The Fog of War

«Diplomatie muss am aktivsten sein, wenn die Lage am hoffnungslosesten scheint» 

von Thomas Kaiser

Unter dem Titel «The Fog of War: Eleven Lessons from the Life of Robert S. McNamara» produzierte der US-amerikanische Regisseur und Dokumentarfilmer Errol Morris einen Film, der den ehemaligen US-Politiker Robert McNamara und seine Lebensgeschichte in den Mittelpunkt stellte, insbesondere seine Zeit als US-Verteidigungsminister. Viele Stationen seines politischen Lebens wurden angesprochen und von Robert McNamara kommentiert. Es kam auch der mögliche Atomwaffeneinsatz im Zusammenhang mit der Kuba-Krise im Oktober 1962 zur Sprache.

Damals hatte die Sowjetunion auf Kuba atomare Mittelstreckenwaffen stationiert, die im Kriegsfall das Festland der USA hätten treffen können. Die UdSSR hingegen war durch die in der Türkei stationierten US-amerikanischen Atomwaffen direkt bedroht, und der russische Staatschef Nikita Chruschtschow suchte nach Möglichkeiten, sein Land aus dieser unterlegenen und in der Logik des Kalten Krieges bedrohlichen Situation zu befreien. Das hätte um Haaresbreite zu einem Atomkrieg führen können. Denn der US-Präsident John F. Kennedy war entschlossen, die Stationierung der sowjetischen Raketen mit einem Atomschlag zu beenden. 

Diplomatie und Vernunft verhinderten nukleare Katastrophe

Im Dokumentarfilm warnte Robert McNamara, der sicher keine Taube war, eindringlich davor, im Nebel des Krieges den Bezug zur Realität zu verlieren, und sprach von unbeschreiblichem Glück, dass der Konflikt um Kuba nicht in einer nuklearen Katastrophe geendet habe. Denn er bestätigte, dass beide Seiten, sowohl die USA als auch die UdSSR, den Einsatz von Atomwaffen ernsthaft in Erwägung gezogen hatten, damit keiner der politischen Führer als Schwächling vor der Weltöffentlichkeit dagestanden wäre. Dass es zu einem solchen atomaren Schlagabtausch und damit zum Ende der Menschheit nicht kam, war zwei Umständen geschuldet: der Diplomatie und der menschlichen Vernunft. Nikita Chruschtschow hatte eingelenkt und aufgrund erhaltener Sicherheitsgarantien für Kuba die Atomraketen wieder abgezogen.

Das Ganze spielte sich im Oktober vor genau 60 Jahren ab. Die Weltlage war damals ausserordentlich angespannt. Es war die Zeit des Kalten Krieges, die Zeit der atomaren Hochrüstung. Als Folge dieses fast eingetretenen Supergaus wurde der «heisse Draht» bzw. das «Rote Telefon» als direkte Verbindung zwischen den beiden Supermächten eingerichtet. Es sollte den direkten Kontakt der beiden Staatschefs ohne Verzögerung ermöglichen, um ein solches Szenario zu verhindern. Nie wieder liessen beide Staaten bis zum Ende des Kalten Kriegs die Konflikte so eskalieren, dass man sich gegenseitig mit Atomwaffen gedroht hätte. Man war sich bewusst, dass nach deren Einsatz ein Leben auf unserem Planeten für niemanden mehr möglich sein würde. Aber im «Nebel des Krieges» besteht die Gefahr, diese realistische Sicht zu verlieren. 

Dass der ukrainische Präsident Selenskij einen atomaren Präventivschlag gegen Russland fordert, zeigt, wie tief er in diesem Nebel herumirrt. Mit seiner Aussage verschärft er auf der einen Seite weiter die Stimmung und heizt die Situation zusätzlich an. Eine direkte Gefahr geht von ihm, was die Atomwaffen anbetrifft, nicht aus, denn er hat diese Waffen nicht. Sollten sich jedoch die USA zum Einsatz von Atomwaffen hinreissen lassen, wären sie ebenso von der russischen Reaktion betroffen wie die Ukraine und damit ganz Europa. Eine Katastrophe! 

Selenskij im Nebel des Krieges

Die militärische Lage der Ukraine scheint trotz vielen anderslautenden Berichten prekär. Zwar kann die ukrainische Armee gewisse Territorien wieder kontrollieren, aber der Verlust an ukrainischen Soldaten ist massiv.¹ Darüber schreibt und spricht niemand, Menschenleben spielen keine Rolle. Dass Selenskij als Präsident eines kriegführenden Landes vom Nebel des Krieges umgeben ist, scheint nach den Beschreibungen McNamaras nicht verwunderlich. Aber dass die Staaten des Westens, die keine direkten Kriegsbeteiligten sind – was sie auch gerne betonen – die Kriegsstimmung weiter anheizen und die Ukraine auf Kriegskurs halten, was immer mehr Tote und Verwundete fordert, ist unverantwortlich. Es geht bekanntlich nicht um die Ukraine, sondern darum: «Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen.»²

Ernsthafte Gespräche zur Beendigung des Krieges zu führen und damit das Sterben Tausender junger Menschen zu verhindern, scheint bis heute seitens der Ukraine und des Westens keine Option. Die Nato-Staaten giessen weiter Öl ins Feuer, und je länger die antirussische Stimmung angeheizt wird, desto mehr rückt ein sinnvoller Ausweg aus diesem Krieg in immer weitere Ferne.

«Den Krieg vom Ende her denken»

Nach der Sprengung der Pipeline – sehr wahrscheinlich durch einen «westlichen» Akteur – ist offensichtlich, dass man den Krieg weiter eskalieren will und dabei billigend Tausende von Toten – vor allem Ukrainer – in Kauf nimmt. 

Wo sind in Europa, das von einer weiteren Eskalation direkt betroffen sein wird, die Stimmen der Vernunft? Einzelne Mutige, die auch in dieser Zeitung zu Wort kamen, warnen schon seit den ersten Kriegstagen vor der besonders von der allseits geschürten Kriegshysterie, die immer dichteren Nebel produziert.

In einem Interview in dieser Zeitung einige Wochen nach Beginn der «militärischen Sonderoperation» erklärte der ehemalige deutsche Brigadegeneral Dr. Erich Vad, dass man einen Krieg vom Ende her denken müsse.³ Damit meinte er: «Wir müssen von einer wie auch immer gearteten späteren politischen Lösung zurückdenken und so agieren, dass spätere diplomatische Lösungen nicht verunmöglicht werden. Sie müssen für beide Seiten einen gesichtswahrenden Ausweg enthalten. Da sehe ich eine grosse Gefahr mit Blick auf die emotionsgeladene Debatte um Russland und seinen Präsidenten Putin.» Hätte man auf Erich Vad gehört, bevor der Westen den Krieg immer stärker eskalierte und eine diplomatische Lösung kategorisch ablehnte, läge der Fokus auf Friedensgesprächen und der Suche nach einer friedlichen Lösung und nicht auf der Forderung eines Atomwaffeneinsatzes. Selbst Angela Merkel, ehemalige Bundeskanzlerin, betonte, «dass es wichtig sei, mit Russland eine langfristige Sicherheitsarchitektur zu haben.» (vgl. Interview mit A. Hunko, S. 6ff.)

Wie tief sitzen wir eigentlich im Nebel des Krieges?

Peter Maurer, der scheidende Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) äusserte sich gegenüber der Schweizer Wochenzeitung «Weltwoche» zum Krieg in der Ukraine: «Es ist wichtig, miteinander im Gespräch zu bleiben. Wir wissen von Hunderten anderen Konflikten auf dieser Welt: Irgendwann kommt der Augenblick, in dem man wieder miteinander reden muss. […] Diplomatie muss am aktivsten sein, wenn die Lage am hoffnungslosesten scheint. Das IKRK leistet hier unverzichtbare Dienste.»⁴ Je früher diese Einsicht reift, umso mehr Menschenleben werden geschont.

Die antirussische Stimmung und Verteufelung Putins erlauben kaum, sich öffentlich für ein Ende des Krieges und für Verhandlungen einzusetzen. Politiker, die das tun, können ein Lied davon singen, wie der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko oder seine Parteikollegin Sahra Wagenknecht.

Auch der sächsische Ministerpräsident, Michael Kretschmer (CDU), wurde für seinen Vorschlag, Friedensverhandlungen mit Russ­land zu führen, massiv gescholten.

Die Worte Peter Maurers, die einen Segen in dieser aufgeheizten Stimmung darstellen, verdienen unbedingte politische Unterstützung.

Schweiz bei den Grossen angekommen

Welches Land wäre dafür prädestinierter als die Schweiz, um dieses humanitäre Anliegen Peter Maurers und des IKRK auf die politische Agenda der Uno, des Europarats oder der OSZE zu setzen? Doch was macht unser Bundespräsident Ignazio Cassis? Er reist auf Geheiss der EU nach Prag zum «Gipfel gegen Putin», wie einschlägige Medien dieses von Emmanuel Macron anberaumte Treffen bezeichneten.⁵ Während Selenskij eingeladen war, waren Putin und Lukaschenko nicht erwünscht. Dafür durfte die Schweiz bei den Mächtigen am Tisch sitzen. Die «NZZ» beschreibt den Auftritt von Ignazio Cassis: «Hinter dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und vor dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz schritt der Schweizer über den roten Teppich vor der Prager Burg.»⁶ Welche Ehre, unser Bundespräsident hinter Macron und vor allem vor Scholz. Wir sind bei den «Grossen» angekommen. Das damit verbundene Prestige scheint wichtiger zu sein, als den Weg zurück zur Souveränität und Neutralität zu beschreiten, zu einer Neutralität, die internationale Anerkennung geniesst und somit eine Plattform für Verhandlungslösungen bieten könnte. Doch es scheint kein echtes Bemühen zu geben, diese Haltung einzunehmen, auch wenn man ständig die Neutralität betont. Damit ist die Chance vertan, ausserhalb der Kriegshysterie einen wesentlichen Beitrag zum Ende des Krieges und damit zum Frieden zu leisten, um endlich aus dem Nebel des Krieges herauszutreten.

¹ https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-17-vom-29-september-2022.html#article_1415

² Aus einer Rede des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz, https://www.youtube.com/watch?v=0j3aS-V_Cmo

³ https://www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-7-8-vom-24-april-2022.html#article_1348

https://weltwoche.ch/daily/praesident-des-roten-kreuzes-peter-maurer-sagt-der-ukraine-krieg-markiert-eine-trendwende-das-humanitaere-voelkerrecht-werde-wieder-staerker-beachtet-die-rolle-des-neutralen-vermittlers/

https://www.bernerzeitung.ch/schulterschluss-am-anti-putin-gipfel-313326271991

https://www.nzz.ch/schweiz/cassis-am-treffen-der-europaeischen-politischen-gemeinschaft-ld.1706184

 

«Es gibt nichts Demokratischeres als Referenden»

«Nato will Selbstbestimmung der Russen nicht zulassen»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Professor Alfred de Zayas (Bild zvg)
Professor Alfred de Zayas (Bild zvg)

 

Zeitgeschehen im Fokus Waren die Wahlen in den Oblasten Lugansk, Donezk, Saparoschje und Cherson völkerrechtskonform?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Referenden sind gründsätzlich eine menschenrechtskonforme Methode, die «Temperatur zu messen» und den Willen einer Bevölkerung festzustellen. Art. 1 des Uno-Paktes über bürgerliche und politische Rechte stipuliert das Selbstbestimmungsrecht aller Völker – also auch der Bevölkerung von Lugansk, Donezk, Saparoschje und Cherson – und natürlich der Bevölkerung auf der Krim.

Art. 19 des Paktes stipuliert das Recht aller Menschen auf freie Meinungsäusserung. Es gibt nichts Demokratischeres als Referenden. Allerdings hat die Uno hier versagt. Die Uno hat Selbstbestimmungsreferenden im Sudan, Timor-Leste und Äthiopien/Eritrea durchgeführt. Allerdings erst dann, als Zehntausende Menschen getötet worden waren. Die Uno hätte eher einschreiten und Referenden präventiv durchführen müssen.¹

Haben Referenden, wenn sie nicht von der Uno durchgeführt werden, keine Relevanz?

Natürlich sind Volksreferenden wichtig, auch wenn internationale Instanzen sie ignorieren. Natürlich gibt es Referenden in der ganzen Welt, die leider nicht von der Uno, sondern allein von der betroffenen Bevölkerung selbst organisiert und durchgeführt werden, zum Beispiel das Referendum 1962 in Algerien, das zur Unabhängigkeit führte.² 

Referendum in Algerien 1962 (Bild: de.wikipedia.org)

Referendum in Algerien 1962 (Bild: de.wikipedia.org)

 

Auch dort ist das Referendum erst durchgeführt worden, nachdem viele Toten auf beiden Seiten zu beklagen waren. Das Referendum ermöglichte einen Modus vivendi zwischen Frankreich und Algerien und führte dann zu dauerhaftem Frieden. Einige hätten das Ergebnis des Referendums – 99,72 % für die Unabhängigkeit bei einer Beteiligung von 91,88 % – in Algerien in Frage stellen wollen. Im Vergleich dazu sind die Ergebnisse des Referendums 2014 auf der Krim – 96 % bei einer Beteiligung von 83 % – und diejenigen im Donbas dieses Jahr nicht erstaunlich – nämlich 87 %, 93.1 %, 98.4 % und 99.2 % in Cherson, Saparoschje, Luhansk und Donezk bei einer Beteiligung von 76 bis 97 % der Bevölkerung.³

Allerdings ist es sehr bedauerlich, dass manche Referenden ohne zuverlässige internationale Beobachtung stattfinden, auch wenn Beobachter eingeladen werden. 

Im Jahr 1991 wurden etliche Volksreferenden durchgeführt, zum Beispiel im Kosovo, wo 99 % der Bevölkerung für die Unabhängigkeit stimmten. Dort haben die Serben das Referendum boykottiert, und die damalige Bundesrepublik Jugos­lawien hat das Referendum nicht anerkannt, ähnlich wie die Ukraine, die die Referenden auf der Krim und im Donbas ablehnt.

Wäre es nicht besser gewesen, wenn die Uno die Referenden im Donbas zumindest beobachtet hätte?

Natürlich wäre es besser gewesen, und die Ergebnisse wären dann glaubwürdiger.

Die Uno oder die OSZE hätten die Verantwortung für die Organisation und das Prozedere der Volksbefragung übernehmen sollen. Auch hätte die Uno diese Referenden bereits 1991 durchführen sollen – als die Ukraine sich von der UdSSR loslöste und dabei eine grosse russische Minderheit (30 % der ukrainischen Bevölkerung) mitzog. 

Man hätte spätestens 2014 – nach dem illegalen und verfassungswidrigen Maidan-Putsch – ein Uno-Referendum organisieren müssen. Dies sind verpasste Gelegenheiten. Um eine Sezession zu legitimieren, muss man erst wissen, was die Menschen wollen. Andernfalls könnte man von einer «Annexion» sprechen.

Eigentlich ist ein Referendum eine reine Ausübung der Demokratie, der Volkssouveränität. Dagegen gibt es nichts Undemokratischeres als einen Putsch – zum Beispiel den Maidan coup d’état vom Februar 2014.

Haben die Referenden die völkerrechtlichen Standards erfüllt?

Es ist äusserst schwierig, ein Referendum mitten im Krieg durchzuführen. Es gibt aber viele Präzedenzfälle dafür. Die Ergebnisse im Donbas erstaunen aber niemanden. Man kann sich kaum vorstellen, dass die russische Mehrheitsbevölkerung für die Ukraine stimmen würde, nachdem sie bereits 15 000 Tote durch Bombardierungen durch die Ukraine erlitten hatte. Hier kann man sogar von einer «remedial Secession» sprechen – ein Modewort, das zur Zeit der Abtrennung vom Kosovo entstanden ist. «Remedial Secession» empfiehlt sich, wenn das Zusammenleben von Volksgruppen so gestört ist, dass eine friedliche Koexistenz nicht mehr möglich ist. Kein Mensch will einen permanenten Krieg. Der Friede ist schliesslich ein Menschenrecht.

Gab es Wahlbeobachter in den vier Oblasten?

Es wurde berichtet, dass etwa 130 internationale Wahlbeobachter dort waren, unter anderem aus Südafrika. Allerdings haben die Uno, EU und OSZE die Referenden nicht beobachtet.⁴

Warum haben diese internationalen Organisationen keine Wahlbeobachter entsendet? Der Europarat macht das in der Regel doch auch?

Die Uno, die OSZE und der Europarat sind wegen ihrer Doppelmoral berüchtigt. Dort, wo sie ein Referendum wollen, gehen sie hin. Dort, wo sie die Ergebnisse eines Referendums scheuen, bleiben sie weg. So war es auch 2014 beim Referendum auf der Krim. So war es auch bezüglich Abchasiens, Ossetiens usw.

Ist die Aufnahme der Oblaste in die Russische Föderation entsprechend dem Völkerrecht?

Zunächst sollte man fragen, ob die Aufnahmen verfassungsgemäss nach russischem Recht waren. Russland ist ein Rechtsstaat, und die Aufnahme der Krim im Jahre 2014 war rechtens, war durch die Duma erwogen und vom Verfassungsgericht gutgeheissen worden, bevor Putin seine Unterschrift darunter setzte.

Völkerrechtlich gesehen, erlaubt das Selbstbestimmungsrecht der Völker sowohl die Sezession aus einem Staat als auch den Antrag auf die Aufnahme in einen anderen Staat. Es wäre zum Beispiel durchaus denkbar und rechtens, wenn der Kosovo eines Tages in Albanien integriert würde. Allerdings gibt es dort keine gemeinsame geschichtliche Entwicklung – anders als bei den Russen im Donbas, die jahrhundertelang im zaristischen Russland lebten, und dann in der Sowjetunion mit seiner Hauptstadt Moskau. Bei Fragen der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts muss man stets kontextualisieren bzw. die Vorgeschichte kennen und entsprechend handeln.

Wollen Sie damit sagen, dass die Russen in der Ukraine eine gewisse historische Legitimation besitzen, sich in die Russische Föderation zu integrieren? 

Die historische Legitimation ist mehr als gegeben. Aber das genügt nicht, um die völkerrechtliche Integration in Russland zu legitimieren. Darum muss man wissen, was die Bevölkerung eigentlich will. Es ist schade, dass Uno, OSZE und EU ganz offensichtlich kein Interesse daran haben, den Willen der dortigen Bevölkerung festzustellen. Eigentlich ist nur das entscheidend. Wenn zum Beispiel die Bevölkerung der Krim lieber in der Ukraine leben möchte, ist das auch ihr gutes Recht. Wenn die Bevölkerung im Donbas lieber in der Ukraine leben möchte, so ist das auch rechtens.

Was bedeutet es, wenn die EU-Staaten diese Abstimmungen ignorieren?

Es ist noch ein Beispiel für die Doppelmoral der EU. Die EU-Staaten sind alle verpflichtet, das Selbstbestimmungsrecht der Völker gemäss Artikel 1 des Internationalen Pakts der bürgerlichen und politischen Rechte  sowie des Internationalen Pakts der ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte nicht nur zu respektieren, sondern darüber hinaus auch voran zu bringen. Ausserdem ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der Uno-Charta und etlichen Uno-Resolutionen verankert.

Kann man die Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien, die der Westen sofort anerkannt hat, mit der Entwicklung in der Ukraine vergleichen?

Gewiss. Allerdings waren die Nato-Angriffe gegen Jugoslawien im Jahre 1999 völlig illegal und mit der Uno-Charta nicht in Einklang zu bringen. Die Nato-Staaten haben das Gewaltverbot des Artikels 2(4) der Uno-Charta schwer verletzt, indem sie ein Land ohne Genehmigung des Sicherheitsrates angriffen, – und zwar nicht, um die «Befreiung» Kosovos zu erreichen, sondern um strategische Nato-Ziele durchzusetzen. Dabei war der Kosovo nur Anlass, nicht aber Ursache der illegalen Aggression gegen Jugoslawien.

Worum ging es der Nato und den USA tatsächlich?

Es ging um die weitere Ausdehnung der Nato, die inzwischen zu einer «kriminellen Organisation» gewachsen ist, wenn man sich die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit, die die Nato-Staaten in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien usw. inzwischen begangen haben, vor Augen führt. Artikel 9 und 10 des Statuts des Nürnberger Tribunals sprechen dort von «kriminellen Organisationen», die Kriege geführt haben – allerdings nur von deutschen.⁵ Die Nürnberger Prinzipien gelten aber noch heute.

Was ist beim Vorgang in der Ukraine anders als im Kosovo? 

Kosovo stellt einen Präzedenzfall dar, den die Russen im Donbas in Anspruch nehmen können. Der Westen meint aber, das Völkerrecht nur zu akzeptieren, wenn es im Einklang mit geopolitischen Zielen der USA und der Nato steht. Ich empfehle allen, das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs über Kosovo aus dem Jahre 2010 zu lesen.

Könnten Sie das kurz resümieren?

Summa summarum hat der Internationale Gerichtshof die Abtrennung Kosovos gut geheissen und dabei deutlich gemacht, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker einen höheren Wert besitzt, als das Prinzip der territorialen Integrität. Hauptsache dort – wie hier – ist es, den Frieden wieder herzustellen, und zwar einen modus vivendi zu erlauben, der das Leben aller einigermassen schützt.  Dabei ist zu bemerken, dass das Verhalten Serbiens gegenüber der Bevölkerung im Kosovo nicht so grotesk war, wie die Verbrechen der ukrainischen Regierung seit dem Maidan-Putsch, mit seinen mehr als 15 000 Toten. Absatz 80 des Gutachtens ist besonders einschlägig.

Was sagt dieser Absatz aus?

Kurzum, dass das Prinzip der territorialen Integrität, also die Integrität von Staaten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht ausschalten kann.⁶ 

Was sind die tieferen Ursachen für die Integration der vier Oblaste in die Russische Föderation? 

Ohne den illegalen Maidan-Putsch vom Februar 2014 wäre heute kein Krieg in der Ukraine. Der Krieg fing nicht erst im Februar 2022 an, sondern bereits vor acht Jahren. Hätte die Ukraine die Minsker Abkommen umgesetzt, wäre es auch heute zu keinem Krieg in der Ukraine gekommen. Hätte die Nato die Neutralität der Ukraine akzeptiert, hätte es auch keinen Krieg gegeben. Hier haben wir es seit vielen Jahren mit Nato-Provokationen zu tun, und viele amerikanische Professoren haben es vorausgesagt – unter anderem Prof. John Mearsheimer (Chicago), Prof. Jeffrey Sachs (Columbia University)⁷, Prof. Richard Falk (Princeton).

Welche Folgen hat die Eingliederung für Russland und die dort lebende Bevölkerung?

Hoffentlich wird es ruhiger für die eingegliederten Russen. Sie haben ein Recht auf Frieden. Die Nato will aber die Selbstbestimmung der Russen nicht zulassen und wird weiterhin bombardieren. Hoffentlich kommt es nicht zum totalen Krieg.

Gibt es neben Ihnen doch noch andere vernünftige Stimmen mit internationalem Gewicht? Es müsste doch eine Initiative entstehen, die zur Besonnenheit und Vernunft aufruft. 

Es sind schon etliche solcher Ini­tiativen unternommen worden – unter anderem von Professor Hans Köchler⁸ mit der International Progress Organization und von Fredrik Heffermehl in Norwegen⁹. Es waren mehrere offene Briefe an den Uno-Generalsekretär António Guterres und an Politiker adressiert. Bisher ohne Erfolg. Und unsere Medien schweigen weiter über solche Initiativen und betreiben weiterhin Kriegs­propaganda. Sogar Elon Musk hat eine Initiative verbreitet, die von Selenskij gleich verworfen wurde¹⁰. Das ist schändlich!

Herr Professor de Zayas, ich danke Ihnen für das Interview.

Interview Thomas Kaiser

¹ Für die Theorie und Praxis der Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes siehe meinen Bericht an die Uno-Generalversammlung A/69/272 und Kapitel 5 meines Buches «Building a Just World Order»
https://www.claritypress.com/product/building-a-just-world-order/

² www.cvce.eu/en/obj/declaration_recognising_algeria_s_independence_paris_3_july_1962-en-05d4d86f-da65-4c7e-b4d7-e09999516f68.html

³ sputniknews.com/20220928/results-of-referendums-on-joining-russia-in-Donbas-kherson-and-zaporozhye-regions-1101303653.html

newsrnd.com/news/2022-09-28-international-observers--the-organization-of-voting-in-the-referendum-in-Donbas-is-in-line-with-international-standards.H1PDN2bzs.html
tass.com/politics/1514707
www.thezimbabwemail.com/world-news/south-africas-ruling-party-anc-amongst-international-observers-in-putins-referendum-in-ukraine/

legal.un.org/ilc/documentation/english/a_cn4_5.pdf

⁶ Siehe Kapitel 5 meines Buches «Building a Just World Order»

www.jeffsachs.org/newspaper-articles/d2hlnp24c7hyewetypd6rjgfesszm4

https://detv.us/2022/02/10/civil-society-appeal-on-ukraine-crisis-peace-policy-instead-of-war-hysteria/

bandungspirit.org/IMG/pdf/koechler-russia-ukraine-what-peaceful-coexistence-bandung-spirit-series-18march2022.pdf

¹⁰ www.msn.com/en-in/news/world/elon-musk-has-peace-plan-for-ukraine-zelensky-his-officials-are-not-pleased/ar-AA12yUgU

«US-Strategie seit 100 Jahren: Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Zentraleuropa und Russland verhindern»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko 

Andrej Hunko, MdB DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Die Sprengung der Pipeline soll für die Täter, so sie denn ausfindig gemacht werden können, schwere Konsequenzen haben. Frau von der Leyen sprach davon, die Täter hart zu bestrafen. Wie diskutiert man in Deutschland über diese Anschläge und wer waren denn die Täter, die Frau von der Leyen zu Recht hart bestrafen will?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Zunächst muss man festhalten: Es ist ein Terroranschlag auf die Energieinfrastruktur der EU und im Besonderen derjenigen Deutschlands sowie eine ökologische Katastrophe. Was ich im deutschen Diskurs mehr als befremdlich finde, ist die schnelle Festlegung darauf, dass Russland bzw. Putin hinter dem Anschlag stecken soll. Ich halte das für unwahrscheinlich.

Warum halten Sie das für unwahrscheinlich?

Wir wissen es natürlich nicht. Aber in der Kriminalistik hat man drei zentrale Fragen: Wer hat ein Motiv? Wer hat die Fähigkeit, das zu tun? Und wer hat die Gelegenheit dazu? Wenn man das einmal vom Motiv her betrachtet, gibt es drei Staaten, die ein vitales Inter­esse immer wieder angekündigt haben, Nord-Stream 2 zu verhindern. Das sind die USA, das sind Polen und die Ukraine. Biden hat ganz deutlich Anfang des Jahres gesagt, dass er Nord-Stream 2 beenden wird, egal wie. Der polnische Präsident Andrzej Duda hat im August den Abriss der Pipelines gefordert. Polen und die Ukraine haben jetzt das Monopol auf die Gasdurchleitung aus Russland Richtung Zentraleuropa und Deutschland.

Wie steht es um die Fähigkeiten?

Da gibt es einige Staaten, aber wiederum auch nicht so viele, die dazu in der Lage wären. Es ist ziemlich sicher, dass es ein staat­licher Akteur gewesen sein muss. Eine kleine Terrororganisation kann das nicht. Man muss sehen, dass das Gebiet, in dem die Anschläge verübt wurden, sehr, sehr stark von Nato-Staaten überwacht wird. Von daher spricht einiges dafür, dass die USA in Kooperation mit anderen Kräften dahinterstecken könnten. Aber wir wissen es nicht. Ich halte auch nicht viel davon, Sachen, die man nicht weiss, als Tatsachen hinzustellen. Jetzt bräuchte es eine internationale Kommission, möglichst organisiert von einem neutralen Akteur. 

An wen denken Sie da?

Wenn man sich die internationalen Organisationen anschaut, dann könnte das die OSZE sein oder die Uno. Ich habe in der Debatte im deutschen Bundestag einen Tag nach dem Anschlag gefordert, dass es eine unabhängige Untersuchung von Experten geben muss, die wirklich unabhängig sind und die zu allen Daten und Informationen Zugang von den involvierten Ländern haben müssen. Aber ich habe meine starken Zweifel, dass so etwas passiert. Deshalb werden wir noch in zehn Jahren darüber spekulieren, wer wirklich dahintersteckt. 

Wäre Grossbritannien nicht auch noch ein möglicher Akteur?

Ja, es vertritt hier in Europa vielfach eine identische Position wie die USA. Grossbritannien ist sicher ein Akteur, der ein Motiv und die Fähigkeit besitzt und wahrscheinlich auch Gelegenheit dazu gehabt hatte. Die neue englische Premierministerin denkt offen darüber nach, Atomwaffen einzusetzen. Die Tories mit der nicht vom Volk gewählten Liz Truss an der Spitze verlieren aber zunehmend die Unterstützung.

Russland hat vor ein paar Tagen in Aussicht gestellt, die Pipeline zu reparieren. 

Ende letzter Woche habe ich eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet, ob sie die Einschätzung habe, dass das reparierbar sei und ob sie die Einschätzung habe, dies als Option anzuvisieren. Die Frage wird im Laufe der Woche beantwortet.

Wie wird im Bundestag und in der Bundesregierung diskutiert, wer für den Anschlag verantwortlich ist?

Wenn man genau hinhört, was offizielle Vertreter sagen, dann halten sie sich eher zurück mit Verdächtigungen auch gegenüber Russland. So, wie ich das wahrnehme, besteht ein Unterschied im ­öffentlichen Diskurs und den tatsächlichen Aussagen von Regierungsvertretern. Vielleicht gibt es nachrichtendienstliche Informationen, die ich nicht kenne. Die Ostsee ist eines der bestüberwachten Meere. Es gibt Unterwassermikrophone und weitere, vielfältige Überwachungsmöglichkeiten. Ob den Behörden darüber Kenntnisse vorliegen, vermag ich nicht zu beurteilen. 

Politisch und wirtschaftlich betrifft es doch vor allem Deutschland und natürlich auch Russland. 

Die Option, die Pipeline kurzfristig wieder in Betrieb zu nehmen, ist weg. Die Reparatur, wenn sie denn möglich ist, wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Das heisst, es ist ein sehr grosser Schaden für Deutschland, denn wir gehen auf einen sehr schweren Winter zu.

Ihre Ausführungen geben keinen Anlass von einer russischen «False Flag Operation» auszugehen.  

Na, ja, man kann eine komplizierte Verschwörungstheorie kreieren, dass die Russen gewisse Interessen haben. Das ist konstruierbar, zum Beispiel dass die Russen sich durch diesen Akt von Europa abgrenzen wollen, eine organisierte «False Flag Operation» machen, um sie andern Staaten in die Schuhe zu schieben. Theoretisch ist das denkbar, aber sehr unwahrscheinlich. 

Russland hätte doch kein Problem zu sagen, es gibt kein Gas mehr. Dafür muss es doch nicht seine eigene Pipeline sprengen. Das ist doch eine absurde Theorie!
Deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine sind immer noch ein Thema. Und stimmt es, dass die Bundesregierung sich bei schweren Waffen zögerlich verhält?

Wir haben in Deutschland die Ampelkoalition, und die CDU/CSU-Opposition setzt die Regierung stark unter Druck, Leopard und andere Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern. Scholz stellt sich auf den Standpunkt, dass das von anderen Nato-Staaten nicht gemacht und deshalb Deutschland hier nicht vorpreschen werde. Es ist ganz offensichtlich, dass die CDU/CSU den Druck auf Kanzler Scholz erhöhen. Grüne und FDP drängen auch in diese Richtung. Die SPD und das Kanzleramt sind eher der mässigende Teil.  

Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung?

Der Angriff am 24. Februar war ein gesellschaftlicher Schock für viele in Deutschland. Die Menschen hatten das so nicht erwartet. Dieser Schock hat zur Akzeptanz von Waffenlieferungen und umfangreichen Wirtschaftssanktionen geführt. Die Zustimmung bröckelt etwas, bleibt aber immer noch auf hohem Niveau. Was dazu kommt, ist die grosse Sorge vor der Energiearmut, vor der Inflation und die Angst, die eigenen Rechnungen nicht mehr bezahlen zu können sowie die Angst vor dem Absturz der deutschen Wirtschaft. Diese Bedenken sind sehr ernst zu nehmen. 

Das Sanktionsregime erweist sich immer mehr als Rohrkrepierer?

Die umfangreichen Sanktionen gegen den eigentlichen Energielieferanten führen in Deutschland zu mehr Problemen als in Russ­land, wie in den nächsten Monaten wahrscheinlich zu sehen sein wird. Nord-Stream 1 lief normal weiter und nach sieben Sanktionspaketen hat Russland die Fördermenge reduziert. Russland sagt, es gebe technische Probleme, aber sehr wahrscheinlich ist es eine Reaktion auf die Sanktionspolitik. Deshalb muss man auch von Wirtschaftskrieg sprechen. Der Wirtschaftskrieg wird der Regierung noch zu schaffen machen und massive Auswirkungen auf die Bevölkerung haben, und zwar nicht nur diesen Winter. Das deutsche Wirtschaftsmodell ist sehr abhängig von günstiger Energie, und die ist nicht mehr da. Der Gaspreis ist in Europa zehnmal so hoch wie in den USA. 

Was macht die amtierende Regierung damit?

Jetzt versucht man, auf dem Weltmarkt noch Gas einzukaufen, zu horrenden Preisen oder von anderen, zweifelhaften Akteuren wie den Golfstaaten, Aserbaidschan oder bezieht das Fracking-Gas aus den USA. Das wird irgendwann zu viel höheren Preisen und mit einer irrsinnigen ökologischen Belastung verwendet werden. Schon bei der Gewinnung von Fracking-Gas werden Unmengen von Methan in die Atmosphäre geblasen, das viel klimaschädigender ist als CO2. Dann muss das Gas verflüssigt werden, das heisst mit viel Energie heruntergekühlt, und dann um die halbe Welt mit dem Schiff transportiert, um es anschliessend in den europäischen Gasmarkt einzuspeisen – ein ökologischer Wahnsinn. Die Gewinner auf der ganzen Linie sind hierbei die USA und die daran beteiligten Unternehmen.

Um nochmals auf die Anschläge auf die Pipeline zurückzukommen. Hier stellt sich doch die Frage: Cui bono? Wem nützt das?

Ja. Der grosse Profiteur sind die USA. Es gibt auch schon lange diese Strategie. Man wollte Nord-Stream 2 sanktionieren. Donald Trump hat Sanktionen gegen die Pipeline erlassen, die besonders auf die Firmen abzielten, die die Pipeline bauten. Man hat alles versucht, um den Bau dieser zweiten Pipeline zu verhindern. Dahinter stehen zwei Motive: Das eine ist die Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Zentraleuropa und Russland zu verhindern, einen möglichen Konkurrenten auszuschalten. Das ist die US-Strategie seit 100 Jahren. Das andere ist der Verkauf von Fracking-Gas zu überhöhten Preisen, denn das Gas ist eigentlich überhaupt nicht konkurrenzfähig, weil viel zu teuer. 

Sie haben immer wieder erwähnt, dass die ganze Sanktionspolitik der deutschen Wirtschaft massiv schaden wird. Da stellt sich mir die Frage: Lässt die Wirtschaft das einfach so geschehen? Sie ist doch auch ein Machtfaktor? Gibt es keine Stellungnahmen dazu?

Es gibt vereinzelt Stellungnahmen dazu, aber in der Summe sind das keine Reaktionen, die der Dramatik angemessen wären. 

Warum ist das so?

Diese Frage habe ich mir selbst auch schon gestellt. Ich denke, dass hier mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Zum einen sind die grossen Konzerne letztlich in der Hand von multinationalen Finanzkonzernen wie Blackrock und ähnlichen. Die haben kein spezielles Interesse am Wirtschaftsstandort Deutschland. Die können die Produktion in andere Länder verlagern, zum Beispiel in die USA. Ein weiterer Punkt ist, – und ich habe mich mit einigen Wirtschaftsvertretern getroffen – dass sie ebenfalls verunsichert und eingeschüchtert sind. Das Etikett «Putin-Freund» zu bekommen, ist im Moment mit das Schlimmste, was einem im öffentlichen Leben widerfahren kann. Davor schrecken auch Unternehmer zurück. Das war auf alle Fälle mein Eindruck. Diese Diskurshegemonie, die vorherrscht, die auch von den Big-Tech- und Social-Media-Konzernen stark beeinflusst wird, ähnlich wie in der Corona-Zeit, hat sogar einen Einfluss auf die Entscheidung, sozusagen von Kapitalisten. Es gibt schon vereinzelte Stellungnahmen, aber nicht von BASF oder Bayer, dass Nord-Stream 2 geöffnet werden sollte.

Bei kleineren Unternehmen ist das eher der Fall?

Ja, Vertreter von Handwerksbetrieben gingen auf die Strasse und machten auf die bestehenden Probleme aufmerksam. Sie forderten explizit die Öffnung von Nord-Stream 2. Für diese Betriebe ist es essenziell, dass sie weiterhin mit genügender und zahlbarer Energie versorgt werden.

Ja, unter diesen Umständen kann man sich vorstellen, dass die grossen Konzerne mehrheitlich lieber schweigen

Dazu kommt noch, dass die EU bestrebt ist, das innere Regime bei Sanktionsverstössen drastisch zu verschärfen. Bis zum nächsten Treffen des Europäischen Rats wird eine Änderung des Primärrechts, der Grundlagenverträge der EU, sehr wahrscheinlich vollzogen, die Verstösse gegen Sanktionen dem kriminellen Bereich zuordnet.

Was bedeutet das?

Man setzt Verstösse zum Beispiel gegen Wirtschaftssanktionen gleich mit Terrorismus, Menschenhandel oder anderen schweren Verbrechen. Letzte Woche wurde das im Bundestag diskutiert. Im ersten Schritt wird das Primärrecht dergestalt geändert und im zweiten Schritt ein EU-Straftatbestand geschaffen, der diesen dann noch einmal konkretisiert. Wie der Sanktionsverstoss geahndet wird, liegt dann in den Händen der EU. Das gilt für alle Sanktionsregime. Wir haben nicht nur gegen Russland Sanktionen, sondern gegenwärtig gibt es in der EU 40 Sanktionsregime, zum Beispiel gegen Syrien oder den Iran. Es zeigt sich ganz deutlich, und nicht erst seit dem 24. Februar, dass hier immer weiter solche Sanktionsregime aufgezogen werden sollen.

Ist das mit dem Völkerrecht zu vereinbaren?

Nein, und das muss man unbedingt dazu sagen. Wir reden über unilaterale Sanktionen und nicht von Uno-Sanktionen oder Umsetzungen internationaler Gerichtsurteile. Hier ist ein geopolitscher Akteur, die EU oder die USA oder beide gemeinsam, der sich das Recht herausnimmt, andere Teile der Welt mit Embargos und schweren Wirtschaftssanktionen zu bestrafen. Das wird in Zukunft so weitergehen: gegen China oder unbotmässige Staaten vielleicht in Afrika etc. Das ist eine Entwicklung, die ich sehr, sehr kritisch sehe. Jetzt wird also innerhalb der EU das Strafrecht entsprechend verschärft.

Ist es etwas Neues innerhalb der EU, dass man gegen einzelne Staaten strafrechtlich vorgehen kann?

Die Tendenz dazu ist schon länger zu spüren, aber dass es einen Straftatbestand nach EU-Recht gibt, das ist tatsächlich neu. Es gibt bei einzelnen Ländern betreffend Sanktionen einen Straftatbestand, aber in unterschiedlicher Schärfe. Das soll jetzt vereinheitlicht und unter EU-Gerichtsbarkeit geführt werden, um dann auch Länder, die bei diesen Sanktionsregimen nicht so mitmachen wollen, besser ahnden zu können. Das Ganze findet bei uns unterhalb des medialen Radars statt, aber grosse Teile der Welt sehen diese Entwicklung mit Unbehagen. Die Uno hat auf das zunehmende Bestrafen durch Sanktionen mit der Schaffung eines Sonderberichterstatters über einseitige Zwangsmassnahmen reagiert. Frau Professor Dohan, die dieses Amt an der Uno im Moment bekleidet, wurde auch in dieser Zeitung bereits interviewt. Einseitige Zwangsmassnahmen sind ein Instrument der Reichen und Mächtigen gegen andere Teile der Welt.

Weil Sie Frau Professor Dohan erwähnt haben – sie hat im Grunde genommen dargelegt, dass einseitige Zwangsmassnahmen nicht mit der Uno-Charta vereinbar sind.

Ja, das ist ein klarer Völkerrechtsbruch, der gegen alle Grundlagen der Uno verstösst. Und erschreckend ist, dass im öffentlichen Diskurs das in keiner Weise reflektiert wird.

Das Absurde ist, dass die Schweiz tatsächlich auch diese Sanktionen übernimmt, die völkerrechtswidrig sind und sich dabei auf Länder abstützt, mit denen sie wirtschaftliche Beziehungen pflegt, also EU oder USA¹.

Wenn sie von der EU oder den USA kommen, sind sie völkerrechtlich nicht legitimiert. Das ist Teil der Propaganda. Die EU spielt sich als Uno auf, aber sie ist nicht die Uno. Die Propaganda spricht immer von der internationalen Gemeinschaft, was nur für die Nato-Staaten und ihre Verbündeten gilt. Aber grosse Teile der Welt sehen viele Sachen anderes, als wir sie hier präsentiert bekommen. Dazu gehört auch der Blick auf solche Sanktionsregime. Grosse Teile der Welt beteiligen sich nicht an den Sanktionen gegen Russland, auch wenn sie den Krieg verurteilen. Die EU spricht seit neustem immer von einer regelbasierten Ordnung. Niemand weiss eigentlich, was das ist. Man spricht nicht vom Völkerrecht – das wäre die Ordnung, die auf internationalen anerkannten Grundlagen basiert. Das meint man aber nicht, sondern man nimmt sich mit dem Begriff heraus, darauf vorzubereiten, die Regeln selbst zu definieren.

Das ist meistens situativ?

Genau. Bekanntgeworden ist jetzt in Deutschland, dass unter der neuen Regierung die Waffenexporte nach Saudi-Arabien stark angestiegen sind, und das zeigt, wie extrem hier die Doppelmoral ist. Saudi-Arabien führt mit Unterstützung der USA einen brutalen Krieg gegen den Jemen und bekommt dazu deutsche Waffen geliefert, während Russland mit Sanktionen belegt wird.

Die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel nimmt in der ganzen Auseinandersetzung mit Russland doch eine etwas moderatere Position ein?

Sie hält sich sehr zurück. Hat aber in einem ihrer seltenen Auftritte gesagt, man müsse das, was Putin sage, ernst nehmen. Gleichwohl äusserte sie sich, dass es wichtig sei, mit Russland eine langfristige Sicherheitsarchitektur zu haben. Das sagte sie, ohne sich direkt zum Krieg zu äussern. Das widerspricht allem, was gegenwärtig an Propaganda läuft. Der Begriff der «Zeitenwende» und die permanente Betonung der Irreversibilität der Zustände deuten in eine andere Richtung. Es wird kein Danach in irgendeiner Art und Weise  berücksichtigt. Es wird betreffend den Bruch mit Russland eine Endgültigkeit beschworen. Das unterläuft sie mit solchen Äusserungen. Dafür wurde sie auch massiv attackiert, vor allem vom ehemaligen ukrainischen Botschafter Melnik in der Bundesrepublik. Diese Position ist schon sehr bemerkenswert.

Gibt es in Deutschland irgendeine Bewegung, die auf ein Ende des Kriegs durch Verhandlungen setzt?

Es gibt schon eine Bewegung in Deutschland. Es gehen immer wieder Menschen auf die Strasse mit Forderungen nach Verhandlungen und für ein Ende der Sanktionen. Es ist aber eine überschaubare Anzahl an Menschen, in dem Sinn keine Massenbewegung. Vor einigen Tagen waren, nachdem von den Strukturen der Friedensbewegung zu Demonstrationen aufgerufen worden war, in den grösseren Städten, Menschenmassen im vierstelligen Bereich zu sehen. Das ist in der jetzigen Situation natürlich nicht ausreichend. In Ostdeutschland gibt es zwar Demonstrationen wegen der Wirtschaftslage, deren Teilnehmer sich aus ganz unterschiedlichen politischen Lagern zusammensetzen, teilweise kommen sie von rechts wie zum Beispiel von der AfD, zum andern von links, und das gibt natürlich immer Auseinandersetzungen. Die Proteste werden medial massiv delegitimiert. Wie bei den Corona-Protesten, selbst wenn sie nichts mit Nazis zu tun haben, werden sie in der Öffentlichkeit so dargestellt. Man versucht alles, um eine Verbindung zwischen sozialer Frage und Friedensfrage zu verhindern.

Wird das öffentlich ausdiskutiert?

Ja, es gibt schon immer Foren, die diese Fragen diskutieren wie zum Beispiel die Rede von Sahra Wagenknecht im Bundestag oder die Aussagen des Philosophen Richard David Precht, der jetzt die Neutralität der Ukraine gefordert hat. Wenn ein Nato-Staat gegen die Aufnahme der Ukraine stimmen würde, könnte man so eine weitere Eskalation des Konflikts verhindern. Solche Vorschläge werden in der medialen Öffentlichkeit heftigst attackiert, aber es gibt schon solche Auseinandersetzungen.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/seco/nsb-news.msg-id-77512.html

 

Sri Lanka: «Papst Franziskus hat mich unterstützt, für Frieden und Versöhnung zu arbeiten»

«Politik ist das Interesse am menschlichen Leben und daran, Menschen zu helfen»

Interview mit Professor Dr. S. J. Emmanuel, katholischer Theologe und Priester

Professor Emmanuel (Bild: thk)
Professor Emmanuel (Bild: thk)

Zeitgeschehen im Fokus In unseren Medien liest man hin und wieder, dass Sri Lanka von einer Wirtschaftskrise heimgesucht wird, Menschen deswegen auf die Strasse gehen und gegen die Regierung protestieren. Premierminister Gotabaya Rajapaxe ist zurückgetreten. Ist die Lage so verheerend?

Professor S.J. Emmanuel Ja, Sri Lanka ist in einer ganz schwierigen Lage. Im Land leiden sowohl Singhalesen als auch Tamilen. Es ist eine grosse Krise. Es fehlen Lebensmittel, aber auch Benzin und Gas. Die Ausbildung der jungen Menschen ist behindert. Es gibt viele Arbeitslose.

Was ist die Ursache dafür?

Es gibt verschiedene Gründe. Ein Aspekt ist die hohe Verschuldung. Die Regierung, aber auch die Wirtschaft haben von ausländischen Staaten Geld aufgenommen und sitzen jetzt auf extremen Schulden. Das begann mit der Machtübernahme durch Gotabaya Rajapaxe. Er hat in der Landwirtschaft den künstlichen Dünger verboten und damit die Erträge  reduziert. Auch andere Dinge hat er eingeführt, die nicht vorteilhaft für die Wirtschaft waren. Mit China hat er zusammen einen Hafen gebaut und sich langsam von der westlichen Welt Richtung China gewendet. Die industrielle Entwicklung ohne genügend Rohstoffe ist schwierig für das Land. Die Krise können wir aber nicht anderen anlasten, wir sind selbst schuld. Aber die Probleme liegen auch im politischen System.

Wie meinen Sie das?

Wir haben eine Regierung, bei der sich eine Familie, die Familie Rajapaksa, seit vielen Jahren die Macht teilt. Der letzte Premier war ursprünglich ein einfacher Soldat und ist in die USA ausgewandert. Als der älteste Bruder, Mahinda Rajapaksa, als Präsident von Sri Lanka den Krieg gegen die Tamilen führte, holte er seinen Bruder Gotabaya aus den USA und machte ihn zum Verteidigungsminister. 2009 war der Krieg zu Ende. Das Ergebnis waren Tausende von getöteten Tamilen und ein völlig gespaltenes Land. Gotabaya Rajapaksa ist im Kampf gegen die Tamilen für mehrere Kriegsverbrechen verantwortlich. Aber niemand verfolgt diese.

Gibt es bis heute keine Versöhnung?

Nach dem Krieg feierten die Rajapaksas ihren Sieg über die Tamilen und Gotabaya wurde als Held gefeiert. Das war für die Singhalesen der grosse Triumpf über die Tamilen. Die Tamilen waren geschlagen und haben während des Bürgerkriegs so viele Menschen verloren, aber das Leben geht weiter. Wir müssen zusammenleben.

Wie kam Gotabaya Rajapaksa an die Macht?

Er wurde von der Mehrheit der Bevölkerung in Sri Lanka gewählt. Er galt unter den Singhalesen als Held, der die Tamilen besiegt hatte, und er erhielt bei den Präsidentschaftswahlen die Unterstützung des singhalesisch buddhistischen Volks, nicht von den Tamilen oder Muslimen. Er weiss das, denn er hat in seiner Rede erwähnt, er sei nicht von den Tamilen und den Muslimen gewählt worden. Er wurde nur von den Singhalesen gewählt, vor allem wegen des Sieges über die Tamilen. Aber die Tamilen haben sehr unter dem Krieg und seinen Folgen gelitten. 

Wann begann das Leiden der Tamilen?

1976 haben die Tamilen den demokratischen Kampf im Parlament um Gleichberechtigung aufgegeben. Der Leiter der tamilischen Partei hat damals gesagt: «Wir sind am Ende, nur Gott kann uns helfen.» Es war nicht möglich, die Lage der Tamilen über den Parlamentarismus zu verbessern.

Wie war die Lage der Tamilen?

Seit 1957 waren vor allem die jungen Menschen stark diskriminiert. Der Premierminister Bandaranaike vertrat die Auffassung der «Sinhales only» und machte Singhalesisch zur offiziellen Sprache. Er hat in Grossbritannien, in Cambridge, studiert und kam 1927 zurück nach Sri Lanka. Damals hatte er sich für ein föderales System eingesetzt. 30 Jahre später wollte er an die Macht kommen und wählte dazu den Weg des singhalesischen Nationalismus. Von der Basis hatte er die Unterstützung, auch von den buddhistischen Mönchen. Somit begann eine Phase der Diskriminierung und Unterdrückung der Tamilen. Bandaranaike wurde von einem buddhistischen Mönch erschossen. In den Wahlen 1960 wurde seine Frau zur Premierministerin gewählt.

War sie moderater?

Nein, sie ging mit der Diskriminierung noch weiter. Sie brachte ein Gesetz auf den Weg, das festlegte, dass tamilische Studenten, die die Universität besuchen wollten, bei der gleichen Prüfung mehr Punkte erreichen mussten als die Singhalesen. Bei der Suche nach einem Arbeitsplatz waren die Tamilen ebenfalls benachteiligt, denn man verlangte immer das Beherrschen von Singhalesisch als offizielle Sprache. Der stärkste Eingriff der Singhalesen war, dass man in den tamilischen Siedlungsgebieten singhalesisches Militär stationierte – angeblich um die illegale Einwanderung von indischen Tamilen zur verhindern.

Worum ging es wirklich?

Es war Staatsterrorismus. Das singhalesische Militär hat mit Waffengewalt unser Volk unterdrückt. Ich habe das in den 60er Jahren erlebt. Die Menschen hatten grosse Angst vor den Gewalttätigkeiten des Militärs. Das Parlament in Colombo schuf diskriminierende Gesetze. Das Militär sollte vor allem in den tamilischen Siedlungsgebieten verhindern, dass sich Widerstand bildet. Dagegen sind damals vor allem junge Menschen dazu übergegangen, auch zu den Waffen zu greifen. Ich bin ein katholischer Priester und ein Jünger Jesu. Für mich kommt Gewalt nicht in Frage, aber ich kann die Verzweiflung der jungen Menschen verstehen, die diskriminiert wurden und keine Möglichkeit hatten, etwas daran zu ändern. Sie griffen zu den Waffen, um das Volk zu schützen gegen den Staatsterrorismus. Der Westen hat nie verstanden, welch grosses Unrecht den Tamilen widerfahren ist, bevor sie begannen, sich zu wehren. Im Westen hiess es immer, das sind Terroristen. Als Präsident Bush seinen Kampf gegen den Terrorismus begann, meldete sich die Regierung von Sri Lanka und betonte, dass sie bereits gegen den Terrorismus kämpfe und Unterstützung von den USA verlange.

Was waren die Folgen für die Tamilen?

17 Nationen haben die Organisationen der Tamilen für Terroristen erklärt, darunter auch die Befreiungsarmee, «Tamil Tigers». 1983 kam es zu grossen Flüchtlingswellen. Die Tamilen waren verteilt über die ganze Welt. Ihre Konten wurden gesperrt und sämtliche Aktivitäten der Menschen waren verboten. Die Menschen waren diskriminiert, fühlten sich als Teil eines verbotenen Volks. Das war der Fehler der westlichen Nationen. Über 20 Staaten unterstützten den Kampf der singhalesischen Armee gegen die Tamilen, gegen die Tamil Tigers. Damals habe ich in verschiedenen Parlamenten lobbyiert, unter anderem in Dänemark oder in Grossbritannien, und erklärt, dass wir keine Terroristen seien und ein politisches Ziel verfolgten. Wir wollten uns nur aus der Unterdrückung befreien.

Wie haben die Vertreter der Länder reagiert?

Zum Beispiel der Aussenminister Dänemarks sagte zu mir, wenn die USA die «Tamil Tigers» verbieten, warum nicht auch wir. Sie sind, ohne gross nachzudenken, den USA gefolgt. Durch den Krieg haben wir viel verloren: Menschenleben, Häuser, Infrastruktur etc. Bis zum Ende des Krieges 2009 kämpften wir für ein besseres Verständnis für unsere Situation. 

Sie haben das alles miterlebt …

Ja. Ich bin 1996 aus Sri Lanka geflohen zunächst nach England. Danach war ich 21 Jahre in Deutschland. Im Jahre 2010 wurde ich von den Diasporatamilen zum Vorsitzenden des Tamil Global Forums gewählt, und dann begann meine Lobbyarbeit auf der ganzen Welt. Ich habe alle grossen Städte der Welt besucht: London, Ottawa, New York, Canberra, Wellington etc. Dem Bischof von Münster bin ich dankbar. Er hat mir eine kleine Pfarrei gegeben. Damit konnte ich Geld verdienen und so die Tickets bezahlen. 

Wie hat die Regierung von Sri Lanka auf Ihre Aktivitäten reagiert?

Es hat mir den Vorwurf der Regierung eingetragen, dass ich den Terrorismus unterstütze. Gotabaya Rajapaksa, der damalige Verteidigungsminister, hat ein 20minütiges Video über mich als «Terrorist» auf der Homepage des Verteidigungsministeriums veröffentlicht: «Emmanuel ist der schlimmste Gegner der Regierung Sri Lankas und unterstützt überall Terrorismus.» Das war sehr schlimm für mich. 

Ist das Video heute immer noch zu sehen?

Nein. Es wurde ein neuer Präsident gewählt, Maithripala Sirisena. Er hat mich angerufen und gebeten, zu einem Treffen nach London zu kommen. Drei Vertreter vom Tamil Forum sassen vier Regierungsmitgliedern gegenüber. Der Präsident hat mich gefragt, ob ich zurück nach Sri Lanka kommen würde, um mich im Land für Frieden und Versöhnung einzusetzen. Ich hatte mich, bevor ich Sri Lanka verlassen musste, an der theologischen Fakultät in Candy immer für einen interreligiösen Dialog zwischen Buddhisten, Muslimen und Christen eingesetzt. Ich habe nie ein Wort gegen die Singhalesen oder den Buddhismus geschrieben. In all meinen Büchern habe ich das Land nicht kritisiert. Was ich kritisierte, betraf die Regierung. Sirisena hat gut verstanden, dass ich einen wichtigen Beitrag zur Friedensarbeit leisten könnte. 

Dann haben Sie sich auf den Weg wieder zurück nach Sri Lanka gemacht?

Ja, aber 2017 habe ich gesehen, dass das Video immer noch auf der Homepage war. Ich habe mich sofort an das Aussenministerium gewendet und gesagt, dass ich nicht käme, wenn das Video dort weiterhin zur Verfügung stehe. Am nächsten Tag war es weg. Bestärkt hat mich dann vor allem Papst Franziskus, der zu meiner 50jährigen Priesterweihe eine Messe gehalten hat. Er hat mich sehr darin unterstützt, zurückzugehen und für Frieden und Versöhnung zu arbeiten. Dann bin ich zurück nach Sri Lanka gekommen und habe Kontakte zwischen Norden und Süden aufgebaut.

Können Sie das heute auch noch?

Als Gotabaya Rajapaksa an die Macht kam, wollte ich mein Residenzvisum verlängern und musste meinen deutschen Pass dafür einreichen. Als Reaktion darauf hat die Regierung zwei Geheimdienstleute auf mich angesetzt. Ich wohne im Bischofshaus in Jaffna, in dem ich als Generalvikar gearbeitet habe. Ich habe dort zwei Zimmer. Dort schreibe ich kleine Bücher in meiner Muttersprache über den Dienst in meiner Kirche und was ich alles erlebt habe.

Sie hatten ein reichhaltiges Leben …

Ich war in Jaffna als Generalvikar tätig, bevor ich das Land verlassen musste, und versuchte auf der ganzen Welt, Verständnis für die Situation der Tamilen zu wecken. Jetzt bin ich alt und wieder nach Jaffna zurückgekehrt. Ich suche ein ruhigeres Leben und die Nähe zu den Menschen, um den Leidenden Nähe zu geben und ihnen zu helfen. Jeden Tag um 16 Uhr mache ich einen Spaziergang und gehe zu Fuss in Richtung Meer, wo die Fischer leben und arbeiten. Ich setze mich zwischen die Frauen und Männer und rede mit ihnen über ihre Nöte und Sorgen. Das ist meine Evangelisation. Ich mache keine Predigt vom Altar aus in einer grossen Kirche. Aber mit den Menschen zusammenzusitzen, wie es Jesus auch getan hat, das ist meine Art der Glaubensvermittlung. Das ist meine «politische» Arbeit. Hunderte von meinen Studenten sind Priester geworden. Von den 12 Bischöfen in Sri Lanka sind 8 davon meine Studenten gewesen. Ich kenne alle. Aber sie bleiben bei einem christlichen Leben, das zentriert ist auf Liturgie und Kirche. 

Wie meinen Sie das mit der politischen Arbeit?

Politik ist nicht nur, Parteien zu wählen und für oder gegen die Regierung zu arbeiten, sondern das ist das Interesse am menschlichen Leben und daran, Menschen zu helfen. Jesus hat uns gelehrt, die Füsse des anderen zu waschen und den Weg zu zeigen. Er hat selbst gesagt, «ich bin das Licht und das Salz der Erde.» Das Licht zeigt uns die Wahrheit und das Salz ändert die Welt. Wir müssen immer die Wahrheit sagen, uns jeden Tag für die Wahrheit einsetzen und den Menschen dienen. Das auf der Hierarchie beruhende Leben ist etwas anderes, ich kritisiere das heute in meinen Büchern. Ich habe meinen Studenten immer gesagt, sie sollen die Nähe zum Volk suchen, um mit dem Volk zu leben und zu leiden. Ich habe keine Verwandtschaft in Jaffna, meine Schwester ist in London, mein Bruder in Kanada. Ich bin nur da für das Volk. Das ist die letzte Phase meines Lebens.

Sie können so in Jaffna leben?

Die Regierung lässt mich im gewissen Sinne leben, aber die Regierung ist nicht stabil. Ich habe nur ganz wenig Kontakt zu tamilischen Politikern. Zu zwei Parlamentariern besteht Verbindung. Sie sprechen Singhalesisch. Das ist ganz wichtig, um der anderen Seite zu erklären, wie die Realität der Tamilen aussieht. Meistens reden tamilische Politiker nur innerhalb der tamilischen Community, und das ist nicht gut, sie müssen der Mehrheit erzählen, wie es um die Tamilen steht. Ich schreibe meine Tweets in vier Sprachen: Englisch, Tamilisch, Singhalesisch und Deutsch. Auch wenn ich unter militärischer Kontrolle stehe, bin ich glücklich, weil ich das tun kann, was Jesus uns gelehrt hat, das Leben für das Volk zu geben. Das ist meine Freude. 

Sie können trotz militärischer Kontrolle ausreisen?

Drei Jahre konnte ich das nicht, weil ich den Pass nicht zurückbekam. Jetzt musste mir die deutsche Botschaft helfen. Wenn die Behörden von Sir Lanka mir meinen Pass nicht zurückgegeben hätten, dann wäre ich zur deutschen Botschaft gegangen. Das hat der militärische Dienst verstanden und sie haben mir für ein Jahr ein Residenzvisum geben. Die deutsche Botschaft hat mir dann einen neuen Pass nach Jaffna gebracht. Politisch kann ich nicht mehr so aktiv sein, aber mit meiner jahrzehntelangen Erfahrung kann ich der Politik Ratschläge geben. 

Wie schätzen Sie die allgemeine Lage in Sri Lanka ein? 

Wir haben das Land kaputt gemacht durch unsere Politik, durch unser Missverständnis, durch unsere Angst. Die Singhalesen haben uns nicht verstanden. Ihr Nationalismus beruht auf einem falschen Verständnis, nämlich darauf, andere Leute zu unterdrücken. Das ist falsch. Wir müssen leben wie älterer und jüngerer Bruder in einer Familie. Das müssen sie verstehen, alles andere ist falsch. Ein Föderalismus verlangt von den Tamilen ein friedliches Leben. Aber das ist nicht Separatismus und nicht gegen die Singhalesen. Das ist falsch. Ich kämpfe weiter und setze mich für die Wahrheit ein. Ich weiss nicht, was in der Zukunft kommen wird, aber ich möchte mich weiterhin für Frieden, Freiheit und gegenseitiges Verständnis einsetzen. Das ist eine Arbeit, die ich weitermachen möchte.

Ich habe eine grosse Sorge, dass die Kirchen schweigen. Die vier Diözesen mit tamilischen Bischöfen sind schwach, zu passiv. Sie schweigen, sie sagen nicht viel. Das zweite Vatikanische Konzil ermutigte uns, uns bei den Menschen für Gerechtigkeit und Frieden einzusetzen. Das tun viele bis heute noch nicht. Ich bin ein einzelner. Kein Priester und kein ­Bischof hat mich verteidigt. ­Damals, 1996, als mich die Singhalesen als Terroristen verschrien haben, hat mich kein Bischof verteidigt. Die Kirche steht oft am Rand und beobachtet. Intellektuelle bleiben, obwohl sie die Wahrheit kennen, still und sagen nichts. Das ist schlecht. Ich will als Priester reden und mit den Menschen sprechen. Wer nichts sagt, macht sich mitschuldig.

Herr Professor Emmanuel, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Weder Krieg noch Versorgungsengpässe sind die stärksten Inflationstreiber

von Reinhard Koradi

Angst regiert die Welt. Doch wer schürt die Angst und die Verunsicherung unter der Bevölkerung? Ein Blick in die Massenmedien, auf Tweets und Statements der Herrschenden aus Wirtschaft und Politik gibt eine klare Antwort. Deutlicher als in unserer Zeit ist die Aussage, Angst regiert die Welt, Realität. Angst und Verunsicherung bilden eine ausgezeichnete Ausgangslage, um Menschen zu manipulieren. Schocks und Hiobsbotschaften ebnen den Weg für die Umsetzung einschneidender und oft auch verfassungswidrigen Eingriffe in die Privatsphäre und politischen Rechte der Menschen. Mit einer bis anhin selten zu beobachtenden Geringschätzung der Bürgerinnen und Bürger setzt die Obrigkeit Anordnungen, begleitet von Drohungen, in die Welt, um die Bevölkerung zu disziplinieren und auf regierungstreue Pfade zu bringen. Eskortiert durch eine noch nie dagewesene Meinungsdiktatur – andere Meinungen und Ansichten werden mit Diffamierung und Ausgrenzung abgestraft – breitet sich ein Teppich der Angst über weite Teile der Welt aus, was den Drahtziehern ermöglicht, ihre Interessen durchzusetzen. 

Die Medien, die eigentlich die Meinungsvielfalt und individuelle Meinungsbildung fördern sollten, schliessen sich dieser Panikmache mit geradezu verdächtiger Disziplin an. Eine vor Jahren undenkbare Rolle, die die Abhängigkeit der Medienkonzerne von den Herrschenden sichtbar macht.

Es scheint, als führten Regierungen und Taktgeber des neoliberalen, globalen Systems einen Psycho-Krieg gegen die eigene Bevölkerung. 

Wo ist die Urteilsfähigkeit freier Bürger geblieben?

Es gibt verschiedene Gründe, die unsere Urteilsfähigkeit beeinträchtigen. Einerseits sind es die fehlenden Fakten, die uns bewusst vorenthalten werden und anderseits werden wir durch ungenaue oder falsche Informationen in die Irre geleitet. Ein weiterer Faktor ist das fehlende Wissen. Unser Bildungswesen ist im Rahmen zerstörerischer Reformen auf ein Niveau gesunken, dass es für eine umfassende Beurteilung gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Sachverhalte ganz schlicht nicht mehr reicht. Es sei denn, man schliesst die Bildungslücke aus Eigeninitiative.

Dank Krisenmodus steigende Preise durchsetzen

Die Inflationsangst macht sich breit. Aufgrund der oben genannten Gründe finden wir auf diese Problematik keine schlüssigen Lösungen. Gängige Argumente sind der Krieg in der Ukraine, Lieferengpässe wegen der massiven Ausfälle durch Corona, verstopfte Wasserwege und so weiter. Wirtschaftsexperten versuchen unsere Akzeptanz für die Preiserhöhungen anhand des Models zu gewinnen, «Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis». Aber haben wir nicht ganz andere Leichen im Keller? Was war denn vor der Corona- Diktatur? Eine Immobilienkrise, die die Finanzwelt gleich einem Erdbeben erschütterte, darauf folgten eine veritable Wirtschaftskrise, eine unverantwortliche Überschuldung vieler Staaten und schliesslich eine Geldmengenerweiterung durch die Nationalbanken sowie durch die europäische Zentralbank. Diese wirtschafts- und haushaltskriminellen Verstösse gegen jedes bessere Wissen öffneten die Schleusen für die aktuelle Geldentwertung. Ist der Krisenmodus eventuell der Schlüssel, um Altlasten der Bevölkerung unterzujubeln? Warum nicht eine Situation schaffen, die es erlaubt, die Interessen der Staaten und letztlich auch der Finanzwirtschaft ohne Aufmucksen seitens der Bevölkerung durchzusetzen? Inflation als Schuldentilger auf Kosten von Sparern, Rentnern und dem Mittelstand passt doch hervorragend in die aktuelle politische Landschaft. Die Geldentwertung führt zu einem Abbau der Staatsschulden – in der hochverschuldeten EU derzeit mindestens um 6 bis 10 % – und generiert mehr Steuereinnahmen, da in der Regel die Inflation über Lohnerhöhungen zumindest teilweise kompensiert wird. Zusammen mit der progressiven Steigerung der Steuerbelastung – die Steuerbelastung steigt nicht linear, sondern erhöht sich gegenüber den Einkommenssteigerungen überproportional – ergeben sich für den Staat erhebliche Inflationsgewinne.

Diese Gewinne zahlen die Konsumenten, Sparer, Rentner und schliesslich der Mittelstand, da diese im Gegensatz zu der Finanzaristokratie kaum Möglichkeiten haben, sich dieser Abwärtsspirale zu entziehen. 

Interessant ist auch zu beobachten, wie die Produzenten und Vermarkter ihre Hemmungen abgelegt haben, ihre Preise zu erhöhen. Im Sog der allgemeinen Teuerungswelle sind Preiserhöhungen leichter durchzusetzen, da sie sich im Dunst der generellen Stimmung verschleiern lassen. In diesem Zusammenhang lassen sich auch die exorbitanten Erhöhungen der Krankenkassenprämien in der Schweiz einordnen. Die Coronapandemie als Ursache anzuführen, ist ebenso verwerflich wie die ganze Hysterie um diese sogenannte Pandemie in den vergangenen Jahren. Oder glauben Sie wirklich, dass diese kreierte Krankheitswelle 6,6 % Mehrkosten verursacht hat? Abgesehen davon, dass diese Kosten durch den Bund verursacht wurden und nach dem Verursacherprinzip durch den Bund zu finanzieren wären und nicht durch die Krankenkassenprämienzahler, liegt der Verdacht sehr nahe, dass während der annähernd stabilen Prämienentwicklung sich Finanzierungslücken aufgetan haben, die sich nun dank der Pandemie und der allgemein inflationären Tendenz wieder leichter ausgleichen lassen. Mit grösster Wahrscheinlichkeit sollten wir glauben, das Gesundheitswesen löse sich langsam aus dem Krisenstatus dank umsichtiger Gesundheitspolitik in Bundesbern. Ähnliche Lückenbüsserrollen rund um die Inflation werden auch dem Krieg in der Ukraine und den unterbrochenen Lieferketten zugeschoben. Selbstverständlich führen Unsicherheit und fehlende Waren zur Verknappung gewisser Güter. Angetrieben wird die Inflation jedoch weit mehr durch die gegenüber Russland angeordneten Sanktionen, die durch das Schüren von Ängsten hervorgerufenen Hamsterkäufe sowie die verlorenen Hemmungen, die Preise zu erhöhen.

Konklusionen 

Die Preissteigerungen in den letzten Monaten sind das Produkt der vergangenen Finanz-, Wirtschafts-, Geld- und Haushaltspolitik der öffentlichen Hand. Die Initianten dieser Politik sind auch die Profiteure der Geldentwertung. Zudem werden die psychologischen Einflussfaktoren auf die Preisgestaltung und das Kaufverhalten unterschätzt. Nicht weniger aufschlussreich ist auch hier die Rolle der Massenmedien. Keine kritische Hinterfragung der aktuellen Lage an der Preisfront, sondern nur ein Gleichschritt im Mainstreammodus. Eigentlich müsste die Offenlegung von Kalkulationen eingefordert werden, so unter anderem bei den Energie- und Benzinpreisen. 

Dazu kommt der Wahnsinn einer unseligen Sanktionspolitik, die unsere Wirtschaft schwächt und in eine Rezession treibt. In inflationären Zeiten ist das Gift für den Wohlstand der Nationen und damit auch für das friedliche Zusammenleben.

Sollte hinter dieser Politik sogar die Absicht stecken, die Unabhängigkeit der nationalen Staaten aufzuweichen, indem der Mittelstand – der am meisten unter diesen negativen Entwicklungen leidet – ausgehungert und damit den Staaten das Rückgrat gebrochen wird? 

 

«Nichts hat das deutsche Volk – dies muss immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden – so erbittert, so hasswütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation.»

Quelle: Stefan Zweig: Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt/M.: Fischer, 1978. S. 361
ISBN 3-10-097030-6

 

Kühe und Menschen (und Klima)

«Die Erhaltung von biodiversem Grünland braucht Menschen, die Rindfleisch essen»

von Nikola Patzel*

Über 97 % der Milch und über 99 % des Rindfleischs weltweit kommen nicht aus dem ­Alpenraum. Die europäischen Flächenländer Russland, Deutschland und Frankreich melken zusammen über 10-mal mehr als der Alpenraum allein. Mit Abstand gehören die meisten Rinder Menschen in den USA, Brasilien und China; nur auf die Milch geschaut, ist auch Indien ganz vorne dabei. Doch im Voralpen- und Alpenraum, da ist die Auseinandersetzung über «Kühe und Klima» besonders stark. Dabei kann es passieren, dass der grosse Nutzen der Kühe für die menschliche Ernährung, für die Lebensvielfalt des Landes und unter Umständen sogar fürs Klima nicht anerkannt wird.

Agraringenieur Ulrich Mück ist seit über 30 Jahren Grünland-Berater bei Demeter Bayern und arbeitet freiberuflich in Forschungsprojekten. In Fachmedien hat er in den letzten Jahren vor allem zu horntragenden Kühen im Laufstall und zu Ernährungsökologie publiziert. Zuletzt auch zur Ehrenrettung und unverzichtbaren Bedeutung der Rinderhaltung für menschliche Ernährung, Biodiversität und Klima. Also für den Sinn der Rindviehhaltung im Grünland gemäss gesellschaftlich sehr wichtigen ­Wertebereichen. Unter den Rinderhaltern wird das bei seinen Vorträgen mit Freude und Erleichterung aufgenommen, wie auch bei einem Vortrag Ende Mai 2022 in Südbayern, von dem hier berichtet wird, denn den Druck der gesellschaftlichen Zuweisung «Klimakiller Kuh» spüren diese schmerzlich.

«Rinder sind Leittiere des Humusaufbaus, Leittiere des Erosionsschutzes und Leittiere der Biodiversität.» (Bild thk)

«Rinder sind Leittiere des Humusaufbaus, Leittiere des Erosionsschutzes und Leittiere der Biodiversität.» (Bild thk)

 

Methan, Humus und Fleisch

Mück meint, dass der menschengemachte Treibhauseffekt an der Zahl der bayerischen Kühe nicht liegen könne, denn in Bayern habe es vor 150 Jahren 22 % mehr Kühe gegeben als heute (ähnliche Argumente hört man auch in der Schweiz). Sowieso dürfe die Methan­ausatmung der hiesigen Bovinen nicht den menschen­gemachten Klimafaktoren zugerechnet werden, denn die Rinder hätten über 25 Millionen Jahre weltweit zum Humusaufbau im Dauergrünland beigetragen. Doch in Deutschland zum Beispiel seien seit 1960 rund 30 % aller Grünlandflächen, also etwa zwei Millionen Hektaren Grünland, zu Äckern gemacht worden, was enorme CO2-Emissionen zur Folge hat. Mück fragt, wie der Biolandbau bei zwar starker Milchnachfrage, aber ohne entsprechende Rindfleischnachfrage zukunftsfähig bleiben solle. Er hat für 3 Betriebs­typen und 3  Mastverfahren gerechnet und für hiesige Verhältnisse herausgefunden, dass für jeden Liter verzehrter Öko-Milch auch rund 25  Gramm Rindfleisch gegessen werden müssen, damit Kälber auf Öko-Betrieben bleiben und artgerecht aufgezogen und gemästet werden können. Dieser Koppelwert sei am kleinsten bei ­Betrieben mit höchster Milchleistung, Eimertränke, Besamung und nur 8  Monaten Kälbermast (ca. 18  Gramm/Liter) und am grössten bei Betrieben mit mittlerer Milchleistung, Stier, kuhgebundener Kälberaufzucht und Haltung über 15  Monate: 31 Gramm Fleisch pro Liter Milch. Also besonders die tierfreundlicheren und ökologischeren Rinderhaltungsformen sind darauf angewiesen, dass auch das Rindfleisch gegessen wird und die Kälber zu angemessenen Preisen verkauft werden können.

Für die Fähigkeit der Rinder, Grünland in Fleisch zu verwandeln, hat er berechnet: «Es müssen mindestens 500  Gramm Rindfleisch jährlich verzehrt werden, um 100  Quadratmeter ökologische Almwirtschaft am Berg und im Tal zu erhalten, also 50  kg Fleisch pro Hektar. Selbstverständlich braucht es einen angemessenen Preis dafür.» Doch zur Zeit seien Mastkälber «fast wertlos» und gingen mehrheitlich in den internationalen Viehhandel, anstatt wertvolles Fleisch in die Region zu bringen. Nachhaltige regionale Ernährung brauche aber Rindfleisch und Milch aus weitgehend hofeigenem Futter. Die «lebensbezogenen Zusammenhänge» der regionalen Rinderhaltung mit Milch, Kalb, Kuh und Masttieren sowie die Bedeutung des Ökogrünlands und der Rinder für die Böden, die Lebensvielfalt und das Klima müssten den Essenden wieder klargemacht werden. «Die Erhaltung von biodiversem Grünland braucht Menschen, die Rindfleisch essen!» Aber in Deutschland zum Beispiel habe sich der Rindfleischkonsum seit 1960 zugunsten von Geflügel- und Schweinefleisch fast halbiert und macht jetzt nur noch 15 % aller Fleischgerichte aus. Dabei sei die Rinderhaltung für den gesamten Ökolandbau systemisch unverzichtbar, denn 57 % der ökologisch bewirtschafteten Flächen in Deutschland sind Grünland, dazu kommt das Kleegras des Ackerbaus, zusammen 65 %. Mück stellt die Frage: «Wie müssten sich die Menschen Europas ernähren, damit 100 % Ökolandbau möglich ist?» Die Antwort sei gemäss Studien: 70 % weniger Geflügelfleisch, 50 % weniger Eier, 60 % weniger Schweinefleisch, 30 % weniger Milch – aber gleich viel Rindfleisch (Ziegen- und Schaffleisch) aus Bio-Haltung. «Fleischreduzierung ist also notwendig, aber nur beim Hühner- und Schweinefleischverbrauch.» Denn von Grünland lebende Rinder sind keine Nahrungskonkurrenten des Menschen. Entgegen landläufigen Annahmen haben Rinder «die höchste Lebensmittel-Konversions-Effizienz» aller Nutztiere: Bei nur 10 % lebensmitteltauglichem Futteranteil verwandeln sie, was sie fressen, gemäss einer wissenschaftlichen Studie für den Alpenraum «3,5-mal (Energie) bzw. 4,2-mal (Eiweiss) besser als Masthühner oder Schweine in das Lebensmittel Fleisch».

Humusaufbau ist nach Mück eine typische Eigenschaft von Weideland. Das Ackerland lebt oft über den Dünger der Weidetiere vom Nährstofftransfer aus dem Grünland mit. Stallmist und Kleegras zusammen können auch im Acker Humus wieder aufbauen. Rinder seien «Leittiere des Humus­aufbaus, Leittiere des Erosionsschutzes und Leittiere der Biodiversität».

Lebensvielfalt durch Rinder

Deutlich sei: «Ohne Grünland und Pflanzenfresser keine Biodiversität; und die Weidetiere bringen Biodiversität ins Grünland, dabei spielt der Kuhfladen eine grosse Rolle.» Gemäss einer kanadischen Studie würden 267 Insektenarten allein vom Kuhfladen leben, darunter sehr viele Käfer, von diesen wiederum viele Vögel und Fledermäuse. Alles, was die Kuh auf der Weide tue, wirke in Richtung Vielfalt der ökologischen Nischen und ihrer Bewohner. Dabei «können Tierhalter Weidetiere durch gezieltes Weidemanagement lebensraumgestaltend einsetzen». Ideal seien auch fliessende Übergänge zwischen extensiver Beweidung und Naturschutzbereichen. Selbst die kleinen Zerstörungen durch Tritte gehörten dazu, damit an den geöffneten Bodenstellen die darauf spezialisierten Pflanzen keimen können.

Reaktionen der Bäuerinnen

Die Veranstalterin Marlene Berger-Stöckl von der bayrischen Ökomodellregion, die zusammen mit dem Bauernverband eingeladen hatte (siehe Kasten), fasste die Wirkung der Veranstaltung auf die Zuhörerschaft so zusammen: «Von den ca. 120 Teilnehmern war der grösste Teil aus der Landwirtschaft, maximal ein Viertel waren nicht-landwirtschaftliche Zuhörer. Die Diskussionen nach dem ausführlichen Vortrag sind nicht besonders kontrovers verlaufen – der grösste Teil der Wortmeldungen bestand in begeisterter Unterstützung für die Thesen von Ulrich Mück und aus konkreten Nachfragen dazu. […]Wenn ich mir aber die Ernährungsweise anschaue, wie sie in ‹Schrot und Korn› und weiteren führenden deutschen Biozeitschriften seit Jahren immer einseitiger publiziert wird, dann macht mich das inzwischen traurig. Es wird zwar theoretisch viel über ‹regional› geschrieben, aber die Rezepte enthalten dann von Kichererbsenhummus über Granatapfelsirup bis Avocadoaufstrich und Mandeldrink lauter nichtheimische internationale Zutaten vom Acker.»

Bäuerin Kerstin Mayer, die ihre Mutterkuhhaltung derzeit auf Bio umstellt, sagte: «Der Vortrag hat mir als Bäuerin sehr den Rücken gestärkt. Wir müssen dieses Thema viel stärker zur Aufklärung in die Schulen bringen.» Ein Metzger beklagte: «Ich bin als Metzger seit 30 Jahren nah am Kunden, der einkauft. Was heute bei uns zählt, ist nicht mehr die Qualität – es geht bei den allermeisten Kunden nur noch um den Preis. Da müssen wir uns über Fehlentwicklungen und mangelnde Wertschätzung für Weiderindfleisch nicht wundern.»

In der Diskussion ging es dann viel um eine angemessene Vermarktung, aber auch ums Kochen: «Die Landfrauen bieten eine Reihe von Programmen für Schulen an. Junge Leute müssen wieder mehr das Kochen lernen und über die Vorgänge auf dem Bauernhof besser Bescheid wissen. Da ist sehr viel traditionelles Wissen verloren gegangen. Alle, auch Zeitschriftenredakteure, müssen wieder richtig kochen lernen mit dem, was ihre Region hergibt.» 

* Dieser Artikel wurde von Nikola Patzel (Red.) anhand der Präsentation des Referenten und dem Bericht einer Teilnehmerin zusammengestellt, ergänzt mit Aussagen aus Artikeln von Ulrich Mück: «Milch und Fleisch in den Einkaufskorb!» sowie «Biodiversität, Grünland, Rindfleisch», die in der Zeitschrift Ökolo-gie und Landbau 1-21 und 1-22 erschienen sind. Kontakt: ulrich.mueck@organismus.farm 

Quelle: www.bioforumschweiz.ch

Die Ökomodellregion Waginger See-Rupertiwinkel im Südosten von Bayern besteht seit 2014 als erste bayerische Ökomodellregion. Hauptziel des Projektes ist es, den Anteil am Ökolandbau in Bayern bis 2030 auf 30 % zu erhöhen und mehr heimische Bioprodukte zu erzeugen, zu verarbeiten und zu vermarkten. Dafür wird an mehr guten Vermarktungswegen gearbeitet und die Erzeugerpreise sollen auch besser werden. Kooperationen mit benachbarten Verarbeitern (Molkerei, Brauerei, Müslifirma und anderen) tragen dazu bei. Auch der Tourismus entdeckt Bio und Nachhaltigkeit zunehmend als Thema für die Gäste. Mehr Informationen unter www.oekomodellregionen.bayern, dort Region Waginger See-Rupertiwinkel.

 

Klimafaktor Militär

sl. Wenn es um Klimaschutz geht, wird offensichtlich mit zweierlei Ellen gemessen. 

Laut einer Schätzung der unabhängigen britischen Wissenschaftsorganisation «Scientists for Global Responsibility» sind Armeen weltweit für fünf bis sechs Prozent der Treibhausgas­emissionen verantwortlich. Interessanterweise wird das Militär aber in den Emissionsberichten der Uno nicht erwähnt. Warum? 

Im Kyoto-Protokoll von 1997 haben die USA erwirkt, dass die Militäremissionen explizit von den nationalen Emissionen der Unterzeichnerstaaten ausgenommen sind!

Neta Crawford von der Boston University hat die Emissionen des Pentagons zwischen 2001 und 2018 auf der Basis von Daten des US-Energieministeriums approximativ errechnet. Die Studie zeigt, dass allein die US-Streitkräfte jährlich mehr Treibhausgase  ausstossen als ganze Nationen wie Schweden oder Dänemark. Zudem wird deutlich, dass das US-Verteidigungsministerium bis zu 80 Prozent des gesamten Energiebedarfs der Regierung beansprucht. Das US-Verteidigungsministerium sei der weltweit grösste institutionelle Konsument fossiler Brennstoffe, sagt Crawford.¹ 

Seit einigen Monaten warnen die Medien vor einem drohenden Energieengpass im kommenden Winter ,und wir werden auf Rationierungen vorbereitet und darauf, frieren zu müssen.

Fazit

Wenn alle Unterzeichnerstaaten des Kyoto-Protokolls auf Krieg, Aufrüstung und Waffenhandel verzichteten und statt dessen alles unternähmen, eine internationale Friedensordnung zu schaffen, wäre viel für ein menschenwürdiges Leben aller und für den Klimaschutz getan und der drohende selbstverschuldete Energieengpass abgewendet!

¹  Vgl. Martin Angeler: Der Klimafaktor Militär wird übersehen. In NZZ vom 30.07.2022

 

 

 

 

Wo liegen die Gründe für den zunehmenden Lehrermangel?

von Dr. phil. Alfred Burger, Erziehungswissenschafter

In letzter Zeit häufen sich in den Medien Artikel, die sich mit dem Lehrermangel in unseren Schulen befassen. Es mussten in den verschiedenen Kantonen Massnahmen getroffen werden, damit die Schulklassen nach den Sommerferien nicht ohne Lehrerinnen und Lehrer dastanden. Im Kanton Zürich beispielsweise stellt man Leute ohne Ausbildung ein, allerdings zu einem reduzierten Lohn. Die Lehrerverbände befürchten, dass ein Qualitätsabbau die Folge sein wird. In anderen Kantonen werden höhere Löhne gefordert; auf alle Fälle können alle Massnahmen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es tatsächlich zu wenig Lehrerinnen und Lehrer gibt, obwohl die Ausbildungslehrgänge an den Pädagogischen Hochschulen voll wie noch nie sind.

Was sind die Gründe? Die meisten Autoren orten das Problem in der starken Zunahme der Bevölkerung der letzten Zeit und bei den vielen Pensionierungen der Lehrerinnen und Lehrer aus geburtenstarken Jahrgängen. Einige wenige weisen auf das Problem hin, dass es in den Schulen zunehmend schwieriger wird zu unterrichten, da die Klassen in einem System, in dem alle Kinder in einer Klasse integriert sind, sehr heterogen sind. Die Lehrerinnen und Lehrer sind zusätzlich viel mit organisatorischen Arbeiten, mit vielen Sitzungen und Absprachen eingedeckt, die sie von ihrem eigentlichen Kerngeschäft, nämlich dem Unterrichten, abhalten. Auch die immer weitere Zunahme von Teilzeitarbeit in den Schulen scheint ein Problem zu sein. Im Kanton Genf zum Beispiel ist die Teilzeitarbeit stark eingeschränkt, was das Problem des Lehrermangels offensichtlich ein wenig entschärft. Ein weiteres – aber kaum diskutiertes Problem – ist die Verweildauer der ausgebildeten Pädagogen. Die wenigsten bleiben im Beruf, nach wenigen Jahren verlassen sie den Schuldienst und wenden sich anderen Tätigkeiten zu. Dass an den pädagogischen Hochschulen viel Theorie und wenig Praxis vermittelt wird, ist ein weiterer Kritikpunkt und könnte auch eine Erklärung für dieses Phänomen sein. In diese Richtung weist auch ein Artikel in der «Weltwoche», der die der Ausbildung zugrundeliegende Theorie des Konstruktivismus kurz kritisch erwähnt, ohne leider zu erklären, worum es sich dabei handelt.

Meiner Meinung nach sollte man sich unbedingt mit den Grundlagen der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung beschäftigen, um dem Problem des sich ausbreitenden und in Zukunft sicher noch stärker werdenden Lehrermangels zu begegnen. 

Die Ausbildung in den Pädagogischen Hochschulen fusst auf einer falschen Theorie. Mit ihr wurde die Heranbildung der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer einem fundamentalen Wandel unterzogen, der in der Konsequenz unsere Schulen in einer für die meisten Bürgerinnen und Bürger unvorstellbaren Art und Weise schon umgestaltet hat und weiter umgestalten wird. 

Viele Eltern haben vielleicht schon gemerkt, dass einzelne Lehrerinnen und Lehrer die Hefte der Kinder nicht mehr korrigieren. Viele Kinder bringen keine Arbeiten mehr nach Hause, was es den Eltern unmöglich macht, Einblick zu bekommen, was ihre Buben und Mädchen überhaupt in der Schule machen. Manche Pädagogen halten die Kinder nicht mehr zum Lernen an, sondern sagen den Eltern, die Kinder müssten selbst wollen, oder beruhigen die Eltern, wenn ihr Kind nicht lesen lernt, das werde dann schon noch kommen. Es wird oft auch keinerlei Wert mehr auf eine schöne Schrift gelegt, die Darstellung in den Heften sieht manchmal chaotisch aus. Nicht selten werden einzelne Kinder auch geplagt und gemobbt, ohne dass die Lehrer helfen, die Konflikte zu lösen. 

Die konstruktivistische Theorie in der Schule?

Es ist im Rahmen dieses Artikels nicht möglich, genauer auf die konstruktivistische Theorie einzugehen. Nur so viel: Ihr gemäss schafft sich jeder Mensch eine eigene Vorstellung von der Welt. Es gebe zwar eine Objektivität, doch sei es dem Menschen nicht möglich, diese zu erkennen, da jede Erkenntnis im Prinzip subjektiv sei. Jedes Kind konstruiere sich eine eigene Vorstellung von der Realität. Darum sei es sinnlos, dem Kind wie bisher etwas beibringen zu wollen, die Kinder sollen sich alles selbst aneignen und selbst erforschen. So würde das auf diese Weise Erfahrene und selbst Erarbeitete auch zu einem persönlichen Anteil des Lernenden werden. 

Diese Ansicht hat tiefgreifende Konsequenzen für den Schulunterricht. Davon abgeleitet wird der individualisierende Unterricht, bei dem sich jedes Kind mit seinem Progamm beschäftigt. Es ist ihm überlassen, wann, wie lange und ob es überhaupt daran arbeitet. Der bisher bewährte angeleitete Klassenunterricht wird nicht mehr gelehrt. In der Konsequenz ist die Lehrerin und der Lehrer abgeschafft, er ist nur noch Lernbegleiter oder Coach, der den Kindern das Material zur Verfügung stellt. Ob sie daran auch arbeiten, ist der Verantwortung der Kinder anheimgestellt, korrigieren müssen sie auch noch selbst. Mit der konstruktivistischen Theorie in der Schule wird das Credo der Antipädagogen Wirklichkeit, die postuliert haben, die Erwachsenen hätten sich in die Entwicklung der Kinder nicht einzumischen, sie müssten ihnen wie einer Pflanze regelmässig Wasser geben, sie würden sich dann wie von selbst entfalten, da alles in den Kindern angelegt sei. 

Die neoliberale Botschaft des Konstruktivismus

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Milton Friedman, der Vater des Neoliberalismus, die konstruktivistische Theorie als ausgezeichnete philosophische Grundlage für seine Ideen in Wirtschaft und Gesellschaft gesehen hat. Da zeigen sich erstaunliche Parallelen. Gemäss Friedmans Theorie hat jeder Mensch in der freien Marktwirtschaft die Wahl sich zu entfalten und das Leben zu gestalten. Für Menschen, die im Wettbewerb aus verschiedensten Gründen nicht mitkommen, muss der Staat gewisse elementare Bedürfnisse befriedigen. Friedman sieht es als normal an, dass es darum immer eine gewisse Zahl an Arbeitslosen gibt, für die eben gesorgt werden muss. 

Nur ein Minimum an Bildung

Dieser Anschauungsweise entsprechend sollen sich auch die Kinder in der Schule nach den Vorstellungen des freien Wettbewerbes entfalten und entwickeln können. Die Schule selbst muss nur ein Minimum an Bildung gewährleisten. Was ein Schüler aus dem schulischen Angebot macht, ist ihm freigestellt. Wie in der Wirtschaft ist er frei, im Wettbewerb das zu erreichen, wozu er fähig ist. Wie die Menschen in der freien Marktwirtschaft sollen auch die Schüler für ihr Handeln die alleinige Verantwortung tragen, sie müssen von früh an aus eigenem Antrieb und selbstverantwortlich lernen. Als Konsequenz steht deshalb in der heutigen Schule das selbstgesteuerte, individualisierte Lernen an erster Stelle. Die Kinder müssen schon auf der Unterstufe ihre Wochenpläne eigenverantwortlich führen. Dazu gehört auch das aus der Wirtschaft entliehene Instrument des Portfolios, in dem die Kinder ihre Fortschritte selbständig dokumentieren. Dass jeder als ein sich selbst herstellendes System zum unverwechselbaren Urheber seines eigenen Lernerfolges werden könne, ist die neoliberale Botschaft des Konstruktivismus. Selbststeuerung beim Lernen heisst aber nichts anderes als funktionsgerechtes Verhalten. Am Ende wird jeder zu seinem eigenen «Kleinunternehmer» und jeder Lernende ist für Erfolg oder Misserfolg selbst verantwortlich.¹ Die Schulen und die Lehrkräfte tragen für die Entwicklung der Kinder im Prinzip keine Verantwortung mehr. 

Wechsel der Lehrerrolle

Es geht bei der erwähnten Individualisierung des Lernens eben nicht darum, Kinder individuell zu fördern, wie der Begriff fälschlicherweise vorgibt, sondern es geht um den Wechsel der Lehrerrolle. Die Lehrer sind im modernen Verständnis nur noch Animatoren, Arrangeure von Lernprozessen und halten sich aus dem pädagogischen Prozess heraus. Sie übernehmen keine Verantwortung mehr für das Vorankommen der Kinder. Das entspricht den Vorgaben Friedmans, der auch die Unternehmen von einer ethischen Verantwortung befreit – sie sind nur der Profitvermehrung verpflichtet. Die ethischen Probleme, die sich daraus ergeben, werden dem Einzelnen in der Schule, also den Lehrerinnen und Lehrern, überlassen.² Vielleicht können einzelne Kinder, die schon von ihrem Zuhause her das Rüstzeug für selbstorganisiertes Lernen mitbringen, in diesem System bestehen, die meisten anderen fallen einer Verwahrlosung zum Opfer – im intellektuellen und sozialen Sinne. «Im Windschatten der neoliberalen Rhetorik der Selbstentfaltung wartet eine immer rücksichtslosere Zweiteilung der Gesellschaft».³

Lernen ist ein zwischenmenschlicher Vorgang

Dieses Menschenbild liegt also der Ausbildung unserer Pädagogen in den Pädagogischen Hochschulen zu Grunde. Wen wundert es noch, dass bei Konflikten unter Kindern, bei Mobbing und anderen Problemen die jungen Lehrerinnen und Lehrer wegschauen und sich nicht dazu aufgerufen fühlen einzugreifen? Wen wundert es, dass sie nicht mehr korrigieren und die Schriften zerfallen. Die erzieherischen Aufgaben des Pädagogen, so wie sie früher verstanden worden waren, fallen mit dieser falschen Theorie praktisch weg. Wie schon erwähnt, bekunden die meisten Kinder mit diesen neuen Methoden Mühe, da sie in gewissen Bereichen entmutigt sind und am liebsten das machen, was sie schon beherrschen. Fehlt da ein Erwachsener, der sie zum Üben anleitet und sie auch fordert, verlieren sie die Motivation und die Freude am Lernen. 

Die Lehrer werden in diesem System zu Verwaltern reduziert, die Papiere verteilen und die erreichten Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler abhaken. Der Schritt zum digitalisierten Unterricht, indem ein Programm den Lehrer ersetzt, ist dann nicht mehr weit. Es gibt bereits Lernsysteme, in denen Algorithmen das Niveau der Kinder erkennen und den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben anpassen. Mit Lernen hat das wenig zu tun. Lernen ist ein zwischenmenschlicher Vorgang. Alles Lernen ist auf die Mitmenschen ausgerichtet. Ein Computer kann den Lehrer nicht ersetzen, er besitzt kein Einfühlungsvermögen, er kann nicht erkennen, was hinter einem Leistungsabfall bei einem Kind stehen könnte. Hier genau würde die interessante pädagogische Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern einsetzen. Während das Computerprogramm völlig seelenlos ein Niveau erkennt und nach unten oder oben anpasst, fragt sich der versierte Pädagoge, was für ein Problem dahinterstecken könnte: Ein schlechter Tag, ein Anfall von Entmutigung, ein Konflikt in der Pause usw.? Vielleicht sinken die Leistungen weiter, was auf ein aktuelles Problem hindeuten würde. Der Pädagoge könnte mit dem Kind sprechen, die Eltern einbeziehen und vielleicht feststellen, dass der Bruder des Schülers die Prüfung ins Gymnasium geschafft hat und er selbst denkt, er könne das nie erreichen. Eine Möglichkeit wäre, mit der Klasse ein Lesestück zu bearbeiten, in dem es um Konkurrenz und Eifersuchtsgefühle geht und mit der ganzen Gemeinschaft darüber zu sprechen, wie es einem dabei geht und was man machen könnte, um mit diesen Gefühlen umzugehen. Die Schülerinnen und Schüler könnten mit Hilfe ihres Lehrers zum Schluss kommen, dass es viel Übung braucht, bis man ein Meister wird und viel Ermutigung und gegenseitige Unterstützung und Hilfe. Das Auslachen, das in vielen Klassen ein grosses Problem ist, weil die Pädagogen nichts dazu sagen, hilft nicht, im Gegenteil, die Klasse könnte abmachen, dass man das unterlässt und dafür Unterstützung anbietet. 

Die Klassengemeinschaft als Modell

Hier böte der angeleitete Klassenunterricht ein herrliches Feld, pädagogisch zu wirken und die Kinder zu einer lernfreudigen Gemeinschaft heranzubilden. Im Klassenunterricht kann das ängstliche Kind erleben, dass nichts passiert, wenn man Fehler begeht. Das mutige kann erleben, einem anderen zu helfen. Die Kinder können sehr viel voneinander lernen und abschauen. Gute Schüler haben eine Vorbildfunktion, auch die Lehrerin oder der Lehrer. Kinder und auch Jugendliche wollen werden wie sie. Wie aber soll das gehen, wenn jedes Kind an einem eigenen Programm herumbastelt ohne Bezug zu den anderen, ohne Bezug zu einem Lehrer, der die Kinder im Auge hat und sich um deren Entwicklung sorgt? Die Klassengemeinschaft wäre auch ein Modell, wie die Menschen später als Erwachsene das Zusammenleben in der direkten Demokratie einrichten und gestalten könnten. Oder sollen die Kinder auf ein Erwachsenenleben vorbereitet werden, in dem sie vereinzelt leben und als auswechselbare Arbeitnehmer in einfachen Tätigkeiten überall dort eingesetzt werden können, wo sie gerade gebraucht werden?

Meiner Meinung nach liegt hier der wesentlichste Punkt, weshalb die ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer nicht bei ihrem Beruf bleiben. Es fehlt ihnen schlicht das Instrumentarium, wie sie mit ihren Kindern umgehen sollen, wenn sie Probleme schaffen. Es fehlt ihnen das Wissen, wie man Kinder anspricht, wie man den Entmutigten aus diesem Gefühl heraushilft, wie man den guten Schüler, der nur für sich schaut, zu einem Mitspieler in der Klassengemeinschaft macht usw. Wenn es einem Lehrer gelingt, einem Schüler zum Erfolg zu verhelfen, einem Egoisten dazu verhilft, andern zu helfen, gibt das einem die Befriedigung, die den Lehrerberuf zum schönsten aller Berufe macht. 

So aber wie die heutige Schule eingerichtet werden soll, fällt das alles weg. Ein Lernbegleiter, ein «facilitator», wie es im Englischen heisst, verkommt zu einem Abklatsch eines Lehrers, verkommt zu einem Verwalter von Lernprozessen, der eben schliesslich durch einen Computer ersetzt werden kann, was vermutlich eines der angestrebten Ziele sein könnte. 

Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen: Innehalten ist nötig.

Es stellt sich die Frage, wie so etwas mit unseren Schulen passieren konnte, weiss doch jede Bürgerin und jeder Bürger aus seinem eigenen Leben, wie wichtig die Lehrerpersönlichkeiten waren, im Guten wie auch im Schlechten. Jeder mag sich an Episoden erinnern, in denen ein Lehrer entscheidend war mit einer Intervention, mit einem Zuspruch oder eben auch für eine leider negative Entwicklung.

Nun soll mit diesen Reformen dieses zentrale Instrumentarium den Lehrerinnen und Lehrer weggenommen werden, indem man sie zu Begleitern reduziert, die sich aus allem heraushalten sollen und mit einem papiergesteuerten Unterricht die Schüler langweilen. Da fehlt doch das Leben, das ist doch öde und ohne Spannung. Und da sollen die Lehrer bleiben? Nein, denn mit dieser papierenen Ausbildung durch Ideologen kann man es nicht lernen, Lehrer zu werden. Da braucht es Begeisterung, es ist kein Job, wie das heute vertreten wird, es braucht ein Bewusstsein, wie wichtig man für die Kinder und die Eltern ist. Heute werden Lehrerinnen und Lehrer zu Vollzugsbeamten ausgebildet, sie bräuchten aber Freiheit, sie müssen sich entfalten und pädagogisch wirken können, nicht in ein Korsett von Kompetenzvermittlung eingeschnürt werden, wie das mit dem neuen Lehrplan verfolgt wird. Mit ihm beschränkt sich der Unterricht auf das Abhaken von Kompetenzen, anstatt mit ganzheitlicher Bildung, Schulung und Entwicklung der Kinder ins Zentrum zu stellen.

Es wäre höchste Zeit, dass verantwortungsvolle Politiker sich mit dem Problem der Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen auseinandersetzten. Hier hat sich nämlich unbemerkt von der Politik eine Kaste ausgebreitet, die mit ihren Ideologien die Gesellschaft ganz unbehelligt in ihrem Sinne umgestalten will. Sicher nicht umsonst hat Milton Friedman den konstruktivistischen Ansatz für die Umsetzung seiner Vorstellung hervorgehoben. Wollen wir unsere Kinder einer solchen Wirtschaftsideologie opfern, deren Scheitern im Übrigen immer deutlicher wird? Nein, es bräuchte ein Innehalten, schliesslich muss man die Schule nicht neu erfinden. Die Schulen in der Schweiz schauen auf eine lange, erfolgreiche Tradition zurück. Die Schulpädagogik steht auf festen Fundamenten,.Was wir heute erleben, ist reine Ideologie und hat mit den Realitäten des Lebens überhaupt nichts zu tun. Kein Wunder also, bleiben trotz hoher Ausbildungszahlen die Lehrerinnen und Lehrer ihrem Beruf nicht treu. 

¹ vgl. Pongratz, L.A.: Konstruktivistische Pädagogik als Zauberkunststück. In: Pongratz, L.A./Nieke, W./Masschelin, J.: Kritik als Pädagogik – Pädagogik als Kritik. Opladen 2004 

² Friedman, M.: Kapitalismus und Freiheit. München 2002, S. 35

³ vgl. Pongratz, L.A.: Konstruktivistische Pädagogik als Zauberkunststück. In: Pongratz, L.A./Nieke, W./Masschelin, J.: Kritik als Pädagogik – Pädagogik als Kritik. Opladen 2004

Jochi Weil – «Brückleinbauer» zwischen jüdischen und palästinensischen Menschen

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Jochi und Anjuska Weil (Bild hhg)
Jochi und Anjuska Weil (Bild hhg)

Zu finden ist Jochi Weil jeden Monat am zweiten Freitag von 12 Uhr 30 bis 13 Uhr an der Zürcher Mahnwache für einen gerechten Frieden in Israel/Palästina, im Sommer am Central, im Winter am Paradeplatz. Schon von weitem ist dort das Schriftband «Schluss mit Besatzung und Krieg in Palästina und Israel» und die grossen schwarzen Hände beschriftet mit «Stoppt Siedler» oder «Nein zu Landraub» zu sehen. 

Dieses Jahr feierte Jochi Weil seinen 80. Geburtstag. Zur Ruhe gesetzt hat er sich nie. Zu sehr beschäftigt ihn der Unfrieden im Nahen Osten. Letztes Jahr hat er das Netzwerk «Ina autra senda – Swiss Friends of Combatants for Peace in Israel/Palästina» mitbegründet, mit dem die politische Debatte zum Problem Israel/Palästina angeregt werden soll. Aktuell organisiert Jochi Weil mit «Ina autra senda» für den November 2022 die Vortragsreise zweier Väter – ein Palästinenser und ein Israeli – die ihre beiden Töchter durch Waffengewalt in Israel und in Palästina verloren haben. Die beiden setzen sich für eine gewaltlose Lösung des Konfliktes ein. 

Bis zum Sechstagekrieg von 1967 hatte Jochi Weil, der aus einer jüdischen Familie stammt, Israel vorbehaltlos unterstützt. Nach dem Sieg Israels reiste er mit seiner Frau Anjuska nach Israel, wo sie in einem Kibbuz arbeiteten. Als die zurückgekehrten Soldaten berichteten, begann seine Unterstützung für die israelische Politik zu bröckeln: «Es war vom Häuserkampf in Jericho die Rede: Eine Einheit nahm Haus um Haus ein, schliesslich kam sie in einen Raum, in dem ein paar Araber waren – damals nannte man sie noch nicht Palästinenser. Sie sahen, dass einer eine Handgranate im Hosenbund hatte.» Die Soldaten erzählten, sie hätten schliesslich alle erschossen. «Da ist etwas passiert mit mir. Ich fragte mich: Wie verträgt sich das mit dem Humanismus? Denn eine humanistische Erziehung war in unserer Jugendbewegung, dem Hashomer Hatzair, sehr wichtig.»

Jochi und Anjuska Weil an der Mahnwache für einen gerechten Frieden in Israel/Palästina in Zürich. (Bild hhg)

Jochi und Anjuska Weil an der Mahnwache für einen gerechten Frieden in Israel/Palästina in Zürich. (Bild hhg)

 

Mit seiner Frau begann sich Jochi Weil für ein Ende der Besatzung und eine Zwei-Staaten-Lösung einzusetzen. Er weiss, dass er in der grossen Politik nichts ändern kann. In dieser Ohnmacht hat er den Ausweg der paradoxen Hoffnung (Erich Fromm) gefunden: So arbeitet er eben im Kleinen «auf der Nanomilimeterebene». 

Er hat die «Kampagne Olivenöl aus Palästina» mitbegründet und engagierte sich seit über 30 Jahren bei «medico international schweiz» für die Westbank, Gaza und den «Brückleinbau» mit Israel.

Die Religion ist Jochi Weil wichtig. Er ist Mitglied der Israelischen Cultusgemeinde Zürich ICZ. Für ihn ist die Zedeka (5. Buch Moses), der allgemeine Begriff für Gerechtigkeit im jüdischen Glauben zentral: «Der Gerechtigkeit und nur der Gerechtigkeit sollst Du nachjagen» ,sagt Jochi Weil, «vor sehr langer Zeit soll ein Rabbiner gesagt haben: Die Welt beruht auf drei Säulen: Wahrheit – Recht – Frieden. Ohne Recht und Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden.» Das sind Leitlinien von Jochi Weil und seiner Frau Anjuska bis heute.

 

Ein Palästinenser und ein Israeli auf dem Weg der Versöhnung

Bassam Aramin und Sami Elhanan weilen vom 15. bis 22. November 2022 in der Schweiz
und berichten von ihren Erfahrungen:

Dienstag, 15. November 22, 19.30 Uhr, Reformierte Kirche Offener St. Jakob am Stauffacher, Zürich

Mittwoch, 16. November 22, 19.30 Uhr, Reformiertes Kirchgemeindehaus, Liebestrasse 3, Winterthur

Donnerstag, 17. November 22, 19.30 Uhr, Haus der Religionen – Dialog der Kulturen, Europaplatz 1, Bern

Freitag, 18. November 22, 19.30 Uhr, Werkhof, Planche-Inférieure 14, Fribourg

Samstag, 19. November 22, 18.30 Uhr, Espace Dickens, Avenue Charles Dickens 4, Lausanne

Sonntag, 20. November 22, 18.30 Uhr, Centre de l'Espérence, Rue de la Chapelle 8, Genf

Montag, 21. November 22, 19 Uhr, kHaus, Kasernenhof 7, Basel

Diestag, 22. November 22, 19 Uhr, Grosser Hörsaal der Evangelischen Hochschule, Gebäude B, Buggingerstr. 38, D-Freiburg i.Br.

Kontakt Jochi Weil: j.weil@bluewin.ch Tel.079 383 34 08 / www.facebook.com/inaautrasenda

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