegen eine Wirtschaftspolitik einzutauschen, die auf Wachstum, Deregulierung und Privatisierung der öffentlichen Güter ausgerichtet ist. Durch diesen Kurswechsel wurden die Weichen einseitig in Richtung reine, grenzüberschreitende Marktwirtschaft gestellt. Eine Weichenstellung, die den Weg zur Diktatur des Geldes freimachte. Qualitative Standards (Selbstbestimmung, Allgemeinwohl, Chancengleichheit, hohe Produktequalität, soziale Verantwortung für die Arbeitnehmer usw.) auf nationaler Ebene wurden durch quantitative Ziele wie Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit im globalen Kontext (Kosten senken) verdrängt. Es setzte sich die Meinung durch, dass sämtliche Probleme allein mit Geld gelöst werden könnten. Vor allem auf internationaler Ebene werden Geldtransfers zur Bekämpfung von Krisen und Konflikten angeregt, die an den Ablasshandel des Mittelalters erinnern (Geberkonferenzen, Emissionshandel in Bezug auf den Kampf gegen die beschworene Klimaveränderung usw.). Alles Scheinlösungen, die letztlich die Unfähigkeit globaler Konfliktlösungen vernebeln sollen. Wäre der Wille vorhanden, die Probleme wirklich zu lösen, dann würde man vor Ort, am Ursprung der Konflikte oder der Krisenherde ansetzen.

Im Kampf gegen den Kollaps von Volkswirtschaften und der überbordenden Staatsverschuldung lösten die Nationalbanken eine noch nie dagewesene Geldschwemme aus. Sie überfluteten die Geldmärkte und trieben die Staaten und Menschen durch eine Tiefzinspolitik in die Schuldenfalle. Statt auf nationale Herausforderungen und Bedürfnisse abgestimmte Sanierungspläne zu entwickeln, wurden transnationale Rettungsschirme aufgespannt, die letztlich nur dazu dienten, die in den notleidenden Ländern angehäuften Schulden für die Geldgeber (EBZ, IWF, Geberländer und Banken) abzusichern. Keine Ursache der Krise wurde mit solchen Rettungsaktionen gelöst, vielmehr brachten sie Eingriffe in die Selbstbestimmung souveräner Staaten (Kreditzusagen gegen Abtretung der Souveränität) und schwächten damit die Möglichkeit, die Krise aus eigener Kraft zu bewältigen.

Volkwirtschaften sind naturgemäss geschlossene nationale Kreisläufe, die zwar nach aussen eine durch den Staat zugelassene Öffnung beinhalten (Aussenhandel), aber nie globalen Charakter haben können. Der Irrtum, durch Globalisierung und Liberalisierung den nationalen Wirtschaftskrisen Herr zu werden, ist eine der Haupt­ursachen, dass bis heute kein Krisenherd wirklich saniert werden konnte. Vielmehr wurde durch diesen Lösungsansatz noch mehr Öl ins Feuer gegossen, liegt doch gerade in der Globalisierung und Liberalisierung die Hauptursache der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrisen.

Mit der Forcierung der Globalisierung und Liberalisierung wird ein Anpassungs- und Nivellierungsprozess in Gang gesetzt, der den nationalen Volkswirtschaften irreversiblen Schaden zufügt. Der Verlust der autonomen Gestaltung ­einer länderspezifischen Wirtschaftspolitik zerstört die Voraussetzungen für eine auf die Bedürfnisse des Landes und deren Bevölkerung abgestimmte Gestaltung der Wirtschaft. Die Unfähigkeit, gezielt auf nationale wirtschaftliche Herausforderungen zu reagieren, beschleunigt die Staatsverschuldung, zwingt die Staaten zur Privatisierung öffentlicher Güter (Griechenland), zerstört die Grundlagen für das Allgemeinwohl und somit die soziale Sicherheit. Die Menschen verlieren die bisherigen Existenzgrundlagen. Arbeitslosigkeit, keine existenzsichernden Arbeitseinkommen, unsichere Versorgungslage insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, Verknappung lebensnotwendiger Güter verbunden mit horrenden Preissteigerungen und massive Einbussen beim privaten Vermögen sind die Folgen der verfehlten Politik. Die Bilanz ist allerdings nicht einseitig. Was auf der einen Seite verloren geht und durch den Staat respektive dessen Bevölkerung ertragen werden muss, schaufelt auf der Gegenseite riesige Gewinne in die Kassen der Superreichen. Die Tatsache, dass sich die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter öffnet, beweist das klägliche Versagen der global auferlegten neoliberalen Wirtschaftsdoktrin.

Was ist zu tun?

Grundsätzlich wäre es ganz einfach. Rückbesinnung auf den Sinn des Wirtschaftens! Geben wir den Nationalstaaten die Souveränität zurück, ihre Wirtschafts-, Währungs- und Haushaltspolitik selbst zu regeln und umzusetzen. Das grösste Hindernis bei diesem ­Lösungsansatz sind Denkblockaden und die einseitige Machtkonstellation. Das geradezu hysterisch vorgetragene Glaubensbekenntnis zur liberalen Marktordnung, dem Freihandel und der Auflösung von Grenzen erschwerten den Zugang zu den effektiven Lösungsmöglichkeiten von Krisen und Konflikten. Die Machtkonzentration auf der Seite der Finanzaristokratie, von Konzernen und transnationalen Organisationen verbarrikadierten den Zugang zu einer neuen Weichenstellung. Es gilt demnach, diese Denkblockaden zu durchbrechen und das Gleichgewicht bei der Ausbalancierung der Machtverhältnisse herzustellen. Mit andern Worten, die Demokratie, das Wort des Volkes muss gestärkt werden. Der Selbstbestimmungsprozess der Völker setzt einen demokratisch legitimierten Prozess voraus. Länder wie die Schweiz könnten daher eine ernstzunehmende Vorreiterrolle einnehmen. 

Bedarfswirtschaft als Ziel

Es gibt «Denkfabriken» und andere Institutionen, die heute noch unverfroren am überholten neoliberalen Konzept festhalten und mit einer geradezu verwerflichen Gesinnung, Staaten, Regierungen und die Bevölkerung mit ihren sogenannt wissenschaftlichen Pamphleten im Irrgarten destruktiver Wirtschaftsordnungen vor sich hertreiben. 

Dabei ist für alle offensichtlich, dass der bisherige Kurs des Wirtschaftens «Wachstum und Kostensenkung zur Erreichung der Preiswettbewerbsfähigkeit» die Welt und damit auch die Schweiz in eine Verschleissgesellschaft geführt hat, die Raubbau an der Zukunft nachkommender Generationen betreibt (z. B. Verschleiss von Kulturland auf Kosten der Nahrungsmittelproduktion).

Qualität vor Quantität

Die Zeit ist reif, über neue wirtschaftliche Ziele ernsthaft nachzudenken. Zukünftig sollten wir Quantität durch Qualität ersetzen. Wir werden die anstehenden und auch voraussehbaren Verknappungen von natürlichen Ressourcen nur überwinden, wenn es uns gelingt, Einsparungen und Verzicht zu akzeptieren. Nicht so viel wie möglich, sondern so viel wie nötig ist das zukunftsträchtige Losungswort des Wirtschaftens.

Wirtschaften bedeutet ja auch grundsätzlich, die vorhandenen Ressourcen (Mensch, Natur und Geld) sorgfältig zu nutzen. Sinn unserer wirtschaftlichen Aktivitäten kann nicht mehr die Vervielfachung des Reichtums sein, sondern die Sicherung unserer Existenz. Unter Existenzsicherung fallen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Infrastruktur (Verkehr, Grundversorgung, Bildung und Gesundheit) oder die Funktionsfähigkeit eines souveränen Staates, Schaffung von Arbeitsplätzen für die Bevölkerung bei existenzsichernden Gehältern, Schaffung von Versorgungssicherheit mit den lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen. Der Begriff «lebensnotwendig» ist erklärungsbedürftig. Hier kommt dann der Markt ins Spiel. Die Nachfrage der Inlandbevölkerung wird letztlich das Angebot und damit die Produktion bestimmen. Und wo steht die Exportwirtschaft? Sie sorgt für das Gleichgewicht zwischen Ausfuhr und Einfuhr. Eine ausgeglichene Handelsbilanz muss das Ziel des Aussenhandels sein. Exportieren wir mehr, als wir importieren, dann betreiben wir Raubbau an Arbeitsplätzen für die Menschen im Ausland, und das hat nichts mit einer Bedarfswirtschaft zu tun.

Es mag sein, dass der eine oder andere durch die Umstellung auf die Bedarfswirtschaft Einschränkungen in seiner Komfortzone, der privaten Lebensgestaltung, befürchtet. Aber sind solche Einschränkungen nicht einfach der Preis, für das zu lange Festhalten an einem übermässigen Verschleiss natürlicher Ressourcen und an einem Wohlstand, der zumindest teilweise auf Kosten der weniger entwickelten Länder möglich wurde?

Und wie ist es mit den Kosten, die die aktuelle Wirtschaftsordnung für benachteiligte Branchen (Landwirtschaft, Gewerbe usw.) und einen nicht zu unterschätzenden Teil der Bevölkerung nach sich zieht?

Es ist wohl an der Zeit, einen Ausgleich zwischen Geben und Nehmen zu schaffen, der über die Jahre hinweg gesehen die einzige adäquate Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit sein dürfte. 

Den Umgang mit neuen Medien lernen – geht das?

von Dr. phil. Alfred Burger, Erziehungswissenschafter

Der Begriff «Umgang» tauchte zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Diskussion um die Freigabe von Drogen auf und zieht nun immer weitere Kreise. Vor vielen Jahren war zwar bei allen Fachleuten bekannt, dass es für Alkoholsüchtige keinen «Umgang» mit Alkohol geben konnte. Es gab nur die totale Abstinenz als Ansatz für Süchtige, vom Alkohol wegzukommen. Man wusste, dass sie schon mit wenigen Schlucken unweigerlich wieder in ihre Sucht zurückfallen würden.

Seit einiger Zeit propagieren gewisse Fachleute, ein verantwortungsvoller Umgang mit Drogen sei lernbar. Die Realität zeigt aber ein ganz anderes Bild. Die meisten Süchtigen bleiben bei ihrer Sucht, ja sie geraten, wie bei einer Sucht üblich, meist immer tiefer hinein, und kommen nie mehr davon los. Heute muss man bereits die ersten Plätze in Altersheimen für die alternden Junkies einrichten! Mit etwas umgehen zu können bedeutet doch im allgemeinen Verständnis die Beherrschung einer Sache, z. B. die Beherrschung eines Fahrrades, damit man selber nicht geschädigt wird, aber auch andere nicht zu Schaden kommen. Im Falle der Drogen ist es ganz offensichtlich, dass der «Umgang» mit Drogen nichts anderes heisst als die Pflege einer lebenslangen Sucht auf Kosten der Gesundheit der Süchtigen und zum Schaden der Allgemeinheit, die den Süchtigen die Drogen und auch alle Behandlungskosten zahlen muss. Es ist ein Märchen, dass man mit einer Sucht umgehen kann. Es war und ist ein manipulatives Manöver von Kreisen, die Drogen liberalisieren wollen. 

Suchtpotenzial elektronischer Medien

Schon Erwachsene können also mit Drogen nicht «umgehen». Nun aber wird dieser Begriff – man höre und staune – auch ausgeweitet auf unsere Kinder und Jugendlichen. Sie sollen lernen, mit elektronischen Hilfsmitteln wie Computer, Tablet, Smartphone und Anwendungen im Internet wie Snapchat, WhatsApp usw. verantwortungsvoll umzugehen. Dabei ist es heute erwiesen, dass die oben erwähnten und von Kindern und Jugendlichen eifrig benutzten Medien ein enormes Suchtpotential haben, das nach einigen Fachleuten sogar das Suchtpotential von Drogen übersteigt. Das vor allem, weil die Suchtmittel stets bereitliegen und nicht immer wieder beschafft werden müssen. Ausserdem ist bekannt, dass die Entwickler gewisser Spiele und von Internetanwendungen wie Snapchat bewusst süchtig machende Elemente eingebaut haben, die Benützer also zwingen, immer weiter zu machen, um nicht aus dem Ganzen «herauszufliegen». Und da sollen Kinder, sollen Jugendliche, die in ihrer Persönlichkeit nicht gefestigt und anfällig auf die mannigfaltigen Einflüsse von aussen sind, einen «verantwortungsvollen Umgang» lernen? Es ist doch ein Unsinn, was gewisse Fachleute den Eltern und den Lehrern weismachen wollen. Wie bei den Drogen gibt es auch in diesem Bereich keinen verantwortungsvollen Umgang! Warum nicht? Schon bei kleinen Kindern kann man feststellen, dass sie von den bewegten Figuren auf Bildschirmen fasziniert sind und nicht davon lassen können. Das ist schon lange aus Untersuchungen in den USA, wo viele Eltern ihre Kinder vor den Fernseher gesetzt und ihn als Babysitter benutzt haben, bekannt. Darum wollen schon Kleinkinder heute unbedingt mit dem Smartphone ihrer Eltern spielen. Nicht wenige lassen sich vom ewigen Drängen ihrer Kinder überzeugen und geben schon Kleinkindern Bildschirme in die Hände, um Ruhe haben. Das ist eine ganz gefährliche Tendenz. 

Bedeutung des zwischenmenschlichen Bezugs

Niemals lernt ein Kind etwas fürs Leben von einem Bildschirm. Was es braucht, ist die mütterliche Zuwendung und das Sprechen, Vorlesen und Erzählen. Im engen zwischenmenschlichen Bezug mit den Erziehungspersonen lernen die Kinder die Dinge, die sie für das Leben brauchen. Dazu gehört auch das Spielen – allein und mit anderen –, was immens wichtig für die Vorbereitung auf spätere Lebenssituationen ist. Im Zusammenhang mit der Elektronik ist auch das Spielen verlorengegangen. Die virtuellen Spiele auf elektronischen Geräten sind kein Ersatz! Im Gegenteil, sie machen abhängig. Die allermeisten Kinder und Jugendlichen verlieren darum die Kontrolle über ihr Spielverhalten, was den propagierten «verantwortungsvollen Umgang» im vornherein verunmöglicht.

Verantwortung der Eltern

Keinem der selbsternannten Fachleute käme es in den Sinn, bei einem einjährigen Kind den «verantwortungsvollen Umgang» mit einer Schere zu propagieren, keiner würde einem «verantwortungsvollen Umgang» mit einem Motorrad für Primarschüler das Wort reden. Es gibt doch Stufen in der Entwicklung der Kinder. Da werden gewisse Dinge erst möglich, wenn der notwendige Reifeschritt gemacht ist. Vorher gibt es nur eines: Der Umgang mit der Schere ist für ein Kleinkind verboten, so wie auch der Umgang mit einem Motorrad für den ­Primarschüler. Das ist doch einleuchtend. Jedes Elternpaar verbietet Dinge, weil Kinder noch kein Bewusstsein für deren Gefahren haben. Man lässt ein Kleinkind nicht unbeaufsichtigt in der Nähe eines Teiches, man verbietet den Kindern das Spielen auf der Strasse usw. Im Bereich der Elektronik tun sich aber heute viele Eltern schwer. Sie getrauen sich nicht, einem Kind z. B. den Gebrauch eines Smartphones zu untersagen. Dabei gehört ein internetfähiges Gerät auf keinen Fall in die Hände eines Kindes. Es gehen Gefahren von diesem Gerät aus, die ein Kind nicht erfassen kann. 

Aus diesem Grunde kann ein Kind auch kein Smartphone erwerben. Die Eltern müssen ihre Unterschrift für das Abonnement für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren leisten. 

Gefahren internetfähiger Geräte

Auch der Gesetzgeber weiss also, dass diese Geräte nichts für Kinder sind; so wie auch Motorräder oder Autos nicht von Kindern erworben und gesteuert werden können. Mit der Unterschrift sind die Eltern auch verantwortlich für alles, was ihr Kind mit dem Smartphone macht. Und das ist nicht wenig: Man weiss, dass Kinder und Jugendliche auch hierzulande ungefähr vier Stunden am Tage vor dem Bildschirm verbringen. Die meiste Zeit geht es um inhaltsleere Chats, um Einkäufe, Preisvergleiche, in zunehmendem Masse aber auch um verbotene Inhalte wie Gewalt und Pornografie. Die Meldungen häufen sich, die von Selbstmorden Jugendlicher berichten, die sexuell belästigt werden wegen Bildern, die sie unbedarft herumschicken, ganz zu schweigen von den Gefahren durch Pädophile, die sich im Netz tummeln. Die Gefahren sind heute so immens, dass jedes Elternpaar sich auf seine Verantwortung besinnen und seinen Kindern schlicht und einfach kein Smartphone kaufen sollte. Allerhöchstens ein nicht internetfähiges Telefon. Fachleute schlagen vor, den Kindern und Jugendlichen keine Geräte vor Erreichen des 14. Altersjahres zu geben. Bill Gates und andere Grössen aus der Elektronikindustrie haben öffentlich verkündet, sie würden ihren Kindern niemals ein Smartphone kaufen. 

Wie die Erfahrung zeigt, hängen nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene heute stundenlang an diesen Geräten und können nicht davon lassen. Eine Sucht also, die verhindert, dass die Heranwachsenden das tun, was für ihr späteres Leben wichtig wäre: lesen, ­reale Spiele spielen, persönliche Kontakte mit Menschen pflegen, für die Schule lernen, Instrumente spielen, Sport treiben usw. 

Stopp der Vereinzelung und dem Bildungsabbau

Auch in diesem Bereich ist also ein «Umgang» mit der Elektronik nicht möglich, ausser man meint mit «Umgang» einen sich ständig ausweitenden Konsum, was natürlich ganz im Sinne der Elektronikindustrie wäre. Ganz in ihrem Sinne ist auch, dass nun Schulen auf Geheiss der Politik voll auf Elektronik setzen und denken, der digitalisierte Unterricht würde die Schüler weiterbringen. Dass man auch in diesem Bereich die Kinder zusätzlich einem Bildschirm aussetzt und der Lehrer als Beziehungsperson in den Hintergrund treten soll, ist ein weiterer Baustein des Abbaus sozialer Beziehungen und sozialer Fähigkeiten. Oder wie soll ein Miteinander beim Lernen entstehen, wenn jeder vereinzelt vor seiner Bildschirmkiste sitzt und Arbeitsaufträge abarbeitet? Nicht nur die Vereinzelung ist ein Problem, sondern auch der mit der Digitalisierung einhergehende Bildungsabbau. Alle Erfahrungen aus dem Ausland mit der Verwendung elektronischer Hilfsmittel in den Schulen belegen das. Leider hat die einseitige Wirtschaftsgläubigkeit vieler unserer Politiker dazu geführt, dass heute ökonomische Überlegungen die Gestaltung unserer Schulen bestimmen. Die Schule wäre aber das Tätigkeitsgebiet der Pädagogen, doch unter dem massiven Druck der internationalen Wirtschaft haben sie entweder die Segel gestrichen oder reden den Interessen der Elektronikkonzerne das Wort. Die Millionen an Steuergeldern, die heute und in Zukunft für die Digitalisierung in die Schulen gesteckt werden, bringen den Kindern wenig bis nichts und könnten weit besser angelegt werden. 

Zurück