Artikel in dieser Ausgabe
«Der Frieden ist das wichtigste Menschenrecht»
«Man muss aufhören, die Menschenrechte als Waffe gegen geopolitische Rivalen einzusetzen»
Zeitgeschehen im Fokus Michelle Bachelet hat ihr Mandat als Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte nicht verlängert, ein Nachfolger ist bereits bestimmt. Hat sie im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen und Vorgängern mehr bewirken können?
Prof. Alfred de Zayas Gewiss war Michelle Bachelet besser als ihr Vorgänger Zeid Raad al-Hussein, der viel Schaden bezüglich Autorität und Glaubwürdigkeit des Büros des Hochkommissars angerichtet hat. Allerdings muss man bedenken, dass die Person des Hochkommissars das Wirken seines Büros nur bedingt beeinflussen kann. Das Büro wird von Bürokraten geführt. Viele der höheren Bürokraten sind äusserst politisch bzw. ideologisch geprägt und wurden durch die mächtigen Staaten dorthin bestellt, vor allem durch die USA und die EU-Staaten.
Was hat das für Folgen für dieses nicht unbedeutende Amt?
Über Jahre hinweg hat man dafür gesorgt, dass die Bürokraten überwiegend westlich eingestellt sind bzw. eine West-Orientierung zeigen. Man könnte sogar sagen, dass das OHCHR [das Büro des Uno-Hochkommissars für Menschenrechte] im Dienste Washingtons und Brüssels steht, nicht zuletzt, weil diese Staaten das meiste Geld spenden – immer unter der stillschweigenden Bedingung, dass das Büro ihre geopolitischen Interessen fördert. Niemand im Hause wird dies öffentlich sagen. Das ist aber die Realität. Darum konnte Michelle Bachelet nicht viel ändern, genauso wie in den USA der Hausherr im Weissen Haus nicht allzu viel zu sagen hat. Ob Demokrat oder Republikaner, es regiert nicht der Präsident, sondern die Hintermänner bzw. der militärisch-industrielle-digitale-finanzielle Komplex. Wie ich in meinem ersten Bericht an den Menschenrechtsrat geschrieben habe, gibt es Demokratie-Defizite, und diejenigen, die gewählt worden sind, regieren nicht, und jene die doch regieren, wurden nicht gewählt.
Hat Michelle Bachelet dennoch Unabhängigkeit in ihrem Amt bewiesen?
Nein, nicht allzu viel. Immerhin hat sie einiges Positive erreicht, z. B. einen persönlichen Besuch in Venezuela 2020, die Einrichtung eines Büros in Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, einen persönlichen Besuch in China 2022 und ihr End-of-Mission-Statement vom 26. Mai 2022 in Guangzhou. Leider war der sogenannte «Bericht» des Büros über Xinjiang eine einzige Schande – natürlich nicht von Bachelet verfasst, sondern von den Bürokraten im OHCHR. Darum wurde der Bericht erst veröffentlicht, nachdem Bachelet ihr Mandat niedergelegt hatte – am 31. August 2022. Schnell flog Bachelet nach Chile zurück, um den Mangel an Objektivität und Professionalismus des Berichts nicht verantworten zu müssen.
Inwiefern hat sie sich für die Verbesserung der Menschenrechtslage in verschiedenen Ländern eingesetzt?
Ursprünglich hatte Bachelet mit der Bestärkung der Menschenrechte – des Rechts auf ein menschenwürdiges Leben in Frieden, des Rechts auf Nahrung, auf Wasser, auf Ausbildung, auf Gesundheit, auf Arbeit – die richtigen Prioritäten gesetzt. Immerhin ist sie von Haus aus sozialistisch geprägt. Aber sie musste täglich Realpolitik spielen. Der Druck und die Erpressung durch Washington und Brüssel waren und blieben spürbar. Dennoch hat Bachelet versucht, «Advisory Services and Technical Assistance» zu betreiben, die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu fördern, die Rechte der Autochthonen bekannter zu machen. Immer wieder hat sie für eine gerechte und soziale Weltordnung plädiert.
In welchen Ländern war sie besonders aktiv?
Eigentlich war sie ziemlich in der ganzen Welt aktiv. Zu bedauern ist, dass sie es nicht wagte, mit klaren Worten die Menschenrechtsverletzungen der USA, Kanadas, Australiens, Grossbritanniens, Frankreichs und Deutschlands anzuprangern. Sie hat auch zu wenig getan, um die Ursachen des Krieges in der Ukraine beim Namen zu nennen und die Verantwortlichen zu Verhandlungen aufzufordern. Frieden ist ein Menschenrecht. Leider hat sie viele Gelegenheiten verpasst, für den Frieden Stellung zu nehmen. Auch der neue Hochkommissar Volker Türk aus Österreich wird das nicht können.
Ich würde die Hochkommissare in der Reihenfolge der Qualität wie folgt einschätzen: Am besten war Navi Pillay aus Südafrika, gefolgt von dem «acting» Hochkommissar Bertrand Ramcharan aus Guyana, dann kommen Louise Arbour aus Kanada, Sergio Vieira de Mello aus Brasilien, der nur kurz Hochkommissar war, denn er wurde in Bagdad 2003 Opfer eines Attentats, Jose Ayala Lasso aus Ecuador, der nur 3 Jahre lang sein Amt ausübte, Mary Robinson aus Irland und schliesslich Zeid Raad al-Hussein aus Jordanien. Die letzten haben allzu oft eine doppelte Moral an den Tag gelegt.
Warum hat Michelle Bachelet nach vier Jahren das «Handtuch geworfen»?
Genau wie ihre Vorgängerin, Louise Arbour, ist Bachelet von den Mainstream-Medien und von manchen Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) regelrecht gemobbt worden. Die Menschenrechtsindustrie hat längst die Menschenrechte zu Waffen umfunktioniert, so dass sie vom Hochkommissar verlangen, sich gegenüber den Rivalen der neoliberalen Ordnung angriffslustig zu zeigen. Die Menschenrechtsindustrie erwartet, dass der Hochkommissar bzw. die Hochkommissarin gegen Belarus, China, Kuba, Nicaragua, Russland, Syrien, Venezuela etc. scharf schiesst und nur milde Kritik an Washington, Brüssel oder Tel Aviv übt. Nur jene Hochkommissare haben eine gute Presse, die sich biegen wie etwa Zeid Raad al-Hussein oder Mary Robinson – allerdings nur, bis sie es wagte, die Weltkonferenz gegen Rassismus 2001 in Durban einzuberufen. Das hat sie den Job gekostet.
Inwiefern hat der vor kurzem veröffentlichte Bericht über die Menschenrechtslage in China den persönlichen Eindrücken, die Michelle Bachelet von ihrem Besuch in China hatte, widersprochen?
Der Bericht ist ganz und gar inkompatibel mit Bachelets eigenen Erfahrungen.
Muss man nach Ihren Ausführungen konstatieren, dass das Amt des Hochkommissars oder der Hochkommissarin nicht seriös ausgeübt werden kann?
Zur Zeit kann man nicht von Objektivität und Unabhängigkeit reden. Dies gilt auch für den Menschenrechtsrat. Allein die «Treaty Bodies» wie der Menschenrechtsausschuss, dessen Sekretär ich war, wagen ab und zu, Urteile zu fällen, die als «politisch inkorrekt» gelten. Allerdings werden diese Urteile nicht umgesetzt, wenn sie nicht im Sinne der westlichen Staaten sind.
Was kann man unter diesen Umständen vom neuen Hochkommissar erwarten?
Eine Fortsetzung der politisch korrekten Politik seiner Vorgänger und Vorgängerinnen.
Wird er dem Westen dienen unter Verwendung der Menschenrechte als Waffe, um andere Länder unter Druck setzen zu können?
Das erwarte ich. Eine viel bessere Wahl als Hochkommissar wäre der Schweizer Professor Nils Melzer gewesen, ehemaliger Uno-Sonderberichterstatter über Folter, aber er war zu unabhängig und wurde deshalb von der US- und EU-Menschenrechtsindustrie abgelehnt.
Was sind die dringendsten Aufgaben, vor denen Volker Türk jetzt steht und die er angehen müsste?
Erste Priorität muss der Frieden haben. Der Menschenrechtsrat sollte alles fallen lassen und für den Frieden und für die Mediation wirken. Er muss die USA, die Nato und Selenskij auffordern, den Krieg zu beenden und zu verhandeln. Die Alternative ist die Apokalypse der ganzen Menschheit.
Was würden Sie als ehemaliger langjähriger Uno-Beamter und Unabhängiger Experte an der Uno dem neuen Hochkommissar raten?
Einen opferorientierten «Plan of action» zu entwickeln. Die sofortige Hilfe für die Opfer in Jemen, Syrien, Palästina usw. zu fördern. Er soll eine präventive Strategie entwickeln. Prävention bedeutet zunächst, die Ursachen der Menschenrechtsverletzungen zu erforschen, dann Mechanismen zu schaffen, um die Hindernisse bei der Umsetzung und Beachtung der Menschenrechte nach und nach zu beseitigen. Es nützt nichts, hier und da mit «Band-Aids» [Pflastern] zu Hilfe zu kommen. Man muss die Quellen identifizieren und entsprechend sanieren. Der Hochkommissar muss seine Stimme gegen die Kriegstreiber, Kriegsprofiteure und die Menschenrechtsindustrie erheben. Man muss aufhören, die Menschenrechte als Waffe gegen geopolitische Rivalen einzusetzen. Die Menschenrechte müssen konstruktiv eingesetzt werden, um die grossen Ungerechtigkeiten in der Welt zu beseitigen. Dafür braucht man unter anderem auch einen «Global Compact for Education», wie ich in meinen «25 Prinzipien der Weltordnung» vorschlage.¹ Schliesslich muss Volker Türk erkennen und erklären, dass der Frieden das wichtigste Menschenrecht ist, denn Frieden bedeutet Leben, und der Mensch kann erst seine Menschrechte geniessen, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind – pax optima rerum.
Welche Instrumente gibt es im Völkerrecht, die helfen, diese Ziele zu erreichen?
Man kann an die Wiener Vertragsrechtskonvention denken, die die Umsetzung von Verträgen im guten Glauben – bona fide – verlangt. Dies ist das Prinzip «pacta sunt servanda». Leider fühlen sich die USA über das Völkerrecht erhaben. Die USA bestimmen das Völkerrecht und betrachten sich als nicht daran gebunden. Es genügte, die Uno-Charta zu respektieren. Auch die Unesco hätte eine Rolle beim Einsetzen eines «Global Compacts for Education». Vielleicht kann die Schweiz die Idee lancieren.
Warum denken Sie an die Schweiz? Hat sie heute noch die Glaubwürdigkeit, die sie als neutraler Staat einmal hatte?
Leider hat die Schweiz ihre internationale Glaubwürdigkeit als «honest broker» verloren. Man erinnert sich, dass am 16. Juni 2021 die Schweiz das Treffen zwischen Putin und Biden in Genf vermittelte. Man hätte diese Rolle beibehalten können. Aber seit Ende 2021 haben sich die Schweiz und die schweizerischen Mainstream-Medien «NZZ», «Basler Zeitung», «Tribune de Genève» sehr parteiisch gezeigt. Allerdings habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die Schweiz ihre Seele wiederentdeckt und ihre notwendige historisch verankerte Funktion, die sie seit dem Westfälischen Friede innehat, wieder ausübt.
Die Macht der Medien ist massiv. Wenn sich jemand im Ukraine-Krieg öffentlich für Frieden und Verhandlungen einsetzt, wird er regelrecht fertiggemacht. Sehen Sie hier eine Möglichkeit, wie man zur freien Presse zurückfinden kann?
Die Ukraine wird kaum eine freie Presse erlauben. Bei uns in Amerika gibt es immerhin «alternative» Medien. In der Ukraine werden Journalisten und einfache Bürger nicht nur «fertiggemacht» – man würde sie als Verräter behandeln. Die Ukraine hat bereits «russische Kollaborateure» bestraft.
Woran liegt es, dass die Menschen in der westlichen Welt den USA und der Nato sowie den Ukrainern alles glauben und eine andere Meinung, wie Sie eben erwähnten, nicht mehr zulassen?
Die Medien sind Sprachrohre der Mächtigen, vor allem des bereits erwähnten militärisch-industriellen-digitalen-finanziellen Komplexes. Hinzu kommt Wikipedia mit seinen Fake News, Fake History und Fake Law, die man so unkritisch akzeptiert. Wie Julius Caesar in De bello civili schrieb: «Quae volumus, ea credimus libenter» – was wir glauben möchten, das glauben wir eben. Auch der Heilige Augustinus erkannte: «Mundus vult decipi» – die Welt will belogen werden.
George Orwell hat in seiner Dystopie «1984» gezeigt, wie leicht die Bevölkerung eines Landes manipuliert werden kann. Die Situation heute ist eigentlich noch schlimmer, denn die Menschen scheinen Big Brother nicht nur zu glauben, sondern manche lieben ihn sogar. Die Medien indoktrinieren uns durch schwarz-weiss Darstellungen des Krieges und unterdrücken alles, was nicht hineinpasst. Wir haben gleichzeitig eine Lügenpresse und eine Lückenpresse und wir sind selbst daran schuld, denn wir haben es erlaubt, dass es so weit kommt.
Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
¹ https://www.claritypress.com/product/building-a-just-world-order/
Ukrainekonflikt: «Der Westen will keine Verhandlungen»
«Der Westen ist bereit, seine eigenen Bürger zu opfern, um von Dogmatismus und Ideologie geleitete Ziele zu erreichen»
Zeitgeschehen im Fokus Die Geländegewinne im Grossraum Charkow werden von den westlichen Medien als durchschlagender Erfolg der Ukrainer gefeiert. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation?
Jacques Baud Die Rückeroberung der Region Charkow Anfang September scheint ein Erfolg für die ukrainischen Streitkräfte zu sein. Unsere Medien jubelten, sie übernahmen die ukrainische Propaganda und vermittelten uns ein Bild, das nicht der Realität entsprach. Eine genauere Betrachtung der Operationen hätte die Ukraine zu mehr Vorsicht veranlassen können.
Aus militärischer Sicht ist diese Operation ein taktischer Sieg für die Ukrainer und ein operativ-strategischer Sieg für die russische Koalition.
Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Auf ukrainischer Seite stand Kiew unter Druck, auf dem Feld Erfolge zu erlangen. Wolodymyr Selenskij hat Angst, dass die westliche Unterstützung ausbleiben könnte, und die Amerikaner drängten ihn, Offensiven im Raum Cherson zu starten. Diese Offensiven, die ungeordnet, mit enormen Verlusten und ohne Erfolg durchgeführt wurden, führten zu Spannungen zwischen Selenskij und seinem Generalstab.
Einige westliche Experten hatten bereits vor Wochen die Präsenz der Russen in Charkow in Frage gestellt, da diese eindeutig keine Absicht hatten, in der Stadt zu kämpfen. In Wirklichkeit diente ihre Präsenz in der Region einzig und allein dazu, die ukrainischen Truppen zu fixieren, damit sie nicht in den Donbas marschierten, der das eigentliche operative Ziel der Russen ist.
Die im August vorliegenden Informationen deuteten darauf hin, dass die Russen schon lange vor dem Beginn der ukrainischen Offensive geplant hatten, diese Region zu verlassen. Sie zogen sich also geordnet zurück, zusammen mit einigen Zivilisten, die Opfer von Vergeltungsmassnahmen hätten werden können. Ein Beweis dafür ist, dass das riesige Munitionslager in Balaklaya leer war, als die Ukrainer es entdeckten, was beweist, dass die Russen bereits seit einigen Tagen alles sensible Personal und Material evakuiert hatten. Die Russen hatten sogar Sektoren verlassen, die die Ukraine nicht angegriffen hatte. In dem Gebiet blieben nur noch einige Soldaten der russischen Nationalgarde und der Donbas-Milizen zurück.
Zu diesem Zeitpunkt waren die Ukrainer mit zahlreichen Angriffen in der Region Cherson beschäftigt, die seit August immer wieder zu Fehlschlägen und enormen Verlusten für ihre Armee führten. Als die US-Geheimdienste den Abzug der Russen aus der Region Charkow feststellten, sahen sie die Chance auf einen Erfolg für die Ukrainer und gaben ihnen die Informationen. So entschied sich die Ukraine plötzlich, ein Gebiet anzugreifen, das bereits praktisch leer war.
Warum haben sich die russischen Truppen zurückgezogen?
Offenbar hatten die Russen die Durchführung von Referenden in den Oblasten Lugansk, Donezk, Saporoschje und Cherson im Blick und stellten fest, dass das Gebiet um Charkow für ihre Ziele nicht unmittelbar nützlich war und sie sich in der gleichen Situation wie im Juni mit der Schlangeninsel befanden: Der Energieaufwand zur Verteidigung dieses Gebiets war grösser als seine strategische Bedeutung.
Durch den Rückzug aus Charkow konnte die russische Koalition ihre Verteidigungslinie entlang des Flusses Oskol festigen und ihre Präsenz im Norden des Donbas ausbauen. So konnte sie einen bedeutenden Vorstoss nach Bachmut unternehmen, einem Schlüsselpunkt im Sektor Slawjansk-Kramatorsk, der das eigentliche Ziel der russischen Koalition ist.
Da sie nicht mehr in Charkow waren, um die ukrainische Armee dort zu «fixieren», bombardierten sie die Strominfrastruktur, um zu verhindern, dass ukrainische Verstärkung per Zug in den Donbas gelangte.
So befinden sich heute alle russischen Koalitionskräfte innerhalb dessen, was nach den Referenden in den vier Oblasten im Süden der Ukraine die neuen Grenzen Russlands sein könnten.
Aber ist das nicht trotzdem ein Erfolg der Ukrainer?
Für die Ukrainer war es ein Pyrrhussieg. Sie rückten nach Charkow vor, ohne auf Widerstand zu stossen, und es gab praktisch keine Kämpfe. Stattdessen wurde das Gebiet zu einer riesigen «Feuerblase» (oder «killing zone» – «зона поражения»), in der die russische Artillerie eine geschätzte Zahl von 4 000 bis 5 000 Ukrainern (etwa 2 Brigaden) vernichten konnte, während die russische Koalition nur marginale Verluste erlitt, da es keine Kampfhandlungen gab.
Diese Verluste kommen zu denen der Cherson-Offensive hinzu. Laut Sergei Schoigu, dem russischen Verteidigungsminister, hätten die Ukrainer in den ersten drei Septemberwochen rund 7 000 Mann verloren. Obwohl diese Zahlen nicht verifiziert sind, entspricht ihre Grössenordnung den Schätzungen einiger westlicher Experten. Mit anderen Worten: Die Ukrainer scheinen etwa 25 Prozent der 10 Brigaden verloren zu haben, die in den letzten Monaten mit westlicher Hilfe aufgestellt und ausgerüstet werden konnten. Dies ist weit entfernt von der Millionenarmee, von der die ukrainische Führung gesprochen hat.
Unsere Medien sprechen jedoch von einem ukrainischen Sieg?
Aus politischer Sicht ist es ein strategischer Sieg für die Ukrainer und ein taktischer Verlust für die Russen. Es ist das erste Mal seit 2014, dass die Ukrainer so viel Territorium zurückgewinnen, während die Russen zu verlieren scheinen. Die Ukrainer nutzten diese Gelegenheit, um ihren endgültigen Sieg zu kommunizieren, wodurch sie zweifellos übertriebene Hoffnungen auslösten und die Bereitschaft, sich auf Verhandlungen einzulassen, noch weiter verringerten.
Aus diesem Grund erklärte Ursula von der Leyen, dass es nicht der Moment «für Beschwichtigungen» sei.¹ Dieser Pyrrhussieg ist also ein vergiftetes Geschenk für die Ukraine. Er führt dazu, dass der Westen die Fähigkeiten der ukrainischen Streitkräfte überschätzt und sie zu weiteren Offensiven drängt, anstatt zu verhandeln.
Wie man sieht, müssen die Begriffe «Sieg» und «Niederlage» nuanciert werden. Die Nuancierung ist umso notwendiger, als es bei den von Wladimir Putin erklärten Zielen, nämlich «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung», nicht um Gebietsgewinne geht, sondern um die Vernichtung der Bedrohung des Donbas. Mit anderen Worten: Die Ukrainer kämpfen um Land, während die Russen um die Zerstörung von Kapazitäten kämpfen. Irgendwie erleichtern die Ukrainer, indem sie sich an das Gelände klammern, den Russen somit die Arbeit. Man kann immer Land zurückerobern, Menschenleben kann man nicht zurückgewinnen.
Indem sie glauben, Russland zu schwächen, fördern unsere Medien den allmählichen Zerfall der ukrainischen Gesellschaft. Aber das passt zu der Art und Weise, wie unsere Regierungsverantwortlichen die Ukraine betrachten. Sie hatten auf die Massaker an der Zivilbevölkerung im Donbas zwischen 2014 und 2022 nicht reagiert, und erwähnen heute genauso wenig die Verluste der Ukraine. In der Tat sind die Ukrainer für unsere Medien und Behörden eine Art «Untermenschen», deren Leben nur dazu dient, die Ziele unserer Politiker zu erfüllen.
Sie haben die Referenden erwähnt. Wird die Durchführung im Süden der Ukraine etwas ändern?
Zwischen dem 23. und dem 27. September finden vier Referenden statt. Dabei werden jedoch nicht immer die gleichen Fragen gestellt. In den selbsternannten Republiken Donezk und Lugansk, die offiziell unabhängig sind, geht es darum, ob die Bevölkerung einen Anschluss an Russland wünscht. In den Oblasten Cherson und Saporoshje, die offiziell noch Teil der Ukraine sind, geht es darum, ob die Bevölkerung in der Ukraine bleiben, unabhängig sein oder an Russland angeschlossen werden möchte.
Es gibt jedoch noch einige Unbekannte, z. B. welche Grenzen die Teilgebiete haben werden, die an Russland angeschlossen werden. Werden es die Grenzen der Gebiete sein, die heute von der russischen Koalition besetzt sind, oder die Grenzen der ukrainischen Regionen? Wenn Letzteres der Fall ist, dann könnte es immer noch zu russischen Offensiven kommen, um die restlichen Regionen (Oblaste) einzunehmen…
Haben Sie irgendwelche Anzeichen über den möglichen Ausgang der Referenden?
Zu diesem Zeitpunkt ist es schwierig, das Ergebnis der Referenden abzuschätzen. Umfragen, deren Zuverlässigkeit nicht beurteilt werden kann, sprechen von 80 bis 90 Prozent der Menschen, die einen Anschluss an Russland befürworten. Dies scheint aufgrund mehrerer Faktoren realistisch zu sein. Erstens sind die sprachlichen Minderheiten in der Ukraine seit 2014 Beschränkungen unterworfen, die sie zu Bürgern zweiter Klasse machen.
So hat die ukrainische Politik dazu geführt, dass sich die russischsprachigen Bürger nicht mehr als Ukrainer fühlen. Dies wurde sogar durch das Gesetz über die Rechte der indigenen Bevölkerung vom Juli 2021 unterstrichen, was in etwa den Nürnberger Gesetzen von 1935 entspricht, die den Bürgern je nach ihrer ethnischen Herkunft unterschiedliche Rechte einräumten. Aus diesem Grund hatte Wladimir Putin am 12. Juli 2021 einen Artikel verfasst, in dem er die Ukraine aufforderte, die Russischsprachigen als Teil der ukrainischen Nation zu betrachten und die Diskriminierung, die das neue Gesetz vorschlug, zu unterlassen.
Natürlich protestierte kein westliches Land gegen dieses Gesetz, das eine Fortsetzung der Abschaffung des Amtssprachengesetzes im Februar 2014 darstellt, die der Auslöser für die Abspaltung der Krim und des Donbas war.
Zudem haben die Ukrainer in ihrem Kampf gegen die Abspaltung des Donbas nie versucht, «die Herzen und Köpfe» der Aufständischen zu gewinnen. Im Gegenteil, sie taten alles, um sie weiter zu vertreiben, indem sie sie bombardierten, ihre Strassen verminten, das Trinkwasser abstellten, keine Renten und Gehälter mehr zahlten oder alle Bankdienstleistungen stoppten. Dies ist genau das Gegenteil einer wirksamen Strategie zur Aufstandsbekämpfung.
Schliesslich entfernen die Artillerie- und Raketenangriffe auf die Bevölkerung von Donezk und anderer Städte in der Region Saporoshje und Cherson, um die Bevölkerung einzuschüchtern und sie daran zu hindern, zur Wahl zu gehen, die Bevölkerung noch weiter von Kiew. Heute hat die russischsprachige Bevölkerung Angst vor ukrainischen Vergeltungsmassnahmen, falls die Referenden nicht angenommen werden.
Wir befinden uns also in einer Situation, in der die westlichen Länder ankündigen, dass sie diese Referenden nicht anerkennen werden. Auf der anderen Seite aber haben sie absolut nichts getan, um die Ukraine dazu zu bewegen, eine inklusivere Politik gegenüber ihren Minderheiten zu verfolgen. Letztendlich könnten diese Referenden zeigen, dass es nie wirklich eine inklusive ukrainische Nation gegeben hat.
Befinden wir uns in einer irreversiblen Situation?
Ja, diese Referenden werden eine Situation einfrieren und die Eroberungen Russlands unumkehrbar machen. Interessant ist, dass die Ukraine ihre Konstellation von vor Februar 2022 mehr oder weniger beibehalten hätte, wenn der Westen Selenskij Ende März 2022 mit dem Vorschlag, den er Russland unterbreitet hatte, hätte fortfahren lassen. Ich erinnere daran, dass Selenskij am 25. Februar einen ersten Verhandlungsantrag gestellt hatte, dem die Russen zustimmten. Die Europäische Union jedoch lehnte ihn ab, indem sie ein erstes «Paket» von 450 Millionen Euro an Waffen beisteuerte. Im März unterbreitete Selenskij ein Angebot, das Russland begrüsste. Es war zu Gesprächen bereit, doch die EU kam erneut und verhinderte dies mit einem zweiten «Paket» von 500 Millionen Euro für Waffen.
Wie die Ukraïnskaya Pravda berichtet, rief Boris Johnson am 2. April Selenskij an und forderte ihn auf, seinen Vorschlag zurückzuziehen, da der Westen ansonsten seine Unterstützung einstellen würde.² Am 9. April wiederholte Johnson bei seinem Besuch in Kiew dasselbe nochmals gegenüber dem ukrainischen Präsidenten.³ Die Ukraine war also bereit, mit Russland zu verhandeln, aber der Westen wollte keine Verhandlungen, wie Johnson bei seinem letzten Besuch in der Ukraine im August klarstellte.⁴
Es war sicherlich die Aussicht, dass es keine Verhandlungen geben würde, die Russland dazu veranlasste, den Weg der Referenden zu beschreiten. Es sei daran erinnert, dass Wladimir Putin die Idee einer Integration der südlichen Gebiete der Ukraine in Russland bisher immer abgelehnt hatte.
Ausserdem sei daran erinnert, dass Frankreich und Deutschland, wenn dem Westen die Ukraine und ihre territoriale Integrität so sehr am Herzen lägen, ihre Verpflichtungen aus dem Minsker Abkommen sicherlich vor Februar 2022 erfüllt hätten. Darüber hinaus hätten sie Selenskij mit seinem Vorschlag für ein Abkommen mit Russland im März 2022 fortfahren lassen.
Was beabsichtigt Wladimir Putin mit der Teilmobilmachung?
Zunächst einmal muss daran erinnert werden, dass Russland in der Ukraine mit einer erheblich geringeren Truppenstärke interveniert hat, als es der Westen für eine offensive Kampagne für notwendig hält. Dies lässt sich auf zwei Arten erklären. Erstens stützen sich die Russen auf ihre Meisterschaft in der «Operativen Kunst» und spielen auf dem Kriegsschauplatz mit ihren operativen Modulen wie ein Schachspieler. Dadurch sind sie in der Lage, mit kleineren Truppenstärken schlagkräftig zu arbeiten. Mit anderen Worten: Sie wissen, wie man Operationen effizient durchführt.
Der zweite Grund, den unsere Medien absichtlich ignorieren, ist, dass die grosse Mehrheit der Kämpfe in der Ukraine von den Milizen des Donbas geführt wird. Wenn sie «die Russen» erwähnen, müssten sie – wenn sie ehrlich wären – «die russische Koalition» oder «die russischsprachige Koalition» sagen. Mit anderen Worten: Die Zahl der russischen Militärangehörigen in der Ukraine ist relativ gering. Darüber hinaus ist es in Russland üblich, Truppen nur für einen begrenzten Zeitraum im Einsatzgebiet zu belassen. Das bedeutet, dass sie ihre Truppen häufiger rotieren lassen als der Westen.
Zu diesen allgemeinen Überlegungen kommen die möglichen Folgen der Referenden in der Südukraine hinzu, die die russische Grenze wahrscheinlich um fast 1 000 Kilometer verlängern werden. Dies erfordert zusätzliche Kapazitäten, um ein robusteres Verteidigungssystem aufzubauen, Einrichtungen für die Truppen zu errichten etc. In diesem Sinne ist diese Teilmobilmachung eine logische Konsequenz aus dem, was wir oben gesehen haben.
Besteht in dieser Situation die Gefahr einer nuklearen Eskalation?
In seiner Rede am 21. September erwähnte Wladimir Putin die Gefahr einer nuklearen Eskalation.⁵ Natürlich sprachen verschwörungstheoretische Medien (d. h. Medien, die aus unzusammenhängenden Informationen Narrative konstruieren) sofort von «nuklearer Bedrohung». Dies ist der Fall bei RTS in der französischen Schweiz.⁶
In Wirklichkeit ist das falsch. Wenn man den Text von Putins Rede liest, stellt man fest, dass er nicht mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht hat. Er hat dies übrigens seit Beginn des Konflikts im Jahr 2014 nie getan. Stattdessen hat er den Westen vor dem Einsatz solcher Waffen gewarnt. Ich erinnere daran, dass Liz Truss am 24. August erklärte, es sei akzeptabel, Russland mit Atomwaffen zu schlagen, und sie sei bereit, dies zu tun, selbst wenn es zu einer «globalen Vernichtung» führen würde!⁷ Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass die derzeitige britische Premierministerin solche Aussagen macht, die bereits im Februar Warnungen des Kreml hervorgerufen hatten.⁸ Im Übrigen erinnere ich daran, dass Joe Biden im April dieses Jahres beschlossen hat, die amerikanische «No-First-Use»-Politik aufzugeben und sich damit das Recht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen vorbehält.
Wladimir Putin misstraut also eindeutig einem völlig irrationalen und unverantwortlichen Verhalten des Westens, der bereit ist, seine eigenen Bürger zu opfern, um von Dogmatismus und Ideologie geleitete Ziele zu erreichen. Dies geschieht derzeit übrigens auch im Bereich der Energie und dem der Sanktionen. Putin ist sicherlich besorgt über die Reaktionen unserer führenden Politiker, die sich aufgrund der katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Lage, die sie durch ihre eigene Inkompetenz herbeigeführt haben, in immer unbequemeren Situationen befinden. Dieser Druck auf unsere Regierungsverantwortlichen könnte dazu führen, dass sie den Konflikt eskalieren lassen, nur um ihr Gesicht nicht zu verlieren…
In seiner Rede droht Wladimir Putin nicht mit dem Einsatz von Atomwaffen, sondern mit anderen Waffenarten. Er denkt dabei natürlich an Überschallwaffen, die nicht nuklear sein müssen, um wirksam zu sein. Im Übrigen ist der Einsatz taktischer Atomwaffen entgegen den Behauptungen von RTS bereits seit vielen Jahren nicht mehr Teil der russischen Einsatzdoktrin.
Mit anderen Worten: Der Westen und sein fehlerhaftes Verhalten sind die eigentlichen Unsicherheitsfaktoren…
Verstehen unsere Politiker die Situation?
Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Politiker eine klare und objektive Sicht auf die Situation haben. Die jüngsten Tweets von Ignazio Cassis zeigen, dass sein Informationsstand gering ist. Erstens: Wenn er die Rolle der Schweiz und ihre Neutralität erwähnt, um ihre guten Dienste anzubieten, ist das abseits jeglicher Realität. In der Vorstellung Russlands hat die Schweiz ihren neutralen Status aufgegeben9, und wenn sie in diesem Konflikt eine konstruktive Rolle spielen will, muss sie ihre Neutralität unter Beweis stellen. Davon sind wir sehr, sehr weit entfernt.
Zweitens: Als Cassis gegenüber Lawrow10 seine Sorge über den Einsatz von Atomwaffen zum Ausdruck brachte, hatte er offensichtlich nichts von Wladimir Putins Botschaft verstanden. Das Problem der derzeitigen westlichen Politiker ist, dass keiner von ihnen aktuell die intellektuellen Fähigkeiten besitzt, um sich den Herausforderungen zu stellen, die sie durch ihre Dummheit selbst geschaffen haben. Cassis wäre zweifellos besser beraten gewesen, seine Sorgen Truss und Biden gegenüber zu äussern!
Die Russen – und insbesondere Wladimir Putin – haben sich in ihren Erklärungen immer sehr klar ausgedrückt und systematisch und methodisch das getan, was sie gesagt haben. Nicht mehr und nicht weniger. Natürlich kann man mit dem, was er sagt, nicht einverstanden sein, aber es ist ein grosser Fehler und wahrscheinlich sogar kriminell, nicht auf das zu hören, was er sagt. Denn wenn man zugehört hätte, hätte man verhindern können, dass die Situation so geworden ist, wie sie ist.
Auszug aus dem Dokument der RAND Corporation aus dem Jahr 2019 darüber, wie Russland destabilisiert werden kann. Dieses Dokument zeigt, dass die USA eine Subversionskampagne gegen Russland anstrebten, bei der die Ukraine nur ein unglückliches Instrument war.
Unter dem Vorwand, dass Wladimir Putin ein Diktator sei, weigert man sich, auf das zu hören, was er sagt, und ist dann erstaunt über das, was er tut. Das ist einfach nur dumm. Unsere Medien – ich habe RTS zitiert – geben ihre Aussagen nicht nur nicht wahrheitsgetreu wieder, sondern verzerren sie, um ein Narrativ zu schaffen, das nicht den Tatsachen entspricht. So legt RTS in Bezug auf Wladimir Putins Rede vom 21. September ihm den Ausdruck «Nazi-Regime in Kiew»11 in den Mund. Putin verwendet diesen Begriff jedoch nie. Stattdessen spricht er von einem «Neonazi-Regime», was technisch und politisch gesehen etwas ganz anderes ist, wie ich in meinem Buch «Operation Z» ausführlich dargelegt habe, und die mit den Bezeichnungen übereinstimmt, die im Westen (vor Februar 2022) zur Beschreibung der Kräfte verwendet wurden, die das ukrainische Vorgehen bestimmen.
Es ist ausserdem interessant, die allgemeine Situation, die wir derzeit beobachten, mit dem zu vergleichen, was in den 2019 veröffentlichten Berichten der RAND Corporation beschrieben wurde, die eine Gebrauchsanweisung zur Destabilisierung Russlands darstellten.
Wie man sieht, ist das, was wir derzeit beobachten, das Ergebnis eines sorgfältig geplanten Szenarios. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Russen auf diese Weise voraussehen konnten, was der Westen gegen sie plante. So konnte sich Russland politisch und diplomatisch auf die Krise vorbereiten, die man herbeiführen wollte. Es ist diese Fähigkeit zur strategischen Antizipation, die zeigt, dass Russland eine stabilere, effektivere und effizientere Führung hat als die westlichen Länder. Aus diesem Grund glaube ich, dass, wenn dieser Konflikt eskalieren sollte, dies eher auf die Unfähigkeit des Westens als auf ein Kalkül Russlands zurückzuführen sein wird.
Darüber hinaus stelle ich bezüglich der Schweiz fest, dass die Schweiz in eine Destabilisierungs- und Subversionskampagne hineingezogen wurde, die von Anfang an auf Russland abzielte. Die Sanktionen, bei denen die Schweiz nach wie vor einer der Hauptakteure ist – sie ist derzeit der zweitgrösste «Sanktionierer» der Welt, gleich hinter den USA – haben als einziges Ziel den Umsturz Russlands.
Dass man es versäumt hat, diese vollkommen vorhersehbare Situation zu antizipieren und rechtzeitig vor Februar 2022 zu handeln, um die Ukrainer dazu zu bewegen, ihren Verpflichtungen im Rahmen des Minsker Abkommens nachzukommen, scheint mir das grösste Versagen der Schweizer Diplomatie seit 1938 zu sein, wo sie sich bereits kompromittiert hatte…
Herr Baud, vielen Dank für das Gespräch
Interview Thomas Kaiser
Dieses Interview ist auch in französischer Sprache verfügbar: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/fr/newspaper-ausgabe-fr/articles-traduits-en-francais.html#article_1436
² https://www.gov.uk/government/news/pm-call-with-president-zelenskyy-of-ukraine-2-april-20223
⁴ Roman Romaniuk, « Possibility of talks between Zelenskyy and Putin came to a halt after Johnson’s visit », Ukrainskaya Pravda, 5 May 2022 (https://www.pravda.com.ua/eng/news/2022/05/5/7344206/)
⁵ http://en.kremlin.ru/events/president/news/69390
⁷ https://www.independent.co.uk/news/uk/politics/liz-truss-nuclear-button-ready-b2151614.html
10 https://twitter.com/ignaziocassis/status/1572635376350801922
In Somalia droht eine Hungersnot
Während wir in der Schweiz, Deutschland und Österreich befürchten, in diesem Winter weniger heizen zu können, droht in Somalia eine Hungersnot wie zwischen Oktober 2010 und April 2012, als laut der Uno 258 000 Menschen umgekommen sind. Nach drei schlechten Regenzeiten und durch den Bürgerkrieg, der nun schon über 30 Jahre dauert, sind heute 4,1 Millionen Menschen in Somalia von einer Hungerkrise betroffen.
Somalia zählt 2,9 Millionen interne Flüchtlinge bei einer Einwohnerzahl von 17 Millionen. Diese Menschen haben in Städten wie Mogadischu und Kismaayo Zuflucht gesucht, um zu überleben. Durch die Dürre, durch ausfallende Ernten, durch Verlust ihres Viehs haben viele Bauern und Nomaden ihre Lebensgrundlage verloren. Schätzungsweise sind in Somalia 1,4 Millionen Kinder unterernährt. Krankheiten, niedrige Impfraten und ein geringer Zugang zu sauberem Wasser verschlimmern die Mangelernährung. Meistens kann nur, wer Geld hat, seine Kinder in die Schule schicken und einen Arzt aufsuchen.
Arzt mit Mutter und Kind (Bild zvg)
Somalier informierten in Zürich über Somalia
Bashir Gobdon und Nur Scecdon Olad informierten am Samstag, den 10. September dieses Jahres im Rahmen der Jahresversammlung des Hilfswerkes Swisso Kalmo in Zürich an der Gartenhofstrasse 7 über die Lage in Somalia und über die Tätigkeit von Swisso Kalmo in Merka.¹
Bashir Gobdon und Nur Scecdon Olad informierten am Samstag, den 10. September dieses Jahres im Rahmen der Jahresversammlung des Hilfswerkes Swisso Kalmo in Zürich (Bild zvg)
Bashir Gobdon hofft, dass die somalische Diaspora im Ausland, arabische Staaten und auch das Welternährungsprogramm Somalia noch stärker helfen werden, die Hungerkrise zu bewältigen. Aber man wisse nicht, wie das möglich sein werde, so Gobdon, «denn Gebiete in Süd- und Zentralsomalia werden von den Milizen der Al Shabab kontrolliert, die mit der Regierung in Mogadischu im Krieg stehen. In den Gebieten, die unter der Herrschaft der Al Shabab stehen, ist es nicht möglich, Hilfe zu bringen.»
Junge Männer finden bei der Al Shabab «Verdienst»
Durch die allgemeine Misere gelingt es Al Shabab immer mehr, junge Leute zu rekrutierten. Junge, arbeitslose Männer suchen bei dieser Organisation eine Möglichkeit zum Leben, zum Verdienst. «Das ist das Allerschlimmste», so Gobdon. «In den Regionen, die vom Krieg und der Dürre am meisten betroffen sind, müsste man vor Ort helfen, aber das hat bisher nicht funktioniert. Die Menschen fliehen, weil sie dort nicht mehr leben können. Sie haben keine andere Wahl.» Bashir Gobdon selbst ist als junger Mann aus Somalia geflohen, als er unter dem Regime von Siad Barre in den Krieg hätte ziehen sollen.
Al Shabab finanziert sich mit Erpressungszahlungen
Jetzt ist der Krieg mit Al Shabab kein täglicher Krieg mehr. Es sind eher Anschläge, die verübt werden – gegen Hotels, gegen die eigenen Leute, gegen das eigene Volk. Wer keine Schutzgelder entrichtet, riskiert sein Leben. «Das ‹Einkommen› der Al Shabab durch mafiöse Erpressungszahlungen soll grösser sein als die Steuereinnahmen der Regierung», sagt Bashir Gobdon. Wer ein Haus baut, zahlt der Al Shabab eine Gebühr, auch wenn er dazu einen Kredit aufnehmen muss, wie es ein somalischer Bekannter in Mogadischu erlebte, der ein Haus für eine Verwandte baute.
«Die Attacken der Al Shabab richten sich heute auch gegen die neue Regierung. Einige Stämme sind nicht an der Regierung beteiligt. Also bombardiert Al Shabab die Hotels, die im Besitze von Stammesangehörigen sind, die an der Regierung beteiligt sind», so Bashir Gobdon.
Ehemaliges führendes Al Shabab-Mitglied heute in der Regierung
Mukhtar Robo war früher ein führendes Al Shabab-Mitglied. Jetzt ist er in der neuen Regierung für Religionsfragen zuständig.2 «Das ist ein Versuch, dass auch ein ehemaliges Mitglied der Al Shabab sich an der Regierung beteiligen kann, wenn man die Al Shabab nicht besiegen kann. Was kann man machen? Man muss versuchen, Kontakte aufzunehmen. 2006 war Mukhtar Robo ein islamischer Führer, in der Periode der Union der islamischen Gerichte, die mit der heutigen Al Shabab nichts zu tun hat. Es ist der zweite Versuch, ein ehemaliges Mitglied der Al Shabab einzubinden. Es ist wichtig, dass dieser Minister den jungen Leuten erklärt, dass dieser Krieg nichts mit dem Islam zu tun hat. Es geht bei dem Konflikt um andere Interessen der Gruppierung Al Shabab.»
2006 während der Herrschaft der Union der Islamischen Gerichte, in der auch Mukhtar Robo eine führende Rolle spielte, wurden die Warlords aus Mogadischu vertrieben. In Mogadischu wurde damals unter der kurzen Herrschaft der Union erstmals seit 16 Jahren ein gewisses Mass an Frieden und Ordnung hergestellt. Durch die militärische Intervention Äthiopiens wurde die Regierung der Union der Islamischen Gerichte aber schon Ende des Jahres 2006 vertrieben. Hinter der Intervention Äthiopiens standen damals die USA.³
In Nepal kam nach dem langen Bürgerkrieg mit den Maoisten auch eine Vereinbarung zu Stande, man hat sich versöhnt. Die Maoisten sind heute in der Regierung.⁴ Auch in Kolumbien kamen Vereinbarungen mit den Aufständischen zustande.
Handel mit dem somalischen Shilling funktioniert nicht
«Die grosse Schwierigkeit ist: Der Handel mit dem somalischen Shilling funktioniert nicht. Es läuft alles über den Dollar. Bezahlt wird in Somalia mit Mobiltelefonen ohne Bargeld. Die Einheit Somalias müsste wieder hergestellt werden, das Land stabilisiert werden, damit der Zahlungsverkehr mit einer eigenen Währung wieder funktioniert. Für Menschen, die keine Angehörigen im Ausland haben, die sie unterstützen, ist die Lage durch die Teuerung viel schlimmer geworden. Es gibt heute zwei Gruppen: die Armen und Leute, die durch den Krieg etwas verdient haben», führte Bashir Gobdon aus.
Privatisierte Schulen, Universitäten, Spitäler, privatisierte Wasser- und Stromversorgung
Schulen, Universitäten und Spitäler in Somalia werden von privaten Unternehmen betrieben, auch die Versorgung mit Wasser und Elektrizität kontrollieren private Firmen. Versuche, dies zu ändern, sind gescheitert, denn der Regierung stehen keine Mittel zur Verfügung, um solche Einrichtungen zu finanzieren und dafür neue Leute einzustellen. «Die Regierung hat mit der Weltbank eine Vereinbarung, dass sie keine neuen Mitarbeiter einstellt. Damit können auch keine öffentlichen Schulen und Spitäler eröffnet werden», so Bashir Gobdon.
Türkei betreibt Hafen und Flugplatz von Mogadischu
Der Hafen und der Flugplatz in Mogadischu werden von der Türkei betrieben mit modernen Einrichtungen, und das funktioniert gut. Frachtschiffe mit Getreide kommen jetzt auch aus der Ukraine nach Somalia. Al Shabab wird auch in diesen Einrichtungen «Steuern» einziehen, nimmt man an.
AMISOM und 5 000 somalische Soldaten in Eritrea
Die AMISOM, die ausländische Truppe der Afrikanischen Union, unterstützt die somalische Regierung seit Jahren im Kampf gegen Al Shabab. «Solange die Regierung das Land nicht vollständig kontrolliert, wird AMISOM nicht abziehen», denkt Bashir Gobdon.
«Ein grosses Problem sind heute die 5 000 somalischen Soldaten, die seit zweieinhalb Jahren in Asmara (in Eritrea) sind und zurück wollen. Die frühere somalische Regierung unter dem Präsidenten Farmajo hatte mit Eritrea vereinbart, diese Somalier in Eritrea auszubilden. Bei der Fussballweltmeisterschaft in Katar, die in diesem November beginnt, hätten diese Soldaten als Schutztruppe eingesetzt werden sollen, was im Moment nicht mehr aktuell ist. Diese 5 000 Soldaten sollten nun nach Somalia zurückkommen. Am Krieg in Äthiopien haben sie nicht teilgenommen, wie man vermutet hat. Aber Eritrea erwartet von Somalia jetzt eine Entschädigung für die Soldaten, die dort gelebt haben. Die Frage ist auch, so Bashir Gobdon: «Was für eine Rolle werden sie in Somalia haben? Wer bezahlt ihnen den Sold. Wenn diese 5 000 zurückkehren, würde man die ausländischen Soldaten der AMISOM nicht mehr brauchen. Sie könnten durch diese somalischen Soldaten aus Eritrea ersetzt werden.»
Die USA fliegen in Somalia wieder Bombenangriffe
Laut dem britischen Radio BBC hat sich kürzlich der somalische Verteidigungsminister Abdikadir Mohamed Nur mit General Michael Langley getroffen, dem Kommandanten des Africa-Command der USA. Das US-Africa-Command ist in Stuttgart stationiert.⁵
Unter Präsident Joe Biden sollen auch wieder etwa 300 US-Soldaten in Somalia anwesend sein. Die USA fliegen wieder wie früher Angriffe gegen Al Shabab. Bashir Gobdon: «Die Amerikaner operieren in Absprache mit der somalischen Regierung.»
Die Bombardierungen der USA werden auch wieder viele zivile Opfer fordern, wie die Bombardierungen und aussergerichtlichen Hinrichtungen mit Drohnen in Somalia unter den US-Präsidenten Bush, Obama und Trump. Wird mit diesen Angriffen nicht der Hass auf die USA geschürt?⁶
Nach zwölf Jahren wieder in Merka
Nur Scecdon Olad konnte im letzten Jahr nach einem Unterbruch von 12 Jahren wieder nach Merka reisen und das Ambulatorium besuchen, das er mit seiner Frau Magda Nur-Frei vor über dreissig Jahren eröffnet hatte. Jahrelang war ein solcher Besuch zu gefährlich. Wie Nur Scecdon Olad ausführte, gibt es im Ambulatorium wenig Personal. Es sind weniger als 20 Leute, die dort arbeiten, und wenig Patientinnen und Patienten. Die andere medizinische Einrichtung in Merka, das Regionalspital, funktioniert nicht gut und es gibt keinen Arzt mehr. Man hofft aber immer noch, dass es wieder einmal klappen wird.
Von 2016 bis 2018 wurde diese Klinik von Swisso Kalmo geführt, unterstützt durch Beiträge der Deza, der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit der Schweiz. Nur Scecdon Olad möchte im nächsten Jahr nach Merka zurückkehren und dort die Leitung von Swisso Kalmo übernehmen.
Swisso Kalmo Marka Center (Bild zvg)
Im Zentrum von Merka gibt es heute ein weiteres Spital mit einem Arzt, der momentan keinen Lohn bezieht. Die Elders von Merka (die Gemeindeältesten) sorgen dafür, dass der Arzt doch etwas Geld bekommt. In diesem neuen Spital gibt es einen Operationssaal, einen Röntgenapparat und ein Gerät für Herzuntersuchungen.
Vorschlag zur Neuorganisation des Ambulatoriums in Merka
Nur Scecdon Olad hat in Merka den Mitarbeitern vorgeschlagen, sich Gedanken zu machen, wie sich das Ambulatorium von der Unterstützung aus der Schweiz lösen könnte. Das Ambulatorium sollte von den Almosen wegkommen und Wege finden, sich zu privatisieren. Man könnte zum Beispiel für ein paar Stunden einen Arzt engagieren. Es sind auch sehr viele Reparaturen an den Gebäulichkeiten fällig. An der Jahresversammlung der Swisso Kalmo in Zürich legte Nur Scecdon Olad einen detaillierten Vorschlag zur Neuorganisation des Ambulatoriums in Merka vor.
Merka: ähnlich desolate Lage wie in anderen somalischen Ortschaften
Nur Scecdon Olad: «Die Stadt Merka wirkt ärmlicher als früher, und die Businessleute, die es in Merka gibt, sind untätig – man sieht sie im Kaffeehaus sitzen. Viele Leute, die in ihren eigenen Häusern lebten, haben ihre Häuser für wenig Geld verkauft und sind nach Mogadischu gezogen. Das Militär, das in Merka stationiert ist, wird von der somalischen Regierung bezahlt. Merka ist in zwei Teile geteilt. Das alte Spital, das bis vor drei Jahren von Swisso Kalmo für kurze Zeit geführt wurde, ist die Grenze. Im Süden regiert der Stamm der Biomal. Im Zentrum und Norden regieren andere Stämme. Die AMISOM-Truppen, die von der Afrikanischen Union finanziert werden, regieren im Süden, was schon immer so gewesen ist. Die Biomal sind für Merka sehr wichtig. Die Situation in Merka ist nicht gefährlich, die Zufahrtsstrasse dem Meer entlang ist ohne Gefahr passierbar. Benützt man aber die normale Strasse über das Land, begegnet man in der Nähe der Stadt Afgoyee den Al Shabab, die die Passanten kontrollieren. Vor einiger Zeit hat die Regierung am Tag die Region kontrolliert, und in der Nacht regierte Al Shabab. Die Al Shabab stehen zwanzig Kilometer vor Merka Richtung Mogadischu. Leute benützen aber auch Boote auf dem Indischen Ozean, um von Mogadischu nach Merka zu gelangen. In der Monsunzeit fahren aber keine Boote.
Die Regierung in Merka wird vom Stamm der Biomal beherrscht, der unfähig ist, die Situation zu verbessern. Sie profitiert von der Situation. Das Sultanat, die Atschuran, die früher Merka regiert haben, sind verschwunden. Leider ist die heutige Regionalregierung nicht fähig, mit der Zentralregierung in Mogadischu zusammenzuarbeiten.»
¹ Website Swisso Kalmo: www.swisso-kalmo.ch
² Mukhtar Robow | Counter Extremism Project
³ Union islamischer Gerichte – Wikipedia
⁴ Nepals Regierung und Maoisten einigen sich auf Verfassung | Zürichsee-Zeitung (zsz.ch)
⁵ Somalia - BBC News Somali minister and US commander hold security talks
⁶ www.globalresearch.ca/us-bombs-somalia-third-time-this-summer/579065
Emotionalisierung statt sachlicher Analyse
Gemeinsamkeiten in der Berichterstattung über die Corona- und die Ukrainekrise
Am 26. September stimmte der Nationalrat der Verlängerung des Covid-19-Gesetzes zu, was dem Bundesrat weiterhin weitreichende Kompetenzen ohne demokratische Kontrolle ermöglicht. Zwar gab es gewissen Widerstand und nicht alles wurde einfach durchgewinkt, aber die Möglichkeit, nach wie vor diskriminierende Massnahmen zu ergreifen wie z. B. die Zertifikatspflicht, bleiben bestehen. Die Gültigkeit des Gesetzes ist nach den Vorstellungen des Bundesrats bis Mitte 2024 verlängert worden.¹ Das alles stösst manchem sauer auf und einem allfälligen Referendum wurde vorsorglich – wie schon in der Vergangenheit von der Mehrheit des Parlaments praktiziert – die aufschiebende Wirkung entzogen. Das heisst, das Gesetz tritt in Kraft und erst Monate später darf das Volk darüber befinden. Das reduziert die Chancen des Referendums auf ein Minimum, weil dann wahrscheinlich wieder ganz andere Themen auf der politischen Agenda stehen und die Bevölkerung mit ganz anderen Dingen beschäftigt wird.
So geschehen am Ende der Covid-Massnahmen. Denn als die Omikron-Variante der Pandemie langsam ein Ende bereitete – es gab Anfang 2022 trotz hoher Fallzahlen immer weniger Hospitalisierungen, einhergehend mit einer rückläufigen Belegung von Intensivbetten – wurden die Menschen, von den Medien intensiv «begleitet», in die nächste Krise gestürzt.
Am 24. Februar begann Russland im Verbund mit den militärischen Kräften der autonomen Republiken Lugansk und Donezk die «Militärische Sonderoperation» gegen die Ukraine. Ungefähr eine Woche zuvor, am 16. Februar, hatte der Bundesrat die meisten Corona-Massnahmen und Einschränkungen aufgehoben und ab dem 1. April gab es schliesslich gar keine Einschränkungen mehr.² Das Covid-Gesetz, das dem Bundesrat weitreichende Eingriffe in das Privat- und Wirtschaftsleben erlaubt, blieb aber bis heute bestehen und soll um weitere 2 Jahre verlängert werden. Wozu?
Die meisten Menschen zeigten sich erleichtert über das Ende der Massnahmen, auch wenn es Stimmen gab, die dies alles viel zu schnell und zu früh fanden. In der Retrospektive war das völlig ungerechtfertigt. Der Bundesrat hat, wenn auch erst sehr spät, für einmal richtig gehandelt. Dass er jedoch die Macht hat, alle Massnahmen ohne demokratische Kontrolle wieder in Kraft setzen zu können, ging dabei vergessen.
Von einer Katastrophe in die nächste
Für unsere Medien aber gab es einen nahtlosen Übergang. Sie wollten jetzt nicht mehr über die täglichen Toten «im Zusammenhang mit Corona» berichten, denn das war nun nicht mehr nötig. Dafür füllte der Krieg in der Ukraine die Spalten und Seiten der Printausgaben sowie die Foren einschlägiger Internetportale. Die Berichterstattung überbietet sich bis heute mit Schilderungen von Greueltaten und Kriegsverbrechen, deren Aufarbeitung und unparteiische Untersuchung noch anstehen. Was dabei herauskommt, wird die Mehrheit dann nicht mehr interessieren – die Stimmung ist gemacht.
Wir wurden in den letzten Monaten von einer Katastrophenmeldung zur nächsten gejagt, und man weiss gar nicht, wo man beginnen soll, um sich ein klares Bild zu machen. Bevor die berichteten «Fakten» im Ukrainekrieg überhaupt erst überprüft und verifiziert werden konnten, war völlig klar, wer die Bösen sind und auf welche Seite man sich zu stellen hat, wenn man nicht als herzloser Unmensch stigmatisiert werden wollte, auch wenn manche von leisen Zweifeln an der Richtigkeit all dessen, was es da zu lesen und zu hören gab, beschlichen wurden.
Dass Krieg etwas Fürchterliches und zutiefst Unmenschliches ist, soll hier klar gesagt werden, aber jeder Krieg, auch der in Afghanistan, im Irak, in Libyen oder im Jemen und nicht nur der, der von Russland geführt wird. Dass das von der vielzitierten internationalen Gemeinschaft, sprich Nato und EU, nicht so gesehen wird, zeigt sich an der Form der Berichterstattung und der kriegsunterstützenden Politik in diesen Ländern.
Unter der emotionalisierten Kriegsberichterstattung seit dem Angriff auf die Ukraine ging unter, was es nach dieser Pandemie unbedingt gebraucht hätte: eine minutiöse Aufarbeitung der letzten zwei Jahre von der Rolle der Medien bis hin zu den Verträgen des Bundesrates mit den Pharmafirmen, die nach anderthalb Jahren nur in einer massiv zensurierten Form vorliegen und den Bürgerinnen und Bürgern wesentliche Informationen vorenthalten. Wo bleibt die Reaktion des Parlaments? Akzeptiert es stillschweigend das absolutistische Vorgehen Alain Bersets und seines Beamtenstabs und hatte einer Verlängerung der Massnahmen zugestimmt, bevor eine Evolution stattfand?
Auch wenn eine Pandemie und ein Krieg nichts gemeinsam haben, ausser dass Menschen dabei sterben, zeigte die mediale Berichterstattung über beide Ereignisse sehr viele Ähnlichkeiten. Was besonders auffiel, war und ist die Verteufelung all dessen, was von den staatlich bestimmten und von den Medien zum Teil unkritisch nachvollzogenen Vorgaben abwich. Die «Corona-Leugner» ähnlich wie die «Putin-Versteher» waren schnell ausgemacht, die man am besten mit einer gewaltigen Keule zum Schweigen bringen wollte. Nachfragen, bedingt durch einen angebrachten Skeptizismus, war schon verdächtig. Ein kontradiktorischer Diskurs, der alle Überlegungen zulässt und nach der besten Lösung sucht, war nicht erwünscht.
«Treiber der Pandemie»
Wer die Wirkung der Massnahmen des Bundesrats oder der Impfung in Zweifel zog und für sich in Anspruch nahm, auf den angeblichen Segen der Impfung zu verzichten und dem eigenen Immunsystem zu vertrauen, wurde verschrien und gesellschaftlich ausgegrenzt. Das ging so weit, dass man die Ungeimpften völlig zu Unrecht als Treiber der Pandemie bezeichnete und damit ins gesellschaftliche Abseits drängte.³ Heute kann das niemand mehr behaupten, nachdem zwei-, drei-, sogar viermal Geimpfte an Corona erkrankt sind und das Virus fleissig verbreitet haben. Mit der 2G-Regel waren über 30 Prozent der Bevölkerung von gewissen öffentlichen Aktivitäten völlig ausgeschlossen. Hätte vor der Corona-Zeit jemand dieses Szenario skizziert, die Medien hätten ihn als «Verschwörungstheoretiker» und «Spinner» abgetan.
Inzwischen haben es wohl die meisten gemerkt, dass eine Impfung kaum vor diesem Virus schützt. Das einzige Argument, das hierbei von den Impfverantwortlichen ins Feld geführt wird, ist die Behauptung, die Impfung führe zu einem milderen Verlauf der Krankheit. Das ist eine Behauptung, die sicherlich schwerer zu beweisen bzw. zu widerlegen ist. Aber der Anfang 2021 versprochene hohe Schutz vor einer Infektion durch die Corona-Impfung war eine klare Irreführung.
Eine neue Studie aus Island lässt aufhorchen: Die Infektionsrate scheint bei zweimal Geimpften grösser als bei einmal oder Ungeimpften. Vieles, was am Anfang der «Pandemie» gedacht und angeblich erforscht worden war, stellte sich im Verlauf der letzten zwei Jahre als falsch oder unhaltbar heraus.⁴ Um herauszufinden, ob das bewusst geschehen ist, um die Menschen zum Impfen zu drängen, oder aus Unwissenheit, wäre man auf einen seriösen und kritischen Journalismus und auf objektive wissenschaftliche Studien angewiesen, die nicht von der Pharmaindustrie finanziert werden. Sie ist schon daran, weitere Impfdosen zu produzieren. Während der Corona-Krise fand man diese jedoch nur in alternativen Medien. Dies möglicherweise darum, weil man keinen anderen Weg beschreiten wollte oder weil der Druck der Pharmafirmen so hoch war. Vielleicht war die Angst der Treiber, am Ende für mögliche Unterlassungen geradestehen zu müssen. Es gab zwar immer wieder Stimmen, die mit Fakten die offiziellen Verlautbarungen in Frage stellten, aber sie wurden schnell ins gesellschaftliche Abseits bugsiert oder nirgends zu Wort kommen gelassen.
Die Parallelen zu der emotionalisierten Berichterstattung über den Ukraine-Krieg sind frappant. Man schürt Emotionen, die dazu führen, die Dinge nicht mehr sachlich und aus Distanz betrachten zu können. Dem im Artikel auf der nächsten Seite ausführlich rezensierten Werk «Der Corona-Elefant»⁵ gelingt es, diese Emotionalisierung zu verlassen und sich den Fakten zuzuwenden.
Bevor man der Verlängerung des Covid-19-Gesetzes zustimmte, hätte man sich sinnvollerweise mit den Fakten auseinandersetzen müssen.
¹ «NZZ» vom 20.09.2022
² https://vorarlberg.orf.at/stories/3149952/
⁴ https://infekt.ch/2022/08/erhoeht-die-covid-impfung-die-re-infektionsrate/
⁵ Konstantin Beck, Andreas Kley, Peter Rohner, Pietro Vernazza: Der Corona-Elefant. Vielfältige Perspektiven für einen konstruktiven Dialog. Zürich 2022. ISBN 978-3-909066-25-4
Buchempfehlung: «Der Corona-Elefant»
Eine gelungene wissenschaftliche Aufarbeitung
Das Phänomen, dass eine Krise die andere jagt, hat die öffentliche Kenntnisnahme des Anfangs 2022 erschienenen Buchs mit dem Titel «Der Corona-Elefant» beeinträchtigt. All die im vorherigen Artikel erwähnten Einflüsse, die objektive wissenschaftliche Untersuchungen verfälschen oder gar nicht erst zulassen können, haben namhafte Wissenschafter verschiedener Fakultäten veranlasst, ihre Erkenntnisse in einem gemeinsamen Band zu publizieren. Als Herausgeber der Publikation zeichnen Professor Konstantin Beck, Professor Andreas Kley, Professor Pietro Vernazza und Professor Peter Rohner verantwortlich. So hochkarätig die Herausgeberschaft ist, nicht weniger prominent sind die weiteren Autoren, deren Analysen und Abhandlungen darin zu finden sind. Namen wie Felix Uhlmann, Margrit Osterloh und Bruno S. Frey, Michael Esfeld, um nur eine kleine Auswahl zu präsentieren, garantieren für eine vielschichtige und ernsthafte Betrachtungsweise.
Das Buch, in unterschiedliche «coronarelevante» Kapitel unterteilt, bietet jedem etwas, der sich ein differenziertes Bild von den Abläufen der vergangenen zwei Jahre machen will. Wer sich für rechtliche und politische Fragen interessiert, stösst in entsprechendem Kapitel auf Wissenswertes. Wer eher Medizinisches oder Philosophisches bevorzugt, wird ebenfalls fündig. Es ist ein Beispiel einer gelungenen wissenschaftlichen Aufarbeitung mit teilweise unterschiedlichen Positionen, die unbedingt in eine politische Nachlese einfliessen müssen. Leider ist die ausgezeichnete Publikation im Getöse des Ukrainekrieges etwas untergegangen und hat nicht die dringend benötigte öffentliche Diskussion anstossen können, was den erwähnten Umständen geschuldet ist, aber keineswegs der inhaltlichen Qualität.
Es wäre dringend geboten, mit grösster Aufmerksamkeit die verschiedenen Positionen zu betrachten und in der Bevölkerung breit zu diskutieren. Im folgenden sollen exemplarisch einige Gedanken und Schlussfolgerungen mit entsprechenden Textverweisen präsentiert werden. Es kann nur ein kleiner Ausschnitt sein, das Lesen des gesamten Werks wird wärmstens empfohlen, besonders auch in Hinblick auf den Herbst, da von gewissen Apologeten neue Corona-Wellen vorhergesagt werden und der Bundesrat seine Sonderrechte wie erwähnt bis 2024 in Anspruch nehmen will. Das Buch leistet einen wertvollen Beitrag, Fehler und Fehldeutungen der letzten zwei Jahre zu erkennen und mögliche sinnvolle Wege zur Bewältigung einer «Pandemie» zu finden.
«‹Legal› gegen die Verfassung und demokratische Verfahren verstossen»
Rechtsprofessor Andreas Kley, der auch während der letzten zwei Jahre sich immer wieder warnend vor allem zum Covid-19-Gesetz zu Wort meldete und für die Einhaltung der demokratischen Grundsätze plädierte, gibt in zwei brillanten Aufsätzen der Demokratie und ihren auf Recht basierenden Grundsätzen die ihnen gebührende Bedeutung: «Die Demokratie ist eine Staatsform, die Konflikte zwischen den verschiedenen Akteuren offen ausspricht und austrägt. Die Freiheit der Meinungsäusserung ist das Grundrecht der Demokratie; die Demokratie kann – speziell in Krisenzeiten – ohne freie und offene Diskussion nicht funktionieren.» (S. 27) Diese Grundsätze, die in jedem Staatskundeunterricht vermittelt werden sollten, wurden jedoch permanent verletzt. Auch die demokratischen Verfahren haben nach Andreas Kley stark gelitten: «Während der Coronakrise ist es zu verschiedenen (u. a. versuchten) Vorstössen gegen das demokratische Verfahren gekommen. Ausserordentliche Zeiten verlangen – wie die Parlamentarier es formulierten – ausserordentliche Lösungen, wobei sie die Lösung in einer als ‹Notrecht› verkleideten Gesetzes- oder Verfassungsverletzung sehen.» (S. 29) In der Bundesverfassung existiert der Begriff «Notrecht» nicht.¹ Der Autor setzt sich unter anderem in einer dezidierten Form mit dem Covid-19-Gesetz auseinander und zeigt die damit verbundenen (Rechts-)Brüche auf: «Es [das dringliche Covid-19-Gesetz, Anm. d. Verf.] überträgt Rechtssetzungskompetenzen der Bundesversammlung auf den Bundesrat und enthält kaum inhaltliche Leitlinien, wie der Bundesrat die Delegation zu handhaben hat.» (S. 30) Doch ist die ganze Entwicklung und letztlich das «Verletzen» der Verfassung der vorgängig erzeugten Angst geschuldet. Einen Tag, nachdem der erste Infizierte in der Schweiz bekannt gewesen ist, «spricht der Epidemiologe Christian Althaus von möglicherweise 3 Millionen infizierten Personen und 30 000 Toten in der Schweiz.» (S. 28) Ende Februar 2020, also in dem Monat, in dem der erste Corona-Fall in der Schweiz bekannt wurde, machte «der Ausdruck Notrecht […] immer mehr die mediale Runde und bereitet den Boden für ‹ausserordentliche Lösungen in ausserordentlichen Zeiten.›» (S. 28) Andreas Kley warnt grundsätzlich vor solch einem Schritt. «Die Rede von einem ‹Notrecht›, das es Bundesrat und Bundesversammlung erlaubt, ‹legal› gegen die Verfassung und demokratische Verfahren zu verstossen, ist gefährlich.» (S. 33) Es scheint fast so, als ob man damit die Büchse der Pandora geöffnet hätte. Interessant ist, dass im Zusammenhang mit einer möglichen Energieknappheit bereits wieder von «Notrecht» die Rede ist.
«Massenmediale, angstdurchsetzte Kommunikation»
In einem weiteren Aufsatz aus seiner Feder weist Andreas Kley bei der vom Bundesrat am 28. Februar 2020 erlassenen Covid-19-Verordnung «elf zum Teil grobe gesetzestechnische (legistische) Fehler» nach (S. 60f). Es ist erstaunlich, dass eine Verordnung des Bundesrats in solch einer unprofessionellen Form abgefasst wurde. Andreas Kley kommentiert denn auch: «Diese elf Fehler für die kurze Verordnung mit nur einer einzigen Massnahme sind gravierend. Sie stellen zusammen mit der Aufblähung des Textes infolge eines überbordenden Zweckartikels und den Redundanzen den Sinn der bundesrätlichen Rechtsetzung in Frage.» (S. 61f)
«Zeit, die Pfade der emotionalen Behördenkommunikation zu verlassen»
Für unsere Bundesregierung ist das Ganze mehr als peinlich und hätte unter allen Umständen in ein politisches Nachspiel münden müssen. Bisher war das nicht der Fall, aber die Analyse von Andreas Kley ist eindeutig: «Es herrscht dauernde Gegenwart mit täglichen Meldungen von Infektions-, Todes- und Inzidenzzahlen sowie der Belegung der Intensivbetten. Die zahlreichen kommunikativen Widersprüche erregten zusätzliche Aufmerksamkeit. In dieser nur auf den Moment bezogenen Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hat die Kommunikation des Bundesrats und des BAG eine steuernde Wirkung erhalten. […] Die Effekte der Steuerung erreichten Bundesrat und Verwaltung über die massenmediale, angstdurchsetzte Kommunikation. Dies erfolgte aber ausserhalb der demokratisch rechtsstaatlichen Instrumente, welche die Verfassung bereitstellt. Die Situation ist aus der Sicht der Herrschaft des Gesetzes in einer beachtlichen Schieflage. Es ist an der Zeit, die Pfade der emotionalen Behördenkommunikation zu verlassen und zur nüchternen Herrschaft der Normen zurückzukehren.» (S. 67f)
Rolle des Bundesrates entspricht nicht der schweizerischen Demokratiekonzeption
Der Jurist Felix Uhlmann beschäftigt sich ebenfalls mit rechtlichen Fragen und beleuchtet unter anderem das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative. Bei seinen Untersuchungen kommt er zu ähnlichen Schlüssen wie Andreas Kley, indem er feststellt, «dass die öffentliche Wahrnehmung sich stark vom Parlament zum Bundesrat verlagert hat.» (S. 36 ) Die Ursachen dafür sieht er neben der medialen Berichterstattung im Verhalten des Parlaments: «Das Parlament hat sich – unglücklicherweise – in dieser Krise zunächst aus dem Spiel genommen und scheint unvermindert unsicher über seine Rolle. […] Dass aber alle Augen zum Bundesrat hochschauen und dort ruhen, entspricht nicht der schweizerischen Demokratiekonzeption.» (S. 36)
Nur schon die rechtlich-politischen Abläufe während der Coronazeit zeigen, wie unsorgfältig sowohl der Gesetzgeber als auch die ausführende Gewalt mit der Herausforderung umgegangen sind. In einer Demokratie sind die Verfassung und die Rechtsetzung zentral, wenn hier – aus welchen Gründen auch immer – «geschlampt» wird, schafft sich die Demokratie selbst ab. Von diesem Blickwinkel aus gesehen sind rechtliche Fragen und die Einhaltung der Verfassung essentiell. Es ist ein grosses Verdienst der Autoren, hier den Finger darauf zu legen.
«Die Leitmedien in dieser Pandemie haben ihre eigene Glaubwürdigkeit untergraben.»
In seinem Aufsatz greift Werner Vontobel die Rolle der Medien auf: «Die Leitmedien haben sich in punkto Corona bewusst in den Dienst der Pandemie gestellt – und haben uns damit einen schlechten Dienst erwiesen.» (S. 41) Anstatt zum Vorgehen und zu den erlassenen Massnahmen des Bundesrats kritische Fragen zu stellen, ging man im Ringier-Verlag sogar so weit, alle Massnahmen der Regierung zu unterstützen. Das hat Ringier-Chef, Marc Walder, unumwunden zugegeben: «Wir hatten in allen Ländern, wo wir tätig sind – und da wäre ich froh, wenn das in diesem Kreis bleibt –, auf meine Initiative hin gesagt: ‹Wir wollen die Regierung unterstützen durch unsere mediale Berichterstattung, dass wir alle gut durch die Krise kommen.›» (S. 41) Ob das als freier und unabhängiger Journalismus gelten kann, bleibt offen. Ob Angstmacherei und Impfpropaganda geeignete Mittel sind, damit «alle gut durch die Krise kommen», wird vom Autor aus mehreren Blickwinkeln betrachtet. Er stellt die Frage: «Können wir unser Immunsystem wirklich nur mit Impfen und Boostern stärken?» (S. 42) Spätestens seit der bereits erwähnten neuen Studie aus Island ist hier Skepsis angebracht. Diese Studie gab es zur Drucklegung dieses Buches noch nicht. Umso mehr verdient der Autor Respekt, denn er versucht in seinem Artikel, verschiedene andere Methoden und Medikamente in Betracht zu ziehen und deren Erfolge oder Misserfolge in der Coronabekämpfung zu dokumentieren. Dabei stösst er auf hochinteressante Erkenntnisse, die man in den Mainstream-Medien praktisch nie gelesen hat oder die von vornherein als Scharlatanerie abgetan worden sind. Aufgrund seiner dargelegten Recherchen zieht er folgenden Schluss: «Dieses Abwägen aller Argumente, das kritische Hinterfragen, wäre eigentlich Aufgabe der ‹vierten Gewalt›. Im Falle von Corona haben die Medien ihren Part in der Demokratie schlecht gespielt. Sie haben die Antworten gewusst, längst bevor sie die Fragen gestellt haben […]. Die Leitmedien in dieser Pandemie haben nicht nur uns einen schlechten Dienst erwiesen, sondern sie haben auch ihre eigene Glaubwürdigkeit untergraben.» (S. 48)
«Gefahr, den Rechtsstaat ungebührlich einzuschränken»
Margit Osterloh und Bruno S. Frey weisen auf die Gefahren für die Demokratie hin, wenn die Politik meint, schnell und ohne demokratische Spielregeln gegen eine Ausbreitung des Virus zu reagieren: «Auch in unseren Demokratien besteht eine grosse Gefahr, den Rechtsstaat ungebührlich einzuschränken, persönliche Freiheitsrechte unnötig einzuengen und Aktivitäten der Zivilgesellschaft zu behindern.» (S. 70) Die beiden Autoren plädieren für einen offenen Diskurs, da sonst der Demokratie grosse Gefahr drohe. «Gegen eine Unterhöhlung der Demokratie und zur Aufrechterhaltung eines Rechtsstaates braucht es vor allem eine Diskussion in der Öffentlichkeit, die unterschiedliche Überlegungen und Politikmassnahmen zulässt. […] Ein demokratischer Umgang mit dem Risiko wurde vernachlässigt.» (S. 72)
«Die täglich durch die Medien verbreitete Angst vor dem Tod»
Eine mögliche Erklärung, warum die öffentliche Auseinandersetzung, die es dringend gebraucht und die vielleicht zu viel sinnvolleren Antworten auf das Virus und seine Auswirkungen geführt hätte, gibt Peter Rohner. «Die täglich durch die Medien verbreitete Angst vor dem Tod sowie die moralische Aufladung der Situation und Stimmung (‹Retten Sie Leben›) lassen eine kühle Bewertung und einen öffentlichen Diskurs aufgrund von klaren Daten nicht zu. Beruhigende Fakten zur Gesamtsituation, beispielsweise dass 99,87 Prozent der Bevölkerung die Krankheit überleben oder dass bei den Verstorbenen der Altersmedian mit 89 Jahren über der mittleren Lebenserwartung liegt, finden in den tonangebenden Medien wenig Beachtung und gehen in einer kollektiven Hysterie unter». (S. 82f) Im weiteren macht Rohner genau das, was es während der Pandemiezeit unbedingt gebraucht hätte: eine nüchterne Analyse der Realität. Ausgehend von den Prognosen der WHO, die von einer Todesrate von 3 Prozent ausging, waren es in der Schweiz 23mal weniger (Stand Ende November 2021). (S. 86)
Die Bevölkerung wurde, wie bereits erwähnt, tagtäglich mit den Todesraten der Covid-19 Krankheit konfrontiert, aber welche Auswirkungen die Massnahmen des Lockdowns oder der Teilschliessung verschiedener Einrichtungen auf das psychische Befinden vor allem junger Menschen gehabt hatte, wurde wenig reflektiert und diskutiert. Im Kapitel Gesundheit und Prävention wird diesen Folgen ausführlich Rechnung getragen. Roger Staub, ehemaliger Präsident von Pro Mente Sana, macht in seinem Aufsatz auf die psychischen Auswirkungen aufmerksam: «Wenn statt 7 Prozent (vor der Pandemie) heute 30 Prozent der Jugendlichen, also viermal mehr, schwere Depressionen haben, dann ist damit die Zahl derjenigen, die Suizidgedanken hegen, vervierfacht.» (S. 125ff.)
«Ich darf auf keinen Fall an Covid erkranken»
Pietro Vernazza, emeritierter Professor für Infektiologe, ist mit zwei Artikeln vertreten, die sich mit Prävention vor und Behandlung während einer Covid-19-Erkrankung beschäftigen. Was bei Pietro Vernazza, der mit seinem Internetportal infekt.ch die Zeit der Pandemie mit verschiedenen Artikeln begleitete, offensichtlich war, dass er sich nicht in den Strudel eines blinden Aktionismus ziehen liess, sondern an einer evidenzbasierten Vorgehensweise festhielt. In verschiedenen Diskussionssendungen legte er seinen Standpunkt dar, indem er häufig zur Vorsicht gemahnte und vor voreiligen Schlüssen warnte. Er wurde aber von den Mainstream-Medien gerne präsentiert, als ob er im Widerspruch zu seinen Berufskollegen einschliesslich der Task-Force stünde. Tatsächlich nahm er eine kritische Haltung zu verschiedenen Massnahmen und Äusserungen des Bundes ein, solange diese nicht auf Evidenz beruhten. Aufgrund seiner Untersuchungen deckt er in den beiden Artikeln denn auch einige Schwachstellen der bundesrätlichen Covid-19-Stragegie und -Politik auf. Insbesondere bemängelt er die Kommunikation: «Es fehlte eine einheitliche und klare Kommunikation des Bundes zum übergeordneten Ziel aller Präventionsmassnahmen. Im März wurde ‹Flattening the curve› zur Entlastung des Gesundheitssystems angekündigt. In der Folge haben Bund und andere Instanzen immer wieder weitere Ziele hinzugefügt: Zuerst die Senkung der Todesfallzahlen, bald wurden die Gesamtfallzahlen in der öffentlichen Kommunikation ins Rampenlicht gerückt und blieben über zwei Jahre eine wichtige Zahl in den nationalen Nachrichten. Weitere Messgrössen kamen dazu: Die positive Testrate, dann der Anteil an neuen Varianten Gamma, Delta und zuletzt Omikron.» (S. 159) Wenn man sich die Reihe von Massnahmen, die der Bund erlassen hat, ansieht, stellt sich die Frage, ob es wirklich ein Mangel an Kommunikation war oder Teil der Strategie. Es ist doch erstaunlich, wie flexibel der Staat seine Zielsetzungen ändert oder durch weitere ergänzt. Die Massnahmen blieben im Grunde genommen mehr oder weniger gleich oder wurden sogar noch verstärkt mit der 3-G-Regel, und gegen Ende des Jahres 2021 waren bei gewissen Aktivitäten ausschliesslich 2-G erforderlich. Diese einschneidenden Massnahmen waren möglich, weil, wie von Andreas Kley erwähnt, die Bevölkerung in einer Art Dauerangst gehalten wurde – die Medien leisteten einen wesentlichen Beitrag dazu – und aufgrund des Covid-19-Gesetzes, das sich nicht an den Grundsätzen der Verfassung orientiert hatte, aber durch die Bestätigung an der Urne eine nachträgliche Legitimation erhielt. Pietro Vernazza beurteilt die Strategie der «Angstmacherei» ähnlich wie Andreas Kley: «Seit Beginn der Covid-Pandemie war die Berichterstattung teilweise angstgeprägt. Auch die in der Bevölkerung weit verbreitete Vorstellung, ‹Ich darf auf keinen Fall an Covid erkranken› basiert auf weitgehend unbegründeten [vor allem durch gewisse Medien und dem BAG geschürten, Anm. d. Verf.] Ängsten. Um sinnlosen Forderungen nach einer Null-Covid-Strategie zu begegnen, wäre eine intensive Kommunikationsarbeit nötig, welche übertriebene Ängste abbaut.» (S. 161) Im weiteren Verlauf des Artikels untersucht Pietro Vernazza die einzelnen Massnahmen, die zum Erreichen der wechselnden Zielsetzungen dienen sollten, und präsentiert in seinem Fazit elf entscheidende Empfehlungen, von denen hier drei zitiert werden, die in Zukunft, also im Wiederholungsfall, Anwendung finden müssten: «Einschneidende Massnahmen sollen der epidemiologischen Lage angepasst werden […]. Präventionsmassnahmen sollen laufend evaluiert werden und deren Wirksamkeit und Nebenwirkungen überwacht werden […]. Der Einfluss der verordneten Massnahmen auf die öffentliche Gesundheit wird überschätzt. Die Mortalität scheint durch diese Massnahmen wenig beeinflussbar zu sein.» (S. 176)
«Grossflächige Einschränkungen nicht mehr gerechtfertigt»
Neben dem Lockdown, den Entschädigungszahlungen und der Maskentragepflicht bestimmten auch staatsrechtliche Fragen und die Auseinandersetzung um die Impfung seit der Entwicklung eines Impfstoffs Ende 2020 und einem immer wieder von gewissen Kreisen geforderten Impfzwang mehrheitlich die Diskussion. Die Politik des Bundesrats war völlig ambivalent und inkonsequent: «Konsequenterweise hat Bundesrat Berset am 12. Mai 2021 in der Medienkonferenz verkündet, grossflächige Einschränkungen seien nicht mehr gerechtfertigt, wenn alle Impfwilligen geimpft sind.» (S. 160) Ab Herbst 2021 galt jedoch die 3-G-Regel und gegen Ende des Jahres sogar die 2-G-Regel, obwohl ca. 65 Prozent der Bevölkerung geimpft waren. Man wollte eine Herdenimmunität erreichen. Pietro Vernazza lässt sich wie folgt vernehmen: «Bei Coronaviren wissen wir, dass ein vollständiger Schutz vor einer Infektion (sterilisierende Wirkung) nicht möglich ist, weil das Virus (dies ist Fachpersonen längst bekannt) seine Oberflächenstruktur ändert und dadurch regelmässig sogenannte ‹Escape-Mutanten› bildet. So gesehen ist es unverständlich, dass Bundesrat und BAG […] die Impfung als vollständigen Schutz anpriesen.» (S. 172) Der Bevölkerung hat man Monate weisgemacht, dass durch eine hohe Impfrate eine Herdenimmunität erreicht werden kann und damit das Ende der Pandemie. Das war nicht an der Realität orientiert.
«Macht Zwang neuerdings frei?»
Welchen Nutzen die Impfung aufgrund damaliger Erkenntnisse hatte, wird in der Analyse von Konstantin Beck mit dem vielsagenden Titel: «Ist die Impfung ein kategorischer Imperativ?» genaustens untersucht. Aufgrund der heute vorliegenden Erkenntnisse, dass trotz 1. Impfung, 2. Impfung, 1. und 2. Booster die meisten mehrmals Geimpften dennoch erkranken, lässt die in Konstantin Becks Untersuchung zitierten Aussagen, die während der Corona-Zeit geäussert wurden, bizarr erscheinen: «Impfen ist keine Privatsache, sondern eine moralische Pflicht.» oder «Wenn man die Corona-Pandemie durch einen Impfzwang beenden kann, dann muss man es endlich tun.» (S. 202) In einem Film, der sehr zu empfehlen ist, legt Konstantin Beck den Nutzen der Impfung und damit die Frage nach einem Impfzwang verständlich dar.² Die Stimmung gegen alle, die sich nicht impfen lassen wollten, war massiv. Der Druck, der auch ohne offiziellen Impfzwang auf die Menschen ausgeübt wurde, war ungeheuerlich. Im nachhinein hat sich die Argumentation für eine Impfung nahezu in Luft aufgelöst. Gegen die Omikron-Variante war kein Kraut gewachsen. Zwei-, drei-, viermal Geimpfte wurden vom Virus befallen, teilweise mehrmals. Dass der Bundesrat dennoch bereits im Frühjahr 14 Millionen Impfdosen für eine mögliche Welle 2023 bei «Pfizer» und «Moderna» gesichert hat mit der Option auf weitere 14 Millionen³, obwohl Anfang 2022 noch 34 Millionen Impfdosen⁴ übrig waren, die keiner mehr wollte, spricht Bände. Zum Glück hat der Ständerat reagiert und diesen Vorgang thematisiert und dem bundesrätlichen Ansinnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der Bundesrat musste die Verträge neu aushandeln und die Zahl der Impfdosen auf 7 Millionen reduzieren, die immerhin noch einen stolzen Preis von 220 Millionen Franken ausmachen.
Die Aussage, dass durch einen Impfzwang «die Freiheit in keinem ernstzunehmenden Sinn gefährdet» sei, kommentiert Konstantin Beck: «Das sind weniger Argumente als eine eigenartige Verdrehung der Sprache (macht Zwang neuerdings frei?) und Beschimpfungen. Wer so viel Polemik bemüht, setzt sich dem Verdacht fehlender Argumente aus.» (S. 202) Der Autor macht sich die Mühe, im «empirischen Teil des Beitrags» die Wirksamkeit der Impfung fern ab von Polemik und Emotionalisierung zu untersuchen. Dabei geht er auf verschiedene Forderungen ein, die im Zusammenhang mit der Impfung bzw. der nicht Impfung gestellt wurden. «Neben der eingangs diskutierten Forderung nach Einführung eines Impfzwangs steht auch der Ausschluss Ungeimpfter im Falle einer notwendig werdenden Triage im Raum.» (S. 216) Hier spielten vor allem unsere Medien eine ganz schlechte Rolle. Sie stellten sich mit ihren Kommentaren mehrheitlich auf die Seite des Impfzwangs und gingen in ihrer Berichterstattung so weit, diejenigen, die sich – ganz sicher aus völlig unterschiedlichen Gründen – nicht impfen lassen wollten, alle über einen Kamm zu scheren und ihnen Querulantentum, Verschwörungsängste oder unsolidarisches Verhalten vorzuwerfen. Im weiteren werden die bundesrätlichen Massnahmen auf ihre Wirksamkeit untersucht und einer kritischen Betrachtung unterzogen.
Am Schluss resümiert Konstantin Beck unter anderem, dass «sie [eine Impfpflicht, Anm. d. Verf.] auch rein sachlich kaum zu rechtfertigen» ist. «Die ethische Mindestvoraussetzung für eine allgemeine Impfpflicht wäre der Nachweis von Wirksamkeit und minimalem Schadensrisiko. Beide Nachweise konnten gestützt auf ausschliesslich amtliches Zahlenmaterial nicht erbracht werden […]. Weil trotz hoher Impfquoten die Ansteckungsraten in jüngster Zeit 50 Prozent über den Spitzenwerten seit Pandemiebeginn liegen, fällt auch das Argument der Eindämmung eines externen Effekts durch flächendeckende Impfung in sich zusammen.» (S. 218) Die Zahlen beziehen sich auf Anfang 2022. Im Verlauf des Frühjahrs wurden die Zahlen noch höher. Laut BAG geht man davon aus, dass inzwischen 90 bis 95 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus in Kontakt gekommen sind.⁵
Die kurzen hier präsentierten Ausschnitte zeigen unumwunden, dass es sehr viel aufzuarbeiten gäbe. «Der Corona-Elefant» bietet die Grundlage, sachlich und unaufgeregt, aber an Fakten orientiert, eine Diskussion anzustossen, die es dringend braucht. Wir laufen Gefahr, bei der nächsten Krise wieder emotional zu reagieren, anstatt uns an den Fakten zu orientieren.
Die Lektüre des Buchs führt dem Leser vor Augen, welche Ungereimtheiten die Corona-Zeit bestimmt haben. Zum einen wurden mit Angst und Panik die Menschen vom selbständigen Denken abgehalten. Zum anderen schränkte man die Freiheit des einzelnen massiv ein. Diese bewusst durch die mediale Berichterstattung erzeugte gesellschaftliche Paralyse erlaubte dem Bundesrat, sich über demokratische Grundsätze zu erheben. Die Mehrheit im Parlament wurde ihrer Aufgabe als Kontrollinstanz in keiner Weise gerecht, sondern überliess mehr oder weniger dem Bundesrat die Führung. Neben der Verletzung demokratischer Gepflogenheiten wurden Massnahmen beschlossen, die nicht evidenzbasiert, sondern von Unkenntnis und extremer Emotionalität geprägt waren. Die Politik im Verbund mit den Medien propagierte das Impfen als Allheilmittel und versuchte durch indirekten Zwang (3-G, 2-G), die Menschen zum Impfen zu bringen. Die damit verbundene gesellschaftliche Ausgrenzung wurde bis heute nicht aufgearbeitet. Die Behörden haben für ihre teils schwerwiegenden Fehleinschätzungen, die im Buch sichtbar werden, keine vernünftige Erklärung geliefert, geschweige denn eine Entschuldigung. Man geht zur Tagesordnung über und hofft, dass möglichst schnell Gras darüber wächst. Ob das ausreicht und so das Vertrauen wieder hergestellt werden kann, ist fraglich. Die Zukunft wird es weisen.
¹ https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Kein+Notrecht+in+der+BV
«Es gibt zu viele Wölfe in der Schweiz – sie haben keine natürlichen Feinde»
«Die Wolfspopulation muss dringend reguliert werden»
Als man die Wiederansiedlung des Wolfs in der Schweiz begann, war die Rede von maximal 6 bis 8 Wolfsrudeln, die in der Schweiz «problemlos» leben könnten. Man sprach damals von bis zu 60 Wölfen. Inzwischen wird die Zahl der Rudel auf 19 und die Anzahl der Wölfe auf 180 geschätzt. Das ist ein hoher Bestand für ein so dichtbesiedeltes Land wie die Schweiz. Seit langem werden Rufe laut, die eine Regulierung des Wolfbestands fordern und damit die Anzahl auf ein allgemeinverträgliches Mass reduzieren wollen. Diese Auseinandersetzung besteht schon seit Jahren und eine tragfähige Lösung ist bisher noch nicht gefunden worden. Es existiert vor allem eine Spannung zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung, wobei erstere häufig einer gewissen Naturromantik anhängt. Was es aber bedeutet, als Mensch direkt mit dem Wolf konfrontiert zu sein, erfahren Sie in folgendem Interview mit dem Landwirt Jakob Maute.
«Das ist die Hecke, durch die die Rinder in Panik vor dem Wolf geflüchtet sind. Normalerweise bringt man kein Tier dort hindurch.» (Bild thk)
Zeitgeschehen im Fokus Herr Maute, wir sitzen hier zusammen auf der Alp Ergeten, im «Dreiländereck» bestehend aus den Kantonen Thurgau, St. Gallen und Zürich auf ungefähr 1000 Metern über dem Meeresspiegel. Auf dieser Alp hatten Sie eine direkte Begegnung mit einem Wolf. Wie hat sich das zugetragen?
Jakob Maute Für mich kam das natürlich völlig überraschend. Ich hatte an diesem Tag, es war im August, meinem Sohn beim Heuen geholfen und bin gegen 22 Uhr auf die Alp zurückgekehrt. Mein erster Gang war zu den jungen Rindli, meinen Schutzbefohlenen, und ich überzeugte mich, dass bei ihnen alles in Ordnung war. Bei mir haben alle Tiere eine Glocke um, so dass man sie auch in der Dunkelheit immer finden kann. Hier oben ist es in der Nacht stockdunkel. Man sieht nichts. Gegen 22:30 Uhr ging ich ins Bett. Nach ungefähr einer Stunde wachte ich auf, weil irgendetwas anders war als sonst.
Was war denn anders?
Dazu muss ich kurz etwas erzählen. Ich bin ein grosser Fan von Glocken und binde «meinen» Rindli gerne wohlklingende Glocken um den Hals. Hier auf der Alp bringen die Bauern vom Tal ihr Vieh zu mir, und ich hänge diesen dann schöne Glocken um. Und das war für diese Nacht etwas sehr Entscheidendes. Denn es war eine grosse Hektik innerhalb der Herde entstanden. Das konnte ich allein an dem Geläut der Glocken feststellen. Irgendetwas war los. Aber ich hatte keine Ahnung was.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Ich habe den grossen Scheinwerfer gepackt und sofort das Haus verlassen, stieg aufs Velo und fuhr in Richtung Herde. Ich war völlig ahnungslos. Hatte keine Vorstellung, was das sein könnte. Ich bin zu den Rindern gelaufen, unter denen eine grosse Hektik herrschte. Als sie mich sahen, kamen sie alle auf mich zu und haben meine Nähe gesucht. Wenn sie gekonnt hätten, wären sie am liebsten in mich hineingekrochen. Mit dem Scheinwerfer leuchtete ich ihre Augen an und konnte die Panik und die Angst, die diese Hektik ausgelöst hatte, erkennen. Ich habe mit ihnen gesprochen und versucht, sie zu beruhigen.
Hatten Sie zu diesem Zeitpunkt noch keine Vermutung, was die Ursache sein könnte?
Ich muss Ihnen ehrlicherweise sagen, ich hatte keine Ahnung. Und ich behaupte auch nicht etwas, nur damit es eine gute Story gibt. Ich konnte mir absolut keinen Reim darauf machen. Ich habe zwar die unruhigen Bewegungen der Tiere und die panischen Augen gesehen, aber ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, wer und was das ausgelöst hatte.
Gibt es hier oben Luchse?
Wir haben zwar den Luchs hier oben, aber er treibt die Tiere nicht. Der lauert ihnen an einer für ihn günstigen Stelle auf. Ich konnte aber nichts Derartiges erkennen. Nach einer halben Stunde hatte sich die Herde wieder beruhigt. Kurze Zeit später begann es in der zweiten Herde zu gären. Insgesamt habe ich drei getrennte Herden zu betreuen. Die zweite Herde ist durch einen Staudenhaag abgetrennt, der so eng bewachsen ist, dass kein Tier freiwillig dort hindurchgeht. In einer Panik sind die Rinder aber durch diese Hecke gerannt und kamen ebenfalls in meine Nähe. In diesem Moment ist es mir recht eingefahren. Ich habe die Umrisse eines Tiers gesehen, das recht gross war und ein Wolf hätte sein können. Ich konnte das fast nicht glauben, war mir aber auch nicht ganz sicher. Doch dank meines Scheinwerfers hat sich das Tier nicht näher herangewagt.
Konnten Sie die zweite Herde beruhigen?
Nach etwa einer Stunde waren die Tiere wieder einigermassen ruhig. Ich war froh, dass sie zu der ersten Herde geflüchtet sind und nicht irgendwohin. Das hätte eine lange Suche nach den verängstigten Tieren zur Folge gehabt. Kurz darauf begann der vermeintliche Wolf, die dritte Herde zu treiben. Ich begab mich sofort dorthin und im Scheinwerferlicht konnte ich das Tier diesmal gut erkennen. Es war ein Wolf. Für mich war klar, dass ich die ganze Nacht bei meinen Tieren bleiben muss.
Kam keines Ihrer Tiere zu Schaden?
Am nächsten Morgen habe ich gesehen, dass das kleinste der Rindli am Hals eine Wunde hatte. Sie war nicht gravierend. Ich habe den Wolf bei seinem Vorhaben gestört und rechtzeitig vertreiben können. Das hat mich im nachhinein mehr beschäftigt als in der Situation selbst, bei der es nur darum ging, die Tiere vor dem Angreifer zu schützen. Es wäre mir auch gar nicht in den Sinn gekommen, jemanden zu Hilfe zu rufen, ich habe einfach reagiert. Dass es sich tatsächlich um einen Wolf gehandelt hatte, bestätigte eine in der Nähe aufgestellte Fotofalle.
Was sind Ihnen für Gedanken nach der direkten Begegnung mit dem Wolf durch den Kopf gegangen?
Hier oben hat es im Umkreis von 2 Kilometern keine Menschenseele. Man ist in der Situation ganz auf sich allein gestellt. Es hinterlässt schon ein mulmiges Gefühl, mit einem Wolf eine direkte Konfrontation zu haben. Man kann sich nicht vorstellen, was das für einen bedeutet, bis man es selbst erlebt hat. Man kennt vielleicht die Angst, wenn ein grosser Hund auf einen zukommt. Aber der ist in der Regel an der Leine und irgendjemand ist für ihn verantwortlich. Aber ein Wolf ist ein Wildtier. Das ist eine ganz andere Dimension.
Ist es nicht auch aussergewöhnlich, dass der Wolf so nah an eine bewohnte Alp kommt?
Ja, das ist das nächste Problem. Das Tier hat seine Scheu vor dem Menschen verloren, und das ist ganz schlecht. Die Wölfe kommen bis an die Ställe, und wenn der Bauer aus dem Haus kommt, weichen sie kaum zurück, sondern fangen an zu knurren. Jeder gewöhnliche Hund würde zurückweichen. Der Wolf tut das nicht. Vor vier Jahren war ich im Bündnerland, in Schluein, bei einer bekannten Familie auf Besuch. Wir sprachen über vieles, auch über den Wolf. An diesem Ort kommen vier Rudel zusammen. Das ist gefährlich, so dass sie nicht einmal mehr vom Wohnhaus allein auf die Alp laufen. Das ist jetzt vier Jahre her, inzwischen hat sich die Situation massiv verschärft. Sie fahren auch ihre Kinder in die Schule, denn die Unsicherheit ist zu gross. Der Wolf hat vor dem Menschen keine Angst, und das ist ein Alarmzeichen.
Die Alp Ergeten. (Bild thk)
Das scheint kein Einzelfall zu sein. Das Beverin-Rudel, das jetzt überall durch die Medien geht, ist aus diesem Grund problematisch.
Wenn der Wolf keinen Respekt mehr vor dem Menschen hat, dann haben die Menschen verloren. Was hier geschah, dass ein Wolf einen Menschen anknurrte, wird häufig gar nicht gemeldet, weil es darauf zu wenig Resonanz gibt, denn die Politik will den Wolf, und dazu ist nahezu jedes Mittel recht. Der Wolf ist ein Raubtier und müsste vor dem Menschen Respekt haben. Alles andere ist sehr gefährlich.
Neben der persönlichen Begegnung sind Sie auch durch einen Wolf geschädigt worden. Was war hier geschehen?
Mein Sohn, der den Hof übernommen hat, liess am Abend die Kühe auf die Weide, und in der Nacht ist es eskaliert, und ein Rindli ist gerissen worden. Natürlich wurde das alles abgetan mit der Begründung, in der Nachbarschaft lebe eine Frau mit Wolfshunden und die hätten das Rindli gerissen. Aber der Beweis ist eindeutig. Der Wolf ist in die Fotofalle gelaufen. Was die Behörden nachher beschäftigt hat, war die Fotofalle. Wer hat diese aufgestellt? Derjenige soll dafür gebüsst werden. Das war das Wichtigste. Alles, was Realität ist, wird beiseitegeschoben. Die «Jagdmethode» lässt vermuten, dass es mehr als nur ein Wolf gewesen ist. Das Schaf, das zur gleichen Zeit gerissen wurde, war durch einen Zaun geschützt, aber das hat den Wolf nicht abgehalten. Er springt problemlos darüber.
Hat dieser Vorfall Konsequenzen gehabt?
Eigentlich ist die ganze Sache im Sand verlaufen. Ein riesiger Aufwand, hohe Kosten, aber der Verlust des Tieres ist bis heute nicht entschädigt worden.
Mit der Begründung, es sei kein Wolf gewesen?
Ja, man will es nicht wahrhaben. Es darf nicht sein. Dazu kommt noch etwas. Wenn ein Rind gerissen wird, dann ist es kurzzeitig ein Thema. Dass aber ein Wolf auf der Alp mehrere Tiere hetzt und treibt und dabei immer wieder Tiere abstürzen und sich dabei schwer verletzen oder gar zu Tode kommen, interessiert eigentlich keinen. Wenn dabei mehrere Tiere sterben, gibt es keine Entschädigung, auch wenn der Wolf die Ursache für die Todesstürze ist. In unserem Fall musste das tote Tier sofort wegeschafft werden. Damit sind natürlich alle Spuren vernichtet. Die Menschen sollen das nicht sehen, damit die Wahrheit nicht ans Licht kommt.
Jakob Maute mit seinen «Schutzbefohlenen». (Bild thk)
Man gewinnt bei dieser Wolfsdebatte, die seit bald 20 Jahren anhält, immer mehr den Eindruck, dass die Bevölkerung möglichst unkritisch der Sache gegenüberstehen soll und die Schäden, die durch den Wolf angerichtet werden, unentdeckt bleiben.
Ja, dazu gehört noch, dass der Wolf seine Beute häufig nicht tötet, sondern er ringt sie nieder und frisst sie lebendig aus. Das kann einen halben Tag gehen oder auch zwei Tage. Je nachdem, wie lange das Tier noch lebt. Es gibt Bilder von Schafen oder Geissen mit herausgerissenen Gedärmen und anderen Eingeweiden, ein fürchterliches Bild. Wer das sieht, der wird sofort sagen: Das geht nicht, das kann man nicht zulassen. Für das Beutetier ist es ein elendes und schmerzvolles Verrecken.
Es ist ganz klar, es gibt zu viele Wölfe in der Schweiz. Sie haben keine natürlichen Feinde. Die Wolfspopulation muss dringend reguliert werden. Für mich ist es schon 5 nach 12. Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, wird der Wolf sich immer stärker vermehren. Jäger und Wildhüter haben den Auftrag, Wildtiere auf ein vernünftiges Mass zu dezimieren, damit das natürliche Verhältnis von Vegetation und Tierbestand erhalten bleibt. Warum macht man das nicht beim Wolf? Warum müssen erst mehrere Tiere elendiglich verrecken, bevor man nach einem langen Prozedere den Wolf schiessen darf? Der Wolf ist nicht bedroht. Sachlich gibt es keinen Grund dagegen, den Bestand auf ein sinnvolles Mass zu regulieren.
Herr Maute, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser