«Der Migrationspakt ist nicht kompatibel mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie verbindlich ist der Uno-Migrationspakt?

Prof. Alfred de Zayas Zunächst möchte ich erläutern, dass ein «Compact» eben kein völkerrechtlicher Vertrag ist. Der geläufige englische Begriff «compact» bedeutet «Zusammen­setzung», was auf deutsch etwas schwierig klingt. Dieser «Global Compact for Migration» ist allenfalls mit der «Wiener Erklärung» und dem «Aktionsplan» von 1993 zu vergleichen, die eben nicht verbindlich sind. Im Gegensatz dazu ist der «Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte» (IPbpR) ein verbindlicher Vertrag. 172 Staaten, u. a. Deutschland, die Schweiz und Österreich haben den IPbpR ratifiziert. Ein ernsthaftes Problem liegt darin, dass Teile des Compacts mit dem IPbpR nicht in Einklang zu bringen sind.

Aber im Deutschen spricht man vom Migrations-Pakt.

Die deutsche Übersetzung ist insofern inkorrekt, da ein «Compact» kein «Pakt» ist – sondern ein «Aktionsplan». Ferner ist zu bemerken, dass der «Compact» nicht neutral ist – er ist keine allgemeine «Erklärung» über die Thematik der Migration, eben nicht ein Compact on Migration, sondern ein Compact for Migration, der dazu geschaffen wurde, um die Migrationsbewegungen zu fördern.

Dann werden wir Bürger manipuliert?

Ja. Dies wissen allerdings nur die wenigsten. Nur Juristen wissen (und gewiss nicht alle!), dass der Pakt den Staaten keine verbindlichen Verpflichtungen auferlegt, sondern nur «empfiehlt». Die Gefahr liegt darin, dass durch Unwissen eine Art «Fake Law» bzw. Pseudo-Recht geschaffen wird, ein Pseudo-Recht jedoch, das reelle Folgen hat, weil Menschen denken, wir müssen uns daran halten: dura lex sed lex.

Ist der Pakt im Einklang mit den Menschenrechten?

Teile ja, aber das Gesamtpaket nicht. Die Täuschung des Paktes liegt darin, dass die Menschen glauben, dass die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, die Souveränität und die Menschenrechte nicht gefährdet werden. Es wird suggeriert, dass der Pakt alle diese Werte unterstützt. Tatsächlich macht der Text des Paktes einen strategischen Kotau vor diesen Werten, aber in cauda venenum – das Gift kommt erst am Ende – wenn man die Umsetzungsparagraphen liest. Es ist eben die Umsetzung, die an den Roman 1984 von George Orwell erinnert, an den orwellschen Newspeak.  Allein der Text der Umsetzung des Ziels 17 ist genug, um das Grausen zu bekommen.

Was beinhaltet das Ziel 17?

Hier werden Grundrechte wie die freie Meinungsäusserung oder die Pressefreiheit massiv eingeschränkt. Es darf keine Kritik mehr an der Migration geübt werden. Das Recht, gegen Migration zu demonstrieren, das Recht, Vereinigungen zu gründen, die gegen Migrationspolitik sind, wird untersagt. Es geht soweit, dass man bestimmte Stellungnahmen über die Migration mit dem Strafrecht ahnden will. 

Ist Migration kein Menschenrecht?

Migranten haben dieselben Menschenrechte wie alle anderen auch. Sie haben das Recht auf Leben, auf den Schutz vor Folter und willkürlicher Verhaftung. Sie haben das Recht, ihr eigenes Land zu verlassen, wenn sie die Genehmigung zur Einreise in einen anderen Staat haben. Art. 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte stipuliert das Recht, das eigene Land zu verlassen, aber kein Artikel der Erklärung oder des IPbpbR legt ein Einreiserecht fest.

Wie wird dann die Einreise völkerrechtlich geregelt?

In allen Lehrbüchern des Völkerrechts sowie im Völkergewohnheitsrecht gehört die Einreise in ein Staatsgebiet und das sogenannte «Fremdenrecht» zur Ontologie des Staates. Tatsächlich ist eine der Hauptaufgaben eines Staates, die Grenzen zu garantieren und das Staatsgebiet vor allen Sorten von Gefahren zu schützen. Ein souveräner Staat ist eben ein Staat, der seine Grenzen sichert.

Darf ein Staat seine Grenzen schliessen und die Migration verweigern?

Ja. In manchen Situationen ist das eben ein Gebot, denn die Hauptaufgabe eines Staates ist, für das Wohlergehen seiner Bevölkerung und für den sozialen Frieden zu sorgen. Massenmigration bringt soziale, religiöse und sprachliche Spannungen mit sich.

Was bedeutet es, wenn Migranten der Zugang zu Grundleistungen gewährleistet werden muss?

Es liegt auf der Hand, dass der Staat einen begrenzten Haushalt hat. Werden Grundleistungen wie das Recht auf medizinische Versorgung, subventionierte Wohnungen, freie primäre und sekundäre Ausbildung auf alle Migranten ausgedehnt, kann ein Staat in finanzielle Not geraten, oder die Grundleistungen werden für alle geringer ausfallen. Damit werden die Sozialwerke der Einwanderungsländer schwer belastet, und es kann zu deren Zusammenbruch führen.

Es heisst, der Pakt sei «soft law» und nur eine Empfehlung. Im Vertragstext steht nahezu bei jedem Punkt, dass man sich als Staat «verpflichtet». Wie ist das zu beurteilen?

Viele Uno-Resolutionen verwenden diese Vokabel. Aber die Verbindlichkeit kommt allein mit der Ratifizierung. Diese Erklärung bzw. Empfehlung bedarf aber keiner Ratifizierung. Zwar «verpflichten» sich die Staaten, dieses oder jenes zu tun, aber die Verpflichtung ist nicht völkerrechtlich verbindlich und kann weder von der Uno noch von anderen Staaten erzwungen werden.

Hilft der Pakt, das Problem der Migration zu lösen?

Kaum. Im Prinzip müsste ein solcher Pakt die Begleiterscheinungen der Migration lindern, aber der Plan geht von einer falschen Prämisse aus, nämlich dass die Migration unabwendbar sei. Mit anderen Worten, der Pakt ist «ex post facto», weil die Migranten schon da sind und weitere kommen. Es wäre dringend geboten, die Ursachen der Migration zu untersuchen und Schlüsse daraus zu ziehen. Wir müssen den Menschen in ihren Heimatländern helfen, damit sie auch ein Leben in Würde führen können. Wir müssen mithelfen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern, damit sie nicht um die Welt getrieben und als billige Arbeitskräfte ausgebeutet werden.

Wo sehen Sie die Ursachen der Migration?

Es gibt verschiedene Gründe. Ich habe mehrere Berichte darüber am Uno-Menschenrechtsrat und der Uno-Generalversammlung vorgelegt, die eigentlich ganz gut aufgenommen wurden. Auch muss man wissen, dass die Massenmigration der Syrer mit der Einmischung der europäischen Staaten in den Bürgerkrieg zusammenhängt, vor allem durch die Finanzierung der Rebellen. Auch wurde das Völkerecht durch die Vereinigten Staaten, Saudi-Arabien und Israel gebrochen, die die Zivilbevölkerung gnadenlos bombardiert und getötet haben. Ohne diese Einmischung wäre der Krieg vor vielen Jahren schon beendet gewesen, und es hätte niemals solch ein Flüchtlingselend gegeben.

Was kann der Bürger gegen diesen Migrationspakt unternehmen?

Der Bürger muss seine Rechte kennen und von seinen demokratischen Repräsentanten verlangen, dass die Regierung keine Verpflichtungen eingeht, die diese Rechte gefährden. Auch wenn der globale Migrationspakt kein verbindlicher Vertrag ist, kann ein Staat unter Druck gesetzt werden.

Wie kann das geschehen?

Er kann Auflagen durch internationale Organisationen, Erpressung durch mächtigere Staaten, durch die Medien usw. ausgesetzt werden. Als Folge der Unterschrift unter den «Global Compact for Migration» könnte die Verantwortung des Staates gegenüber der eigenen Bevölkerung und der Schutz ihrer Menschenrechte kompromittiert werden. Zudem ist ein Teilverzicht auf die eigene Souveränität undemokratisch und contra bonos mores (gegen die guten Sitten). Die Anwendung bestimmter Teile des Paktes geschähe auf Kosten anderer Menschenrechte und würde mit dem IPbpR in Konflikt geraten.

In welchen Punkten?

In den Artikeln 1, 17, 19, 21 und 25, ferner mit dem Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, vor allem Art. 6-7 (Recht auf Arbeit und Arbeitsbedingungen), Art. 9 (Recht auf soziale Sicherheit), Art. 10 (Familie), Art. 11 (Ernährung), Art. 12 (Gesundheitswesen), Art. 13 (Bildung), Art. 15 (Kultur). Ausserdem ist der Migrationspakt nicht kompatibel mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, das zum ius cogens gehört und in der Uno-Charta verankert ist, denn gewiss wollen die meisten Menschen ihre Kultur und Identität bewahren. Eine vermehrte Migration würde die Selbstbestimmung von ganzen Bevölkerungen in Frage stellen.

Was müsste also geschehen?

Bevor die Schweiz oder Deutschland diesen umstrittenen Pakt unterschreiben, müssten viel mehr offene Debatten, Volksbefragungen und Referenden durchgeführt werden. Staaten, die diese Diskussion meiden, praktizieren eine menschenverachtende Demophobie, das heisst, sie haben Angst vor der eigenen Bevölkerung.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Interview.

Interview Thomas Kaiser

Uno-Migrationspakt: «Rechtlich nicht bindend» – ein verführerisches Argument

von Hanspeter Bucher

Seit einiger Zeit erregt der Uno-Migrationspakt (GCM) Aufmerksamkeit. Im Dezember soll der Pakt in Marokko unterzeichnet werden. Eine genaue Analyse zeigt, dass er zwar rechtlich nicht bindend, aber politisch sehr wohl verpflichtend ist. Deshalb ist eine breite öffentliche Diskussion der Inhalte angezeigt.

Der GCM ist gemäss Präambel rechtlich nicht bindend, die Souveränität der Staaten soll im Einklang mit dem Völkerrecht nicht verletzt werden. Einleitend wirken diese Beteuerungen beruhigend. Was dann aber inhaltlich folgt, widerspricht immer wieder der besänftigenden Präambel: Zur konkreten Umsetzung des GCM wird ein Paket von 23 Zielen vorgestellt. Jedes dieser Ziele wird mit der wiederholten Formulierung «Wir verpflichten uns …» eingeleitet. Jedes Ziel wird zudem durch rund 10 verpflichtende Massnahmen ergänzt. So werden die Staaten ungefähr 250 mal auf die Verpflichtungen fixiert. Eine erdrückende Last an Verpflichtungen für alle, die unterzeichnen. Und auch die Bedeutung des Wortes «Verpflichtung» kann durch keine politische Erklärung verwässert werden. Es beinhaltet das Wort «Pflicht» und jeder normal denkende und moralisch handelnde Mensch weiss genau, was damit gemeint ist. Sicher nicht die freie Wahl zwischen «heute halte ich mich daran, morgen jedoch ist es für mich obsolet.» Auch wenn es nicht verpflichtend ist, wie in der Präambel formuliert, müsste der Bundesrat die impliziten politischen und moralischen Folgen ins Auge fassen, die die gesamte Gesellschaft mit der Unterzeichnung belasten würden. Wenn wir diesen Pakt unterzeichnen und später viele Punkte plötzlich mit dem Hinweis auf die nicht rechtliche Bindung nicht umsetzen, wäre das ein Schlag ins Gesicht aller Vertragspartner. Das verstösst gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.

Selbstherrliches Gebaren: «Weiterverfolgung und Überprüfung»

Das Schlusskapitel des GCM entlarvt die gemachte Zusicherung, er sei rechtlich nicht bindend, als Farce. Die Uno richtet zum Zweck der Weiterverfolgung und Überprüfung der Verpflichtungen ein spezielles «Überprüfungsforum Internationale Migration» ein. Es dient als globale Plattform «zur Erörterung (…) der Fortschritte bei der Umsetzung aller Aspekte des Globalen Paktes unter Beteiligung aller relevanten Interessenträger» (S. 31). Es soll ab 2022 alle 4 Jahre «auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler» Ebene stattfinden (S. 31). Auch «andere relevante Interessenträger» sollen mit einbezogen werden. Betont wird dabei die wichtige Sonderstellung der Regionen (S. 32). Damit erhalten regional organisierte Gruppen quasi den gleichberechtigten Status mit den Unterzeichnerstaaten. Zusätzlich wird das «Globale Forum für Migration und Entwicklung» mit Sitz in Genf dazu aufgefordert, für einen jährlichen informellen Austausch über die Umsetzung (…) und die Ergebnisse Bericht zu erstatten (S. 32). Da wird also ein weltumspannendes jährlich aktives Kontrollorgan errichtet. Wozu dieses umfassende Monitoring, wenn es doch keine rechtliche Verbindlichkeit gibt? In  einer Zeit von aussenpolitischem und innenpolitischem Druck wird Zwang subtil bis in alle sozialen Beziehungen oder mit unnachgiebigen Forderungen aus dem Ausland ausgeübt. Der GCM schlägt dazu z. B. als absichernde Massnahme sogar vor, die Bürger (also z. B. «Dienstleister, Pädagogen») sollen die Taten ihrer Mitbürger, die sich ungebührlich gegen den Pakt äussern, «aufdecken» (S. 24) – der Pöstler oder Pizzakurier als Gesinnungsschnüffler. Dazwischen kann man sich die ganze mögliche Palette an Druck- und Zwangsmechanismen selbst ausmalen. Die Medien werden im Uno-Pakt schliesslich aufgefordert, ­propagandistisch für die Verpflichtungen des Dokuments zu werben. Die Behörden ihrerseits sollen abweichende Meinungsäusserungen der Presse bestrafen (S. 23).

Wenn wir also diesen Pakt unterzeichneten, würden wir uns auch verpflichten, dessen Weiterentwicklung zu akzeptieren. Denn die Formulierungen auf S. 32 lassen keinen Zweifel aufkommen, was uns in Zukunft erwartet: «Die gesamte Wirksamkeit und Konsistenz des (…)Weiterverfolgungs- und Überprüfungsprozesses [soll] weiter gestärkt» werden. Daraus ist zu entnehmen, dass die Staaten aufgrund der «rollenden Planung» von Jahr zu Jahr zusätzliche Vorgaben zu akzeptieren und zu erfüllen haben. Diesem immer weiter optimierten und durch und durch organisierten überstaatlichen, demokratisch nicht legitimierten Lenkungsmechanismus kann sich kein Staat entziehen, der den Pakt unterzeichnet hat. Da nützt keine Bezeugung, der Pakt sei rechtlich nicht bindend. Der politische und moralische Druck aller beteiligten Gruppen und Regionen im In- und Ausland ist zu gross. Die einzelnen Nationalstaaten können nach diesen Vorgaben keine eigene Migrationspolitik mehr führen. Sie verlieren ihre Souveränität in einem entscheidenden Bereich. 

Über dieses Thema muss mit der Bevölkerung eine breite Diskussion geführt werden und sie muss die Möglichkeit haben, sich im Rahmen eines Referendums abschliessend dazu zu äussern. 

Quelle: http://www.un.org/depts/german/migration/A.CONF.231.3.pdf

 

Parlament verlangt Mitsprache beim Uno-Migrationspakt

von Thomas Kaiser

Seit der Gründung des Schweizer Bundesstaates 1848 ist die Aussenpolitik Sache des Bundesrates. Diese spielte anfänglich nur eine untergeordnete Rolle und war daher politisch kaum von Belang. Das änderte sich jedoch im Laufe der Jahrzehnte, und das Departement für auswärtige Angelegenheiten erfuhr zunehmend eine Aufwertung. 

Aussenpolitische Entscheide wirkten auch immer stärker auf die Innenpolitik, ohne dass das Parlament dabei mitentscheiden konnte. Trotz dieses den aktuellen Herausforderungen kaum angemessenen Umstands hätte die Legislative Möglichkeiten, sich in aussenpolitische Fragen einzumischen. Alt Nationalratspräsident Ruedi Lustenberger formulierte es so: Die Aussenpolitik «ist nicht in erster Linie eine Stärke des Bundesrates, sondern eine Schwäche des Parlaments.» (vgl. «Zeitgeschehen im Fokus», Nr. 15/2018) 

In der aktuellen Auseinandersetzung um die Unterzeichnung des Uno-Migrationspakts scheinen das Parlament bzw. die Staatspolitischen Kommissionen beider Kammern diese «Schwäche» endlich zu überwinden und sich in die Aussenpolitik «einzumischen». Das ist auch dringend geboten, denn in diesem Pakt werden 23 Ziele für eine globale Migrationspolitik formuliert, die weit in die Souveränität der einzelnen Staaten eingreifen und ein allgemeines international abgestimmtes Handeln vorschreiben. Auch bezeichnen einzelne Kritiker diesen Pakt als neoliberales Projekt, um Migranten weltweit als billige Arbeitskräfte einsetzen zu können. 

Umstritten ist der Pakt jedoch nicht nur in der Schweiz, sondern verschiedene Staaten haben bereits verlauten lassen, ihn unter keinen Umständen zu unterzeichnen. Dazu gehören u. a. die USA, aber auch europäische Staaten wie unser Nachbarland Österreich oder auch Polen.

Am Freitag, 2. November tagte die Staatspolitische Kommission des Nationalrats (SPK-N) und empfahl mit 15 zu 9 Stimmen dem Bundesrat, am 10./11. Dezember den Pakt nicht zu unterschreiben. Ein wichtiges Argument war dabei, dass sich die Schweiz nicht für internationale Zielsetzungen einsetzen sollte, «die in Widerspruch zu schweizerischem Recht treten könnten».

Keine Absichtserklärung – die Staaten «verpflichten» sich

In derselben Sitzung hat die Kommission eine Motion bestätigt, die in ihrer vorletzten Sitzung lanciert worden war und vom Bundesrat verlangt, «dem Uno-Migrationspakt am 10./11. Dezember 2018 in Marokko vorerst nicht zuzustimmen, sondern dem Parlament den Antrag auf Zustimmung in Form eines Bundesbeschlusses zu unterbreiten.» Zwar anerkennt die Kommission, dass es sich bei dem Pakt um keine rechtlich bindende Absichtserklärung handelt, aber wenn man sich die einzelnen Formulierungen des Paktes anschaut, sind das keine Absichtserklärungen, sondern die Staaten «verpflichten sich», die 23 Punkte einzuhalten, und müssen auch über den jeweiligen Stand der Umsetzung alle vier Jahre Rechenschaft ablegen. 

Laut NZZ vom 3. November liess der Präsident der Staatspolitischen Kommission, Kurt Fluri, verlauten: «…die Mehrheit ist überzeugt, dass der Pakt politisch bindend sei und die darin enthaltenen Forderungen von Politikern und Organisationen aufgenommen würden.»

Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats macht damit deutlich Druck auf das Aussendepartement und seinen Vorsteher Ignazio Cassis. Am 6. Dezember, also während der Wintersession, wird diese Motion im Nationalrat behandelt, noch bevor der Pakt unterzeichnet werden soll. 

Mitsprache des Parlaments verlangt

Neben der SPK-N beschäftigte sich die Staatspolitische Kommission des Ständerats (SPK-S) ebenfalls mit dem Uno-Migrationspakt. Sie hat mit 8 zu 2 Stimmen bei einer Enthaltung dem Bundesrat ebenfalls die Empfehlung gegeben, am 10./11. Dezember dem Pakt nicht zuzustimmen. Auch die Motion von Ständerat Peter Föhn wurde mit 7 zu 4 Stimmen überwiesen. Sie ist im Wortlaut mit der Motion des Nationalrats identisch und verlangt die Mitsprache des Parlaments. Bereits im September hat Ständerat Hannes German eine Motion eingereicht, die sich gegen die Unterzeichnung des Migrationspakts stellt und verlangt, dass die Schweiz die Führungsrolle im weiteren Prozess abgibt. Am 12. November, gab nun auch die Aussenpolitische Kommission des Ständerats (APK-S) bekannt, dass sie mit 6 zu 5 Stimmen eine Kommissionsmotion überwiesen hat, die ebenfalls verlangt, «dem Parlament den Antrag auf Zustimmung in Form eines Bundesbeschlusses zu unterbreiten». Damit hat einzig die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats dem anfänglichen Ziel des Bundesrats, den Migrationspakt zu unterschrieben, stattgegeben.

Noch ist unklar, inwieweit der Bundesrat den Motionen der beiden Staatspolitischen Kommissionen sowie der APK-S Folge leisten wird. Der Druck des Parlaments scheint dennoch Früchte zu tragen. Nachdem Bundesrat Cassis am 4. November hatte verlauten lassen, dass er mit einer Verschiebung der Unterzeichnung leben könne, entschied der Bundesrat in seiner Sitzung vom 21. November, nicht nach Marokko zu reisen und die Unterzeichnung dieses Pakts vorerst auszusetzen. Er wolle zuerst die parlamentarische Debatte während der Wintersession abwarten, hiess es aus Bern.

Die Entwicklungen in der Aussenpolitik sind in letzter Zeit schwerwiegend und verlangen unbedingt nach mehr demokratischer Kontrolle. Das aktuelle Beispiel zeigt, wie dringend es geboten ist, dass sich das Parlament mit allen zur Verfügung stehenden politischen Mitteln in die Aussenpolitik des Bundesrats einmischt. Die Exekutive wird das Parlament kaum übergehen können, auch wenn die Aussenpolitik bis heute noch Sache des Bundesrates ist. Direktdemokratisch im Sinne der Schweiz ist es, das Volk darüber abstimmen zu lassen.

 

Motion

Der Bundesrat wird beauftragt, dem Uno-Migrationspakt am 10./11. Dezember 2018 in Marokko vorerst nicht zuzustimmen und dem Parlament den Antrag auf Zustimmung in Form eines Bundesbeschlusses zu unterbreiten.

Beim Uno-Migrationspakt handelt es sich um sogenanntes «Soft Law», das für die Schweiz zwar nicht direkt rechtlich bindend, aber politisch verpflichtend ist. Das bedeutet, dass sich aus der Zustimmung zum Migrationspakt zu einem späteren Zeitpunkt gesetzgeberischer Handlungsbedarf ableiten lässt. Aufgrund der sensiblen Thematik (Zuwanderung) und des sehr weitreichenden Gehalts des Vertragswerkes ist es angezeigt, dass sich das Parlament vertieft mit den möglichen Folgen für die Schweiz beschäftigen und über die Zustimmung zum Migrationspakt befinden kann. Dem Parlament muss dazu genügend Zeit zugestanden werden. Der Bundesrat soll daher vorerst auf seine Zustimmung verzichten resp. damit zuwarten, bis der Gesetzgeber seinen Willen ausgedrückt hat.

Quelle: www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20184093

 

Die EU-Waffenrichtlinie steht dem freiheitlichen Waffenrecht der Schweiz diametral entgegen

thk. Seitdem die Schweiz das Schengener Abkommen unterzeichnet hat, ist sie schon zum wiederholten Mal mit Gesetzesänderungen konfrontiert, die von der EU ausgearbeitet worden sind und im Gegensatz zum Schweizer Recht stehen. Diesmal geht es um die neue EU-Waffenrichtlinie, die diametral zum freiheitlichen Waffenrecht der Schweiz steht. Dieses ist in unserer traditionellen Milizarmee begründet, die einen wesentlichen Bestandteil unserer direkten Demokratie bildet und dem Bürger grosses Vertrauen entgegenbringt. Die Aussage «die Waffe verbleibt beim Wehrmann» zeigt, welchen Stellenwert der mündige Bürger in unserem Staatswesen hat.

Trotz dieser Unvereinbarkeiten will sich der Bundesrat dem Diktat von Brüssel beugen und die neue EU-Waffenrichtlinie übernehmen. Dagegen wurde das Referendum ergriffen und bis Ende Dezember müssen 50 000 Unterschriften gesammelt sein, damit das Volk an der Urne entscheiden kann, ob es sich von der EU vorschreiben lassen will, wie unser Waffenrecht auszusehen hat, oder ob wir es selbst bestimmen können. Der ehemalige Nationalrat und Präsident der Sicherheitspolitischen Kommission, Jakob Büchler, erklärt in folgendem Interview, warum er sich für das Referendum einsetzt und warum wir die Übernahme der EU-Waffenrichtlinie ablehnen müssen. 

 

«EU-Waffenrichtlinie – vollständiger Bruch mit unserer Tradition»

Interview mit alt Nationalrat Jakob Büchler

alt Nationalrat Jakob Büchler (Bild thk)
alt Nationalrat Jakob Büchler (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Herr Büchler, als alt Nationalrat und ehemaliger Präsident der Sicherheitspolitischen Kommission unterstützen Sie das Referendum zur EU-Waffenrichtlinie?

Alt Nationalrat Jakob Büchler Ich unterstütze das Referendum als aktiver Schütze und als Präsident vom St. Galler Kantonalschützenverband. Mit dem Entscheid des Ständerates habe ich grosse Mühe, mit dem Entscheid des Nationalrates hätte ich leben können. Aber unter diesen Umständen haben wir das Referendum ergriffen, da wir zu viel von unseren Rechten abgeben müssten. 

Was hat der Ständerat für einen Entscheid gefällt?

Der Ständerat hat leider den Vorschlag des Nationalrates nicht aufgenommen. Deshalb gelten unsere Ordonanzwaffen als «verbotene Waffen». Es ist zwar im Entscheid enthalten, dass ein Schütze diese Waffe nach Erfüllen der Dienstzeit behalten darf, aber das ist jetzt problematisch.

Was ist daran problematisch?

Ordonanzwaffen sind automatische Waffen, und damit sind sie nach EU-Waffenrichtlinie «verbotene Waffen». Das gilt für das Sturmgewehr 57 und 90. Wenn Jung­schützen durch Schützen ausgebildet werden, dann wäre das die Ausbildung an einer «verbotenen Waffe», und das können wir nicht akzeptieren.

Durch den Entscheid des Stände­rates ist dieser Passus der «verbotenen Waffen» im Gesetz belassen worden? 

Ja, der Nationalrat hatte diesen Passus herausgenommen, und der Ständerat hat ihn wieder aufgenommen. 

Warum hat er das rückgängig gemacht?

Es geht um die Frage nach der Kategorie der Waffen. Waffen werden beim EU-Waffenrecht in Kategorien eingeteilt. Kat. I: vollautomatische Waffen. Diese sind in der höchsten Gefahrenstufe. Diese gibt es in der Schweiz im privaten Besitz nicht. Kat. II: Das sind halbautomatische Waffen. Diese Kat. II (Halbautomatische Waffen, also Schweizer Sturmgewehre) würde neu in der Kat. I der höchsten Gefahrenstufe eingeteilt. Deshalb würden unsere Ordonanzwaffen zu den verbotenen Waffen gehören. Das wollen wir nicht.

In der Diskussion heisst es immer, dass die Schweiz aus dem Schengener Abkommen geworfen würde, wenn sie hier nicht einlenke. Wie beurteilen Sie dieses Argument? 

Das wird natürlich immer wieder ins Feld geführt. Wir haben das Schengener Abkommen mit einer bestehenden Ausgangslage. Daran hat sich nichts geändert. Das ist natürlich ein Druckmittel der EU, die so die Schweiz zur Übernahme der EU-Waffenrichtlinie zwingen will. Das ist natürlich Unsinn. Was mir ausserordentlich Mühe macht, ist, dass man unsere Schweizer Schützen mit Terrorismus in Verbindung bringt. Das geht überhaupt nicht. Wer ein altes Sturmgewehr mit nach Hause nehmen will, ist quasi ein Terrorist. Das ist doch eine absolute Frechheit. 

Es hat doch immer geheissen, dass das Schengener Abkommen unser Waffenrecht gar nicht antastet. 

Das ist eine Frage der Verhandlungen, wie man das Schengener Abkommen handhaben möchte. So wie es heute lautet, ist es möglich, dass wir mit unserem traditionellen Schiesswesen, das auf das Sturmgewehr zurückgreift, dies weiterhin tun können. Es ist in der Schweiz rechtlich abgesichert. Frau Bundesrätin Sommaruga hat immer gesagt, für Schützen und Jäger ändert sich nichts.

Das stimmt natürlich überhaupt nicht …

Ja, natürlich nicht. Es kommt noch der Vereinszwang dazu. Nur wer in einem Schützenverein Mitglied ist, darf das Gewehr bei sich behalten. Schwierig wird es auch dann, wenn ein Vater sein Gewehr seinem Sohn vererben will, der aber nicht in einem Schützenverein ist. Dann darf der Vater das Gewehr nicht weitergeben, und das ist ein vollständiger Bruch mit unserer Tradition. Das Verbot der Weitergabe, der Vereinszwang, das sind die Punkte, die wir nicht akzeptieren können. Es hat doch keinen Sinn, einen Menschen in einen Schützenverein zu zwingen, nur damit er die Waffe des Vaters übernehmen darf.  

Was heisst das für einen, der ans Feldschiessen geht und in keinem Schützenverein mitmacht?

Ja, der hat ein Problem. Wenn er nach dem Absolvieren des obligatorischen Feldschiessens seine Waffe mit nach Hause nehmen möchte, um ab und zu mal an ein Feldschiessen zu gehen, kann er das mit der neuen EU-Waffenrichtlinie nur, wenn er einem Schützenverein beitritt.   

Betrifft die EU-Waffenrichtlinie noch andere Bereiche?

In den neuen Bestimmungen heisst es, wer in einem Schützenverein Mitglied ist und regelmässig den Schiesssport ausübt, ist vom EU-Waffenrecht nicht betroffen. 

Was heisst «regelmässig» schiessen? 

Es ist nicht bekannt, ob einmal in der Woche, einmal im Monat oder einmal im Jahr.

Inwieweit spielt die Grösse des Magazins eine Rolle?

Man argumentiert, dass Terroristen grosse Serienfeuerwaffen im Einsatz gehabt hätten, was ich natürlich zutiefst verabscheue und verurteile. In diesem Zusammenhang kam man auf die sture Idee, die Magazine zu verkleinern. Das alte Gewehr hatte ein Magazin mit 24 Schuss, das Sturmgewehr 90 hat ein 20er Magazin. Jetzt sollen nur noch 10 Schuss im Magazin erlaubt sein. Das bringt auch nicht mehr Sicherheit. Allgemein ist das eine völlige Einschränkung unseres freiheitlichen Waffenrechts. Es bricht mit unserer Tradition, die schon seit Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderten existiert. Das können wir nicht akzeptieren. 

Hat die Schweiz damals bei der Unterzeichnung des Schengener Abkommens wegen unseres freiheitlichen Waffenrechts keinen Vorbehalt geltend gemacht?

Doch. Es ist nämlich ein Bruch mit unserem heutigen Abkommen. Die Schweiz hat vor dem Aushandeln des Schengener Abkommens eine sogenannte eigene Niederschrift verfasst. Das war ein klares Bekenntnis, dass in der Schweiz Waffen zu Hause gelagert sein dürfen. Es ist Ausdruck der grossen Tradition, und es gibt auch keine Probleme damit. Jetzt sollen wir unter EU-Diktat mit dieser Tradition brechen. Das ist absolut antischweizerisch. 

Wurde nicht vor ein paar Jahren das Waffenrecht verschärft?

Ja, vor etwa 7 Jahren. Dabei wurden verschiedene Massnahmen getroffen. Zum Beispiel, wenn jemand sein Gewehr nicht mehr haben will, dann kann er es auf einen Polizeiposten bringen. Der Gesetzgeber hat Möglichkeiten geschaffen, dass niemand gezwungen ist, ein Gewehr zu Hause zu haben. Bei der letzten Waffengesetzesrevision ist ganz klar beschlossen worden, dass Gewehr und Munition getrennt von einander gelagert werden müssen. An Schützenanlässen muss jeder, der geschossen hat, nachweisen können, wieviele Schüsse er bezogen hat und wieviele er verschossen hat. Was überzählige Munition ist, muss abgegeben werden. Überzählige Munition darf nicht mit nach Hause genommen werden. 

Damit hat die Schweiz sehr viel schon verändert, was früher nicht gegolten hat.

Ja, aber die EU kommt jetzt, verschärft das Ganze und verlangt, dass die Schweiz das übernimmt. Dazu will sie in drei Jahren überprüfen, ob ihre Massnahmen greifen. Das heisst für mich, in drei Jahren kommt die nächste Verschärfung, und die EU nimmt sich das Recht heraus, das zu überprüfen. Man hätte das Waffenrecht damals bei den Verhandlungen um das Schengener Abkommen vollständig ausklammern können, aber das ist nicht geschehen. Dass jetzt in Salamitaktik unser freiheitliches Waffenrecht geschleift wird, wollen wir mit dem Referendum verhindern.

Herr alt Nationalrat Büchler, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Energiepolitik als politische Waffe

von Fritz Edlinger, Chefredakteur der österreichischen Zeitschrift «International»

Die ausreichende Versorgung mit Energie ist eine Grundvoraussetzung für jegliche wirtschaftliche, soziale und damit letztlich auch politische Entwicklung. Der Kampf um Zugang zu und Kontrolle über Energieressourcen war im Laufe der Geschichte immer eines der primären Motive von kriegerischen Auseinandersetzungen. Dies hat sich nicht geändert, im Gegenteil, dieser internationale Verteilungskampf hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten sogar noch verschärft. Er hat sich zusätzlich auch auf das Gebiet der Kontrolle über die Verteilung von Energie ausgeweitet.

«America first» auch in der Energiepolitik

Die Energiepolitik spielte in der US-amerikanischen Aussen- und Wirtschaftspolitik immer eine grosse Rolle. Das ist weiterhin nicht überraschend, da die USA trotz beträchtlicher eigener Öl- und Gasvorkommen über viele Jahrzehnte hindurch der grösste Energieverbraucher waren.¹ Die USA waren daher seit Ende des Ersten Weltkrieges bestrebt, sich weltweit vorrangigen Zugang zu Energieressourcen zu sichern. Die US-Politik, Nah- und Fernostpolitik, war ganz wesentlich von diesen Interessen bestimmt.² Donald Trumps «America first» - Politik, die zuletzt ebenfalls sehr stark auf die Energiepolitik setzt, stellt hier also eine konsequente Fortsetzung der traditionellen US-Aussen- und Handelspolitik dar, wenngleich halt mit den ihm eigenen Methoden und Stilmitteln. Ich habe diese Politik bereits in einem Artikel in «Zeitgeschehen im Fokus», Nr. 17 / 2018 («Nord Stream 2») behandelt, sehe mich aber angesichts einer deutlichen Verschärfung der US-amerikanischen Politik, die sich gegenwärtig in erster Linie gegen Europa wendet, veranlasst, dieses Thema nochmals aufzugreifen.

Tatsächlich hat sich die Gangart Donald Trumps in den letzten Monaten deutlich verschärft. Und sein Hauptziel war, wie bereits erwähnt, Europa. Trump und die US-amerikanische Energielobby ist sich natürlich dessen bewusst, dass ihr Produkt, das per LNG nach Europa transportierte Schiefergas, wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig ist. Dessen Kosten liegen deutlich über allen anderen potentiellen Bezugsquellen für europäische Abnehmer, ob dies nun russisches Gas über Nord Stream 1 und 2 oder aserbaidschanisches, turkmenisches, russisches und eventuell auch iranisches Gas über Pipelines wie «South Stream» oder gar die bereits ad acta gelegte «Nabucco» Pipline sein mögen. Die Interessen der USA liegen auf der Hand: einerseits wollen sie unbedingt ihr Schiefergas vermarkten, da sie es im eigenen Land nicht mehr benötigen, andererseits verquicken sie – nach dem Motto «America first»  – diese Geschäftsinteressen auch gleich mit ihren geopolitischen Interessen. Und diese liegen wohl auf der Hand: Helsinki-Präsidentenplaudereien hin oder her wollen sie Russland schwächen, ihre eigenen Einflusssphären in Europa (hier spielt vor allem die Ukraine eine wesentliche Rolle, aber auch einige EU-Staaten wie Polen und die baltischen Staaten) halten, wenn möglich sogar ihren dortigen Einfluss noch ausbauen, und schlicht und einfach Europa nicht zu gross (und einig) werden lassen.³ Bei letzterem spielt natürlich Deutschland eine ganz besondere Rolle. Deutschland ist nicht nur die wirtschaftliche (und politische) Führungsmacht Europas, sondern auch – neben Italien – der grösste europäische Gasmarkt. Und Deutschland würde bei Inbetriebnahme von Nord Stream 2, aber auch der meisten südlichen Routen, zum absolut wichtigsten Gasverteiler Europas werden. Dies ist ein Szenario, welches der US-amerikanischen Energie-, aber auch Geopolitik zuwiderläuft. Daher hat sich Trump – siehe seine schwachsinnige Feststellung über Deutschland als von Russland vollkommen kontrolliertem Staat beim jüngsten Nato-Gipfel – Deutschland als das Objekt Nummer 1 für seine antieuropäischen Tiraden ausgesucht. 

«Europa first» in der Energie– aber auch in der Geopolitik

Nato und «westliche Werte» hin oder her, so ist die US-amerikanische Politik, besonders seit dort die Neokons wieder die Macht an sich gerissen haben, nicht daran interessiert, ein starkes, selbstbewusstes und eigenständiges Europa zu haben. Der aktuelle «Gaskonflikt» ist daher nur vollkommen zu verstehen, wenn man auch die dahinter liegenden generellen Interessen wahrnimmt. Die USA und jene europäischen Staaten, die zu diesen ein besonderes Naheverhältnis haben, sind nur rhetorisch an einem starken und geeinten Europa interessiert. Sie und ihre europäischen Verbündeten unternehmen alles, um autonomes europäisches Handeln einzuschränken. Die Russland- und die Iransanktionen sind beredte Beispiele dafür. Beide treffen in erster Linie Europa und zwar sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Beide Konflikte sind für Europa viel zu wichtig, als die USA, besonders unter der gegenwärtigen irrationalen und nationalistischen Führung, alleine agieren zu lassen. In keinem der beiden Fälle kann es darum gehen, Bedingungen der jeweiligen Staaten bedingungslos zu erfüllen, vielmehr ist es wichtig, die genuinen europäischen Interessen (geopolitisch, wirtschaftlich) zu definieren und diese zur Grundlage des eigenen Handelns zu machen. Beim Iran ist es z. B. völlig klar, dass eine Aufkündigung des Atom-Deals (das war einer der grössten diplomatischen Erfolge Europas seit Jahren!) absolut nicht im europäischen Interesse liegt. Bei Russland ist zumindest ernsthaft zu prüfen, ob die US-amerikanische Sanktionspolitik eigentlich nicht doch ausschliesslich US-amerikanischen Interessen dient und den europäischen und russischen schadet.⁴

Es ist daher durchaus zu hoffen, dass Europa – wenn schon nicht aus politischen, so zumindest aus ureigenen ökonomischen Interessen – sich allmählich von der US-amerikanischen Bevormundung und Dominanz emanzipiert und sich mehr auf seine eigenen Interessen besinnt. 73 Jahre nach der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus wäre es allmählich Zeit dafür. ν

Quelle: «International» – Die Zeitschrift für internationale Politik, III/2018

¹ Die beiden grössten Energieverbraucherländer sind derzeit (Stand 2016) China mit 23 % und USA mit 17,1 % des Primärenergieverbrauches. Die Trendwende kam Anfang der 2000er Jahre. Während im Jahr 2000 der Primärenergieverbrauch der USA bei 2313,7 gegenüber Chinas 980,3 Millionen Tonnen Öleinheiten lag, überholte 2010 China mit 2339,6 erstmals die USA mit einem Verbrauch von 2284,9 Tonnen. Seit damals ist der Verbrauchswert der USA einigermassen stabil geblieben, jener Chinas ist um rund ein Drittel angestiegen. 2016 waren es 3053,0 zu 2272,7. Zit. nach Wikipedia: «Liste der Staaten mit dem höchsten Energieverbrauch».

² In diesem Zusammenhang sei besonders auf zwei Schlüsselereignisse erinnert: «Quincy-Abkommen» vom 14. 2. 1945 zwischen USA und Saudi Arabien sichert den Zugriff der USA auf das saudische Öl im Gegenzug zur Sicherheitsgarantie der USA für Saudi Arabien. Dieses Abkommen ist 2005 von Bush jun. bis 2065 verlängert worden. Der Sturz des iranischen Ministerpräsidenten Mohammed Mossadegh 1953 durch Grossbritannien und USA war vor allem auf die beabsichtigte Verstaatlichung der iranischen Ölförderung zurückzuführen. Letztlich war der Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein im Jahr 2003 unter anderem auch darauf zurückzuführen, dass dieser angedroht hatte, das irakische Öl nicht mehr gegen US-Dollar zu verkaufen. In diesem Zusammenhang sind durchaus Überlegungen seitens russischer aber auch chinesischer und iranischer Politiker interessant, in Zukunft nicht mehr Öl und Gas ausschliesslich in US-Dollar handeln zu wollen. Diese drei Staaten bringen eine Finanz- und Wirtschaftsmacht auf die Waage, die die US-amerikanische auf die Dauer übertreffen wird. Dass der Euro hier durchaus profitieren könnte, ist nicht ausgeschlossen.

³ Zur Vermeidung von Missverständnissen möchte ich an dieser Stelle klar anmerken, dass ich mit meinen Feststellungen zu Grösse und Stärke Europas nicht eine Fortsetzung und Vertiefung ohne Zweifel bestehender Tendenzen zur Militarisierung und Zentralisierung Europas verstehe, sondern eine verstärkte Förderung von «soft power», Demokratisierung und Durchsetzung von Menschenrechten meine. Der gegenständliche Beitrag ist nicht die geeignete Plattform, das näher auszuführen, dafür gibt es andere Gelegenheiten. Es war mir aber ein Bedürfnis, das an dieser Stelle klar und unmissverständlich anzumerken.

⁴ Die Drohungen der USA, europäische Firmen, die sich an Projekten wie Nord Stream 2 beteiligen, direkt zu sanktionieren, gehen wohl klar in die Richtung, dass hier auch andere Ziele als die blosse Verhinderung eines konkreten Projektes erreicht werden sollen.

Gedanken zur direkten Demokratie

von Reinhard Koradi

Beobachtet man die Entwicklungen rund um die Schweiz und im Lande selbst, stellt sich immer drängender die Frage, inwieweit wir Schweizerinnen und Schweizer uns der Einzigartigkeit unserer direkten Demokratie bewusst sind und wie dieses Bewusstsein gestärkt werden könnte.

Bei der Abstimmungskampagne um die Selbstbestimmungsinitiative kommen beim Betrachten der Plakate der Initiativgegner schon ein paar ernsthafte Zweifel auf. Grundsätzlich geht es bei dieser Abstimmung um die Frage, ob Landesrecht über dem Völkerrecht stehen soll oder ob wir uns die Bestimmungen, die unser Leben im eigenen Land regeln, durch Vorgaben aus dem Ausland diktieren lassen. Es geht also um Souveränität und das Gewicht, das wir der direkten Demokratie zugestehen wollen. Die Gegner dieser Volksinitiative gehen auf diese Anliegen kaum ein. Sie argumentieren völlig am Anliegen der Initiative vorbei und sprechen von einem Schaden für die Wirtschaft, von einer «Selbstbeschneidungs- oder Anti-Menschenrechtsinitiative» und meinen, die Ablehnung der Initiative nütze der ganzen Schweiz. Es ist jedoch gerade umgekehrt. Es sei denn, die Gegner sprechen vom wirtschaftlichen Profit, vom Geschäftemachen. Wenn die Politik zur einseitigen Wirtschaftsförderung verkommt, dann steht das zunehmend im Widerspruch zur direkten Demokratie.

Ausgedünnte Medienlandschaft

Während der vergangenen Jahrzehnten entfernte sich die politische Argumentation immer mehr von einer sachbezogenen Auseinandersetzung hin zu parteipolitischen Machtspielen und dem Buhlen um Applaus seitens der Wirtschaft und der grossen Brüder (EU und USA oder internationaler Organisationen) ausserhalb der Landesgrenzen. Eine sehr bedauerliche Entwicklung, die über einen Ausbau der Medienvielfalt sehr wohl wieder in eine andere Richtung gelenkt werden könnte.

Durch die Konzentration in der Medienlandschaft ist heute die objektive Meinungsbildung mangels Differenziertheit und Diversität schwieriger geworden. Die Massenmedien sollten zukünftig nicht mehr nach Einschaltquoten oder Reichweite beurteilt werden, sondern danach, wie oft die Grundlagen ihrer Berichterstattung eigenständig und seriös recherchiert wurden. Mit einer Wiederaufforstung im Medienwald (viele kleine, regionale Blätter) könnte schon ein wesentlicher Beitrag zur unabhängigen Meinungsbildung geleistet werden.

Die Gemeinden stärken

Objektive Meinungsbildung hat auch sehr viel mit Transparenz, Übersichtlichkeit und Kleinräumigkeit zu tun. Die kleinste Zelle der Demokratie ist nach der Familie die Gemeinde. Im Volksmund gilt dann auch die Gemeinde als Schule der Demokratie. Viele Dörfer kennen noch die Gemeindeversammlung. Über Strassenprojekte, Renovationen von Schulhäusern oder den Neubau einer Turnhalle aber auch Energie- und Wasserversorgung wird im Gemeindesaal in einem freien Meinungsaustausch zwischen Behörden und Bürgern debattiert und letztlich entschieden.

Fahre ich durch die Dörfer im Züricher Unterland, treffe ich immer wieder auf das Plakat «Heute Gemeindeversammlung». Tags darauf lese ich dann in der Regionalzeitung, dass bei einer Bevölkerung von 6 700 Personen gerade einmal 160 Bürger an der Versammlung teilgenommen haben. Diese haben das Jahresbudget der Gemeinde und der Schule für das kommende Jahr und damit auch den Steuerfuss sowie den Kredit von 1,2 Millionen Franken für die Sanierung des Gemeindehauses bewilligt. Ein weiteres Traktandum war auch eine erste Information über den geplanten Neubau zur Angebotserweiterung im Alterszentrum. Das Projekt wurde vorgestellt und diskutiert, abgestimmt wird in etwa einem halben Jahr an der Urne. Alles Themen, die das Leben in der Gemeinde und die Zukunft entscheidend beeinflussen. Nicht selten ist dann in einem Nebenkommentar zu lesen, dass die Gemeindeversammlung durch ein Gemeindeparlament ersetzt werden soll, da die Gemeindeversammlung nicht mehr repräsentativ wäre. Gäbe es da nicht auch die Alternative des einzelnen Bürgers, vermehrt an einer Gemeindeversammlung teilzunehmen?

Vor einigen Jahren wurde an einer Gemeindeversammlung ein Projekt über ein sehr grosses Einkaufszentrum vorgestellt. Über 800 Bürger nahmen an dieser Versammlung teil, die vom Kirchgemeindehaus (normalerweise zu 2/3 besetzt) spontan in ein zufällig nahestehendes Festzelt verlegt werden musste. Gewerbetreibende warnten vor dem Konkurrenzdruck, den die Grossverteiler auf das ortsansässige Gewerbe ausüben würden. Viele würden in ihrer Existenz bedroht werden und müssten ihre Geschäfte schliessen. Andere mahnten, dass man nach vorne schauen müsse und man die Sache nicht zu eng sehen dürfe. Das Einkaufsverhalten der Kunden hätte sich verändert. Der Trend, alles «unter einem Dach» einzukaufen, sei nicht mehr aufzuhalten. Selbstverständlich wurde auch von höheren Steuereinnahmen und neuen Arbeitsplätzen gesprochen.

Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass unser demokratisches Engagement weitgehend eine Frage der direkten Betroffenheit zu sein scheint. Betrifft uns etwas, dann werden wir aktiv. Und wo setzen wir nun die Grenzen der Betroffenheit? Vielleicht müssten wir den Zaun der Betroffenheit etwas ausweiten. Einen positiven Beitrag zur «Grenzerweiterung» könnte die Pflege und auch Erweiterung der Gemeindeautonomie leisten. An Stelle der Aufgabenanordnung von oben nach unten wäre auch der umgekehrte Weg eine ernst zu nehmende Alternative. Längst ist bekannt, dass Aufgaben am effektivsten vor Ort und durch die direkt Betroffenen gelöst werden. Mehr Dezentralismus und weniger Zentralismus stärkt die Gemeinden und damit die direkte Demokratie, weil es sowohl für die Behörden als auch für die Bürger attraktiver ist, politisch aktiv zu sein.

Das Bürgergespräch suchen

Kürzlich sass ich in einem Restaurant. An einem runden Tisch diskutierten drei Männer und eine Frau sehr angeregt miteinander. Ich schnappte ein paar Worte auf. Nur zu gerne hätte ich mich am Gespräch beteiligt, ging es doch um das Verhältnis der Schweiz zur EU und den Rahmenvertrag. Ich liess es bleiben, wollte nicht stören. Dabei bietet sich der Stammtisch geradezu an, politische Themen von verschiedenen Standpunkten her zu diskutieren. Interessanterweise haben auch einige Kommunen bereits einen Gemeindestammtisch eingeführt (z. B. Neunforn, TG). Im Internet ist zu lesen: «Der Gemeinderat führt den Gemeindestammtisch ein und lädt einmal monatlich zum Gespräch und zu einem kleinen Apéro ein. Nutzen Sie diese Gelegenheit um Anregungen oder persönliche Anliegen mit dem Gemeinderat zu besprechen. Eine Anmeldung ist nicht notwendig.»

Es kommt auf uns an

Demokratie lebt vom Engagement der Bürger. Sind wir uns dessen bewusst, dann werden wir die notwendigen Wege finden, um diese als Bürger aktiv zu pflegen und zu nutzen. Wir haben Rechte und Pflichten, zum Beispiel uns aktiv am Milizsystem zu beteiligen oder als oberste Instanz die Arbeit der Legislative und Exekutive zu verfolgen und zu beurteilen. Das persönliche Engagement und die aufmerksame Kontrolle durch das Volk sind der beste Nährboden für eine lebendige und aufrichtige Politik im Sinne des Volkes. Und sollte es notwendig werden, liegt es ebenfalls an uns, Korrekturen über einen Vorstoss an der Gemeindeversammlung, ein Referendum oder eine Initiative aufzugreifen und zur Diskussion zu stellen.

Oberstes Gebot des Völkerrechts ist die Selbstbestimmung
rk. Seit dem Uno-Beitritt der Schweiz ist das Völkerrecht auch für die Schweiz in Kraft. Artikel 1 der UNO-Charta (Ziele und Grundsätze) beschreibt die zwei wichtigsten Grundsätze des Völkerrechts unmissverständlich. Es sind dies die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker. Wer also behauptet die Selbstbestimmungs-Initiative widerspreche dem Völkerrecht liegt völlig falsch. Vielmehr bestätigt die UNO-Charta die «Demokratische Selbstbestimmung als Menschenrecht». 
Selbstbestimmung ist Recht und Pflicht
«Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.» (UNO-Charta)
Damit wird klar, dass die Selbstbestimmung nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht der Nationalstaaten ist. Die Selbstbestimmungsinitiative ist nicht nur völkerrechtskonform, sie setzt auch den Selbstbestimmungsgrundsatz der UN-Charta in der Schweiz verfassungsrechtlich um. 
Objektivität und Sachlichkeit wahren
Nichts spricht gegen das Anliegen der Selbstbestimmung, es sei denn die Gegner möchten die Urheber dieser Abstimmungsvorlage abstrafen. Eine Politik, die allerdings weder eine demokratische Grundhaltung noch den Respekt vor der Bedeutung der Bundesverfassung ausdrückt. Wenn etwas der ganzen Schweiz nützt, dann eine Politik, die den Volkswillen und damit die Bundesverfassung ernst nimmt. Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft soll oberste Rechtsgrundlage sein und bleiben. Es gibt nicht einen objektiven oder sachlichen Grund, diese Tatsache aus der Welt zu schaffen.

 

«Die direkt-demokratischen Rechte sind ein wichtiges Merkmal der Schweiz und tragen stark zu ihrer Identität bei. Sie erst machen aus dem Land eine Nation. In mancher Hinsicht ersetzen sie jene sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeit, die sonst das Wesen einer Nation ausmacht. Die Genfer, die Thurgauer und die Tessiner sprechen verschiedene Sprachen und gehören verschiedenen Kulturkreisen an. Aber alle haben im Vergleich zu ihren Nachbarn mehr demokratische Rechte.» 

Paul Widmer: Die Schweiz als Sonderfall. S. 118

 

 

«Die direkte Demokratie, der Föderalismus, die Neutralität und die Mehrsprachigkeit sind die markantesten Ausprägungen des Schweizer Staatswesens. Jede Säule ist in sich imposant, aber erst in ihrer gemeinsamen Architektur bilden sie den Sonderfall Schweiz.» 

Paul Widmer: Die Schweiz als Sonderfall. S. 169

 

ISBN: 978-3-03823-495-1

 

Lernen – eine Frage der Beziehung oder der «Selbstbestimmung»?

von Judith Schlenker

Ein Blick in ein heutiges Klassenzimmer lässt oft sehr unterschiedliche Szenarien lebendig werden. Auf der einen Seite gibt es die Lehrer, die wissen, dass Lernen eine Frage der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ist und dass dieses komplexe Geschehen dann von Erfolg gekrönt ist, wenn der Lehrer mit der notwendigen Sachkenntnis und dem Gespür für die Situation den Lernprozess behutsam lenkt. Auf der anderen Seite gibt es Lehrer, die sich als Lerncoach verstehen, den Schüler möglichst eigenständig und «selbstbestimmt» arbeiten lassen und nur dann eingreifen, wenn sie darum gebeten werden. Im Vorfeld haben diese Lehrer in mühevoller Kleinarbeit für den Schüler die entsprechenden Materialien zusammengestellt, mit ihm einen Lernvertrag geschlossen und die notwendigen digitalen Medien bereitgestellt. Schauen wir uns nun einmal an, wie sich Lernen in diesen beiden Szenarien für die Schüler anfühlt. 

 

Im ersten Szenario befindet sich Lena, eigentlich keine schlechte Schülerin, aber in Französisch versagt sie auf der ganzen Linie. Lena ist ein typischer Teenager, pubertierend bis in die Haarspitzen und interessiert an allem anderen, nur nicht so sehr an der Schule. Fragt man sie nach den Problemen mit Französisch, kommen die standardisierten Antworten. Der Lehrer erkläre nicht gut, man komme nicht mit, sie könne sich die Vokabeln nicht merken und überhaupt mache Französisch keinen Spass. 

Kleinschrittige Anleitungen

Nach den Ferien wurde Lena von einer neuen Lehrerin unterrichtet, die sich in der ersten Stunde ein Bild von ihrer Klasse machen wollte. Sie liess einen altersgemässen und vom Wortschatz her angemessenen Text vorlesen. Auch Lena las vor. Jedes dritte Wort sprach sie falsch aus, und die Lehrerin hatte den Eindruck, dass sie überhaupt nicht verstanden hatte, was sie da gelesen hatte. Ihre diesbezügliche Frage beantwortete Lena dann auch recht offen mit «ja». Ebenso fragte die Lehrerin nach der Beteiligung der Schüler im Unterricht, die erwartungsgemäss gegen Null ging. Dann sagte sie ihnen, dass alle ihre Probleme mit der französischen Sprache lösbar seien, aber genau das viel Arbeit erfordere. Sie würde sie gerne mitnehmen auf dem Weg, aber sie müssten mittun und sich melden, wenn es zu schnell gehe. Unsicher, was sie erwarten würde, sagten die Schüler zögerlich zu, und sie begannen mit den grundlegenden Ausspracheregeln. Die Lehrerin erklärte ihnen, dass im Französischen zumeist nur der vorletzte Buchstabe zu hören sei, wenn man liest, und verdeutlichte dies an ein paar Beispielen: le cours [kur] – der Unterricht,  la course [kurs] – das Rennen etc. Lena hatte das noch nie gehört und fand dies einen prima Hinweis. Dann erklärte die Lehrerin die Krux mit den Accents im Französischen und verdeutlichte durch eine kleine Zeichnung, dass das «é» wie ein offener Mund, das «è» wie ein eher geschlossener aussieht. Danach liess sie den gleichen Text nochmal lesen, und es klappte schon viel besser. Sie merkte, dass sie einen grossen Teil der Schüler gewonnen hatte. Sie erklärte ihnen auch, dass Französisch nicht nur eine schöne, sondern auch eine sehr logische Sprache sei und man Verben konjugieren könne, auch wenn man nicht wüsste, wie sie heissen. Auch das probierten sie aus, und man bemerkte zunehmendes Interesse. In den folgenden Stunden gingen sie das Vokabellernproblem an. Sie nahmen circa 20 Vokabeln aus dem Text, die die Schüler nicht kannten, und listeten sie auf. Nun verband die Lehrerin beim Besprechen jede Vokabel mit einer Geste, einer Zeichnung, einem Bezug zum Deutschen oder Englischen, und zeigte den Schülern verschiedene Memotechniken, wie sie für das Gedächtnistraining üblich sind. Sie liess sie die Wörter auch schreiben und auch dieses Training machte ziemlich viel Spass. Die Lehrerin gab als Aufgabe, die Wörter für den nächsten Tag zu lernen, und dann wollte sie sie in einem Test abfragen. Diesen Test bestand Lena mit 18 von 20 Richtigen! Ihre Behauptung, sie könne sich keine Vokabeln merken, konnte sie ja jetzt nicht mehr aufrechterhalten. 

«Fehler machen erlaubt»

An einem weiteren Termin widmeten sie sich der Grammatik: das Passé composé mit être und avoir. Eigentlich kein so schwieriges Thema, wenn man das Prinzip verstanden hat und weiss, welche der Verben mit être gebildet werden und welche mit avoir. Lena hatte sogar eine Zeichnung dazu im Heft, aber etwas damit anfangen konnte sie nicht.

Bild wikimedia.org

Bild wikimedia.org

 

Sie begaben sich auf die Reise zur Erforschung des Hauses, bildeten Beispielsätze, und am Ende hatten sie verstanden, was das Ganze für einen Sinn macht. Im Vorgriff auf das nächste Thema besprachen sie noch die Bildung und den Gebrauch des Imparfait sowie die Abgrenzung zum Passé composé. Nun hielt die Lehrerin sie für gut gerüstet, eine Klassenarbeit zu schreiben. Lena hatte inzwischen gelernt, mitzutun und auch Fehler zuzulassen, denn nur wer Fehler macht, kann weiterkommen.

Lenas Feedback an die Lehrerin sah nach der Klassenarbeit so aus: «Seit dem ich bei Ihnen bin, kann ich im Unterricht schon viel besser mitarbeiten, und es ist mir aufgefallen, dass ich besser vorlese. Es macht sogar manchmal Spass, wenn ich dann im Unterricht mitmachen kann. In der Klassenarbeit gab es einen Grammatikteil, und der lief bei mir richtig gut. Nur musste ich dann noch einen Text auf Französisch schreiben, und das hat noch nicht so gut geklappt. Aber viele Grundlagen sind mir viel klarer geworden. Das Vokabellernen fällt mir mit dem Zusammenhänge bilden auch schon etwas leichter.» Durch ihre einfühlsame, verständnisvolle und humorvolle Art hatte die Lehrerin Lena für Französisch gewonnen und ihr gleichzeitig das Vertrauen in ihr eigenes Können vermittelt. Ein gelungener Lernprozess, nicht nur für das Fach Französisch.

«Selbstbestimmtes» Lernen mit Wochenplan

Wenden wir uns nun Anna zu, die in einem offenen Klassenzimmer «selbstbestimmt» lernt. Auch sie hat nach den Ferien eine neue Lehrerin, jung, cool und engagiert für ihr Fach Englisch und ihre Schüler. Anna hofft, bei dieser Lehrerin viel zu lernen, und ist hochmotiviert. Zu Beginn der Unterrichtseinheit gibt die Lehrerin einen sogenannten «Impuls» in Form der Präsentation eines neuen Textes nach vorheriger Entlastung der Vokabeln durch Bilder. Der Text wird auf einem Tonträger abgespielt, die Schüler können ihn in ihrem Lehrbuch mitlesen. Danach teilt die Lehrerin den Wochenplan aus, der die verschiedenen Aufgaben zu dieser Lerneinheit auflistet, macht auf das bereitgestellte Material aufmerksam und gibt den Schülern den Zeitrahmen vor, in dem sie das Pensum zu erledigen haben. Anna ist gespannt und liest den Wochenplan durch: da stehen die unterschiedlichsten Aufgaben drauf, angefangen vom Lesetraining mit dem Laptop bis hin zu Arbeitsblättern und dem Computertest zum Abschluss. Die Lehrerin weist noch darauf hin, dass sie jederzeit für Fragen zur Verfügung stehe, und die Schüler legen los. Anna macht sich zuerst an die Leseaufgabe, weil sie so gerne am Tablet arbeitet. Sie setzt sich die Kopfhörer auf und spricht die Sätze nach, die ihr vorgegeben werden. Eine Kontrolle, ob sie richtig ausspricht, hat sie nicht. Schnell wird ihr das langweilig, und sie macht sich an die Arbeitsblätter. Das bunteste ist das mit den «Language detectives», in dem die Grammatik erarbeitet werden soll.

Klare Farben und einprägsame Symbole in verschiedenen Farben, Mustern und Bausteinen sollen die Schülerinnen und Schüler beim eigenständigen Lernen unterstützen. Die Aufgaben sind in drei Stufen differenziert, Kreissymbole kennzeichnen leichtes, mittleres und anspruchsvolles Niveau. Anna entscheidet sich zunächst für das mittlere Niveau. Als ihr dies zu schwierig erscheint, wendet sie sich dem leichteren Niveau zu. Dann ist da noch ein Blatt, bei dem man sich einen Partner suchen muss, um gemeinsam die Aufgaben zu lösen. Anna schaut sich um, aber ihre Freundin Jule ist beschäftigt. Max hat gerade scheinbar nichts zu tun, aber mit dem möchte sie nicht arbeiten, weil der immer so viel Quatsch macht. Und dann gibt es da noch einen Lückentext, dessen Aufgabenstellung Anna gar nicht versteht. Sie schaut, ob die Lehrerin Zeit für sie hat, um ihr weiterhelfen zu können, aber die ist gerade dabei, einer anderen Schülerin etwas zu erklären. Anna stellt also ihre Meldehand auf, um zu signalisieren, dass sie die Lehrerin braucht. Wie lange das gehen wird, bis sie drankommt, ist aber ungewiss. Vielleicht sollte sie sich mal ausruhen und in der Chill-Zone auf das Sofa legen. 

Lernen in der Klasse ist schöner

So vergeht die Zeit, ohne dass Anna sie gut genutzt hätte. Sie beschliesst, die Blätter mit nach Hause zu nehmen, um dort vielleicht etwas daran zu arbeiten. Vielleicht kann ihr die Mutter helfen. So vergeht die Woche, und am Ende stellt Anna fest, dass sie beim Abschlusstest kein gutes Ergebnis zeitigt. Ihr Feedback fällt dann auch sehr ernüchternd aus: «Ich habe mir in dieser Woche wirklich Mühe gegeben, aber der Wochenplan war nicht zu schaffen für mich. Leider hatten Sie, Frau S., auch wenig Zeit für mich, und daher konnte ich zwei Blätter nicht bearbeiten, weil ich sie nicht verstanden habe. Ich habe halt die Lösungen vom Lösungsblatt abgeschrieben. Den Text fand ich ganz interessant, aber die Wörter waren sehr schwierig für mich zu behalten. Eigentlich fände ich es schöner, wenn wir in der Klasse miteinander arbeiten. Das macht mehr Spass, als so alleine vor sich hin zu arbeiten.»

Lernen ist ein zwischenmenschlicher Prozess

Was daherkommt als «selbstgesteuertes Lernen» ist in Wahrheit das Unterwerfen unter die Fremdbestimmung durch das vorgegebene Material. Das sogenannt autonome Lernen wird organisiert und kontrolliert, oder es bleibt fehlerhaft wie im Beispiel des Nachsprechens von Texten. Der Lernprozess wird reduziert auf einen technischen Vorgang und der Lerner auf ein technisches System, das sich auf der Basis von Vorgaben selbst steuert. Menschen sind aber keine Maschinen und Kinder schon gleich gar nicht. Sie sind angewiesen auf die bestätigende Ermutigung und Anleitung durch den Erwachsenen. Lernen ist immer ein zwischenmenschlicher Prozess, und gelebte Beziehung ist alles. Diese ­Beziehung muss immer wieder neu reflektiert werden, und ein guter Pädagoge erlaubt dem Heranwachsenden so viel Spielraum für eigene Entscheidungen wie möglich und so viel Verantwortungsübernahme wie nötig. Dieses hochkomplexe zwischenmenschliche Geschehen kann nie und nimmer von noch so guten Unterrichtsmaterialien geleistet werden. Gelebte Beziehung macht auch den Wert von Schule und Unterricht aus. Wilhelm von Humboldt hat dies wunderbar so ausgedrückt: «Im Grunde sind es doch die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben.»

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