Nie wieder Krieg!

Vor 100 Jahren bekam das Internationale Komitee vom Roten Kreuz den Friedensnobelpreis

von Thomas Kaiser

Die erschütternden Eindrücke, die der Schweizer Henry Dunant von der Schlacht bei Solferino 1859 in sich aufnahm und die er in seinem Buch «Eine Erinnerung an Solferino» verarbeitete, legten den Grundstein für die Entstehung der grössten humanitären Organisation der Welt, des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und der nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondorganisationen. Vor 100 Jahren, am 10. Dezember 1917, inmitten des Schlachtengeheuls des Ersten Weltkriegs wurde dem IKRK der Friedensnobelpreis verliehen.

Wenn wir uns daran erinnern, mag die Frage erlaubt sein: Welche Bedeutung hat das IKRK heute in einer Welt, die vom globalen Frieden immer noch weit entfernt ist? – Eine unersetzliche! Denn niemand weiss, wie die Welt aussähe, wenn wir das Rote Kreuz und den Roten Halbmond, die arabische Schwesterorganisation, nicht hätten. Die Menschheit wäre um einen Ort der Menschlichkeit ärmer, der Entscheidendes zur Entwicklung des humanitären Gedankens beigetragen hat und für viele Menschen in Not ein letztes Zeichen der Hoffnung darstellt. Dennoch muss die Frage gestellt werden, warum es bis heute nicht gelungen ist, die einhellige Forderung «Nie wieder Krieg!» für alle Menschen Realität werden zu lassen.

Völlig unvorbereitet und unerwartet gelangt der junge Genfer Kaufmann Henry Dunant im Juni 1859 auf das Schlachtfeld von Solferino und erfährt das nackte Grauen des Krieges. Die Schlacht ist bereits geschlagen, aber der Ort des Geschehens übersät mit Verwundeten und Toten, ohne dass irgendeine Menschenseele den um ihr Leben Ringenden, schwer Verwundeten oder Sterbenden beigestanden wäre.

Zutiefst berührt von diesem (un)menschlichen Schicksal, stellt Dunant seine persönlichen Anliegen, die ihn nach Oberitalien geführt haben, in den Hintergrund und nimmt sich der bedauernswerten Menschen mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung an. «Siamo tutti fratelli» (Wir alle sind Brüder) ist die Losung, die durch die zum Lazarett gewandelte Kirche von Castiglione, einem Ort in der Nähe Solferinos, hallt. Beseelt von dieser inneren Überzeugung, die den Verletzten Zuversicht gibt und den Hilfeleistenden Ansporn ist, leistet Dunant zusammen mit den Freiwilligen, vor allem Helferinnen, Übermenschliches, um das Leid der Betroffenen wenigstens ein bisschen zu lindern. «Siamo tutti fratelli» verlangt, dass nur noch das menschliche Leiden im Mittelpunkt steht, ungeachtet dessen, welchen Soldatenrock der Verwundete trägt. Dieses Ereignis ist die Geburtsstunde des internationalen humanitären Gedankens, der in der Gründung des Roten Kreuzes seinen höchsten Ausdruck findet.

«Eine Erinnerung an Solferino»

Zurück in Genf liessen Henry Dunant die Bilder der Verwundeten und Toten von Solferino nicht mehr los. Im Jahre 1862 legte er mit seinem Buch «Eine Erinnerung an Solferino» die Grundlage für die Gründung einer Hilfsorganisation, deren weltweite Anerkennung er mit ganzer Kraft und Überzeugung verfolgte. Seine Schrift stiess in und ausserhalb der Schweiz auf grosses Interesse, so bei verschiedenen Staatsoberhäuptern, Regierungen, Fürsten, hohen Offizieren, Ärzten, aber auch bei einer breiten Öffentlichkeit. In der Schweiz fand der Gedanke, das Leid, das Kriege verursachen, zu lindern, grossen Anklang. Auf Beschluss der Genfer Gemeinnützigen Gesellschaft wurde ein Komitee gegründet, das sich im Februar 1863 zu der ersten konstituierenden Sitzung traf und sich den Namen «Internationales Komitee für die Sicherheit von Kriegsverwundeten» gab. 1875 wurde es in «Comité international de la Croix-Rouge» (Internationales Komitee vom Roten Kreuz) umbenannt. Mitbegründer dieses Komitees waren neben Henry Dunant Guillaume-Henri Dufour, der Schweizer General im Sonderbundskrieg 1847, die beiden Ärzte Louis Appia und Théodore Maunoir sowie der Rechtsanwalt Gustave Moynier, der mehrere Jahrzehnte als Präsident des Komitees amtete. Im Oktober 1863 fand die erste internationale Konferenz in Genf statt. Anwesend waren 31 Persönlichkeiten, die neben vier privaten Organisationen 16 verschiedene Regierungen repräsentierten. Ein durchschlagender Erfolg. 

Grundstein für das humanitäre Völkerrecht gelegt

Auf dieser Konferenz werden die bis heute gültigen Grundsätze der Organisation definiert. Hier wird das rote Kreuz auf weissem Grund als Kennzeichen der Rotkreuz-Bewegung festgelegt, die Umkehrung des Schweizer Hoheitszeichens. Hans Haug schreibt in seinem umfassenden Werk über die Geschichte des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds: «Die von der Konferenz gefassten Beschlüsse und Wünsche sind als Akt der Gründung des Roten Kreuzes zu verstehen, umfassen sie doch die gesamten Grundlagen, auf denen das heutige Hilfs- und Vertragswerk des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds beruht.»1 Diese Grundlagen verfeinern sich im Laufe der Jahrzehnte und werden als immerwährende Werte «in der Präambel der Statuten der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung von 1986»2 festgehalten: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit, Universalität.

Ein Jahr später nur, 1864, wird der Grundstein für das humanitäre Völkerrecht gelegt: Die Verabschiedung der «Ersten Genfer Konvention betreffend die Linderung des Loses, der im Felddienst verwundeten Militärpersonen» ist ein Meilenstein. In den nächsten Jahrzehnten entstehen weitere drei Konventionen, die den Schutz aller Wehrlosen, auch Gefangenen und Zivilpersonen verlangen. «So ist aus dem sachlich begrenzten und bescheidenen Vertrag von 1864 ein imposantes Vertragswerk erwachsen, das für Opfer des Krieges unendlichen Segen stiften sollte, das aber auch dank seiner ethischen Substanz als Antithese zum Krieg und als Beitrag zum Frieden gelten darf.»3

Repatriierung schwer Kranker oder Verwundeter

Eine Herausforderung ungeahnten Ausmasses stellte die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg, dar; der Krieg, der mit allen Kriegen Schluss machen sollte. Hier waren vor allem die nationalen Rotkreuz-Gesellschaften gefordert, aber auch das Internationale Komitee leistete einen fast übermenschlichen Beitrag. Das Engagement galt nicht der Versorgung von verwundeten und kranken Militärpersonen – das übernahmen die nationalen Gesellschaften – sondern es setzte sich mit ungeheurem Engagement zugunsten der Kriegsgefangenen ein. Dazu errichtete das IKRK einen zentralen Such- und Auskunftsdienst, in dem vornehmlich Freiwillige einen immensen Einsatz leisteten. Bis zum Ende des Krieges hatte die «Agence internationale des prisonniers de guerre» 5 Millionen Karteikarten ausgestellt und ein Vielfaches an Briefen vermittelt. 

Sehr bedeutsam und menschlich einmalig war der Einsatz zur Repatriierung schwer Kranker oder Verwundeter. Im Zuge dessen kamen 68 000 verwundete Kriegsgefangene aller kriegführenden Parteien in die neutrale Schweiz, um sich dort zu kurieren. Auf Initiative des Roten Kreuzes unterschrieben 1917, also noch während des Krieges, Frankreich und das Deutsche Reich ein Abkommen, das die maximale Dauer der Kriegsgefangenschaft auf 18 Monate begrenzte. Zusätzlich bemühte sich das Rote Kreuz um eine Verbesserung der Lage von Zivilpersonen. Das gehörte zwar nicht zu seinem direkten Aufgabenbereich, entbehrte also einer rechtlichen Grundlage, dennoch bestand eine innere Verpflichtung dazu. Der unter der bestehenden Agence entstandene besondere Such- und Auskunftsdienst leistete Unschätzbares, um auseinandergerissene Familien wieder zusammenzuführen. 

Für dieses Engagement verlieh das Osloer Nobel-Preis-Komitee 1917 dem Internationalen Komitee vom Rote Kreuz den Friedensnobelpreis. Es war die einzige Ehrung, die während des Ersten Weltkriegs stattfand. Das Nobel-Komitee hatte zunächst beschlossen, während des Krieges keine Preise zu verleihen, machte aber aufgrund des humanitären Wirkens des IKRK eine Ausnahme. 

Die Preisverleihung fand damals in einem kleinen, sehr bescheidenen Rahmen statt. Kein Vertreter des IKRK war anwesend, nur der Sekretär des Nobelkomitees hielt eine kurze Ansprache, die nicht einmal überliefert ist. Dennoch war die Verleihung des Preises eine grosse Stärkung des Rotkreuz-Gedankens und eine Anerkennung der unermüdlichen, vornehmlich freiwilligen Arbeit für mehr Menschlichkeit und Frieden.

Krieg nicht mehr führbar

Wenn wir heute, 100 Jahre später, dieses grossartigen Werks des Genfer Henry Dunants gedenken – denn ohne dessen menschliches Engagement und weise Voraussicht wäre diese Organisation nicht gegründet worden –, stellt sich dringender denn je die Frage, wo die Menschheit in bezug auf den Frieden und ein friedliches Zusammenleben der Völker heute steht. Mit dem humanitären Völkerrecht, bestehend aus den vier Genfer Konventionen, die unzählige Staaten unterzeichnet und sich damit zu deren Einhaltung verpflichtet haben, ist Krieg nicht mehr führbar. Wer diese Regeln anerkennt, kann nicht mehr zu den Waffen greifen, sondern muss die Konflikte friedlich lösen. 

Wenn wir die letzten 100 Jahre Revue passieren lassen und uns vor Augen führen, wie viel menschliches Leid und Elend die seit dieser Zeit geführten Kriege verursacht haben, dann müssen wir uns fragen: Sind wir Menschen tatsächlich nicht zu mehr in der Lage, als immer wieder Kriege zu führen, neuste Waffen zu entwickeln, die noch schneller und noch effizienter töten? Entspricht es dem Menschen, sein Gegenüber zu töten, wenn er die eigenen Interessen gefährdet sieht? Die Antwort ist eindeutig: Nein, nie und nimmer! Wenn man die Menschen fragt, was sie sich für die Zukunft wünschen, dann steht an oberster Stelle immer der Frieden. In einer Filmsequenz aus dem Ersten Weltkrieg sind Kampfhandlungen kurz vor Abschluss des Waffenstillstands gefilmt worden. Die Soldaten auf beiden Seiten schiessen und stechen aufeinander ein wie von Sinnen. Kurze Zeit später sind die Kampfhandlungen beendet – auf Befehl von oben. Es herrscht Waffenstillstand. Dieselben Soldaten, die sich Minuten vorher noch bekämpft haben, teilen jetzt ihre Zigaretten und liegen sich in den Armen: Der Krieg ist endlich aus, die Feindseligkeiten beendet. Die Menschen, die das erlebt haben, sind meist für den Rest ihres oft jungen Lebens traumatisiert.

Künftige Geschlechter vor der Geissel des Kriegs bewahren

Die Schrecken des Ersten und insbesondere des Zweiten Weltkriegs haben zur Gründung von zwei internationalen Organisationen geführt. Im Jahre 1920 wurde der Völkerbund ins Leben gerufen und 1945 die Vereinten Nationen, um den Weltfrieden zu wahren. In der Präambel der Uno-Charta heisst es denn auch trefflich: «Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geissel des Kriegs zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,...»4 Die Nürnberger Prozesse zur Aufarbeitung der Verbrechen unter der Nazi-Herrschaft in Deutschland haben die «Planung, Vorbereitung, Einleitung und Durchführung eines Angriffskrieges» als Hauptkriegsverbrechen gesehen, für das die Verantwortlichen des Nazi-Regimes verurteilt werden sollten.5 Der Chefankläger, der US-amerikanische Richter, Robert Jackson, hat damals betont, dass sich in Zukunft alle Regierungen daran messen lassen müssten, auch die eigene.6 Wer weiss das heute noch?

Der kürzlich veröffentlichte Bericht des Internationalen Friedensforschungsinstitut in Stockholm (SIPRI) präsentiert die neusten Zahlen zur Rüstung. Darin hält der Bericht fest, dass weltweit noch nie so viel für Waffen ausgegeben wurde wie im letzten Jahr. Das Geschäft blüht. Der Krieg ist ein einträgliches Geschäft. Das thematisierte am 17. Januar 1961 der US-amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower, als er in seiner Abschiedsrede vor der Macht des militärisch-industriellen Komplexes warnte⁷. Es ist tatsächlich ein riesiges Geschäft und liegt nicht etwa in der Natur der Menschen begründet. Krieg ist das Abscheulichste, was sich die Menschheit ausgedacht hat. Denn es sind die Menschen, die Mächtigen in einem Staat, die den Krieg vorbereiten und durchführen, aber es sind die «kleinen Leute», die in den Krieg ziehen müssen und dabei ihr Leben verlieren. Wenn wir «Nein» sagen, wie es Wolfgang Borchert in seinem Aufruf «Dann gibt es nur eins!» formuliert hat, wird der Krieg ein Ende haben.8 Das klingt sehr einfach, aber genauso ist es. Der Krieg ist von Menschen gemacht, und diese können ihn auch verhindern. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts gab es einen Spruch, der hiess: «Stell’ Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.» 

Friedliche Lösung von Konflikten am Verhandlungstisch

Heute im Jahre 2017 werden wir in Europa Weihnachten, das christliche Fest der Liebe, des Friedens und der Versöhnung, nicht während eines grossen Weltkriegs begehen müssen, wie es unseren Vorfahren vor 100 Jahren ergangen ist. Aber wir leben in einer Welt mit Kriegen, und Menschen in anderen Regionen sind in vielen Fällen schon seit Jahren vom Schrecken des Krieges heimgesucht, ohne dass sie das je wollten. Das müsste nicht sein. Wollen wir es zulassen, dass nachfolgende Generationen erstaunt feststellen müssen: 2017, hundert Jahre, nachdem das Rote Kreuz mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden ist, sind die Menschen noch nicht weiter. Krieg wird immer noch als Mittel der Auseinandersetzung propagiert, obwohl internationale Abkommen und Verträge existierten, die es ermöglichten, alle Konflikte friedlich zu lösen. Henry Dunant, und das ist sein grosses Verdienst, konnte etwas Menschlichkeit in den unmenschlichsten Vorgang schlechthin bringen. Dass er damit eine Entwicklung eingeleitet hat, die Kriege grundsätzlich nicht mehr möglich macht, hätte er sich wahrscheinlich nicht träumen lassen. Wenn wir uns in der Tradition dieser Entwicklung sehen wollen, dann gibt es nur eins: friedliche Lösung von Konflikten am Verhandlungstisch mit der unumstösslichen Überzeugung, dass Krieg ohne unsere Zustimmung nicht stattfinden kann. Deshalb muss zum Wohle der Menschheit der Entscheid über Krieg und Frieden in die Hände der Völker gelegt werden.

Es gibt unzählige Untersuchungen, warum es zu Kriegen kommt. Ein wichtiger Faktor dabei ist Propaganda und Manipulation. Die Menschen wollen niemals Krieg, das wissen auch diejenigen, die mit Krieg Geld verdienen wollen. Darum bearbeiten sie die Menschen, bis sie daran glauben, dass nur noch eine militärische Lösung möglich sei. Deshalb ist es wichtig, dass jeder die feste Überzeugung in sich trägt: Es gibt immer eine Lösung ausserhalb einer gewalttätigen Auseinandersetzung. Krieg ist nie gerechtfertigt, auch wenn die Situation noch so verfahren scheint. Jedes Leben ist so kurz und einmalig, es darf nicht für die Interessen einiger weniger geopfert werden. Wenn man sich dessen bewusst ist, hat der Frieden eine Chance. Dann werden Kriege als traurige Ereignisse ein Teil unserer oft leidvollen vergangenen Geschichte sein. 

1 Hans Haug: Menschlichkeit für alle – Die Weltbewegung des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds, Bern 1995, S. 31

2 Ebenda, S. 671

3 Ebenda, S. 35

4 Uno-Charta, http://www.unric.org/de/charta

5 «To initiate a war of aggression is not only an international crime; it is the supreme international crime, differing only from other war crimes in that it contains within itself the accumulated evil of the whole» inTrial of the Major War Criminals, Nürnberg 1947, Band 22, S. 427

6 «Lassen Sie es mich deutlich aussprechen: Dieses Gesetz hier wird zwar zunächst auf deutsche Angreifer angewandt. Es schliesst aber ein und muss, wenn es von Nutzen sein soll, den Angriff jeder anderen Nation verdammen, nicht ausgenommen die, die hier zu Gericht sitzen.» In Trial of the Major War Criminals, Nürnberg 1947, Band 2, S. 191 

https://www.youtube.com/watch?v=tM6HX6LErSI

8 Wolfang Borchert: Dann gibt es nur eins! In: Draussen vor der Tür, Hamburg 1987, S. 110f

Die Rechtsstaatlichkeit muss sich zur Vorherrschaft der Gerechtigkeit entwickeln 

von Professor Dr. iur. et phil. Alfred M. de Zayas 

Die Rechtsstaatlichkeit ist eine Säule der Stabilität, Vorhersehbarkeit und des demokratischen Ethos. Ziel und Zweck ist es, der menschlichen Person zu dienen und schrittweise die Menschenwürde in grösserer Freiheit zu erreichen. 

Weil das Recht Machtungleichgewichte widerspiegelt, müssen wir sicherstellen, dass das Ideal der Rechtsstaatlichkeit nicht einfach instrumentalisiert wird, um den Status quo durchzusetzen, Privilegien zu erhalten oder die Ausbeutung einer Gruppe durch eine andere zu verewigen. Die Rechtsstaatlichkeit muss ein Prinzip sein, das Flexibilität ermöglicht, und den kontinuierlichen demokratischen Dialog begrüsst, um die von einer sich entwickelnden Gesellschaft geforderten Reformen zu ersinnen und umzusetzen. Es muss eine Vorherrschaft des Gewissens, des Zuhörens und der aktiven Beteiligung sein.

Im Laufe der Geschichte wurde das Gesetz allzu oft von politischer Macht manipuliert und es kam zu einer Art Diktatur durch das Gesetz, in der Menschen ihrer individuellen und kollektiven Rechte beraubt und das Gesetz selbst zum Hauptinstrument ihrer Entrechtung wurde. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass Recht nicht mit Gerechtigkeit gleichgesetzt werden kann und dass Gesetze angenommen und durchgesetzt werden können, um Missbrauch aufrechtzuerhalten und Ungerechtigkeit zu zementieren. Dementsprechend sollte jede Berufung auf die Rechtsstaatlichkeit innerhalb eines menschenrechtsorientierten Rahmens kontextualisiert werden.

Schon in Sophokles' Antigone erlebten wir den Konflikt zwischen dem willkürlichen Gesetz von König Kreon und dem ungeschriebenen Gesetz der Menschheit, das Antigone vertrat. Die Durchsetzung des ungerechten Gesetzes durch Kreon brachte allen Unglück. In römischer Zeit galt die Maxime «dura lex, sed lex» (das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz), die durch Ciceros weise Mahnung gemildert wurde, dass «summum ius summa iniuria» (höchstes Gesetz ist höchste Ungerechtigkeit –  Cicero: de officiis 1, 10, 33). Das heisst, blinde Anwendung des Gesetzes kann grosse Ungerechtigkeit verursachen. Die Forderung, dass «das Gesetz eingehalten werden muss», wurde von den Helden der Menschenrechte seit Tausenden von Jahren angefochten. Spartacus kämpfte gegen die römischen Sklavengesetze und bezahlte mit seinem Leben. Die Sklaverei blieb bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verfassungsgemäss und rechtmässig; Kolonialismus war bis zu den Entkolonialisierungsprozessen der 1950er, 60er und 70er Jahre verfassungsmässig und legal; die Nürnberger Gesetze von 1935 waren verfassungsgemäss und legal; Apartheid war verfassungsgemäss und legal; die Segregation in den USA war verfassungsgemäss und legal (siehe zum Beispiel das Urteil des US-Supreme-Court Plessy gegen Ferguson). Wer kennt nicht Victor Hugos «Les Misérables» und damit auch nicht die Auseinandersetzung zwischen dem Polizeikommissar Javert (dura lex, sed lex) und dem guten Jean Valjean (Primat der Menschlichkeit)? [siehe Kasten]

Ziviler Ungehorsam ist oft genug notwendig, um den Status quo zu verändern. Allerdings nicht überall und verallgemeinert, sondern nur dann, wenn das Gesetz missbraucht worden ist, um das Wesen der Menschen zu unterdrücken bzw. um Privilegien und soziale Ungerechtigkeiten zu zementieren. Henry David Thoreau, Zaghioul Pascha, Michael Collins, Dietrich Bonhoeffer, Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela, Ken Saro Wiwa, Mohamed Bouozizi haben gegen die jeweiligen Gesetze protestiert. Ihr Widerstand war legitim und notwendig, um Beispiele zu geben und Reformen einzuleiten – aber sie alle litten unter den Konsequenzen, weil sie sich gegen den blinden Positivismus, den Fetischismus des Rechtsstaates, wandten.

Die Demokratie im 21. Jahrhundert verlangt, dass die Rechtsstaatlichkeit aufhört, die Herrschaft der Macht zu sein, wenn Macht Recht, Geopolitik und Wirtschaft bestimmt. Die Rechtsstaatlichkeit muss die Würde des Menschen in die Gleichung einbeziehen und den Menschen Freiheit, Entfaltung, Selbstbestimmung und Referenden ermöglichen, bzw. direkte Demokratie. Die Rechtsstaatlichkeit muss sich zur Vorherrschaft der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens entwickeln.

Heute noch gibt es genug Beispiele von blinder Anwendung der Gesetze, z. B. die Verfolgung Julien Assanges durch die britische Justiz –, nur weil er die Kautionsbedingungen verletzte, als er aus sehr guten Gründen in die ecuadorianische Botschaft in London flüchtete, wo er auch Asyl bekam.

Übersetzung Zeitgeschehen im Focus

In der Erzählung «Les Misérables» von Victor Hugo haben wir eine Auseinandersetzung zwischen «dura lex, sed lex», (das Gesetz muss eingehalten werden), verkörpert in der Person des Polizeikommissars ­Javert, und auf der anderen Seite den Menschen in der Figur des Jean Valjean. Er ist ein normaler Mensch, seine Schwester ist krank, und das Kind der Schwester liegt im Sterben. Da sie nichts zu essen haben, stiehlt er ein Brot. Dabei wird er geschnappt und muss wegen dieses Diebstahls für 19 Jahre in einem Zuchthaus leiden, in dem die Verurteilten wie Sklaven gehalten werden. Nachdem er aus dem Kerker befreit worden ist, dauert es eine Weile, bis er seinen eigenen Weg, seinen Platz in der Gesellschaft wiederfindet. Dies gelingt ihm dank eines Priesters, der ihm mit Menschlichkeit beisteht. Jean Valjean wird ein erfolgreicher Unternehmer, der es zu Reichtum bringt, aber Javert verfolgt ihn ständig. Jean Valjean setzt sich sein Leben lang für das Gemeinwohl ein und tut nur Gutes. Der Schluss, den man daraus zieht, ist, dass das Gesetz eine gewisse Flexibilität aufweisen muss. Es muss auch Raum geben für die Rehabilitation von Menschen und muss berücksichtigen, dass der Mensch viel Gutes in sich trägt. Das Gesetz ist keine Mathematik. 

«Produzierende Bauernbetriebe gehören zu unserer Kultur, unserer Identität»

Interview mit Nationalrat Thomas Egger

Nationalrat Thomas Egger (Bild thk)
Nationalrat Thomas Egger (Bild thk)

Nachdem Bundesrat Schneider-Ammann Anfang November die zukünftigen Vorstellungen seiner Landwirtschaftspolitik präsentiert hatte, hagelte es geharnischte Kritik nicht nur aus bäuerlichen Kreisen. Besonders betroffen wären bei Umsetzung dieses Programms kleinere Bauernhöfe, aber letzlich jede Bürgerin und jeder Bürger. Im folgenden Interview legt Thomas Egger, Direktor der SAB und Nationalrat seine persönliche Sicht der Dinge dar. 

Zeitgeschehen im Fokus Nach dem Bericht von Bundesrat Schneider-Ammann soll die Zukunft der Landwirtschaft und damit der Landesversorgung in einer weiteren Marktöffnung liegen. Das hat zu grossem Unmut nicht nur in der Bauernschaft geführt. Wie beurteilen Sie diesen Schritt? 

Nationalrat Thomas Egger Der Bericht des Bundesrates vom 1. November ist eine Kriegserklärung an die Bauernschaft. Es ist nicht nachvollziehbar, warum vom Bundesrat so ein unnötiger Frontalangriff auf die Landwirtschaft vollzogen wird, der im besonderen die Bauernbetriebe in den Berggebieten betrifft. 

Was sind die negativen Punkte des Berichts?

Wenn ich den Bericht kurz zusammenfasse, dann steht dort darin, dass es der Landwirtschaft nach Auffassung des Bundesrates gut gehe – was völlig an der Realität vorbeizielt – und sie deshalb neue Herausforderungen brauche. 

Was sollen das für «neue Herausforderungen» sein?

Die sieht der Bundesrat in einer vollständigen Marktöffnung, damit die Landwirtschaft den Strukturwandel vorantreiben kann. Das ist arrogant gegenüber den Landwirten, die tagtäglich unter schwierigen Bedingungen eine enorme Leistung erbringen, und kommt einer unnötigen Kriegserklärung gegenüber der Landwirtschaft gleich.

Warum geht es der Landwirtschaft nicht gut?

Wir befinden uns seit Jahren im sogenannten Strukturwandel, und der ist massiv. Wir verlieren in den Berggebieten pro Woche 13 Landwirtschaftsbetriebe. Das ist erheblich. In den Berggebieten haben wir weniger Potential zur Diversifizierung als im Mittelland. Dort sprechen wir von Betriebsvergrösserungen, das geht aber in den Berggebieten schon allein aufgrund der Topografie nicht. Die Bauern können ihre Betriebe nicht einfach vergrössern. Deshalb sind die Berggebiete in noch grösserem Masse von allfälligen Marktöffnungen betroffen. 

Welche Gefahren liegen in einer verstärkten Spezialisierung der Landwirtschaft? 

Die Tendenz in der Landwirtschaftspolitik des Bundes geht in Richtung mehr ökologische Leistungen und weniger Produktion. Das kann es nicht sein. Unsere Landwirte wollen produzieren, und sie wollen Produkte herstellen, die sie auf dem Markt absetzen können. Sie wollen aber sicher keine reinen Landschaftsgärtner sein. 

Was geschieht bei einer Marktöffnung mit der Landwirtschaft?

Im Gegenteil. Wegen der höheren Produktionskosten in der Schweiz können wir unsere Produkte nur schwer im Ausland absetzen. Die Schweiz hat schon einmal einen Fehler gemacht bei der einseitigen Einführung des sogenannten Cassis-de-Dijon-Prinzips. Seither werden minderwertige Produkte aus dem EU-Raum eingeführt, ohne dass wir uns dagegen wehren könnten. Wir selber haben auf dem Exportmarkt durch dieses Prinzip keinen Vorteil. Der Bundesrat führt als Argument für weitergehende Marktöffnungen im Landwirtschaftsbereich immer Österreich an. Nur ist der Vergleich falsch. Denn Österreich wurde vollwertiges EU-Mitglied und profitiert seither von den Zahlungen der EU für die Landwirtschaft und ländliche Entwicklung. 

Das heisst, wir haben in den Bergregionen keine Bauernbetriebe mehr

… keine produzierenden Bauernbetriebe. Wir hätten dann wahrscheinlich noch ein paar «Landschaftsgärtner», die die Landschaft im Staatsauftrag pflegen. Es wird keine Landwirte im eigentlichen Sinne mehr geben. Wer will das wirklich? 

Stattdessen braucht es

… produzierende Bauernbetriebe, die Produkte wie Fleisch und Käse herstellen. Das gehört letztlich zu unserer Kultur, zu unserer Identität, ebenso wie die gepflegte Landschaft. Die Produkte gehören auf jedes Frühstücksbuffet. Das gehört für mich auch zu unserem Identitätsverständnis der Schweiz. 

Für Bundesrat Schneider-Ammann kann die Versorgung der Bevölkerung mit ausreichenden Nahrungsmitteln durch den internationalen Import von Lebensmitteln gelöst werden … 

Nein, von mir aus gesehen ist das blauäugig. Er geht davon aus, dass man möglichst viel durch Importe substituieren kann. Wollen wir uns das wirklich leisten, uns in die Abhängigkeit vom Ausland zu begeben? Ich denke, das wäre der falsche Weg. Wir müssen die internationale Lage im Auge behalten. Sie ist instabil. Wir haben Kriege in Europa (z. B. Ukraine), sind Terrorangriffen ausgesetzt, und die EU sowie verschiedene Nationalstaaten zeigen Zerfallserscheinungen. Wir müssen aber auch die Welternährungssituation im Auge behalten. Wir wissen, dass der Hunger in vielen Regionen der Welt zunimmt. Die Weltbevölkerung wächst weiter, der Bedarf an Nahrungsmitteln steigt weltweit. Deshalb sind wir auf einen hohen Selbstversorgungsgrad angewiesen. Dazu kommt noch, dass das Schweizer Volk am 24. September zu einer produzierenden Landwirtschaft mit einem hohen Selbstversorgungsgrad deutlich Ja gesagt hat. Der Bundesrat macht genau das Gegenteil. Das geht nicht! Das ist eine Ohrfeige für jene 79 % der Bevölkerung, die diesen Verfassungsartikel angenommen haben. 

Wie müsste die Landwirtschaft heute aussehen?

Die Landwirtschaft ist in den letzten Jahren sehr stark ökologisch ausgerichtet worden. Ich will nicht kritisieren, was in der Vergangenheit gemacht wurde, aber wir dürfen heute nicht noch weiter in diese Richtung gehen. Die Politik soll die einheimische, produzierende Landwirtschaft in den Vordergrund stellen. Dazu gehört, dass wir darüber nachdenken müssen, eventuell in einzelnen Bereichen wieder tierbezogene Beiträge einzuführen. Ein anderer Punkt wären Beiträge für erschwerte Produktionsbedingungen. 

Gäbe es noch andere Möglichkeiten, die Schweizer Landwirtschaft zu schützen? 

Wir müssen den Herkunftsschutz konsequent durchsetzen. Wir haben in der Schweiz eine gute Bestimmung bezüglich Berg- und Alpprodukten. Wir waren das erste Land in Europa, welches diese konsequent geschützt hat. Nur haben wir immer noch das unmögliche Cassis-de-Dijon-Prinzip, aufgrund dessen Berg- und Alpprodukte, die keinerlei Herkunftsbezeichnungen haben, aus dem EU-Raum ungestraft in die Schweiz eingeführt werden dürfen. Hier müssen wir darauf achten, dass das nicht länger geschehen darf. 

Das heisst also, Sie wollen den Schutz der Landwirtschaft auch über Qualitätslabel erreichen?

Ja. Hier haben wir auch die Swiss­ness-Vorlage, die sehr wichtig ist, aber auch den Herkunftsschutz. Ich habe folgendes erlebt: An einem Frühstücksbüffet in Grossbritannien habe ich einen Schoko-Riegel bekommen, da stand «Alpen» darauf, mit einem schönen Bild einer Alpenlandschaft. Wenn man dann aber genau schaut, woher dieser Riegel kommt, steht darauf, dass er in England hergestellt worden ist, mit englischer Milch. Diese Kühe haben nie irgendwelche Alpenluft geschnuppert, es wurde nicht einmal im Alpenraum verarbeitet. Das ist Betrug am Konsumenten. Solche Produkte überschwemmen den europäischen Markt. Sie können in die Schweiz eingeführt werden und schaden unserer einheimischen Produktion.

Bild thk

 

Sie haben am Anfang unseres Gesprächs die Bedeutung der Ernährungssicherheit in einer immer instabileren Welt erklärt. Ich würde hier unser Gespräch noch etwas ausdehnen, denn neben der Landwirtschaft haben wir eine ähnliche Diskussion bezüglich der Energiewirtschaft, auch hier sind massive Bestrebungen, die Energieversorgung der Bevölkerung dem internationalen Markt zu öffnen. Welche Bedeutung hat das für unser Land?

Ich habe hier grosse Bedenken. Wir haben in der Schweiz einen riesigen Vorteil mit der Wasserkraft. Norwegen und die Schweiz sind die beiden Länder, die voll auf die Wasserkraft setzen können. Die Schweiz will aus der Atomenergie aussteigen und ist daher existenziell auf diese Wasserkraft angewiesen. Sie ist unsere wichtigste Ressource. Dort haben wir einen Trumpf, den wir unbedingt schützen müssen. Ich bin überzeugt, dass wir mit der sogenannten teilweisen Marktöffnung ein gutes Modell haben, und zwar, dass der Markt für die Grosskunden geöffnet ist, aber für die kleinen Kunden unter 100 Megawatt der Markt geschlossen bleibt. Das sollten wir vorerst so beibehalten. 

Warum wollen Sie hier vorerst keine Marktöffnung?

Wir sehen das, wenn Alpiq und AXPO, die beiden Grosskonzerne, auftreten und sagen, sie hätten ein wirtschaftliches und finanzielles Problem. Das rührt daher, dass sie sich auf dem freien Markt befinden und keine Grundversorgungskunden mehr haben. Für mich ist die Energiesicherheit genauso wichtig wie die Ernährungssouveränität. Wir müssen selbst in unserem Land produzieren können und alles daran setzen, das zu erhalten. Deshalb bin ich im Moment einer weiteren Marktöffnung gegenüber der EU sehr skeptisch. Die Schweiz diskutiert in den kommenden Monaten und Jahren über ein neues Strommarktdesign. Dieses wird die Stromproduktion unter Umständen völlig umkrempeln. In diesem Zusammenhang – aber nicht losgelöst davon – muss dann auch die Frage einer weiteren Marktöffnung im Inland und gegenüber der EU diskutiert werden. 

Haben die Land- und Wasserwirtschaft nicht nur eine grosse Bedeutung für die Schweiz als ganzes, sondern im besonderen für die Berggebiete?

Wenn wir einmal über die Schweiz hinausschauen, müssen wir konstatieren, dass der Energiehunger in den kommenden Jahren massiv zunehmen wird. Wenn die ganze Automobilität auf Elektroantrieb umsteigen würde und Länder wie China oder Indien auch noch mitmachen, was früher oder später kommen wird, dann haben wir weltweit viel zu wenig Strom. Da hat die Schweiz mit der Wasserkraft wirklich einen Trumpf in der Hand. Das gilt auch in bezug auf die Wasserzinsproblematik. 

Inwiefern?

Es wird immer das Argument bemüht, dass die Wasserkraft defizitär sei und man die Wasserzinsen herabsetzen solle. Das ist aber eine kurzsichtige Betrachtungsweise. Ich bin überzeugt, dass aufgrund der Entwicklungen die Wasserkraft wieder massiv an Wert gewinnen wird. Wir dürfen auf keinen Fall wegen einer kurzfristigen Marktsituation auf den Wasserzins verzichten. 

Warum haben wir mit der Wasserkraft diese Probleme auf dem Markt?

Hier hat uns die Europäische Union den Markt kaputt gemacht. Das ist auch eine Folge der offenen Grenzen in diesem Bereich. Insbesondere Deutschland überschwemmt den europäischen Markt mit hoch subventionierter Energie aus Braunkohlekraftwerken, aber auch aus erneuerbaren Energiequellen wie Solar- und Windenergie. Dadurch sind auch in der Schweiz die Preise am Strommarkt massiv eingebrochen. Das ist eine Folge der bereits geöffneten Grenzen. Und deshalb ist das für mich ganz klar, wir dürfen diese Grenzen derzeit nicht noch weiter öffnen.

Gibt es Möglichkeiten, die Wasserkraft in unserem Land noch weiter auszubauen?

Wir haben sicher noch Potential in der Erneuerung und im Ausbau bestehender Wasserkraftwerke. Neue werden wir kaum noch bauen können. Mit der Energiestrategie 2050 hat das Schweizer Stimmvolk bereits Ja gesagt zu Fördermassnahmen für die Wasserkraft. Ein wichtiger Entscheid bei der Energiestrategie 2050 ist zudem die Interessensabwägung. 

Was muss man in dem Zusammenhang darunter verstehen?

Das heisst, dass die Energieversorgung gleich hoch gewichtet wird wie der Umweltschutz. Wichtig ist, dass wir hier vorwärtsgehen können und nicht immer alle Projekte blockiert werden. Wenn ich sehe, was es für den Ausbau eines bestehenden Kraftwerks wie z. B. am Grimsel alles braucht. Man hat Jahrzehnte darüber diskutiert, ob man der Erweiterung stattgeben soll oder nicht, das kann es nicht sein. Die Energieversorgung muss für uns höchste Priorität haben. Es geht um unsere Versorgung, und es kann doch nicht sein, dass wir die dadurch entstehende Stromlücke mit Energie aus ausländischen Braunkohlekraftwerken stopfen müssen. 

Herr Nationalrat Egger, vielen Dank für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser

«Das Volk miteinbeziehen, um gravierende Fehler zu korrigieren»

Interview mit Nationalrat Luzi Stamm, Mitglied der Aussenpolitischen Kommission

Nationalrat Luzi Stamm, SVP/AG (Bild thk)
Nationalrat Luzi Stamm, SVP/AG (Bild thk)

Dass das Verhandlungsmandat der Schweizer Delegation an den WTO-Verhandlungen eng begrenzt war, haben die Bauern der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats (APK) zu verdanken. Der Bundesrat wollte sich in Buenos Aires an der APK vorbei für mehr Freihandel in der Landwirtschaft einsetzten. Als der APK das zu Ohren kam, hat sie den Bundesrat zur Rede gestellt und den Spielraum der Verhandlungsdelegation sehr begrenzt. Die folgenden Interviews zeigen die Hintergründe des Ablaufs auf. 

Zeitgeschehen im Fokus Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass der Bundesrat die APK übergangen hat, als es um ein Verhandlungsmandat für die WTO-Verhandlungen in Buenos Aires gegangen ist? 

Nationalrat Luzi Stamm Es zeigt sich immer deutlicher, dass sich der Bundesrat tatsächlich an vorderster Front für Freihandel in der Landwirtschaft einsetzt, was mir grösste Sorgen bereitet. ­Absolut bedenklich ist auch, dass er dieses Thema an der Aussenpolitischen Kommission vorbei­schmuggeln wollte. 

Wie hat die APK darauf reagiert?

Wir haben dann durchgesetzt, dass das Thema in der Kommission zur Sprache gebracht wurde, und wir haben massive Kritik an der Haltung des Bundesrats (resp. der Bundesverwaltung) bei den WTO-Verhandlungen in Buenos Aires erhoben. Inzwischen habe ich gehört, dass bei den aktuellen Verhandlungen in Buenos Aires keine Gefahr mehr für die Landwirtschaft mit dem beabsichtigten Freihandel drohe, was sich offenbar in den letzten Tagen bestätigt hat. Ob in Zukunft weiterhin keine Gefahr besteht, kann ich nicht beurteilen, da ich kein Spezialist in Landwirtschaftsfragen bin. 

Wie hat der Bundesrat auf die Kritik der APK reagiert?

Oft steht die SVP allein, wenn sie sich beklagt, die Kommission sei nicht miteinbezogen worden. In diesem Fall – bei der Landwirtschaft in bezug auf Buenos Aires – kam nun aber auch vehemente Kritik von verschiedenen Parteien, insbesondere auch aus Kreisen der CVP mit ihrem Präsidenten des Bauernverbandes, Markus Ritter. Aufgrund der breiten Kritik musste der Bundesrat darauf eingehen, nachdem er respektive der zuständige Spitzenbeamte vorerst zu beschwichtigen versuchten.

Wer erteilt dem Bundesrat ein Verhandlungsmandat? Ist das allein in der Kompetenz des Bundesrats, und welche Rolle hat die APK?

Generell kann man sagen, dass alle wichtigen aussenpolitischen Vertragsabschlüsse zuerst ein Mandat der APK brauchen, damit überhaupt verhandelt werden kann. Das braucht es selbstverständlich nicht, wenn man einen kleinen internationalen Vertrag abschliesst wie zum Beispiel für ein Kraftwerk am Rhein, das Deutschland und die Schweiz zusammen bauen, um nachher paritätisch den Strom zu nutzen. Aber wenn ein Stromabkommen mit der EU abgeschlossen werden soll, braucht es vorher ein Mandat (also eine Mehrheit) der Aussenpolitischen Kommission. Bei so einer grundsätzlichen Frage wie «mehr Freihandel in der Landwirtschaft?» bräuchte es unbedingt ein Verhandlungsmandat der APK.

Wie ist es zu erklären, dass der Bundesrat hier so selbstherrlich über das hinweggehen wollte?

Das ist die Grundsatzfrage, die ich seit Jahren in der Aussenpolitik mit mir trage. Wie kommt der Bundesrat dazu, Grenzen in ganz zentralen Punkten niederzureissen und das Heft selbst in die Hand zu nehmen – vom Öffnen für gewisse Landwirtschaftsprodukte bis hin zum Öffnen für «Flüchtlinge» aus Libyen (sogenannte «Relocation» oder «Resettlement»)? Er darf nicht eigenmächtig wichtige aussenpolitische Vereinbarungen eingehen und dabei das Mitwirkungsrecht des Parlaments einfach missachten.

Warum macht er es trotzdem?

Das frage ich mich auch. Ich habe immer wieder den Eindruck, dass die Schweizerinnen und Schweizer, die in Brüssel auftreten, mit den Entscheidungsträgern dort Lösungen im kleinsten Kreis «abkarten». 

Könnte es Druck aus dem Ausland sein?

Vielleicht weniger, als man denkt. Zum Beispiel bei der Personenfreizügigkeit habe ich hunderte Male aus den Mündern unserer Bundesrätinnen und Bundesräte gehört: «Wir (also die Schweiz) brauchen die Personenfreizügigkeit.» Nun wird plötzlich behauptet, uns bleibe nichts anderes übrig, als die Personenfreizügigkeit zu behalten, weil die EU sie von uns verlange und uns unter Druck setze. 

Was kann man gegen die Selbstherrlichkeit des Bundesrats machen?

Es bleibt nichts anderes übrig, als mit Volksinitiativen und Referenden zu kämpfen Die Möglichkeit, die uns immer bleibt: Das Volk mit einzubeziehen, um gravierende Fehler zu korrigieren. 

Herr Nationalrat Stamm, vielen Dank für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser

 

Der Bundesrat hatte keine Kompetenzen, in Buenos Aires Zusagen zu machen

Interview mit Nationalrat Markus Ritter, Präsident des Schweizerischen Bauernverbands

Nationalrat Markus Ritter, CVP/SG (Bild thk)
Nationalrat Markus Ritter, CVP/SG (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie war die Ausgangslage an den Verhandlungen in Buenos Aires? 

Nationalrat Markus Ritter Wir haben eine neue Grundstimmung seit der Wahl von Präsident Trump, der die WTO sehr kritisch betrachtet. Unter anderem sabotiert er das Schiedsgerichtsverfahren, indem er keine neuen Richter mehr ernennt. Die Chance, dass es in Buenos Aires irgendwelche Ergebnisse geben könnte, war sehr klein. In der nächsten Zukunft wird die WTO stark um ihre Glaubwürdigkeit kämpfen müssen. 

Hätte der Bundesrat hier neue Felder bezüglich Freihandel in der Landwirtschaft eröffnen können?

Wir haben das Verhandlungsmandat eng geschnürt. Der Bundesrat wollte nochmals weitgehendere Kompetenzen erhalten. Das wurde von den zuständigen Kommissionen und von den Kantonen abgelehnt. Jetzt ist es so, dass der Bundesrat mit den bestehenden Kompetenzen und auch inhaltlich klaren Aussagen zu möglichen Arbeitsprogrammen in die Verhandlungen gegangen ist. Bei den Arbeitsprogrammen geht es jeweils um die Vorbereitung künftiger Beschlüsse. Wir wollten genau wissen, was in Bezug auf den Marktzugang, die Exportförderung, die geschützten Ursprungsbezeichnungen oder auch die Treibstoffzollrückerstattung angedacht werden soll. Wie das Ergebnis zeigt, ist es gar nicht so weit gekommen. 

Hätten wir mit einer bösen Überraschung bezüglich Freihandel und Landwirtschaft rechnen müssen?

Der Bundesrat hat hier zumindest keine Kompetenzen gehabt, irgendwelche Zusagen zu treffen. 

Herr Nationalrat Ritter, vielen Dank für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser

«Es braucht kein Rahmenabkommen mit der EU!»

Interview mit Nationalrat Roland Büchel, Mitglied der Aussenpolitischen Kommission

Nationalrat Roland Büchel, SVP/SG (Bild thk)
Nationalrat Roland Büchel, SVP/SG (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Der Besuch des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker hat die Frage des Rahmenabkommens erneut aufs Tapet gebracht. Bundespräsidentin Leuthard will bis im Frühling ein Rahmenabkommen aushandeln. Was sagen Sie dazu? 

Nationalrat Roland Büchel Es ist völlig falsch, sich unter Druck setzen zu lassen. Frau Leuthard hat während Monaten die Aussenministerin gespielt. Das ist nicht ihre Aufgabe. Bundesrat Ignazio Cassis muss das Ruder jetzt in die Hand nehmen. 

Bundespräsidentin Leuthard verknüpft das Rahmenabkommen immer damit, dass die Schweiz dringend ein Strommarktabkommen mit der EU bräuchte. 

Das Strommarktabkommen ist nicht so dringend, wie Frau Leuthard es immer wieder darstellt. 

Ist ein Rahmenabkommen überhaupt notwendig? Dabei geht es ja vornehmlich um die Regelung im Streitfall zwischen der Schweiz und der EU.

Es gibt keine Notwendigkeit für ein Rahmenabkommen. Die vorgesehene Streitfallregelung über den Europäischen Gerichtshof ist falsch. Sie wäre auch falsch, wenn der EWR/Efta-Gerichtshof zuständig wäre. Die CVP versucht einmal mehr diesen Vorschlag einzubringen. Der hatte bisher keine Chance bei den anderen Parteien.

Warum ist der EWR/Efta-Gerichtshof kein gangbarer Weg?

Fremde Richter bleiben fremde Richter. Die Schweiz ist in dem Gericht nicht vertreten. Es gibt zwar einen Schweizer, aber der ist Richter für Liechtenstein. 

Die Idee mit dem EWR/Efta-Gerichtshof ist also nur Augenwischerei?

Früher hiess es «Duschen mit Doris», heute heisst es «Showtime mit Doris».

Es wird so sein, dass verschiedene Kräfte auf das Abkommen hinarbeiten werden …

… leider ist das so. Wir werden sehen, was dabei herauskommt. Die FDP versucht, das Rahmenabkommen attraktiver zu gestalten. Jetzt kommt sie mit der durchaus valablen Idee, die Guillotineklausel abzuschaffen. Interessant, dass die Partei die letzten Jahre nicht genutzt hat, diese Idee einzubringen. Die CVP versucht es mit dem erwähnten Gerichtshof. Ich sage: Es braucht das Rahmenabkommen schlicht nicht.

Wie löst man heute mögliche Streitfälle?

Heute werden sie in einem gemischten Ausschuss paritätisch aus Schweizer und EU-Vertretern und nicht allein von EU-Richtern gelöst. 

Wären künftige Entscheide des EuGHs auch für die Schweiz bindend? 

Ja, daran führt kein Weg vorbei. Die höchsten Richter haben das sowohl in den Medien als auch mir persönlich gegenüber bestätigt. Sie sagen, dass sie Urteile fällen und keine Gutachten verfassen. Das ist so, auch wenn Herr Burkhalter immer etwas anderes behauptet hat.

Wäre der Efta-Gerichtshof in seiner Rechtsprechung eigentlich unabhängig vom EuGH?

Wenn jemand sagt, der Efta-Gerichtshof sei eine Filiale des EuGHs, kann man da wirklich etwas dagegenhalten?

Warum kommen fremde Richter für die Schweiz nicht in Frage?

Ausländische Richter und Politiker verstehen das «System Schweiz» kaum. Auch die grossen Theoretiker verstehen es nicht, die Menschenrechtsexperten verstehen es nicht. Man muss unser System tagtäglich leben, um es zu verstehen. 

Was fällt ihnen schwer zu verstehen?

Auch wenn die Richter des EuGHs gegenüber der Schweiz nicht negativ eingestellt sind, sie können oder wollen nicht nachvollziehen, dass die Gesamtheit des Volkes gleich intelligent oder sogar intelligenter handelt als eine kleine Elite von Richtern und Politikern. Die Schweiz ist eben anders. Dieses Anderssein macht es aus, dass die Schweiz zu Recht als «Sonderfall» bezeichnet wird.

Was sagen Sie dazu, dass die EU die Schweiz auf eine graue Liste von Steuersündern gesetzt hat?

Deswegen geht die Welt nicht unter. Aber es ist erstens unangenehm und zweitens höchst ungerecht. Es ist wieder einmal ein typischer Willkürakt von selbstherrlichen EU-Funktionären. Bis wenige Stunden vor der Veröffentlichung war die Schweiz übrigens nicht auf der Liste, das Fürstentum Liechtenstein aber schon. 

Was passierte dann?

Die Liechtensteiner Regierung rief in Brüssel an, mit dem Resultat, dass jetzt beide Länder auf der Liste sind. Auch wenn es wohl keine böse Absicht war, hier muss man klar sagen: Liebe Freunde aus dem «Ländle», so geht es nicht!

Herr Nationalrat Büchel, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Die Schweizerische Nationalbank will keinen ­Silberstreifen am Horizont erkennen

von Reinhard Koradi

Die US-Notenbank hat entschieden, den Leitzinssatz um 0,25 % zu erhöhen. Mit dieser Erhöhung pendelt der US-Zinssatz nun zwischen 1,25 bis 1,5 %. Gleichzeitig wurden für das Jahr 2018 drei weitere Zinserhöhungen angekündigt. Der Euro hat sich gegenüber dem Schweizer Franken deutlich erhöht und sowohl die Welt- als auch die Binnenwirtschaft entwickeln sich relativ gut. Trotzdem hält der oberste Währungshüter der Schweiz, Thomas Jordan, am bisherigen Kurs der Nationalbank fest und will keine Änderung bei der Währungs- und Zinspolitik ankündigen oder einleiten. Dieses krampfhafte Festhalten an einer Strategie, die aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise respektive dem stark überbewerteten Schweizer Franken ins Rollen gebracht wurde, ist erklärungsbedürftig.

Die kleinsten Nadelstiche könnten die Blasen zum Platzen bringen

Das Banken- und Finanzsystem hat sich unter der Drangsalierung der Globalisierung in eine vollkommen falsche, für die Allgemeinheit und damit für den Nationalstaat schädliche Richtung entwickelt. Noch nie war so viel ungedecktes Geld im Finanzsystem (wertloses Papiergeld) wie in unseren Tagen. Noch nie strotzten die Bilanzen der Notenbanken vor derart aufgeblasenen Kontoständen respektive Rekordgewinnen, und noch nie war das Geld so wertlos, wie dies durch die Negativzinsen belegt wird.

Die Gefahr war auch noch nie so gross, dass die Ballone platzen könnten. Schon kleinste Nadelstiche genügten, um die durch die Casino-Geldpolitik prall gefüllten Seifenblasen zum Platzen zu bringen. Solche Nadelstiche könnten unter anderem volkswirtschaftlich an sich sinnvolle Korrekturen der seit der Finanzkrise verfolgten Politik der Notenbanken sein. Niemand kann genau sagen, wie die nationalen Volkswirtschaften von der Überflutung mit Billigstgeld abgenabelt werden könnten und vor allem wie diese die entsprechenden «Trockenlegungen» verkraften würden. Beunruhigend ist dann auch, dass abgesehen von den USA bis anhin bei keinem anderen Staat Anzeichen vorhanden sind, die darauf hindeuten, dass der Geldschwemme und der damit verbundenen völlig destabilisierenden Verschuldung von Staaten und Privathaushaltungen irgendeinmal ein Riegel geschoben wird. Bedingt durch die uferlose Geld- und Währungspolitik hat sich ein erhebliches Gefahrenpotenzial aufgestaut. Die Befürchtungen sind realistisch, dass ein unkontrollierter Dammbruch eine kaum vorstellbare Zerstörung von nationalen Volkswirtschaften nach sich ziehen und mit grösster Wahrscheinlichkeit zu heftigen sozialen Unruhen führen wird. Auf diesem Hintergrund ist es nachzuvollziehen, dass die Ungewissheit über die Auswirkungen einer Rückkehr zu einer normalen Geld- und Währungspolitik die Verantwortlichen und zuständigen Institutionen darin hindert, die längst fälligen Korrekturen vorzunehmen. Ein weiterer Grund der Laisser-faire- Doktrin mag sein, dass die Profiteure der aktuellen Politik bestimmt ihre Einflussmöglichkeiten in ihren Netzwerken nutzen, um die exklusive Vermögensschöpfung für die Superreichen möglichst lange am Leben zu erhalten. Sie nutzen und beherrschen inzwischen das «globale Spiel» im Casino der Geldschwemme zu ihrem eigenen Vorteil. Dazu kommt, dass die kleine Zahl der auserwählten Finanzaristokraten längst realisiert hat, dass sie selbst auf prallgefüllten Blasen sitzen, die beim kleinsten Nadelstich sehr schnell platzen und sich der durch die Finanzkrise angehäufte Reichtum buchstäblich in Luft auflösen könnte.

Souveränität braucht eigenständige Geld- und Währungspolitik

Die aktuelle Politik schützt primär die Interessen der Finanzaristokratie. Dies steht im Widerspruch zur Aufgabe einer Nationalbank, sie hat in erster Linie gesamtwirtschaftliche Interessen des Landes und den Wohlstand der gesamten Bevölkerung gleichermassen zu wahren respektive zu fördern. Heute gibt es zu viele Verlierer. Nämlich die 80 %, die verhältnismässig wenig oder gar nicht von der Geldflut profitieren. Sie werden um ihre Ersparnisse und Renten betrogen. Zu den Verlierern gehört aber auch die Unabhängigkeit der Nationalstaaten. Sie ist längst im Spinnennetz der globalen Finanztransaktionen und -institutionen gefangen. Eine Normalisierung der Geld- und Währungspolitik liegt daher auch im Interesse aller Nationalstaaten, die ihre Souveränität aufrechterhalten wollen. Es ist strategisch völlig unverantwortlich, die Position einer unabhängigen und selbstbestimmten Politik der Nationalbank an transnationale und zentralistische Organe abzugeben. Die aktuellen Fehlentwicklungen im Finanzsystem bedrohen neben Vermögen und Wohlstand auch wesentliche immaterielle Werte. Sie sind eine existenzielle Gefahr für die Schweiz, unsere direkte Demokratie, unsere Souveränität und den inneren Zusammenhalt.

Darum steht ein grundlegender Kurswechsel an. Die Krisenverursacher haben zu lange auf Kosten der Allgemeinheit von der Krise profitiert. Die Deregulierungen der nationalen und internationalen Finanzmärkte müssen als Katalysator der Finanzkrise und der darauffolgenden Wirtschaftskrise verurteilt werden. Im Endeffekt führten sie dazu, «dass die Reichen immer reicher und die Fleissigen immer ärmer» wurden.

Der Negativzins auf Sparguthaben müsste längst fallen

Ziel einer Re-Deregulierung muss eine sanfte Rückführung in die Normalität sein. Die geforderte Kehrtwende muss dazu führen, dass zukünftig wieder der Mensch und nicht das Geld regiert. 

Die jahrelange schleichende Enteignung durch die Notenbanken mit der Einführung von Null- respektive Negativzinsen muss im Interesse des Gemeinwohls gestoppt werden. So drängt sich eine gestaffelte Aufhebung der Negativzinsen auf. Wer heute noch von einer zu geringen Teuerung in unserem Land spricht und damit die Nichtaufhebung der Negativzinsen begründet, übersieht wohlwissentlich den Vermögensschwund und die massiv erhöhten Preise für Sachwerte wie Immobilien, Aktien usw. Die Blasen sind doch nur das Spiegelbild der zwar unter einem Deckel gehaltenen aber dennoch sehr hohen Inflation. Bilanztechnisch ausgedrückt, haben wird auf der Soll-Seite die prallen Ballone und auf der Haben-Seite die Inflation in ihrer vollen Gesamtheit.

Neben der Aufhebung der Negativzinsen gilt es, den «freien Kapitalverkehr» in all seinen Facetten neu zu regeln und durch angemessene Kontrollen wieder in die richtigen Bahnen zu lenken, und zwar abgestimmt auf die nationalen Bedürfnisse der einzelnen Volkswirtschaften. Mit der überbordenden Deregulierung gegen die Interessen der einzelnen Volkswirtschaften wurden die Ursachen für die heutigen Krisen- und Konfliktherde geschaffen. Diese Ursachen gilt es, nun zu korrigieren. Wir müssen den Mut aufbringen, wieder Lenkungsmassnahmen und gezielte Eingriffe in den «freien Markt» zuzulassen, zum Schutz unserer Unabhängigkeit und Selbstbestimmung und des über Generationen erarbeiteten Wohlstandes sowie des sozialen Friedens in unserem Land. Ein Grundsatz, der übrigens auch über die Schweiz hinaus seine uneingeschränkte Gültigkeit hat. 

Information statt Manipulation

Unabhängiger Experte besucht Venezuela

Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred M. de Zayas

Professor Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Professor Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Professor Dr. Alfred de Zayas war in seiner Funktion als Unabhängiger Experte für die Förderung einer friedlichen und gerechten internationalen Ordnung in Venezuela und Ecuador. Er ist der erste Uno-Berichterstatter, der seit 1996 nach Venezuela eingeladen wurde, darum hat seine Mission sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Vor ihm hatten bereits 15 Berichterstatter ohne Erfolg darum gebeten. Alfred de Zayas hatte im August angefragt, und im September kam die Einladung. Grund für dieses Vertrauen ist sein Ruf der Unbestechlichkeit und Unabhängigkeit. Seine Vorgehensweise ist jene des empirischen Forschers und nicht die eines Richters. Er will nicht verurteilen, sondern konstruktiv helfen: «Ich will verstehen, nicht verdammen.» Im Rahmen seines Uno-Mandats hat er sich vor Ort ein Bild über die Situation in beiden Ländern machen können. Zeitgeschehen im Fokus hat mit Professor de Zayas ein ausführliches Interview über die Lage in Venezuela geführt, das in der nächsten Ausgabe vollständig publiziert wird. Hier schon einmal aus aktuellem Anlass eine kleine Kostprobe.

Zeitgeschehen im Fokus Besteht in Venezuela eine humanitäre Krise?

Professor Dr. Alfred de Zayas Humanitäre Krisen bestehen in vielen Ländern: in Asien, z. B. in Bangladesh oder Sri Lanka, in Afrika, wie Tschad, Niger, Malawi, im Sudan, in Somalia, im Norden Nigerias. Im Nahen Osten gibt es humanitäre Krisen im Irak, in Afghanistan, in Libyen, im Jemen etc. Wie viele Menschen sterben, weil sie keine medizinische Versorgung haben, und niemand schert sich darum? Es interessiert nicht, ob ein afghanisches Kind stirbt, weil es nichts zu essen hat oder die medizinische Versorgung fehlt. Das gleiche gilt für den Irak oder Syrien. Es gibt sicherlich viel mehr Armut in den Favelas von Sao Paolo, von Rio de Janeiro, von Belem etc. Aber dadrüber verliert man kein Wort. In Venezuela besteht keine humanitäre Krise, sicher gibt es jede Menge Probleme im Land, aber die sind weit entfernt von einer humanitären Krise. Stattdessen wird das Bild eines zusammenbrechenden Staates suggeriert, um plausibel zu machen, dass man eingreifen muss, um die Bevölkerung vor einer Diktatur zu retten. 

Diktatur, ist das ihr Eindruck?

Dazu folgendes: In den letzten 18 Jahren hat Venezuela 24 Wahlen durchgeführt. Man muss die Ergebnisse der Wahlen nicht mögen, aber man hat ein System entwickelt, das die Bevölkerung ganz häufig an die Urnen ruft. Das Carter-Center hat viele dieser Wahlen beobachtet, und es hat festgestellt, dass Venezuela die besten Sicherungsmassnahmen ergriffen hat, um eine Manipulation der Stimmen zu verhindern. Die Zählmaschinen sind die besten. Das, was in Honduras geschehen ist, hätte in Venezuela nicht passieren können. 

Warum wird das nicht wahrgenommen?

Die Fakten sind nicht wichtig, wenn man von aussen einen Regimechange durchsetzen will. Mein Appell an andere Staaten ist daher: Hört auf, gegenüber Venezuela Hindernisse aufzubauen und Sanktionen zu verhängen! Stattdessen sollten sie lieber, wenn sie über die humanitäre Lage im Land besorgt sind, helfen. Dann sorgt dafür, dass es mehr Kooperation mit dem Land gibt, dass Lebensmittel und Arzneimittel leichter importiert werden können. Ausserdem können sie dafür sorgen, dass das World Food Program und World Health Organization proaktiv helfen. In meinen vorläufigen Empfehlungen habe ich für engere Kooperation mit der UNO – z. B. mit der FAO (Food and Agriculture Organization) plädiert.

Was kann Venezuela anderen Staaten anbieten?

Das Land hat bedeutende Bodenschätze, die man dort kaufen könnte, daneben die grössten Ölreserven der Welt, auch riesige Bauxit- und Goldvorkommen. Es gibt sehr viel Reichtum im Lande, der aber brach liegt. Mit internationaler Kooperation und Solidarität könnte das Land sehr wohlhabend sein. Es ist nur deshalb nicht so reich, weil es nicht in der Lage ist, auf dem internationalen Parkett, das zu verkaufen, was es zu verkaufen hat. 

Was ist der Grund dafür?

Die schwierige Lage ist überwiegend von aussen verursacht und nur zum Teil von innen. Gerne verurteilen die Medien die grossen sozialen Ausgaben in Venezuela (72 % des Haushalts werden für freie Schulen, freie Universitäten, medizinische Versorgung, subventionierte Lebensmittel, sozialen Wohnungsbau – 2 Millionen einfache Wohnungen für die ärmere Bevölkerung aufgewendet), vor allem den Eco-Sozialismus. Selten schreiben die Journalisten über den harten Wirtschafts- und Handelskrieg gegen Venezuela. Man will eben das Land in die Knie zwingen, um die Regierung zu stürzen, entweder von innen oder von aussen. Dazu gehören die ständige Manipulation in den Medien, der Handels- und Wirtschaftskrieg, befeuert durch die Sanktionen, die zu einer künstlichen Verknappung der Güter führen.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Fördert Europa Afrika? 

Ein Blick auf die umstrittenen Wirtschaftspartnerschafts­abkommen 

von Dr. Boniface Mabanza Bambu*

Ein Ziel der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA), die die EU seit 2002 verhandelt, ist die Entwicklung ihrer ehemaligen Kolonien in Afrika, der Karibik und im Pazifischen Raum (AKP-Staaten). In Artikel 34 des Cotonou-Abkommens, das im Jahr 2000 in Benin unterzeichnet wurde, steht: «Ziel der wirtschaftlichen und handelspolitischen Zusammenarbeit ist es, die harmonische und schrittweise Integration der AKP-Staaten in die Weltwirtschaft unter gebührender Berücksichtigung ihrer politischen Entscheidungen und Entwicklungsprioritäten zu fördern und auf diese Weise ihre nachhaltige Entwicklung zu begünstigen und einen Beitrag zur Besiegung der Armut in den AKP-Staaten zu leisten.» Ich möchte der Frage nachgehen, ob dieses Ziel mit der konkreten Gestaltung des Regelwerkes der WPAs im Einklang steht. 

Handel mit Waren und Dienstleistungen hat es in der Geschichte der Menschheit immer schon gegeben. Damit der Handel nicht zum Instrument verkommt, mit dem Machtbeziehungen aufrechterhalten und ökonomische Dominanz geschaffen werden, bedarf es Regeln, die die realexistierenden Verhältnisse berücksichtigen. Dies ist im Welthandel bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht der Fall, auch wenn es in Artikel 35 des Cotonou-Abkommens heisst: «Bei der wirtschaftlichen und handelspolitischen Zusammenarbeit wird den unterschiedlichen Bedürfnissen und dem unterschiedlichen Entwicklungsstand der AKP-Staaten Rechnung getragen. In diesem Zusammenhang bestätigen die Vertragsparteien erneut ihr Eintreten für eine besondere und differenzierte Behandlung der AKP-Staaten, für die Aufrechterhaltung der besonderen Behandlung der am wenigsten entwickelten AKP-Staaten und für die gebührende Berücksichtigung der besonderen Gefährdung der kleinen AKP-Staaten, der AKP-Binnenstaaten und der AKP-Inselstaaten.» 

Erzwungene Marktöffnung

In der konkreten Gestaltung der WPAs ist von dieser Rücksichtnahme nichts zu spüren. Selbst Länder, die als die ärmsten gelten, müssen auf bis zu 80 Prozent ihrer Zolllinien gegenüber der EU verzichten. Beim Abkommen mit der Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrika (SADC) sieht sich Mosambik, ein Land, das als am wenigsten entwickeltes Land eingestuft wird, gezwungen, eine solche Marktöffnung vorzunehmen. Im Gegenzug erhält Mosambik nur das, was das Land vor den WPA-Verhandlungen schon hatte: einen zoll- und quotenfreien Zugang zum EU-Markt. 

Die WPAs zwingen die ärmsten Länder, sich zu öffnen – sie bekommen aber nichts dafür zurück. Bekanntlich kann der Schutz lokaler Wirtschaftszweige vor der übermässigen Konkurrenz von stärkeren Partnern positive Auswirkungen auf den regionalen Handel haben. Davon gehen dann positive Impulse für die Strukturtransformation aus. Diese Impulse können darin bestehen, Anreize für die Überwindung einer zu starken Abhängigkeit von landwirtschaftlicher Primärerzeugung und Rohstoffgewinnung zu schaffen, um die Diversifizierung der Volkswirtschaft mit einer Betonung des Industrie- und Dienstleistungsbereichs zu fördern. Von den WPAs gehen keinerlei Impulse aus – ganz im Gegenteil. 

«Gefährliche Entwicklung» für Afrika

Sie zerstören die Industrialisierung der afrikanischen Länder und zementieren die Rohstoffabhängigkeit, indem sie die Exportsteuern verbieten. Auch von einer Entwicklung des Dienstleistungssektors kann man nicht reden. Sollten die Verhandlungen rund um Dienstleistungen, Beschaffungswesen, Investitions- und Wettbewerbsregeln, aufgenommen und abgeschlossen werden, wie es in der so genannten Rendez-vous-Klausel vereinbart ist, würden alle Fortschrittsbemühungen afrikanischer Länder in diesen Bereichen im Keim erstickt werden. Diese Gefahren sind akut, weil die EU mit ihrer Liberalisierungsagenda im Rahmen der WPAs in Wirklichkeit drei Ziele verfolgt, die mit der «Entwicklung» der afrikanischen Länder wenig bis nichts zu tun haben:

die Schaffung von Absatzmärkten für europäische Produkte durch den Zollabbau, 

die billige Rohstoffversorgung für die europäische Industrie durch einen privilegierten Zugang und 

die Verhinderung strategischer Süd-Süd-Partnerschaften durch die Kontrolle der Beziehungen afrikanischer Länder mit Drittländern. 

 

Es wird deutlich: Das Problem ist nicht der Handel an sich, sondern der Missbrauch der Machtverhältnisse, der nur die Interessen Europas favorisiert. 

2015 feierte die Welthandelsorganisation ihr 20. Jubiläum. Das «Public-Forum-Meeting» hatte das Thema «Handel funktioniert.» In einer euphorischen Einschätzung, die man auf der Homepage der WTO lesen kann, wird behauptet: «Handel funktioniert. Das ist ­unumstritten. Handel fördert Wachstum, Entwicklung und Armutsminderung. Handel hilft Entwicklungsländern und am wenigsten entwickelten Ländern, sich in die globale Ökonomie zu integrieren. Handel treibt Investitionen und Innovation voran. Handel hilft Ländern, Gesundheitsversorgung zu gewährleisten und Umweltschutz umzusetzen. Handel schützt das geistige Eigentum. Er hilft, bessere Synergien zwischen den Bedürfnissen der Länder und ihren landwirtschaftlichen Kapazitäten zu erzeugen. Handel funktioniert für die Verwundbarsten, für Frauen aus armen und marginalisierten Gemeinschaften. Handel kann für die Reduktion von Ungleichheiten eine Rolle spielen, indem er dazu beiträgt, die Lebensunterhaltskosten zu reduzieren. Preise von Nahrung und Kleidung werden durch Handelspolitik beeinflusst. Darüber hinaus: Handel funktioniert, weil er politische und ökonomische Stabilität liefert.» 

Freihandel verhindert Entwicklung

Zwar versuchten einige WTO-Verantwortliche diese Aussagen zu relativieren, aber der Grundtenor bleibt, dass Handel, genauer Freihandel, der Weg zur Entwicklung ist. Dass dies nicht stimmt, zeigen Erfahrungen der Länder, die seit mehr als 30 Jahren Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und seit nun mehr als 20 Jahren WTO-Regeln umsetzen. Bis auf ein paar wenige Ausnahmen haben sich in diesem Zeitraum die Lebensbedingungen der meisten Menschen verschlechtert. Die positiven Effekte, die dem Freihandel zugeschrieben werden, können mit Abstrichen nur unter mehr oder weniger gleichwertigen Partnern greifen. Wo Handelspartner durch eine eklatante Asymmetrie der Kräfteverhältnisse gekennzeichnet sind, führt voreiliger Freihandel zu noch grösseren Ungleichheiten. Die schwächere Seite sieht ihre Entwicklungschancen vermindert, und sämtliche Existenzgrundlagen können zerstört werden. Dies muss umso stärker betont werden, als die EU den Vorwand der Gewährleistung der Kompatibilität mit den Regeln der Welthandelsorganisation nutzt, um ihre Liberalisierungsagenda zu rechtfertigen. Die Anfrage an die Entwicklungsuntauglichkeit der Liberalisierungsagenda der EU gegenüber afrikanischen Ländern und Regionen ist auch eine Anfrage an die Regeln, auf denen das WTO-System basiert ist: Nicht-Diskriminierung, Meistbegünstigung und Reziprozität. Eine undifferenzierte Anwendung dieser Prinzipien kann nur zu mehr Armut führen. Genau dies tut die EU mit ihrer Handelsoffensive gegenüber Afrika. Trotzdem bringt sie es fertig, sich einer mit vielen Floskeln garnierten humanitären Rhetorik zu bedienen. Entwicklungsförderung sieht anders aus. 

Beziehung statt Bildschirm

In Frankreich warnen Logopädinnen, Kinderärzte, Psychologen und Lehrer vor übermässigem Bildschirmkonsum

von Susanne Lienhard

Am 18. November war die Logopädin Florence Lerouge, Mitbegründerin des französischen Vereins «joue-parle-pense» beim Westschweizer Radio zu Gast und sprach zum Thema «Kinder und Bildschirme»1. Ihre Erfahrungen und Beobachtungen, die sie mit Kinderärzten, Psychologen, Lehrern und Psychomotorik-Therapeuten teilt, lassen aufhorchen und sollten unbedingt einbezogen werden, wenn – wie zum Beispiel in Bern geplant – bereits Kindergärten flächendeckend mit WLAN ausgestattet werden sollen, damit schon die ganz Kleinen mit Tabletts «spielen» können. 

Seit gut 10 Jahren wird Florence Lerouge mit Anfragen geradezu überschwemmt. Sie bekommt immer jüngere Kinder, schon zwei- bis dreijährige, die nicht sprechen und auch nicht verstehen, was man ihnen sagt, Kinder, die sie nicht anschauen, ja nicht einmal reagieren, wenn man sie bei ihrem Namen ruft. Die einen sind hyperaktiv und stellen innert Kürze das ganze Zimmer auf den Kopf, andere sind eher antriebsarm. Viele kämpfen mit Konzentrationsschwierigkeiten und in der Primarschule als Folge davon dann mit Lernschwierigkeiten. 

Florence Lerouge wollte wissen, was der Grund dieser massiven Zunahme an Kindern mit solchen Entwicklungsrückständen ist. 

Im Austausch mit Kolleginnen, die ähnliche Erfahrungen machten, stellte sie fest, dass viele dieser Kinder z.T. bereits von Geburt an Bildschirmen aller Art ausgesetzt waren: Smartphone als Babysitter, Tablet als Spielzeug, Fernseher während des Essens etc. Sie beobachtete auch, dass, wenn man diese Kinder weniger oder gar nicht mehr den Bildschirmen aussetzte, die Symptome schwächer wurden, ja sogar ganz verschwanden, und die Kinder zu spielen begannen und den Entwicklungsrückstand Schritt für Schritt aufholten. 

Die Eltern lassen sich von den neuen Technologien schnell verführen und schenken ihren Kindern schon sehr früh ein Tablet oder einen Computer im Glauben, dass sie sich dann später in der technologisierten Welt besser zurechtfinden würden. 

Die Erfahrungen der Logopädinnen zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist. 

Zeit vor dem Bildschirm ist gestohlene Zeit

Florence Lerouge sagt: «Die Zeit, die man kleine Kinder vor dem Bildschirm verbringen lässt, ist gestohlene Zeit, die sie dringend bräuchten, um Denken und Sprechen zu lernen.» Die Sprache des Kindes entwickelt sich nicht automatisch, sondern nur im Kontakt mit seiner Umgebung, im Hin und Her mit Vater und Mutter und den Geschwistern. Das kleine Kind beginnt seine Umwelt zu entdecken, indem es Dinge greift, sie von einem zum andern Ort trägt oder versteckte Dinge sucht. Es lernt so, sich im Raum zu orientieren und Zusammenhänge zwischen den Dingen zu begreifen. Es beobachtet und imitiert die Erwachsenen, wenn es «Verkäuferlis», «Dökterlis» oder «Telefönlis» spielt. Das Spiel und insbesondere das symbolische Spiel ist laut Florence Lerouge eine wichtige Voraussetzung, um Sprache zu lernen, da sie auch aus Symbolen besteht. Die Mutter und der Vater sind bei diesem Lernprozess unersetzbar. Die Kinder sind von Natur aus auf sie angewiesen und ausgerichtet, suchen den Kontakt, ihren Blick und wollen sich bei ihnen versichern, ihre Zustimmung und Ermutigung hören, wenn sie auf Entdeckungsreise gehen und sich die Welt erobern. 

Bildschirme haben auf Kinder eine hypnotisierende Wirkung, sie sind fasziniert davon, können jedoch noch nicht verstehen, was am Bildschirm geschieht, da sich die Bilder viel zu schnell folgen. Auch sogenannte Lernspiele und -apps bringen ihnen wenig, da sie nicht eigenaktiv sind, sondern nur auf das reagieren, was das Programm vorgibt. Ob das Kind mit einem Holzwürfel spielt oder ihn im Computer mit Wischen über den Bildschirm dreht, sind zwei völlig unterschiedliche Vorgänge. Den realen Würfel kann es anfassen, drehen, werfen und wieder fassen, es merkt, dass der eine schwerer ist als der andere usw. Beim virtuellen Würfel fehlen all diese Erfahrungen. Die Computerindustrie bietet auch digitale Puzzle-Spiele an. Das Kind braucht dabei nur über das entsprechende Teil zu wischen, und schon springt es an den richtigen Ort. Beim realen Puzzle muss es genau beobachten, das Puzzleteil in die Hand nehmen, drehen und wenden, es versucht es, an ein anderes Teil anzupassen, und merkt, dass es nicht geht. Die Mutter oder der Vater ermutigen es, nochmals zu versuchen, die Form genau anzuschauen, bis es ihm gelingt, das Puzzleteil am richtigen Ort einzupassen. Das ist ein aktiver Lernprozess, der alleine vor dem Computer gar nie in Gang kommt. Kinder, die in dieser wichtigen Lernphase des Greifens, Ausprobierens und des Nachahmens im Spiel viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen, entwickeln sich physisch und mental nicht ihrem Alter entsprechend und zeigen markante Entwicklungsrückstände. Primarschüler sind z. B. zunehmend unfähig, einen Stift richtig zu halten. Das Wischen über den Bildschirm verlangt keine Daumen­opposition, die Kinder haben schlicht die dazu nötige ­Muskulatur nicht ausgebildet. Sie haben ­sogenannte «mains papillon», Schmetterlingshände. 

Auch die Eltern müssen ihr Verhalten reflektieren 

Im Gespräch mit den Eltern legt Florence Lerouge grossen Wert darauf, dass auch sie ihren Umgang mit den neuen Technologien reflektieren. Eine Mutter, die beim Stillen ihres Babys gleichzeitig ihre Mails checkt oder sich auf Facebook mit ihrer Freundin unterhält, verpasst kostbare Momente, die ideal wären für den Austausch, den Beziehungsaufbau mit dem Kind, für ein Lächeln, einen Blickkontakt, einen Moment des Gefühls. Für das Kind entsteht ein Vakuum, die Mutter ist zwar körperlich anwesend, aber mit ihrer Aufmerksamkeit nicht beim Kind. Das gilt auch für das etwas ältere Kind. Wenn es dem Erwachsenen zeigen will, was es gemacht hat, und dieser sich nicht interessiert, nicht schaut, nicht ermutigt, sich nicht freut, hat es das Gefühl, dass es nicht wichtig ist, was es macht. Es wird aufhören, es zu tun, und wenn ein Bildschirm da ist, wird es sich diesem zuwenden. Kinder brauchen für eine gesunde Entwicklung den Erwachsenen, den menschlichen Austausch, die Berührung, die Möglichkeit zur Nachahmung, sie brauchen den Mitmenschen und ihre fünf Sinne, um sich zu entwickeln. 

IT-Entwickler schicken ihre Kinder auf computerfreie Schulen

Florence Lerouge Erfahrung ist, dass die meisten Kinder, die zu ihr kommen und viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen, schon nach kurzer Zeit mit geringerer Exposition grosse Fortschritte machen. Auch die Eltern machen einen Bewusstseinsprozess durch: gemeinsames Essen ohne Bildschirm, sprechen, diskutieren und spielen mit den Kindern. Wenn dieses Zusammenspiel mit den Eltern funktioniert, können Kinder, die aus der Regelklasse rausgenommen werden mussten wegen ihrer Schwierigkeiten, schon nach 6 Monaten wieder in die Klasse integriert werden. Florence Lerouges Fazit: «Wenn die Bildschirme verschwinden, verschwinden auch die Schmetterlingshände, die Aufmerksamkeitsstörungen verringern sich. Heute haben wir zahlreiche Kinder, die keine echten Legastheniker sind, sondern Sprachstörungen haben, die verschwinden, sobald sie Bildschirmen weniger ausgesetzt sind. Sie beginnen zu spielen und ihre Hände zu brauchen. Die Bildschirme verdrängen das reale Spiel, die reale Welt. Studien zeigen, dass eine Stunde mehr vor dem Bildschirm das Risiko, keinen Schulabschluss zu machen, um 40 % erhöht, da das Kind während dieser Zeit nicht das tut, was es für seine Entwicklung bräuchte. Die Entwickler der Hightech Firmen im Silicon Valley (Google, Youtube, Apple, Facebook etc.) wissen das und schicken ihre Kinder bewusst auf Schulen ohne Bildschirme und Computer.»2 

Auch Kinderärzte, Psychologen und Lehrer warnen 

Kinderärzte, Kinderpsychiater, Psychologen, Logopäden und Lehrer aus ganz Frankreich teilen Florence Lerouges Beobachtungen und haben sich im «Collectif Surexposition Ecrans»3 zusammengeschlossen. Sie sind alarmiert über die explosionsartige Zunahme von sehr beunruhigenden Verhaltensweisen bei Kindern, die früh und viel Bildschirmen ausgesetzt sind. Schon Kleinkinder zeigen autistische Symptome, bei Primarschülern beobachten sie grundsätzliche Lern- und Verständnisschwierigkeiten, Aufmerksamkeitsdefizite, Ungeschicklichkeit im Umgang mit alltäglichen Gegenständen und ein sehr geringes Interesse für ihr Umfeld. Auch bei Jugendlichen zeigen sich dieselben Symptome. Nicht selten führt die Abhängigkeit vom Bildschirm sogar zur Ausschulung. Am 31. Mai 2017 haben diese Fachleute aus der Praxis in «Le Monde» ihre beunruhigenden klinischen Erfahrungen dargelegt, um der Problematik in der Öffentlichkeit mehr Nachdruck zu verleihen.4 

Es ist dringend, dass diese Erkenntnisse auch in der Schweiz eine breite Öffentlichkeit finden und bei bildungspolitischen Entscheiden einbezogen werden. 

1 www.rts.ch/play/radio/egosysteme/audio/les-petits-et-les-ecrans?id=9056750

2 «A Silicon Valley School That Doesn‘t Compute», New York Times vom 22.10.2011. «Tablets out, imagination in: the schools that shun technology, The Guardian vom 2.12.2015

3 www.surexpositionecrans.org/decouvrir-collectif-as2e/

4 https://jouepenseparle.wordpress.com/2017/06/01/la-surexposition-des-jeunes-enfants-aux-ecrans-est-un-enjeu-majeur-de-sante-publique/

Konrad Kupferhals – Gleichwertigkeit heisst nicht Gleichartigkeit

Buchbesprechung

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Mit dem Bilderbuch «Konrad Kupferhals»1 gelingt es, eingebettet in die spannende Geschichte der kleinen Kupferhalsziege Konrad, bei jungen Lesern Interesse und Freude an seltenen und bedrohten Nutztieren zu wecken, zu deren Erhalt Pro ­Specie Rara2 beiträgt. Beim Vorlesen oder gemeinsamen Lesen mit Kindern ergeben sich zudem Gespräche über ein allgemein menschliches Thema: Wie kann ein Zusammenleben zum Wohle aller gestaltet werden?

ISBN 978-3-7152-0648-6

ISBN 978-3-7152-0648-6

Alle Augen der Drittklässler sind auf die beiden ersten Seiten mit dem Titel «Konrad Kupferhals» gerichtet. Vor uns liegt eine sorgsam gemalte Blumenwiese mit Löwenzahn in verschiedenen Blühstadien, Gräsern, Kräutern und anderen Blumen. Ein Konrad ist nicht zu sehen. Auf die Frage, wer das wohl sein könnte, schnellen die Hände in die Höhe, und schon nach kurzer Zeit ist ein Strauss von Möglichkeiten da. Als ich anfüge, Konrad würde so eine saftige Wiese über alles lieben, sind wir bald einmal bei den Geissen und schauen uns auf den beiden nächsten Seiten die kleine Ziege Konrad genauer an, und die Kinder lesen den Text vor. Konrad hat alles, was er braucht, feines Fressen und frisches Wasser aus dem Bach. «Aber er ist traurig.» Was wohl der Grund sein könnte, wird jetzt eifrig diskutiert. Als die nächste Seite aufgeschlagen wird, ist die Spannung gross. Vor dem Stall steht das rotbraune Ziegenböcklein Konrad im Regen. Im Stall sind drei Schwarzhalsziegen und lachen ihn wegen seiner rotbraunen Farbe aus: «Du bist schon ganz rostig!». Er darf nicht in den Stall. Man lässt ihn buchstäblich im Regen stehen. Ohne den ausführlichen Text zu lesen, gelingt es den Kindern dank der trefflichen Illustration schnell, sich in die Lage der kleinen Ziege zu versetzen. Die Andersartigkeit als Grund für den Ausschluss gibt Stoff für ein längeres Gespräch. Jedes der Kinder kennt dazu Beispiele. Grundsätzliche Fragen, was es zu einem friedlichen Zusammenleben braucht, werden zum Thema. Was brauchen wir, damit sich in unserer Klassengemeinschaft alle wohlfühlen und dazugehören? In solchen Klassengesprächen, angeleitet von uns Lehrern, werden auch die emotionalen Grundlagen für ein gleichwertiges Zusammenleben – conditio qua non – in unserer Demokratie gestärkt und weiter gefestigt. 

Im Bilderbuch lesen wir nun über den weiteren Weg des kleinen Konrad, der meint, bei den anderen Geissen im Stall nur bestehen zu können, wenn auch er eine richtige Schwarzhalsziege geworden ist. Ein Besuch beim Wollschwein Mathilda scheint sein Problem zu lösen. Ausgelassen suhlt er sich mit den Frischlingen im Sumpf. Jetzt ist er schwarz und jubelt: «Endlich bin ich ein Schwarzhals!» Beim nächsten Regen ist es mit dieser Herrlichkeit vorbei. 

Nun wird die Diepholzergans auf dem Teich um Rat gefragt, wie Konrad zu einem schwarzen Fell kommen könnte. In dieser Unterhaltung wird eine Lösung deutlich, die Konrad helfen könnte. Die Gans wundert sich: «Wie kann man nur schwarz sein wollen? Schau mich an, ich bin eine Diepholzergans. Was gibt es Schöneres, als schneeweiss zu sein?» 

Die Kinder verstehen sehr genau, worum es hier geht. Gleichwertig – trotz Andersartigkeit – neben den anderen seinen Platz zu finden. Das gilt auch in unserer Klassengemeinschaft, und wenn sie einmal erwachsen sind, auch in unserer Gesellschaft. Gleichwertig zu sein, wie es in der Internationalen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben worden ist, heisst nicht, gleichartig zu sein. Jeder hat in seiner Persönlichkeit und in seinen Gedanken und Auffassungen seine je eigene Färbung, die zu einer bereichernden gemeinsamen Vielfalt beitragen kann. 

Die Geschichte endet damit, dass der kleine Ausreisser von einer Familie gefunden wird, die sich darüber freut, dass Konrad zu den selten gewordenen Kupferhalsziegen gehört. Er wundert und freut sich darüber. Zurück beim Bauern sieht er, dass dieser noch zwei weitere der seltenen Kupferhalsziegen dazu gekauft hat. 

Der kleine Konrad ist mit diesem Bilderbuch den Kindern ans Herz gewachsen. Der Erhalt der selten gewordenen Kupferhalsziege sowie der anderen seltenen und bedrohten Nutztiere wird ihnen damit zum Anliegen. Anhand kurzer Texte und Fotos erfahren die Kinder am Schluss des Bilderbuches allerlei Wissenswertes über ursprüngliche Schweizer Tierarten wie die Kupferhalsziege, die Walliser Schwarzhalsziege, das Rätische Grauvieh sowie das Wollschwein oder die Diepholzergans. 

Zu den alten Nutztierrassen können zudem kostenlos Hintergrundinformationen von ausgezeichneter Qualität, Arbeitsblätter und Spiele aus dem Internet heruntergeladen werden. Dieses Material eignet sich sehr gut auch für den Unterricht in der Mittelstufe. 

1 Philippe Ammann, Vera Eggermann: Konrad Kupferhals. Zürich 2013 (ISBN 978-3-7152-0648-6)

2 Das Bilderbuch ist in Zusammenarbeit mit Pro Specie Rara, der Schweizerischen Stiftung für die kulturhistorische und genetische Vielfalt von Pflanzen und Tieren, entstanden.

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