Artikel in dieser Ausgabe
- Nur der freie Dialog wird tragfähige Lösungen bringen
- Die Schweiz muss ihre Europapolitik neu überdenken
- «Durch 2G werden zwei Millionen Einwohner in der Schweiz ihrer Freiheitsrechte beraubt»
- «Die Massnahmen haben ganz klar das Ziel, das Leben der Ungeimpften unerträglich zu machen»
- «Demokratie heisst Regierung durch und für das Volk»
- «Der Westen müsste Gespräche anbieten, um aus der Eskalationsspirale herauszukommen»
- Internierung der Bourbaki-Armee in der Schweiz vor 150 Jahren – ein ausserordentliches Beispiel humanitären Handelns
Nur der freie Dialog wird tragfähige Lösungen bringen
Als Immanuel Kant in seiner denkwürdigen, 1784 verfassten Schrift «Was ist Aufklärung?» die provokante Aufforderung «sapere aude» formulierte, auf deutsch, «wage zu denken» oder «habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen», waren die Menschen, auch wenn die Französische Revolution später einiges des Herkömmlichen auf den Kopf stellte, tief im Denken des Absolutismus und der ständischen Ordnung verhaftet. Die Aufforderung Kants, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, war eine zentrale Forderung der Aufklärung, die den Weg zu einer mündigen Bürgerschaft ebnete.
Überall dort, wo der Mensch sich seines eigenen Verstandes bedient, lassen sich Fortschritte im Zusammenleben erkennen. Die alte Ordnung, definiert durch die Ständegesellschaft, musste dem Gestaltungswillen des mündigen Bürgers weichen. Verschiedene Umbrüche und Revolutionen erlaubten eine immer umfassendere Mitgestaltung des politischen Lebens, und mit einem Austritt aus der «selbstverschuldeten Unmündigkeit» erkämpften sich die Menschen die Grundrechte der Mit- und Selbstbestimmung, was sich nach Jahrzehnten beharrlichen Strebens in der Staatsform der parlamentarischen Demokratie offenbarte. Auch in der Eidgenossenschaft mit ihren eigenständigen, wachsamen Bürgerinnen und Bürgern lässt sich diese Entwicklung beobachten. Gemäss ihrer geschichtlichen Tradition lassen sich die Schweizerinnen und Schweizer nicht gerne etwas von anderen vorschreiben, was sie nicht selbst überprüft und für sinnvoll befunden haben.
Gegen oktroyierten Zentralismus
Schon Napoleon musste nach der Eroberung der Eidgenossenschaft 1798 feststellen, dass er mit den «Schweizern» nicht so umspringen konnte, wie er es mit anderen Völkern praktizierte: «Je mehr ich über die Beschaffenheit Eures Landes nachgedacht habe, desto stärker ergab sich aus der Verschiedenheit seiner Bestandteile die Überzeugung der Unmöglichkeit, es einer Gleichförmigkeit zu unterwerfen…» Ein klares Plädoyer für den Föderalismus. Napoleon musste bei aller militärischer Übermacht klein beigeben, denn die Schweizer Bevölkerung wehrte sich standhaft gegen den oktroyierten Zentralismus, der nach dem Vorbild Frankreichs während der Helvetik für eine kurze Zeit das politische System des Landes bestimmte.
Forderung nach mehr Mitsprache
Auch in späteren Phasen der Schweizer Geschichte lässt sich dieser unabhängige Geist erkennen. Nach der napoleonischen Ära gab es innerhalb der Eidgenossenschaft Zwistigkeiten, die im Sonderbundskrieg ihren Abschluss fanden. Dieser Krieg war ein Krieg, der im Land glücklicherweise, aber nicht zufälligerweise, die letzte grössere gewalttätige Auseinandersetzung bedeutete. Aber auch hier galt ein hohes Prinzip, das in den Worten des Schweizer Generals Dufour seinen Niederschlag fand, als er sich im Sonderbundskrieg vor Beginn der Kämpfe an die eidgenössischen Truppen wandte: «Sobald aber der Sieg für uns entschieden ist, so vergesst jedes Rachegefühl, betragt Euch wie grossmütige Krieger, denn dadurch beweist ihr Euern wahren Mut …, betragt Euch so, dass Ihr Euch stets Achtung erwerbt und Euch stets des Namens, den Ihr tragt, würdig erweist.» Eindrückliche Worte, die bis heute Gültigkeit haben müssen.
Zwar waren die Jahre nach 1848 weiterhin von politischen Forderungen nach mehr Mitsprache geprägt, aber zu den Hellebarden hat man nicht mehr gegriffen. Es war ein harter und zäher Kampf, bis sich engagierte Menschen, die sich nicht auf das Denken anderer verlassen wollten, mit ihren Forderungen nach Referendum und Initiative durchsetzen konnten.
Gegen politische Eliten
Doch der Widerstand vor allem der politischen Elite war gross. Alfred Escher, eine Grösse des Zürcher Freisinns, wetterte mit allen erdenklichen Argumenten gegen mehr Bürgerbeteiligung in politischen Fragen. Im Freisinn herrschte mehrheitlich die Meinung vor, «dass die gemeinen Leute für das allgemeine Wahlrecht noch nicht reif seien.»¹ Liberale sahen «die politische Partizipation nicht als Recht, sondern als ein an gewisse zivilisatorische Grundvoraussetzungen geknüpftes Privileg.»²
Die Menschen in der Schweiz wollten sich nicht einer wie auch immer gearteten Elite unterordnen und forderten die direkte Mitsprache ein.
Möglich war das nur, weil man eine öffentliche Debatte über diese grundlegenden Fragen geführt hatte und sich eine grosse Mehrheit an dieser Auseinandersetzung beteiligen konnte. So fanden vor allem in den ländlichen Gegenden Versammlungen statt, auf denen die Bürger ihre Vorstellungen präzisierten und Wege, wie man zu mehr Mitsprache kommen könnte, debattierten.
Öffentlichen Diskurs einfordern
Das ist der Geist, der unsere Eidgenossenschaft ausmacht. Man lässt sich nicht von oben sagen, was zu tun ist, wir machen auch nicht Widerstand um des Widerstands Willen, sondern beteiligen uns an einem öffentlichen Diskurs, bei dem jede Meinung zählt und ernstgenommen werden muss. Das führte zu der einzigartigen direkten Demokratie, um die uns viele Bürgerinnen und Bürger in den Nachbarstaaten beneiden.
«Sapere aude»
Die Medienlandschaft, die im letzten und vorletzten Jahrhundert nicht wie heute von ein paar grossen Medienhäusern bestimmt wurde, zeichnete sich durch eine grosse Vielfalt aus. Eine Vielfalt, die man heute häufig vermisst. Die Tendenz der Classe politique, die Rechte des Volkes zu beschränken, war in allen vergangenen Epochen immer eine Gefahr für die direkte Demokratie. Auch heute lässt sich das beobachten. Experten werden dem Volk präsentiert, deren Meinungen sakrosankt sind. Gerade in der Frage um die Corona-Massnahmen, um die Impfung oder um andere, vielleicht sogar effizientere Behandlungsmöglichkeiten fehlt eine breite Auseinandersetzung. Ein wissenschaftlicher Diskurs, der alle Seiten mit einbezieht, wird nicht geführt. Es gilt nur das als wissenschaftlich, was die Position des Mainstreams stützt. Damit gehen entscheidende Impulse zur Bewältigung von Krisen jeglicher Art verloren. In der Situation ist die Kant’sche Maxime «sapere aude – habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen» aktueller denn je. Die Gesellschaft muss zum Grundkonsens zurückfinden, der verschiedene Meinungen und Erkenntnisse vorurteilsfrei und auf der Grundlage des gegenseitigen Respekts zulässt und diese im freien Diskurs weiterentwickelt werden können. Nur so wird die Menschheit die Zukunft positiv und zum Wohle aller gestalten können.
¹ Oliver Zimmer: Wer hat Angst vor Tell? Basel 2020, S. 41
² ebd.
Die Schweiz muss ihre Europapolitik neu überdenken
Seit dem Nein des Bundesrats zum Rahmenabkommen mit der Europäischen Union scheint sich Brüssel in den Schmollwinkel zurückgezogen zu haben, ohne jedoch die Machtgebärden gegenüber der souveränen Schweiz einzustellen. Noch immer glauben die Damen und Herren in der europäischen Hauptstadt, der Schweiz diktieren zu können, was sie zu tun und zu lassen hat. Dabei scheinen den Mandatsträgern in Brüssel beinahe sämtliche Mittel recht zu sein, die versprechen, die Schweiz gefügig zu machen.
Zum Glück hat der Bundesrat die Botschaft des Schweizer Volks verstanden und bis anhin auf weitere Zusagen verzichtet, die unsere Souveränität gefährden. Allerdings gibt es immer noch Kräfte in unserem Land, die den ungehinderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt höher gewichten als Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Schweiz.
Die Idee aus wirtschaftsnahen Kreisen, den Marktzugang mit erhöhten Milliardenzahlungen an die EU (Verdoppelung der Zahlung in den Kohäsionsfond) zu erkaufen, ist gelinde gesagt ein Kotau gegenüber dem Machtapparat in der EU-Metropole. Die Beschönigung dieses geplanten Griffs in die Bundeskasse, man möchte mit dieser Erhöhung den Zugang der Schweiz zum EU-Forschungsprogramm (Horizon) wieder öffnen, ist, wie im Parlament bereits tituliert, als Kuhhandel abzulehnen. Eine sehr begrüssenswerte Haltung einer Mehrheit unserer Volksvertreter.
Europainitiative
Die Grüne Partei und die Operation Libero lancieren eine Initiative, deren Ziel es ist, den Bundesrat zu beauftragen, die Verhandlungen mit der EU bezüglich des bilateralen Wegs wieder in Gang zu bringen. Dabei argumentieren die Vertreterinnen von Libero, dass durch die neue Initiative Demokratie, Souveränität und Wirtschaft gestärkt werden. Eine solche Argumentation kann nur in die Welt gesetzt werden, wenn Täuschung oder begrenzte Wahrnehmungsfähigkeit die Basis dieser Argumente bildet. Hat doch Brüssel bereits sowohl gegenüber der Schweiz als auch gegenüber den EU-Mitgliedsländern klar gemacht, dass Souveränität und Demokratie auf nationaler Ebene keinen Einfluss auf die Entscheidungen der EU-Zentrale haben.
Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Politik gegenüber der Europäischen Union darf den sehr engen Verhandlungsspielraum, den die EU vorgibt, nicht ausser Acht lassen. Solange die EU-Funktionäre auf ihren Verhandlungspositionen verharren, gibt es schlicht keinen Anlass für die Wiederaufnahme von Verhandlungen. Schon eher gilt es, das EU-Dossier abgestimmt auf die Interessen der Schweiz neu zu ordnen und zu bündeln. Dabei können wirtschaftliche Anliegen höchstens Mosaiksteine innerhalb des gesamten Verhandlungskatalogs sein. Es sei denn, wir verhandeln allein über einen Freihandelsvertrag, der allerdings bereits am 1.1.1973 in Kraft gesetzt wurde.
Brüssel durch die Hauptstädte der nationalen Staaten ersetzen
Warum nicht in Paris, Rom, Moskau, London, Berlin usw. zwischenstaatliche Vereinbarungen aushandeln? Auch ein Zusammenschluss der Alpentransitländer Frankreich, Italien, Österreich und der Schweiz könnte eine äusserst interessante Alternative zur EU sein und unter anderem den Weg für einen verträglichen und wirtschaftlich vertretbaren Alpentransit frei machen. Es liegt nicht im Interesse der Alpentransitländer, den Alpentransfer durch nicht kostentragende Transitgebühren weiter zu fördern, mit entsprechend negativen Konsequenzen für Mensch und Umwelt.
Zudem bestehen internationale Handelsnormen, die sehr wohl als Grundregeln nachbarschaftlicher Handelsbeziehungen respektiert werden müssten. Gemäss der WTO ist es den Mitgliedsländern nicht erlaubt, den Marktzugang durch tarifäre oder nichttarifäre Hindernisse zu blockieren oder gar zu verhindern. Zum andern gilt die Meistbegünstigungsklausel. Zusagen, die anderen Staaten gewährt werden, müssen auch gegenüber Drittstaaten (Mitgliedern) eingehalten werden. Warum soll das nicht auch gegenüber der EU Standard sein? Um den Machtapparat in Brüssel zu umgehen, müssen eben Alternativen entwickelt werden, beispielsweise durch direkte Verhandlungen mit einzelnen Nationalstaaten.
Ein entsprechendes Vortasten scheint bereits in Gang gekommen zu sein. Um Versorgungslücken beim Strom zu überbrücken, wurden bereits entsprechende Absichtserklärungen unterzeichnet. «Bundesrätin Simonetta Sommaruga hat am 1. Dezember 2021 virtuell am Pentalateralen Energieforum teilgenommen. Die Penta-Länder (Belgien, Niederlande, Luxemburg, Deutschland, Frankreich, Österreich und Schweiz) haben an diesem Anlass gemeinsam ein «Memorandum of Understanding» (MoU) zur Stromkrisenvorsorge unterzeichnet. Die Schweizer Botschafterin Rita Adam hat dieses MoU in Brüssel unterschrieben.»¹
Zwischenstaatliche Verträge innerhalb der EU
Aufschlussgebend könnte auch der umfangreiche bilaterale Vertragsabschluss durch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Ministerpräsident Mario Draghi sein. Der Vertrag markiere einen «historischen Moment» in der Geschichte der Beziehungen beider Länder, sagte Draghi im Anschluss. «Frankreich und Italien festigen ihre diplomatischen, kommerziellen, politischen und kulturellen Beziehungen weiter.»
Durch den sogenannten Quirinalsvertrag soll die Zusammenarbeit der zweitgrössten (Frankreich) und drittgrössten (Italien) Volkswirtschaft der EU in den Bereichen Stärkung der Europäischen Union, aussenpolitische Vorhaben, Wirtschaft, Umwelt, Sicherheit, Kultur und Bildung intensiviert werden.² Offensichtlich gibt es auch innerhalb der EU Handlungsbedarf, um den unterschiedlich gelagerten Bedürfnissen nationaler Volkswirtschaften gerechter zu werden. Warum soll die Schweiz nicht denselben Anspruch geltend machen?
Versorgungs- und Lieferengpässe
Im Hinblick auf die erheblichen Lieferengpässe, die ganze Industrien beinahe lahmlegen, ist es wohl an der Zeit, die strategische globale Grundausrichtung der Wirtschaft gründlich zu hinterfragen. Vor allem auf der Beschaffungsseite sind erhebliche Missstände aufgetreten, die vermeintlichen (Preis-)Vorteile von Outsourcing (Produktionsauslagerung) und Just-in-Time-Logistik (Verzicht auf Lagerhaltung) radikal auf den Kopf stellen. Sowohl auf volkswirtschaftlicher wie auch auf betrieblicher Ebene müssen die Weichen neu gestellt werden. Eine zukunftsfähige Wirtschaftspolitik und Unternehmensstrategie setzt primär auf Versorgungssicherheit, hohe Lieferbereitschaft, sorgfältigen Einsatz der Ressourcen und Qualität. Innerhalb eines Betriebes oder einer Unternehmung ist es daher unerlässlich, den gesamten Wertschöpfungsprozess in den eigenen Reihen oder zumindest unter eigener Kontrolle zu halten. Damit ist auch klar, dass die räumliche Distanz begrenzt und übersichtlich sein muss. Was für Unternehmen gilt, ist auch Plicht für den Nationalstaat. Um die Grundversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, braucht es Eigenversorgung und eine angemessene Vorratshaltung. Je näher und übersichtlicher die Versorgungsquellen organisiert werden, desto höher die Versorgungssicherheit (Regionalisierung der Wirtschaftskreisläufe). Verstärkt wird die Forderung nach Kleinräumigkeit und Regionalität auch durch den anhaltenden Druck, durch ressourcenschonende Produktions- und Logistikprozesse, Natur und Umwelt zu entlasten.
Globalisierung schadet der nationalen Souveränität
Die globale Wirtschaft ist ein Konstrukt einer verschwindend kleinen Elite. Es geht diesen Hintermännern nicht um Wohlstand für alle, sondern allein um die Kontrolle über den Globus mit dem Ziel, den unermesslichen Reichtum einer winzigen Minderheit weiter aufzustocken. Souveräne Nationalstaaten stehen diesem Plan im Wege und müssen deshalb wegräumt werden. Es steht die Frage im Raum: Warum beugen sich die Regierungen im Gleichschritt vor dieser Minderheit.
Widerstand ist zu organisieren, wollen wir uns einer Unterwerfung durch die Finanzaristokratie entziehen. Es tut Not, die Bedeutung der nationalen Souveränität mit sämtlichen verfügbaren Kräften aufzuwerten. Zu diesem Aufbau gehört neben einer geistigen Landesverteidigung der Einsatz für eine möglichst umfassende Versorgungssicherheit durch Eigenleistung.
Eigenleistungen sind auf sämtlichen Ebenen unabdingbar. Gesellschaft, Politik und Wirtschaft sind in dieser Hinsicht gleichermassen gefordert. Dazu gehört dann auch eine klare Haltung gegenüber der EU. Die Europäische Union ist der Vorhof zur globalen Unterwerfung. Zum Kampf gegen einen globalen Machtanspruch einer Minderheit gehört es, die Interessen der Schweiz in keiner Weise einem sogenannten bilateralen Weg mit der EU zu opfern.
¹ https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-86210.html
² https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/515955/Macron-und-Draghi
«Durch 2G werden zwei Millionen Einwohner in der Schweiz ihrer Freiheitsrechte beraubt»

Zeitgeschehen im Fokus Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung in unserem Land?
Nationalrätin Yvette Estermann Ich bin sehr besorgt. Es gibt so viele Probleme in unserem Land. Wir haben so viele Schulden gemacht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Es gibt zunehmend Menschen mit psychischen Problemen, die die seit zwei Jahren andauernde Situation kaum verkraften können. Viele Bürgerinnen und Bürger haben das Vertrauen in die Politik verloren. Der Bundesrat hat für dieses Problem kein Gespür und Gehör. Mich beschäftigt sehr, dass so viele Menschen unter dieser Situation leiden.
Warum wird das nicht mehr in den Medien thematisiert? Das psychische Leiden der Menschen unter den extremen Einschränkungen ist sehr verständlich.
Viele Menschen sind sich nicht bewusst, was sie alles aufgeben. Seit Jahrzehnten ist es uns hier im Land gut gegangen. Man hat zwar auf die Politik geschimpft, aber grundsätzlich war man nicht dagegen. Man hat das Sensorium verloren, Einschränkungen der Freiheit auch als solche wahrzunehmen. Bisher ist man sich das in der Schweiz und auch in Europa in dem Masse nicht gewohnt.
Wie würden Sie die Lage nach der Annahme des Covid-19-Gesetzes bezeichnen?
Man schimpft immer auf die Länder, in denen der Staat viel Macht hat und die Freiheit der Menschen einschränkt, und man spricht gerne von Diktatur. Und was haben wir jetzt? Ein Teil der Bevölkerung, etwa zwei Millionen Menschen, werden in der Schweiz ihrer Freiheitsrechte beraubt und werden in den Medien und Teilen der Politik schwer verunglimpft. Das ist äusserst bedenklich und eine ganz schlechte Entwicklung.
Was müsste denn anders sein?
Dass sich alles nur auf die Impfung ausrichtet, ist nicht normal. Ich habe dem Bundesrat die Frage gestellt, was mit erfolgreichen Therapien sei. Er ist darauf eingegangen und hat bestätigt, dass das wichtig sei und dass man daran weiterforschen würde, aber dass es aufwendig sei. Mit anderen Worten, Impfen ist billig und daher günstiger. Therapien, die wirksam wären, sind teurer. Man möchte möglichst das Billigste und schiebt diejenigen, die das nicht wollen, in eine Ecke. Tatsache ist, dass es sehr viele Impfdurchbrüche gibt.
Werden die Impfdurchbrüche genauer untersucht?
Der Nationalrat hat entschieden, das nicht genauer zu untersuchen, was mich sehr enttäuscht hat. Ich habe nichts dagegen, wenn sich Menschen impfen lassen oder Masken tragen oder andere Massnahmen befolgen, aber man darf das nicht als das Allheilmittel verkaufen. Man muss doch in alle Richtungen forschen und den Menschen überlassen, von welcher Möglichkeit sie Gebrauch machen wollen.
Die Diskussion ist tatsächlich sehr eindimensional.
Ja, zum Beispiel gibt es Menschen, die sind tatsächlich immun gegen das Virus. Was macht man mit ihnen? Man kann in der Politik des Bundesrats nicht feststellen, dass diese Dinge berücksichtig und wissenschaftlich untersucht werden. Man schraubt dort ein bisschen und probiert da mal etwas aus, droht mit Lockdown und zwingt so die Menschen zum Impfen. Wir haben alle erlebt, was der Lockdown bedeutet. Die Situation ist für die Menschen unbefriedigend und unhaltbar. Man sieht keine Perspektive. Der Bundesrat bietet bei seiner Politik keine Perspektive an. Je nachdem, wie weit der Bundesrat mit 2G geht, sind möglicherweise zwei Millionen Einwohner in der Schweiz ihrer Freiheitsrechte beraubt. Man ignoriert sie. Sonst redet man besonders von linker Seite von Toleranz und Minderheiten, deren Rechte auch gewahrt bleiben müssen, aber diese Menschen haben bald gar keine Rechte mehr. Ich kenne einige Leute, die auswandern. Sie nehmen einen tieferen Lebensstandard in Kauf, haben dafür mehr Freiheit. Das ist eine bedenkliche Entwicklung.
Die Aussage, die Ungeimpfen seien schuld an der Entwicklung, ist heftig.
Ja, das ist unhaltbar, denn die Geimpften stecken sich untereinander an. Aber wie in jeder Krise muss man einen Sündenbock finden, der sich nicht gross wehren kann. Der Bundesrat findet sich durch die Abstimmung über das Covid-Gesetz in seiner Strategie bestätigt. Die knapp 40 %, die dagegen gestimmt haben, interessieren ihn überhaupt nicht. Er fühlt sich bestätigt und geht diesen Weg weiter in diese Richtung. In Tat und Wahrheit hat der Bundesrat bis heute kein Konzept gefunden, wie er damit fertig werden will. Es ist auch nicht neu, dass es solche Krankheiten gibt, und die Menschheit ist immer damit fertig geworden. Aber weil nur eine Methode verfolgt wird und Therapien oder Prävention nicht ins Auge gefasst werden, tappt er eigentlich im Dunkeln. Es wäre gescheiter, sie würden dazu stehen, dass sie nicht wissen, was der beste Weg sei. Aber es gibt Beispiele in anderen Ländern, die das Problem anders angehen. Mir fehlt, dass den Menschen keine Wahl gelassen wird und es keine Möglichkeiten gibt, auch andere Therapien auszuprobieren, das Immunsystem zu stärken oder was auch immer. Es bleibt dabei, man will impfen. Wenn das Impfen die einzige Möglichkeit sein soll, Corona zu überleben, dann müssten doch alle Ungeimpfen schon tot sein.
Auch hat sich die Impfung nicht als das erwiesen, was man uns versprochen hat.
Ja, ich habe in meinem Umfeld viele Leute, die bereits zweimal geimpft wurden und trotzdem Corona bekommen haben. Interessant ist, dass die Menschen auch dann noch sagen, es wäre doch viel schlimmer gewesen, wenn sie nicht geimpft gewesen wären. Menschen schlafen schlecht, haben depressive Stimmungen, und daran ist immer Corona schuld. Ob und was die Impfung mit den Leuten macht, wird nicht untersucht. So gehäufte Impfdurchbrüche dürften nicht sein. Das gibt es bei anderen Impfstoffen, die jahrelang erprobt sind, nie in diesem Masse.
Wurde der Impfstoff nicht angepriesen mit 95 %igem Schutz?
Doch, am Anfang hiess es, der Schutz vor einer Ansteckung sei 95 %ig. Dann hiess es man müsse zweimal impfen, da es neue Varianten gebe. Inzwischen verhindert der Impfstoff die Ansteckung nicht, aber er sorge für mildere Verläufe. Jetzt muss die sogenannte Booster-Impfung her, also die dritte Impfung. Aus gewissen Kreisen hört man, dass man sich in Zukunft viermal im Jahr impfen lassen muss.
Soll das tatsächlich unsere Zukunft sein?
Ich finde das nicht richtig, denn man blendet Länder aus, die auf andere Möglichkeiten setzen, aber darüber wird nicht berichtet. Es ist nicht ehrlich gegenüber den Menschen, und es ist schädlich für eine Gesellschaft, wenn 40 % ignoriert werden, und man von ihnen verlangt, sich bedingungslos anzupassen. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Ich hätte nie geglaubt, dass so etwas in der Schweiz möglich wäre. Ich hoffe, dass der Bundesrat nicht vollständig den Kopf verliert, den gesunden Menschenverstand bewahrt und vernünftig bleibt.
Was würde das heissen?
Sich nicht blindlings auf andere Länder auszurichten wie Deutschland oder Österreich. Denn wenn diese Länder in die Katastrophe hineinrutschen, wird es uns auch so ergehen. Man sollte auf eigene Lösungen setzen und auch offen sein, neue Wege zu beschreiten. Natürlich kann man von den anderen Ländern lernen und Fehler vermeiden, die dort gemacht wurden, aber man muss immer die gesamte Situation des eigenen Landes im Auge behalten. Es ändert sich so schnell.
Was müsste der Bundesrat anders machen?
Der Bundesrat müsste viel flexibler handeln. Die Situation ändert sich tatsächlich tagtäglich. Es ist unverantwortlich, Fristen wie z. B. den 24. Januar zu setzen. Man sollte jede Woche die Zahlen anschauen, aber nicht nur die Zahl der Kranken. 90 % der Infizierten wissen gar nicht, dass sie Corona haben. Man muss sich doch an den schweren Verläufen orientieren. Heute macht man doppelt so viele Tests wie vor einem Jahr und zeigt sich entsetzt über die hohen Zahlen. Das ist doch Unsinn. Wir müssen aufhören, gesunde Leute zu testen, das verzerrt doch das Bild und hält die «Pandemie» am Laufen. Aber manche Regierungen wollen das nicht ändern, einmal ganz abgesehen von denjenigen, die die grossen Profiteure sind. Für sie ist es das Geschäft des Jahrtausends.
Die Zahlen sagen ja auch nichts aus, wenn man nicht weiss, wieviel getestet wurden.
Nein, denn woran man sich orientieren sollte, sind die schweren Verläufe und die Zahl der Gestorbenen, wobei man dann auch eindeutig feststellen müsste, was die genaue Todesursache ist, sonst ist das eine Verfälschung, «mit oder im Zusammenhang mit Covid-19» reicht als Erklärung nicht. Unter den Umständen wäre die Pandemie schnell vorbei, aber das will man nicht. Es geht nicht um die Gesundheit der Menschen, und daher stellt sich die Frage: Worum geht es eigentlich?
Solche Fragen müsste man doch offen diskutieren. Warum geschieht das nicht?
Ja, Sie haben recht, die Diskussion wird nicht geführt. Die Menschen machen sich viele gute Überlegungen in unterschiedliche Richtungen, und das braucht es auch. Was ist mit den Ländern, die keine Massnahmen mehr haben, sind dort alle Spitäler überfüllt und explodieren die Zahlen? England hat seit dem 17. Juli keine Massnahmen und wir hören keine Horrorzahlen von dort. Das muss man doch diskutieren und miteinander überlegen, ob das nicht ein sinnvoller Weg wäre. Es gibt Länder, die andere Wege gehen, aber wir hören davon nichts. Für mich ist das ein Zeichen, dass sie wahrscheinlich mit ihrer Methode erfolgreich waren.
Warum wird das nicht thematisiert?
Das würde die bisherige Einschätzung über den Haufen werfen, das will man nicht. Es geht auch nicht darum, ob impfen oder nicht. Es geht darum, den Menschen umzuerziehen. Wer das nicht will, wird gesellschaftlich stigmatisiert, und man versucht ihn so umzuerziehen. Deshalb erzeugt man so viel Druck wie möglich und probiert, die Schmerzgrenze herauszufinden. Bei einem Teil der Bevölkerung kann man die Daumenschrauben anziehen, er lässt sich nicht impfen. Man treibt die Menschen gegen ihren Willen zu etwas, und das finde ich unmenschlich.
Unser Land hat grundsätzlich andere Werte. Deshalb lehnen wir Druck von oben, wie autoritärer Durchgriff von oben nach unten ab.
Ja, natürlich. Dazu kommt noch, dass unser Land im Vergleich mit anderen Ländern finanziell gut dasteht. Wir könnten das Geld für anderes als nur fürs Impfen ausgeben. Für die Stärkung des Immunsystems, für Therapien usw. Nein, das tut der Bundesrat nicht, weil er an seinem eingeschlagenen Weg festhält, ohne Alternativen ins Auge zu fassen. Die Impfung ist im Endeffekt das billigste Mittel, und das setzt er ein, obwohl grosse Risiken damit verbunden sind.
Wie kommen wir aus dieser Sackgasse?
Der Dialog muss wieder geführt werden, sonst gibt es einen Glaubenskrieg zwischen Impfen - ja und Impfen - nein. Es gibt so viele Experten, die sagen, der Impfstoff sei gefährlich, und er verursache viele schwere Nebenwirkungen, die bis zum Tod führen könnten, und genauso viele sagen, der Impfstoff sei harmlos, das Virus sei viel gefährlicher. Das ist nicht nur die Diskussion in der Bevölkerung, nein, die Experten sind sich nicht einig. Aber solange sich die Experten nicht einig sind, sollte man keinen Druck auf die Bevölkerung ausüben. In so einem Fall gehören die Fakten von beiden Seiten auf den Tisch, und man diskutiert es aus. Wenn die Beweise eindeutig sind, kann man sich frei entscheiden. Nur so kann wieder Vertrauen in die Politik entstehen, die bei mindestens 40 Prozent der Bevölkerung nicht mehr vorhanden ist. Und das ist viel für ein Land, das vor allem auf Konsens aufgebaut ist.
Frau Nationalrätin Estermann, ich danke für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
«Die Massnahmen haben ganz klar das Ziel, das Leben der Ungeimpften unerträglich zu machen»
Die Parlamentarische Versammlung des Europarats sprach sich mit 90 % gegen eine Impfpflicht aus

Zeitgeschehen im Fokus In der Schweiz hat der Bundesrat für gewisse Bereiche wie Fitnesscenter oder Clubs die 2G-Regel eingeführt und diese auf Restaurants und Bars ausgedehnt. Auch ist eine Impfpflicht für gewisse Menschengruppen noch nicht vom Tisch. In Deutschland läuft eine ähnliche Diskussion. Hier gehen die Massnahmen teilweise noch weiter. Ist das menschenrechtlich zulässig? Gibt es dazu irgendeine Stellungnahme aus Strassburg?
Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist die Beurteilung noch viel zu früh. Er tritt erst in Erscheinung, wenn eine Klage gegen die Impfpflicht oder andere Regelungen durch alle nationalen Instanzen gegangen ist. In Deutschland ist gerade letzte Woche beschlossen worden, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht am 15. März in Kraft tritt. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es Klagen dagegen geben wird.
Was heisst konkret «einrichtungsbezogen», wen betrifft das?
Es wird Millionen von Beschäftigten im Pflegebereich, im Bereich der Altenpflege etc. betreffen. Das Ganze ist aber nicht auf den Beruf des Pflegers oder der Pflegerin begrenzt, sondern betrifft alle, die in einer Einrichtung beschäftigt sind: von der Putzequipe bis zum Vorstand einer solchen Einrichtung, und insbesondere das medizinische Personal. Es wird sicherlich Hunderttausende geben, die das nicht wollen, und ein Teil wird wohl dagegen klagen. Aber erst muss das durch alle nationalen Instanzen gehen, und am Ende wird der Strassburger Gerichtshof darüber entscheiden, deshalb gibt es jetzt auch noch keine Urteile dazu.
Gab es nicht schon ein Urteil in Deutschland?
Ja, da haben wir das Problem, dass das Bundesverfassungsgericht ein für die Kritiker sehr enttäuschendes Urteil gesprochen hat, was jetzt auch die Grundlage bot, dass sich die Bundesregierung entsprechend frei fühlte, so massiv auf das Tempo zu drücken, wie sie das in der letzten Sitzungswoche getan hat.
Inwiefern?
Diese Bereichsimpflicht, die wir jetzt haben, ist im irregulären verkürzten Verfahren innerhalb von vier Tagen durch den Bundestag gepeitscht worden. Normalerweise dauert das mehrere Wochen mit erster Lesung, Anhörung im Ausschuss, zweiter, dritter Lesung und am Schluss gibt es noch eine Abstimmung. Dieser ganze Prozess, der eigentlich auf mehrere Wochen ausgelegt ist, kann durch die Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit im Parlament verkürzt werden. Das ist mit Zustimmung der CDU/CSU, die ja jetzt in der Opposition sitzt, gelungen. DIE LINKE und die AfD haben nicht zugestimmt. So ist das jetzt auf die Schnelle durchgedrückt worden. Dabei wäre ausreichend Zeit gewesen, wenn die Verpflichtung ohnehin erst im Frühjahr in Kraft treten soll.
Könnte man damit gegen die Impfpflicht klagen?
Man kann solche formellen Gründe als Anlass einer Klage nehmen. Gewichtiger scheinen mir aber andere Fragen in Bezug auf die Abwägung von Grundrechten. Bis das in Strassburg ankommt, wird es jedenfalls noch einige Zeit brauchen. Aber man soll darüber nicht vergessen, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarats bereits im Januar dieses Jahres eine Resolution verabschiedet hat, die eine Impfpflicht oder einen Impfdruck sehr deutlich ablehnt. Das ist auch explizit so begründet, dass eine hohe Akzeptanz nur durch die Freiwilligkeit erreicht werden kann. Es darf kein gesellschaftlicher Nachteil entstehen noch darf eine Pflicht, sich impfen zu lassen, ausgesprochen werden. Das ist mit einer 90 %igen Mehrheit im Januar in Strassburg beschlossen worden. Die Resolutionen 2361 der Parlamentarischen Versammlung, bestehend aus 47 Staaten, hat neben empfehlendem Charakter auch ein hohes moralisches Gewicht, denn der Europarat ist das führende Gremium in Menschenrechtsfragen in Europa. Darüber hat sich Deutschland nun hinweggesetzt.
Was ist der Kerngedanke dieser Resolution?
Die Freiwilligkeit ist ein wichtiger Punkt, aber es geht auch um die gerechte Verteilung von Impfstoffen, die Überwachung von Langzeiteffekten und den Umgang mit Impfzertifikaten. Die Resolution richtet sich unmissverständlich gegen den autoritären Umgang mit den Impfungen, also vor allem explizit gegen eine Impfpflicht und gegen die Verwendung von Impfzertifikaten für Dinge wie 2G-Regelungen. Es steht explizit darin, dass es keinen direkten Druck auf Menschen geben soll, die sich nicht impfen lassen wollen oder können. Es gibt aber auch in Strassburg Kräfte, die an der Resolution sägen und einen neuen Vorschlag bringen wollen, der verlangt, dass man eine Debatte über die Impfpflicht führen soll.
In der Schweiz haben wir ähnliche Abläufe, nachdem das Referendum über das Covid-19-Gesetz von der Bevölkerung mehrheitlich angenommen wurde. Der Bundesrat, die Exekutive der Schweiz, beteuert immer wieder, dass er keinen Impfzwang will, aber er greift zu weitreichenden Massnahmen, so dass man von einem faktischen Impfzwang sprechen muss. Es soll 2G gelten, und dort hat der oder die Ungeimpfte keinen Zugang.
Das ist bei uns in Deutschland schon gang und gäbe. Es gibt teilweise auch 2G+, das heisst, es dürfen nur Geimpfte und Genese eintreten, die zusätzlich getestet sind. Über 3G kann man meines Erachtens noch diskutieren, wenn die Tests gratis sind. Wobei ja auch klar ist, dass sich Geimpfte ebenfalls anstecken und andere infizieren können. Von daher ergibt es mehr Sinn, alle zu testen, wenn das Ziel die Vermeidung von Infektionen ist.
Bis zum 9. Oktober hatten wir die Testzentren, in denen man sich kostenlos testen lassen konnte. Das hat man zu Beginn der vierten Welle abgeschafft mit der Begründung – und das ist jetzt sehr interessant – man würde es damit «den Impfunwilligen zu leicht machen». Jetzt sieht man, dass es ein grosser Fehler war, und die Entscheidung wurde zurückgenommen. Die Logik ist immer die Gleiche: Ich muss den Druck auf die Menschen erhöhen, damit mehr geimpft wird. Tatsächlich hat es dazu geführt, dass immer weniger Menschen sich haben testen lassen. Diese Logik ist wirklich fatal.
Was bedeutet das für die Menschen, wenn das Gesetz zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht in Kraft tritt?
Das sind massive Einschränkungen bis fast zum faktischen Berufsverbot für diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen. Die Menschen, die in den Einrichtungen arbeiten, werden ihren Beruf nicht weiter ausüben können, wenn die Impfpflicht ab dem 15. März gilt. Das ist schon ein «Hammer», ich weiss nicht, wann es einen vergleichbaren Grundrechtseingriff nach 1945 gegeben hat.
Warum übergibt man einem in Afghanistan kriegserprobten General die Koordination der Covid-Bekämpfung in Deutschland?
Eine solche Entwicklung können wir schon länger beobachten, dass es eine Verschmelzung von militärischen Fähigkeiten und der Gesundheitspolitik gibt. Ich sehe das natürlich absolut kritisch. Die neue Regierung hat das geschlossen angekündigt. Das ist verheerend.
Die Grünen haben sich doch einmal als Antikriegs- und Friedenspartei verstanden…
Das ist das Image, das sie sich gerne geben. Aber spätestens seit 1999 kann man das nicht mehr sagen. Damals war der «Grüne» Aussenminister Fischer der Kriegstreiber der Bundesregierung für den völkerrechtswidrigen Nato-Angriffskrieg auf Jugoslawien.
Was jetzt geschieht, ist doch eine Militarisierung des zivilen Lebens.
Ja, eine Militarisierung der Gesundheitspolitik und der gesamten Gesellschaft. Auch in anderen Bereichen wird das Militär immer präsenter im gesellschaftlichen Leben. Das lehne ich völlig ab.
Warum lehnen Sie das ab?
Weil gerade im militärischen Bereich eine ganz andere Logik vorherrscht. Auch hat ein General, der sicher organisatorische Fähigkeiten besitzt, nicht die Kompetenz im gesundheitspolitischen Bereich tätig zu werden. Da spielen ganz andere Fragen eine Rolle, bei denen das Militär nichts zu suchen hat.
Ich möchte nochmals auf den indirekten Impfzwang zu sprechen kommen. Die Ungimpften werden zunehmend in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt. Sie diskutieren bereits 2G, was den Ausschluss von über einem Drittel der Bevölkerung zur Folge hat. Wo führt das noch hin?
Die Massnahmen, die ergriffen werden, haben ganz klar das Ziel, das Leben der Ungeimpften unerträglich zu machen, damit sie sich impfen lassen. Das funktioniert nur bedingt. Die einen lassen sich gegen ihre Überzeugung dazu zwingen, andere wiederum nicht, die dadurch immer stärker ausgegrenzt werden. Das führt zu einer unerträglichen gesellschaftlichen Spannung und letztlich zu einer Spaltung. Das halte ich für fatal.
Was kann man dagegen tun?
Dazu muss man nochmals betonen: Wir reden hier nicht über einen erprobten und vollständig zugelassenen Impfstoff, wie das vielleicht bei der Masernimpfung oder der Pockenimpfung der Fall war. Wir reden über einen Impfstoff, der eine bedingte Zulassung hat. Wir befinden uns in einem Stadium, in dem man letztlich die Gesamtwirkungen und Nebenwirkungen nicht vollständig überblicken kann, auch wenn man eine breite Anwendung durchgeführt hat. Sogar die EMA, die europäische Zulassungsbehörde für Medikamente, hat auch jetzt die bedingte Zulassung nicht in eine normale Zulassung überführt, sondern erstere um ein Jahr verlängert. Bei einem Impfstoff, der eine bedingte Zulassung hat, gehört es verboten, diesen mit einer Impfpflicht zu versehen.
Ein Argument, was in unseren Medien gerne kolportiert wird, ist, dass die Ungeimpften schuld an der Pandemie seien...
Das war eine unfassbare Aussage. Im Oktober stiegen die Zahlen entsprechend der saisonalen Entwicklung an. Meines Wissens war es der Präsident des Weltärzteverbands, Montgomery, der zunächst von einer «Pandemie der Ungeimpften» und später sogar von einer «Tyrannei der Ungeimpften» sprach. Diese Aussage kam zu dem Zeitpunkt, als die Zahlen wieder hochgingen und die Menschen Angst bekamen, erneute Massnahmen und einen möglichen Ausfall des Weihnachtsfests, vor allem auch wegen der Omikron-Variante, befürchteten. In der Situation wurde der Sündenbock der Ungeimpften präsentiert. Leider wurde er von vielen – auch von vielen Linken – dankend angenommen. Wenn man sich das innerhalb Europas einmal anschaut, wie hoch die Impfquote ist und wie hoch die Infektionszahlen sind, dann gibt es eigentlich kaum einen Zusammenhang.
Wie muss man das verstehen?
Es gab Länder mit einer 100 %igen Impfquote wie z. B. Gibraltar. Dort sind offiziell 100 % geimpft, dennoch hatten sie eine Inzidenz von über 1000, also viel höher als in der Schweiz oder in Deutschland. Aber auch andere Länder wie Irland oder Belgien mit überdurchschnittlichen Impfquoten hatten Inzidenzen von über 1000. Länder, die wiederum niedrige Impfquoten haben, im unteren Mittelfeld liegen, wie Schweden zum Beispiel, haben eine Inzidenz von 100 bis 150. Wenn man das alles in einem Diagramm nebeneinanderlegt, gibt es keine direkte Korrelation.
Wie kann man sich das erklären?
Das liegt daran, dass die Impfstoffe, die wir hier haben, nur sehr begrenzt und vorübergehend die Weitergabe des Virus unterbinden. Sie schränken nur in einem geringen Mass die Verbreitung des Virus ein. Vielleicht in den ersten Wochen, was aber auf keinen Fall zu einer sterilen Immunität führt, wenn man die Impfung als einen Beitrag zur Herdenimmunität ansehen will. Damit man das Virus nicht weiterverbreiten kann, braucht es eine sterile Immunität. Das ist bei diesen Impfstoffen nicht der Fall. Wenn es überhaupt eine Wirkung in diese Richtung gibt, dann lässt diese sehr schnell nach. Was man sagen kann, ist, dass die Verläufe mit den Impfstoffen weniger schwer sind, deshalb sind sie insbesondere für Risikogruppen und ältere Menschen hilfreich. Leider lässt diese Wirkung insbesondere bei älteren Menschen nach einigen Monaten signifikant nach.
Was hat das für eine Auswirkung auf die Weiterverbreitung?
Das sind zwei unterschiedliche Dimensionen, der eigene Verlauf und die Weiterverbreitung. Letzteres wird durch die Impfstoffe nur sehr begrenzt berührt. Das führte dazu, dass sich Geimpfte in einer falschen Sicherheit wiegten. Sie hatten geglaubt, und das wurde auch so kommuniziert, dass man mit der Impfung selbst total geschützt sei und damit die Ausbreitung gestoppt werde. Das ist nicht der Fall. Man wird dann möglicherweise viel unvorsichtiger, als wenn man ungeimpft wäre, und denkt, jetzt sei alles gut. Das ist einfach nicht der Fall. Ganz sicher ist das ein Aspekt beim Anstieg der vierten Welle in Deutschland.
Und was ist mit der Omikron-Variante?
Über die Omikron-Variante, die jetzt überall Thema ist, wissen wir noch wenig. Ich masse mir da kein Urteil an. Es gibt Einschätzungen, auch aus Südafrika, wo sie zuerst sequenziert wurde, die auf eine höhere Ansteckungsrate, aber mildere Verläufe hinweisen. Andere malen die nächste Katastrophe an die Wand. Ich denke, wir müssen da noch abwarten, was die wissenschaftlichen Untersuchungen ergeben. Klar scheint aber, dass die Variante durch Geimpfte nach Europa und Deutschland gebracht wurde. Und fast alle Fälle, die hier untersucht wurden, waren Geimpfte und nicht Ungeimpfte. Was ich von Anfang an gesagt habe, ist, dass die Impfung in der Bekämpfung dieses Virus ein wichtiger Baustein sein kann, ich habe immer kritisiert, dass alles nur auf die Impfung ausgerichtet wurde. Ich kritisiere, dass die Prophylaxe völlig vernachlässigt wird. Was heisst das denn, wenn Leute asymptomatisch sind? Das Immunsystem wird damit fertig. Was kann man tun, um die Immunsysteme der Bevölkerung zu stärken? Hinausgehen an die frische Luft, Sport treiben, Stress abbauen und genügend schlafen, Vitamin D und Zink einnehmen usw. Das sollte man doch in solch einer Situation fördern.
Was hat man stattdessen gemacht?
Genau das Gegenteil. Man hat die Leute eingeschlossen und ihnen Angst gemacht, Stress verursacht. Diese Überlegungen tauchen hier im öffentlichen Diskurs gar nicht auf. Warum negiert man die Bedeutung des Immunsystems? Ein beachtlicher Teil der Infektionen verlaufen asymptomatisch oder führen nur zu schwachen Symptomen. Das heisst doch: Man hatte mit dem Virus Kontakt, aber das Immunsystem ist damit fertig geworden. Damit meine ich nicht, dass es auch andere Verläufe geben kann, und darum kann man hier gezielt mit einer Impfung helfen. Dieser Aspekt der Prophylaxe und der Aspekt der Therapie werden aber zumindest in Deutschland fast vollständig ausgeblendet. Es gibt Therapeutika, ohne jetzt auf die einzelnen Medikamente einzugehen, aber ich stelle mit Erstaunen fest, dass es darüber keinen öffentlichen Diskurs gibt. Ich kenne Menschen aus ärmeren Schichten, die schwer erkrankten und keinerlei Therapie bekommen haben. Die waren zu Hause eingeschlossen, haben eine Packung Paracetamol bekommen, und das war’s.
Das ist doch völlig einseitig und unangemessen.
Ja, es ist unsäglich, dass wir nichts über Verlaufslinderung erfahren. Es gibt Medikamente, die, wenn man sie frühzeitig einnimmt, den Verlauf lindern können. Das wird nicht alle schweren Fälle verhindern, aber es macht doch einen erheblichen Unterschied, wenn man eine grosse Anzahl hat, bei denen die Verläufe milder sind. Aber man hat von Anfang an bei der Strategie der Bekämpfung auf die Impfung gesetzt und Hunderte Millionen Euro dort investiert. Die anderen ebenso wichtigen Bereiche, die Prävention und wie man medikamentös etwas erreichen könnte, werden bis heute viel zu sehr ausgeblendet und zu wenig finanziell unterstützt. Das ist ein völliger Widerspruch.
Wie steht es eigentlich um die Qualität von anderen Impfstoffen?
Ja, wenn wir so einseitig auf die Impfung setzen und diese ins Zentrum stellen, frage ich mich schon, warum wir Impfstoffe angeboten bekommen, die ausschliesslich von westlichen Pharmafirmen, also aus dem deutsch-anglo-amerikanischen Raum, erstellt wurden. Impfstoffe, die laut Studien eine sehr gute Wirkung haben, wie Sputnik V oder Soberana aus Kuba, der ein klassischer Impfstoff ist, ohne die neuen mRNA-Verfahren, der nicht nur sehr gute Werte zeigt, sondern auch zu einer grösseren Akzeptanz führen würde, werden nicht zugelassen. Es gibt keinerlei Anzeichen, die Impfstoffe anzubieten oder wenigstens anzuerkennen, wenn man sich damit geimpft hat. Das ist ein Unding, dass die erwähnten Impfstoffe, auch der chinesische, der weltweit am meisten verimpft wurde, nicht anerkannt wird. Wer einen dieser Impfstoffe bekommen hat, wird in Europa wie ein Ungeimpfter behandelt.
Wie ist das denn im Europarat mit Russland und ihrem Impfstoff?
Die sind nicht angereist, weil ihr Impfstoff nicht anerkannt wird. Sie dürfen zwar in das Gebäude des Europarats hinein, aber sie können in kein Restaurant in Strassburg. Diejenigen, die der Impfung einen höheren Stellenwert einräumen, als ich das tue, müssten sich doch dafür einsetzen, dass man alle effektiven Impfstoffe weltweit anerkennt und auch zulässt, wenn sie ausreichend sicher sind. Da geschieht aber nichts, man will das offenbar nicht. Sputnik ist seit einem Dreivierteljahr in einer Endlosschleife für die Zulassung bei der EMA, und man scheint das mit Absicht zu verzögern.
In der Schweiz gibt es jetzt im Parlament die Forderung, dass die Verträge mit den Pharmafirmen offengelegt werden sollen, wogegen sich die Regierung bisher vehement wehrt. Vielleicht gibt es dort irgendwelche Zusagen, die wir nicht kennen…
Diese Forderung ist sehr gut, sowohl die Parlamentarische Versammlung des Europarats als auch das EU-Parlament haben dies ebenfalls gefordert, aber bisher wird das nicht gemacht. Ein Vertrag mit Albanien wurde bisher geleakt. Aus dem geht hervor, dass den Impfherstellern ein totaler Haftungsausschluss garantiert wird. Das heisst doch, die Hersteller trauen ihrem Braten selbst nicht so sehr und können Nebenwirkungen nicht ausschliessen. Völlig unabhängig davon, wie man die Verträge bewertet, sie müssen offengelegt werden. Jedermann muss die Möglichkeit haben, diese Verträge einzusehen. Das muss erreicht werden. Ein besonders perfider Aspekt ist, dass die Verträge teilweise verbieten, dass ungenutzte Impfstoffe weitergegeben werden, zum Beispiel an ärmere Länder im globalen Süden, die noch immer keinen wirklichen Zugang zu Impfstoffen haben.
Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
«Demokratie heisst Regierung durch und für das Volk»

Interview mit Prof. Dr. iur et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger
Zeitgeschehen im Fokus Welchen Sinn und Zweck hatte der Demokratie-Gipfel von Joe Biden?
Prof. Dr. Alfred de Zayas Das war eine Schnapsidee, ein Spektakel, wieder ein Beweis des imperialistischen Narzissmus der USA. Es ist schändlich, dass mehr als 100 Staaten Bidens Einladung gefolgt sind, und somit die Teilung der Welt in «wir» und «die anderen» guthiessen.
Die Schweiz war auch dabei?
Ja, sie hätte sich davon fernhalten sollen
Nach welchen Kriterien wurden die Länder in «demokratisch» und «nicht-demokratisch» aussortiert?
Vermutlich nach den Listen von US-finanzierten Propagandaorganisationen wie z. B. «Freedom House». Ein Demokratie-Gipfel müsste die ganze Welt einschliessen, und der beste Ort, sie zu veranstalten, ist und bleibt die Uno – und dann lieber in Genf oder Wien – sicher nicht in New York.
Bereits 2005 hat die Uno einen «Gipfel» inklusiv und erfolgreich durchgeführt. Beim «Outcome Document» des «World Summits» wurde auch viel über Demokratie gesprochen. Die Resolution 60/1 vom 24. Oktober 2005 wurde einstimmig beschlossen. Absatz 135 und 136 enthalten wichtige Grundlagen. (Siehe Kasten)
Wie hat Biden den aktuellen Gipfel gerechtfertigt?
Biden schwimmt, hat keine eigenen Ideen. Jemand in seinem Team dachte, dass eine extravagante Public Relations Aktion wie dieser sogenannte Summit für die Innenpolitik nützlich sei – ein Pseudo-Weltgipfel, der Biden eine gewisse Sichtbarkeit verleihen würde.
Wer «durfte» denn nicht kommen?
Natürlich hat man den Gipfel als Desinformationswaffe gegen geopolitische Rivalen eingesetzt – vor allem gegen Russland und China. Der Gipfel bot auch eine Gelegenheit, demokratische Länder wie Bolivien auszuschliessen. Komisch, dass das Staatsoberhaupt Venezuelas, Nicolás Maduro, nicht eingeladen wurde, dagegen aber sein Gegner, der sich selbst zum Präsidenten ernannt hat, keine Funktion innehat und niemanden repräsentiert. So ein undemokratischer Hochstapler ist nicht mehr als ein Lakai Washingtons. Wie kann man Indien einladen, das das Selbstbestimmungsrecht der Kashmiri mit Füssen tritt. Indien ist alles – aber gewiss nicht «die weltgrösste Demokratie»! Wie kann man den undemokratischen Despoten Boris Johnson einladen – nicht aber Victor Orban?
Sie waren an der Uno der Experte für Demokratiefragen…
Ja, als Uno-Sonderberichterstatter für die Förderung einer demokratischen und gerechten Weltordnung habe ich viel über die verschiedenen Modelle der Demokratie geschrieben. Ferner habe ich 25 Prinzipien einer friedlicheren und demokratischen Weltordnung verfasst und dem Uno-Menschenrechtsrat vorgelegt. In meinem Buch «Building a Just World Order»¹ werden diese Prinzipien einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Gewiss wären sie beim Gipfel nützlich – aber natürlich wurde ich nicht eingeladen…
Ja, ginge es tatsächlich um Demokratie, hätte man alle wohlmeinenden Kräfte einladen, und Sie als langjähriger Experte hätten ganz oben auf der Liste stehen müssen. Was sollte man Ihrer Meinung nach im Schwerpunkt angehen, um zu mehr Demokratie oder überhaupt zu Demokratie zu kommen?
Demokratie heisst Regierung durch und für das Volk. Sie verlangt eine Korrelation zwischen dem Willen der Mehrheit und der Gesetzgebung sowie der gerichtlichen Praxis. Dies kann u. a. durch Initiativrecht und Referendumsrecht erreicht werden. Demokratie verlangt viel mehr als Proforma-Wahlen, denn die nominierten Kandidaten repräsentieren sowieso nicht die grosse Mehrheit der Bevölkerung, sondern die Milliardäre und Lobbys. Demokratie bedeutet, dass jede Regierung die Bevölkerung informiert und regelmässig konsultiert. Das geschieht einigermassen in der Schweiz, nicht aber in den USA, nicht im Vereinigten Königreich oder der EU, wo eine deutliche Demophobie herrscht. So z. B. verbieten die Spanier den Katalanen ihr Recht auf Selbstbestimmung. Und gäbe es in Amerika ein Referendum über Militärausgaben, würde nur eine winzige Minderheit der Bevölkerung einen Milliarden-Haushalt für das Militär gutheissen.
Welche Staaten wollte Biden sicher nicht dabei haben?
Insgesamt wurden 110 Staaten eingeladen. Pakistan war zwar eingeladen, hat aber nicht teilgenommen. Natürlich hat man Bolivien, Kuba, Iran, Syrien, Venezuela ausgeschlossen.
Was lässt sich an der Auswahl der Staaten erkennen?
Billige Politik – ich würde nicht sagen Willkür, denn man wollte die Hegemonie der USA zur Schau stellen. Wir – die Amerikaner – wir können die Welt in die Guten und die Bösen teilen. Es ist quasi «unser» Prärogativ als Supermacht.
Wissen Sie, wie der Dialog verlaufen ist?
Ich habe den Dialog nicht genau verfolgt. Die ganze Sache wird bald wieder vergessen sein – «much adoe about nothing». Die Presse in den USA hat zwar darüber berichtet, aber ich habe den Eindruck, dass nicht viele Leute Interesse daran hatten. Amerika war nämlich durch die Tornados in Kentucky, Tennessee usw. traumatisiert.
Biden hat sicher die US-Demokratie als Vorbild präsentiert.
Natürlich hat er das – obwohl viele wissen, dass wir eine Oligarchie sind, keine Demokratie. Man verwendet das Wort «Demokratie» immer wieder, eigentlich meint Biden «Kapitalismus», das neo-liberale ökonomische System. Alles andere gilt als «undemokratisch». Ein unabhängiger Beobachter würde natürlich sagen, Demokratie müsse «People Power» bedeuten. Demokratie heisst, dass die Menschen konsultiert werden, dass die Medien sachlich informieren.
Wie ist das in den USA?
Bei uns in Amerika haben wir eine Pseudodemokratie bzw. eine «Fake democracy». Die Medien indoktrinieren im Sinne des Primats der Körperschaften bzw. der Businessinteressen. «CNN», «Fox-News», «New York Times», «Washington Post» unterdrücken wesentliche Informationen. Somit haben wir nicht nur eine Lügen-, sondern auch eine Lückenpresse. Die meisten Menschen kümmern sich vor allem um ihre Geldsorgen, ihre Gesundheitssorgen, ihre Familien. Für viele Amerikaner dient der Sport nicht nur als Zeitvertreib, sondern vielmehr als Lebensinhalt. «Panem et circenses» (Juvenal) funktioniert auch in den USA.
Hat Biden offensichtliche Demokratiedefizite der USA dargelegt?
Nein, das hätte viel mehr als einen zweitägigen Gipfel verlangt! Unser «Electoral College» ist und bleibt eine Farce. Die Aufteilung der Wahlbezirke durch «Gerrymandering»³ ist nur eins der vielen Demokratiedefizite. Hauptproblem ist das sogenannte «Two-Party-System», wobei – egal ob Demokrat oder Republikaner – beide Parteien den «Rags to Riches»-Mythos⁴ teilen, die Idee des «Laissez faire», die Illusion der fairen Konkurrenz. Beide haben eine ähnliche Politik – «Wall Street über Main Street.»
Beide Parteien sind für Militarismus, Interventionismus, Exzeptionalismus, heissen Krieg, kalten Krieg, Provokationen, Ukraine gegen Russland, Litauen gegen Belarus, Taiwan gegen China, Guaidó gegen Maduro. Beide Parteien beteiligen sich an der Lügenpropaganda über die von uns mitverursachte Flüchtlingskrise, die Migrationswelle, über russische «Provokationen», Demokratie für Hong Kong, Völkermord an den Uiguren in Xinjiang etc.
Ein anderer Aspekt, der ein Schlaglicht auf unsere Demokratien wirft: Inwieweit geht das Demokratieverständnis in Bezug auf Julian Assange?
Die Verfolgung eines Journalisten ist gegen jedes demokratische Verständnis. Whistleblower sind wesentliche «Human Rights defenders» – unerlässlich für den Schutz der Demokratie. Der römische Autor Juvenal hat uns in seinen Satiren bereits die Frage gestellt: «Quis custodiet ipsos custodes?» – Wer wird über die Wächter wachen? Wir sehen, wie der Rechtsstaat in den USA, in Grossbritannien, Schweden, Ecuador korrumpiert worden ist. Wir beobachten, wie die Gerichte instrumentalisiert werden, um Menschen zu verfolgen und zu zerstören. Man will das.²
Was würde eine Auslieferung in die USA für ihn bedeuten?
Ich glaube nicht, dass Assange jemals ausgeliefert wird. Gegen das politische Urteil des britischen Gerichts wird appelliert – und jetzt geht es nicht um Assanges Gesundheitszustand, sondern um die Normen des Völkerrechts. Das Prinzip des «Non-refoulement» ist absolut. Auch wenn die korrumpierte britische Gerichtsbarkeit die Auslieferung in höchster Instanz gutheissen würde, würde dann an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte appelliert. Strassburg kann die Auslieferung nicht gutheissen. Würde der EGMR dies erlauben, kann man den Gerichtshof einfach zumachen.
Kann man diese Auslieferung so verhindern?
Juristisch liegen die Argumente bei Assange. Aber hier sind die Gerichte dermassen politisiert, dass man kaum mit Gerechtigkeit rechnen kann. Im Fall Assange war es immer die Politik, nicht das Recht, die die Oberhand hatte. Das Buch von Nils Melzer⁵ beschreibt die Unterminierung der Gerichtsbarkeit in den USA, Grossbritannien, Schweden und Ecuador. Es geht um einen Skandal, vielfach schlimmer als die «Dreyfus Affaire» von 1898. Nils Melzer ist der Emile Zola des 21. Jahrhunderts. Sein Buch ist viel gewichtiger als Zolas «J’accuse».
Wie weit ist es in den USA mit den kritischen Medien zum Schutz der Demokratie?
Kritische Medien sind z. B. «The Real News Network», «Greyzone», «Pushback», «Democracy Now», «Truthout», «Counterpunch», «Consortiumnews». Aber sie gelten alle als «alternativ». Die «Corporate media» bzw. die Mainstreammedien sind eine einzige Schande. Sie manipulieren alles. Sie erfüllen nicht die Rolle des «Watchdogs». Im Gegenteil, die Medien verbreiten die Staatslügen und wiederholen die «Fake news» und «Fake narrative», die aus Washington kommen.
Wie könnte man tatsächlich ein demokratisches Bewusstsein der Menschen fördern?
Die meisten Medien in den USA indoktrinieren die Bürger, verbreiten falsche Informationen, übernehmen unkritisch, was bestimmte Interessengruppen behaupten. Immerhin sind die Medien in der Schweiz besser als in den USA, Grossbritannien, Frankreich, Deutschland. Was das politische Modell betrifft, mag das Schweizer Modell nicht perfekt sein – aber jedenfalls gibt es hier in der Schweiz das Referendums- und Initiativrecht. Wenn die Möglichkeiten, wie wir sie in der Schweiz haben, auch in anderen Ländern gelten würden, wären demokratische Rechte für viele Menschen gesichert. Aber es ist tatsächlich ein Problem, dass wir kaum noch unabhängige Medien haben und es sehr schwierig ist, sich unabhängig eine eigene Meinung zu bilden. Dadurch wird die Demokratie sehr geschwächt.
Wie kann man die Medien zu mehr Wahrheit verpflichten?
Dadurch, dass die Menschen Abstand von den Mainstreammedien nehmen, «CNN», «Fox-News», «France Info» nicht mehr hören, die Zeitungen nicht mehr kaufen. Wenn sich die Leute von den Medien abwenden und sich selbst ihre Nachrichten im Internet suchen – und zwar kritisch, denn «Fake news» sind ja überall – würden die Medien merken, dass ihr Spielchen aus ist. Aber die meisten Menschen sind bequem und werden sich weiterhin belügen lassen. Schon die Römer kannten den Spruch «mundus vult decepi» – die Welt will belogen werden.
Man möchte denken, dass die Presseräte dafür sorgen sollten, dass die Medien weniger lügen. Aber die Presseräte sind genauso infiltriert wie die Menschenrechtsindustrie.
Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
¹ www.claritypress.com/product/building-a-just-world-order/
² www.counterpunch.org/2021/12/17/what-is-patriotism/
³ Verschieben von Wahlkreisen
⁴ Vom Tellerwäscher zum Multimillionär
⁵ Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Piper Verlag, München April 2021, – erscheint demnächst in englischer Übersetzung im Verso Verlag, New York
Uno-Resolution 60/1 vom 24.10.2005
135. Wir bekräftigen, dass die Demokratie ein universaler Wert ist, der auf dem frei bekundeten Willen der Menschen, ihr politisches, wirtschaftliches, soziales und kulturelles System selbst zu bestimmen, sowie auf ihrer uneingeschränkten Teilhabe in allen Aspekten ihres Lebens beruht. Wir bekräftigen ausserdem, dass Demokratien zwar gemeinsame Merkmale aufweisen, es jedoch kein einheitliches Demokratiemodell gibt und dass Demokratie nicht einem Land oder einer Region gehört, und bekräftigen die Notwendigkeit, die Souveränität und das Recht auf Selbstbestimmung gebührend zu achten. Wir betonen, dass Demokratie, Entwicklung und die Achtung vor allen Menschenrechten und Grundfreiheiten einander bedingen und sich gegenseitig stärken.
136. Wir bekunden erneut unsere Entschlossenheit, die Demokratie zu unterstützen, indem wir die Fähigkeit der Länder zur Anwendung demokratischer Grundsätze und Praktiken stärken, und beschliessen, die Fähigkeit der Vereinten Nationen, den Mitgliedstaaten auf Antrag behilflich zu sein, zu stärken. Wir begrüssen die Schaffung eines Demokratiefonds bei den Vereinten Nationen.
«Der Westen müsste Gespräche anbieten, um aus der Eskalationsspirale herauszukommen»
Zum Russland-Ukraine-Konflikt

Zeitgeschehen im Fokus Wie beobachten Sie die momentane Entwicklung an der russischen Westgrenze?
Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Wir hatten auf Antrag der CDU/CSU im Bundestag am 9. Dezember eine Aktuelle Stunde zu dieser Entwicklung. Die Lage ist sehr besorgniserregend. Ich beobachte auch, dass es seit Wochen eine verstärkte Stimmungsmache gegen Russland gibt. Die verstärkten Truppenbewegungen an Russlands Westgrenze sind auch sehr beunruhigend, wobei man wissen muss, dass das zum Teil auch reaktiv ist.
Inwiefern ist das reaktiv?
Man blendet seit Monaten aus, dass von ukrainischer Seite das zweite Minsker Abkommen in Frage gestellt wird. Es gab vor wenigen Wochen zum ersten Mal einen Einsatz von Kampfdrohnen durch die ukrainischen Streitkräfte im Donbas. Das widerspricht auch dem Minsker Abkommen, in dem es um eine friedliche, politische Lösung des Konfliktes geht. Die Ukraine hat in erheblichem Umfang Kampfdrohnen aus der Türkei geliefert bekommen, die vor einem Jahr von Aserbaidschan im Krieg gegen Armenien eingesetzt wurden und dort massgeblich den Krieg entschieden hatten. Diese Entwicklungen stellen für die Menschen im Donbas natürlich ein Bedrohungsszenario dar.
Wie bedrohlich ist denn die ganze Lage?
Ich denke, es ist sehr viel Säbelrasseln dabei, und ich gehe jetzt davon aus, dass das Rasseln auch wieder nachlässt. Aber die Gefahr in solch einer Situation ist immer, dass eine Provokation, ein Zündfunke, das Ganze eskalieren lässt. Das Grundproblem ist im Ukraine-Konflikt angelegt, der stark geopolitisch aufgeladen ist. Die Grundkonstellation ist zumindest von westlicher Seite auf Konfrontation ausgelegt. Hier hingegen steht die Unterstützung Russlands für die sogenannten Volksrepubliken in der Ostukraine und die Krim im Vordergrund.
War das nicht eine Reaktion Russlands?
Ja, aber das wird im Westen völlig ausgeblendet. Am 21./22. Februar 2014 hat es in der Ukraine einen Staatsstreich gegeben, an dem der Westen aktiv mitgewirkt hat. Man denke nur an die Auftritte von Guido Westerwelle, John McCain oder Victoria Nuland auf dem Maidan in Kiew. Dort haben sich westliche Politiker ja geradezu die Klinke in die Hand gegeben. Der «prowestliche» Putsch fand Zustimmung in einem Teil der Bevölkerung der Ukraine, löste aber vor allem im Osten massive Gegenreaktionen aus. Daraus entstanden die selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Und auf der Krim nutzte Russland die Gunst der Stunde, um die bestehende deutliche Mehrheit für eine Rückkehr der Krim in die Russische Föderation in eine politische Realität zu überführen. Die meisten Völkerrechtler gehen davon aus, dass das Vorgehen Russlands zur Wiedereingliederung der Krim völkerrechtswidrig war. Es ist jedoch auch klar, dass es sich um eine Reaktion auf die vorherigen Entwicklungen handelte. Nicht, dass ich das russische Vorgehen unterstützen würde, aber man muss doch wenigstens einmal zur Kenntnis nehmen, wie die zeitliche Abfolge der Ereignisse war, die dort stattgefunden haben. Auch gibt es Sicherheitsinteressen Russlands, die es durch diese Entwicklung bedroht sah.
Woran denken Sie dabei?
Da meine ich insbesondere die Nato-Osterweiterung und die Nato-Mitgliedschaft, die der Ukraine auf dem Nato-Gipfel in Bukarest 2008 angeboten wurde. Aus russischer Sicht ist das eine Bedrohung. Auf der Krim ist die russische Schwarzmeerflotte stationiert, die für Russland von enormer sicherheitspolitischer Bedeutung ist. Ich muss diese Ansicht nicht teilen, aber ich muss sie wenigstens anerkennen und verstehen wollen. Wenn sich die Nato entgegen vorheriger Zusagen bis an die Grenzen Russlands ausdehnt, sind derartige Reaktionen Russlands erwartbar. Das ist die Grundkonstellation, die bestehen bleibt und sich jetzt aktuell aufgrund einer konkreten Situation im Donbas zuspitzt. Solange diese Grundkonstellation vorhanden ist, besteht immer die Gefahr, – wenn man nicht auf Deeskalation setzt – dass das Ganze in einen Krieg umschlägt.
Die Strategie der Nato, das hat Joe Biden ganz klar gesagt, ist für ihn im gewissen Sinne nicht verhandelbar. Die einzelnen Staaten entscheiden, ob sie der Nato beitreten wollten. Wie wäre es denn, wenn jetzt Russland mit Mexiko oder Kuba ein Militärbündnis eingehen würde?
Das mit Kuba hatten wir schon einmal 1962, und das hat die Welt an den Rand eines Atomkriegs gebracht. Nur die Besonnenheit Chruschtschows hat eine weitere Eskalation verhindert. Natürlich sind die Staaten frei. Aber überlegen wir uns doch einmal, was wäre, wenn Russland in der Schweiz Atomraketen aufstellen oder die Schweiz dem russischen Militärbündnis beitreten würde. Jeder Mensch begreift doch, dass das ein Sicherheitsproblem wäre. Man kann das doch bei dem aggressiven Vorgehen gegen Russland nicht einfach ausblenden. Ein Land, das in der Geschichte immer wieder überfallen wurde, allein im letzten Jahrhundert zweimal, wird hier ganz besonders sensibel reagieren. Diese Kriege sind verständlicherweise tief im russischen Geschichtsverständnis verankert. Von allen politischen Kräften einschliesslich der Opposition wird dieses Geschichtsverständnis auch weitestgehend geteilt. Mir ist es unverständlich, warum man hier so dermassen ignorant über das Sicherheitsbedürfnis Russlands hinweggehen kann.
Jetzt hat Russland einen Entwurf für eine Vereinbarung mit dem Westen über Sicherheitsgarantien vorgelegt. Was ist davon zu halten?
Das scheint mir auf den Kern des Problems zu zielen: In diesem Entwurf fordert Russland u. a. ein Ende der Nato-Osterweiterung, insbesondere die Rücknahme des Beschlusses von 2008, der eine perspektivische Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens beinhaltet. Meines Erachtens müsste der Westen die Vorschläge sorgfältig prüfen und Gespräche anbieten, um aus der Eskalationsspirale herauszukommen. In diesem Sinne verstehe ich auch den Appell ehemaliger deutscher Botschafter und Generäle, der kürzlich veröffentlicht wurde.
Die Frage stellt sich doch auch, wozu wir eigentlich noch die Nato brauchen, die 1949 mit der Begründung ins Leben gerufen wurde, die Ausdehnung des Kommunismus zu verhindern. Inzwischen gibt es keinen Kommunismus mehr in Europa, und damit ist die Nato doch obsolet.
Der Zeitpunkt dafür wäre 1990 gewesen, als der Warschauer Pakt, der Gegenpart zur Nato, sich aufgelöst hatte. Zu dem Zeitpunkt stand auch die Auflösung der Nato im Raum. Auf der Pariser Konferenz 1990 gab es die Idee einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa. Anstelle der zwei Militärblöcke stand die Idee einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur. Das war in einem Schwebezustand bis 1997/1998. Unter der Regierung Clinton wurde die Entscheidung getroffen, die Nato nach Osten auszudehnen, selbstverständlich nur, indem man den Staaten anbietet beizutreten, so das Narrativ. Als diese Entscheidung in der Clinton-Administration anstand, gab es in den USA sehr warnende Stimmen. Vor allem von George F. Kennan, dem ehemaligen US-Botschafter in Moskau, der die Lage sehr gut kannte und kein Leichtgewicht in der US-Aussenpolitik war. Es sagte, dass diese Entscheidung «der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Aussenpolitik» sei, denn das werde «die russische Aussenpolitik in Richtungen zwingen, die uns entschieden missfallen werden.»
Damit meinte er, Russland werde autoritärer werden, weniger demokratisch usw. Und genau das hat sich vollzogen.
Woran denken Sie dabei?
Es gibt in Russland unschöne und autoritäre Entwicklungen – die kritisiere ich auch an der richtigen Stelle – wie z. B. die Schliessung von Memorial, aber auch die Behinderung von oppositionellen Kandidaten bei der Parlamentswahl, darunter auch Linke und Fortschrittliche. Aber man muss begreifen, dass diese Entwicklungen dann stärker werden, wenn das Bedrohungsgefühl in Russland steigt. Je mehr der Westen den Druck über Sanktionen und die militärische Schiene erhöht, um so mehr fördert er dort autoritäre Entwicklungen. Das, was bereits 1998 von George Kennan vorhergesagt wurde, ist tatsächlich eingetreten, das muss man doch einmal zur Kenntnis nehmen. Wenn man sich wirklich für die Zivilgesellschaft und einen freieren demokratischen Diskurs einsetzen will, dann muss als erstes das Säbelrasseln aufhören, aber das Gegenteil ist der Fall.
Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
Internierung der Bourbaki-Armee in der Schweiz vor 150 Jahren – ein ausserordentliches Beispiel humanitären Handelns
Wir schreiben den 1. Februar 1871. Ein eisiger Wind pfeift in den frühen Morgenstunden durch das tief verschneite Val de Travers im Kanton Neuenburg. Das schneeweisse Tal und die klirrende Kälte lassen die wenigen Bewohner in ihren warmen Stuben verharren. Man hört die Wölfe heulen, ansonsten herrscht eine trügerische Stille. Kaum jemand ahnt, was sich hier in den nächsten Stunden an historischer Tragweite vollziehen wird.
Von aussen betrachtet ist es ein Wintertag, wie es deren unzählige gibt. Doch nicht so dieser 1. Februar, der in die Geschichte des jungen Schweizer Nationalstaats, der 1848 nach den Auseinandersetzungen um die Organisation des Landes, ob er ein Staatenbund oder ein Bundesstaat sein sollte, gegründet wurde, einging. An jenem Tag und den darauffolgenden Wochen stand dieser junge Staat wohl vor einer seiner grössten menschlichen, logistischen und militärischen Herausforderungen, die es zu bewältigen galt und eine gewaltige Aufgabe darstellte. Und trotz vieler politischer und militärischer Ungereimtheiten haben die Menschen die ihnen vom Schicksal übertragene Aufgabe beeindruckend gelöst. Was weit über die Landesgrenzen hinaus Bewunderung erfuhr, war der Grenzübertritt der französischen Bourbaki-Armee in die Schweiz und deren Internierung während des Preussisch-Deutsch-Französischen Krieges. Die Titelgeschichten der Zeitungen im In- und Ausland legen ein beredtes Zeugnis davon ab.
Ein Blick in die Geschichte
Wie kam es zu diesem Ereignis, das im Jahr 2021 seinen 150. Jahrestag hatte, welche Bedeutung hat es in der Retrospektive und was macht es bis heute so ausserordentlich?
Zunächst ein kleiner historischer Überblick: Der Preussisch-Französische Krieg, der von Kaiser Napoleon III nach einer Provokation durch den preussischen Ministerpräsidenten, Otto von Bismarck, angezettelt wurde, begann im Juli 1870 und fand im September mit der Gefangennahme des Kaisers ein vorläufiges Ende. Die daraufhin beginnenden Unruhen in Paris stürzten die alte Monarchie. Die dritte Republik wurde ausgerufen, der Krieg zog sich aber bis in den Frühling 1871 weiter.
Im Windschatten des ersten militärischen Erfolgs der Preussen einigten sich die deutschen Fürsten mit dem preussischen König Wilhelm I auf die Gründung des Deutschen Reichs am 18. Januar, dessen Gründungsakt im Spiegelsaal von Versailles für Frankreich eine massive Provokation und Demütigung darstellte. Danach mutierte der Krieg zum Deutsch-Französischen Krieg. Wir befinden uns also in einer politisch hoch brisanten Zeit. Der Konkurrenzkampf der Grossmächte ist lanciert, es geht um die Vorherrschaft in Europa.
«Das Rote Kreuz begleitet die verwundeten Soldaten.»
Detail Bourbaki Panorama Luzern, Edouard Castres, 1881, Öl auf Leinwand (Bild Gabriel Ammon / AURA)
Schweizer Grenze im Fokus
Am 1. Februar 1871 war der Krieg noch immer in vollem Gange, und es sah für die französische Ost-Armee, allgemein als Bourbaki-Armee bekannt, nicht gut aus. Der General dieser Armee war Charles Denis Bourbaki. Er befehligte eine 140 000 Mann starke Truppe – zum Teil waren auch Minderjährige dabei –, die eiligst zusammengestellt, teilweise unzureichend ausgerüstet und mit Männern aus den nordafrikanischen Kolonien verstärkt, in den Kampf gegen deutsche Kampfverbände gejagt wurde. Sie konnten der Übermacht der Preussen mit ihren verbündeten Armeen nicht standhalten und wurden von diesen in einer Zangenbewegung Richtung Schweizer Grenze getrieben. Charles Bourbaki versuchte, sich der drohenden Niederlage durch Selbstmord zu entziehen, was ihm jedoch misslang. Er überlebte wie durch ein Wunder und kam zur Genesung in die Schweiz. Der Offizier Justin Clinchant wurde auf den Posten des Generals befördert. Ihm oblag die «Herkulesaufgabe», die völlig demoralisierte und bereits auf knapp 90 000 Mann dezimierte Ost-Armee, die im Volksmund immer noch Bourbaki-Armee hiess, zu befehligen. Die Lage dieser Armee war prekär. Vom Nachschub abgeschnitten, blieb nur noch ein Ausweg: eine Entsetzung in die Schweiz.
Vernachlässigung der Landesverteidigung
Bereits zu Beginn des Kriegs im Sommer 1870 entschied der Bundesrat an der Sitzung vom 16. Juli «fünf Divisionen aufzubieten …rund siebenunddreissigtausend» Mann, wie Bernhard von Arx in seinem Buch «Konfrontation – Die Wahrheit über die Bourbaki-Legende» (S. 15) schreibt, um mit einem verstärkten Grenzschutz eine Ausweitung der Kampfhandlungen auf Schweizer Territorium zu verhindern. Der für das Militär politisch Verantwortliche war der freisinnige Aargauer Bundesrat Emil Welti. Er war ein scharf kalkulierender Machtpolitiker und verstand es, den Anschein zu erwecken, als habe er die Lage im Griff. In Tat und Wahrheit war die Schweiz miserabel auf die Kriegssituation vorbereitet. Als General sollte während der Kriegszeit der pflichtbewusste und patriotisch gesinnte Oberst Hans Herzog amten, so der Wunsch Weltis. Dabei war sein Plan, den General an der Leine zu führen. Er fühlte sich ihm überlegen und liess ihn das auch spüren. (von Arx, S. 35)
General Herzog hatte eine undankbare Aufgabe. Zum einen musste er die Sicherheit des Bundesstaates gewährleisten und mit einer angemessenen Truppenstärke die Grenze vor möglichen Übertritten schützen und verhindern, dass die Kampfhandlungen auf Schweizer Boden ausgetragen würden. Zum anderen musste er kurzfristig für die Soldaten genügende und zumutbare Unterkünfte organisieren und rechtzeitig zur Verfügung stellen. Das alles zu organisieren, gehörte in das Pflichtenheft des Schweizer Generals. Bei der Inspektion der Truppe war er entsetzt über deren Zustand und die Missstände, die sich im aktiven Dienst immer deutlicher zeigten. (von Arx, S. 49) Was hier offensichtlich zu Tage trat, war die vom Bundesrat zu verantwortende Vernachlässigung der Landesverteidigung auf Kosten prestigeträchtigerer Unterfangen. Kaum hatte sich nach der Gefangennahme Napoleons die Lage etwas entspannt, wurde vom Bundesrat die Truppenstärke nach Herzogs Einschätzung über Gebühr reduziert.
Mangelnde Unterstützung des Militärdepartements
Als sich der Krieg im Winter erneut zuspitzte, waren die zur Verfügung stehenden Truppen zunächst völlig ungenügend. «Das vorgesehene Truppenaufgebot war viel zu schwach. Es reichte gerade, die Grenze notdürftig zu decken und eine kleine Reserve auszuscheiden für den Fall der Verletzung des Schweizer Hoheitsgebiets.» (von Arx, S. 72) Die Unstimmigkeiten zwischen Welti und Herzog waren so gravierend, dass Herzog ein Rücktrittsgesuch verfasste. Dabei ging es um die mangelnde Unterstützung des Militärdepartements. Auf dieses Gesuch ging die Bundesversammlung nicht ein. Herzog sollte weiterhin als General amten, obwohl er das ausdrücklich ablehnte. Ähnlich wie bei seiner ersten Nominierung appellierte der Bundesrat an Herzogs Patriotismus, der ihn schon im Sommer 1870 zur Zusage bewogen hatte. Die Lage der Schweiz verschärfte sich insoweit, als die französischen Truppen eine mögliche Verletzung des Schweizer Territoriums zur Befreiung Belforts ins Auge fassten. Der Forderung nach einem grösseren Truppenkontingent wurde von Bundesrat Welti zunächst nicht entsprochen, da das alles mit Kosten verbunden war, die man eigentlich einsparen wollte.
«Die Schweizer Zivilbevölkerung umsorgt die geschwächten Soldaten.»
Detail Bourbaki Panorama Luzern, Edouard Castres, 1881, Öll auf Leinwand (Bild Gabriel Ammon / AURA)
Französische Armee an die Schweizer Grenze gedrängt
Die Strategie der Deutschen wurde immer offensichtlicher. Man wollte keine Gefangenen machen und daher die französische Armee zur Internierung in die Schweiz drängen. Auf Schweizer Seite erkannte man schnell, worauf das hinauslaufen könnte, und das führte zu höchster Alarmbereitschaft und Herzogs dringlicher Forderung, die Truppen an der Grenze zu verstärken. Auch in der Bevölkerung entstand zunehmend Panik. Die Angst, die gefürchtete preussische Armee könnte in die Schweiz einfallen, schreckte die Menschen auf. Nach erneutem Zaudern Weltis und einer folgenden heftigen Auseinandersetzung zwischen General Herzog und Bundesrat Welti musste dieser zähneknirschend den Forderungen Herzogs entsprechen, da es Zeugen an diesem Gespräch gab und Herzogs Argumente nicht zu widerlegen waren. (von Arx, S. 120f.)
Am 31. Januar zeigte sich immer deutlicher, beobachtet durch Aufklärer der Schweizer Armee, dass Bourbakis Ost-Armee in Richtung Schweizer Grenze marschierte. Inzwischen waren 20 000 Schweizer Soldaten im Jura an der Grenze zu Frankreich stationiert. Ihnen stand eine Armee von ca. 90 000 Mann gegenüber. Ein völliges Ungleichgewicht, sollten die französischen Truppen bewaffnet in die Schweiz eindringen oder die nachsetzenden Deutschen den Kampf auf Schweizer Boden austragen wollen. (Finck/Ganz, S. 11)
Endlose Schlangen der gedemütigten Bourbaki-Armee
Am 1. Februar waren die Würfel gefallen. Endlose Schlangen der gedemütigten Bourbaki-Armee schleppten sich in Richtung Schweizer Grenze. Ein Vertrag zwischen dem französischen Oberbefehlshaber General Justin Clinchant und General Hans Herzog, der durch Emissäre übermittelt wurde, besiegelte den waffenlosen Grenzübertritt der Bourbaki-Armee, was bedeutete, die übertretenden Soldaten und Offiziere mussten von den Schweizer Soldaten entwaffnet werden und diese ihre Gewehre und Pistolen sowie die Geschütze abgeben. Für manchen Soldaten der französischen Armee ein schwerer Schritt, und General Herzog wusste, dass das zu möglichen, auch gewalttätigen Auseinandersetzungen hätte kommen könnten. (Finck/Ganz, S. 13)
An mehreren Grenzübergängen ergossen sich die Soldaten der geschlagenen und geschundenen Bourbaki-Armee in die Schweiz. An der Grenze in Les Verrières im Val de Travers überquerte das grösste Kontingent, 36 000 «Bourbakis» die Landesgrenze. Auch wenn sie nicht mehr unter dem Befehl von Charles Bourbaki standen, blieb der Name an ihnen haften. Insgesamt wurden 87 000 Soldaten in der Schweiz interniert. Eine enorme Zahl, wenn man sich bewusst ist, dass die Schweizer Bevölkerung damals bei ca. 2,5 Millionen lag.
Die humanitäre Leistung war beeindruckend
Die Herausforderung, vor der Land und Leute von heute auf morgen standen, war enorm. 87 000 Mann, die innert drei Tagen in die Schweiz drängten und in einem erbärmlichen Zustand waren, mussten so schnell wie möglich medizinisch und mit Lebensnotwendigem versorgt werden. Gleichzeitig sollten Unterkünfte bereitgestellt werden, um die verletzten und zum Teil schwer erkrankten Menschen zu beherbergen. Das erwies sich als ausserordentlich anspruchsvoll, da die Schweizer Soldaten, die für den Grenzschutz eingesetzt waren, ebenfalls Unterkünfte und Nahrung brauchten. Eine Aufgabe, die die Schweiz trotz aller Widrigkeiten selbstlos bewältigte. Damals gab es noch keine Mobiltelefone, geschweige denn ein Telefon, kein Auto, die Eisenbahn war das einzige Fortbewegungsmittel für grössere Distanzen. Dennoch, die Menschen wurden versorgt, dank der aufopfernden Hilfe der Bevölkerung und dem ersten internationalen Einsatz des 1863 in Genf gegründeten Internationalen Komitee vom Roten Kreuz.
Die Aufnahme der Bourbaki-Armee durch die Schweiz war aufgrund der Neutralität des Landes möglich. In dem Vertrag zwischen Frankreich und der Schweiz wurden die detaillierten Bedingungen für die Internierung der französischen Armee festgelegt. Die Entwaffnung, die Kosten für den Aufenthalt und die Internierung bis zum Ende des Krieges waren darin geregelt. Von deutschen Offizieren wurde die Entwaffnung der französischen Soldaten mit Argwohn beobachtet. Dass eine Armee von 87 000 Mann in toto Asyl erhält, war etwas Aussergewöhnliches und vor allem der Schweizer Neutralität geschuldet. Das Engagement der Schweizer Bevölkerung, das vorbildlich war und eine unglaubliche menschliche Leistung darstellte, gab der humanitären Schweiz ein konkretes Gesicht.
Das Rundgemälde
Der Schweizer Maler und Bildhauer Eduard Castres, der selbst als Mitarbeiter des Roten Kreuzes an der Seite der Franzosen im Einsatz war, hielt den Übergang der Bourbaki-Armee bei Les Verriéres in einem faszinierenden Rundgemälde fest. Auf 1500 Quadratmetern dokumentiert er zusammen mit Unterstützung von 10 weiteren Künstlern diesen ausserordentlichen Vorgang. Mit grosser Liebe zum Detail und selbst berührt vom freiwilligen humanitären Engagement der Bevölkerung zeigt das Bild zum einen den trostlosen Zustand der «Bourbakis» sowie das unermessliche Elend des Krieges, zum anderen hält es die menschliche Leistung der helfenden Schweizerinnen und Schweizer fest, die diesen trostlosen Gestalten etwas Wärme, Nahrung und Menschlichkeit entgegenbrachten.
Humanitäres Engagement der Schweizer
Neben den unendlichen Schlangen gedemütigter, geschlagener und versehrter Soldaten steht auch das Rote Kreuz, gegründet vom Genfer Henri Dunant, im Fokus der Betrachtung. Es war der erste grosse internationale Einsatz des IKRK. Der Maler Eduard Castres hat sich als Mitarbeiter des Roten Kreuzes selbst auf dem Rundgemälde verewigt und dieser jungen internationalen Hilfsorganisation ein angemessenes Gewicht verliehen. Bereits zu Beginn des Krieges, wie im «Bourbaki Panorama» beschrieben, stellte General Herzog beiden Kriegsparteien «insgesamt 30 Schweizer Truppenärzte als Rotkreuzsanitäter zur Verfügung. Vier Dutzend weitere Schweizer Ärzte schlossen sich freiwillig an.» (Finck/Ganz, S. 23) Doch nicht nur der rettende Übergang der Bourbaki Armee war Zeichen der Humanitären Schweiz. Schon während des Kriegs hat die Schweiz in zunehmendem Masse französische Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet nahe der Schweizer Grenze aufgenommen. Zu Recht geht das Ereignis von 1871 als ein ausserordentliches Beispiel humanitärer Gesinnung der Schweiz in die Geschichte ein. Bei vielen nachfolgenden Naturkatastrophen und Kriegen hat die Schweiz, so klein das Land auch sein mag, viel Menschliches und somit einen entscheidenden Beitrag zu mehr Humanität in unserer Welt geleistet. ν
Literatur
Heinz Dieter Finck, Michael Ganz: Bourbaki Panorama. Zürich 2000. ISBN 3-85932-308-3
Bernhard von Arx: Konfrontation. Zürich ²2012. ISBN 978-3-03823-744-0