Offener Brief von Peter Koenig* an den Schweizer Bundesrat: Neutralität ist Frieden, Anschluss an die NATO führt zu Kriegsbeteiligung

«Beitritt zur NATO wäre Todesstoss für die Schweizer Neutralität»

«Beitritt zur NATO wäre Todesstoss für die Schweizer Neutralität»

Sehr geehrte Bundesräte,

In den letzten Jahren haben Sie, die Schweizer Regierung, sich schrittweise, still und ohne öffentliche Diskussion, der NATO, der «North Atlantic Treaty Organization» genähert. Heute hat die Schweiz bereits eine assoziierte Mitgliederdelegation mit sechs Sitzen in der Parlamentarischen Versammlung der NATO (NATO-PA).¹ Dies ist eindeutig ein Schritt gegen die neutrale Schweiz – und antidemokratisch, denn Sie, verehrte Schweizer Regierung, haben das Schweizer Volk nie konsultiert.

Die NATO wurde 1949 nach dem Zweiten Weltkrieg als Verteidigungsapparat gegründet – hauptsächlich unter dem Vorwand, Europa gegen die drohenden Gefahren der damaligen Sowjetunion – dem heutigen Russland – zu verteidigen.

Die NATO war DIE Organisation, die den Kalten Krieg förderte und die Menschen bereits damals mit der Angst vor einer bevorstehenden Invasion der Sowjetunion indoktrinierte. Später wurde klar, dass nie die Gefahr eines UdSSR-Angriffs auf Europa, geschweige denn auf die USA bestand.

Die NATO hätte spätestens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 aufgelöst werden müssen. Der Warschauer Pakt, 1955 als Gegenstück zur NATO gegründet, wurde Anfang der 1990er Jahre aufgelöst – die NATO nicht. Die NATO war nie ein Verteidigungsbündnis – die NATO ist eine Kriegsmaschine.

Und Sie, liebe Bundesräte, wollen sich der NATO weiter annähern und ihr möglicherweise sogar beitreten? 1991 hatte die NATO 16 Mitgliedstaaten. Heute hat sie 32 Mitglieder, von denen 30 in Europa sind. Die einzigen transatlantischen Mitglieder sind die USA und Kanada. Heute ist die NATO auf über 800 US-Militärstützpunkten auf der ganzen Welt vertreten; fast 700 davon befinden sich im Umkreis von Russland und China.

Wenn man sich die Schweizer Neutralität vor fast 210 Jahren – im Jahr 1815 – ins Gedächtnis ruft, kann dieses Zitat aus einem internen CIA-Dokument vom 23. April 1955 [OCI Nr. 3377/55, Kopie Nr. 2] eine wichtige Erinnerung an die Bedeutung der Schweizer Neutralität sein:

«Die Neutralität der Schweiz, wie sie im Wiener Vertrag vom 28. März 1815 vorgesehen ist, war weder ein neues Konzept, noch war ihre Anerkennung durch ausländische Mächte eine neue Idee. […] Und der berühmte Akt der immerwährenden Schweizer Neutralität und Unverletzlichkeit, der am 20. November 1815 von Österreich, Grossbritannien, Russland und Preussen unterzeichnet wurde, erklärte die Schweiz zu einem für immer neutralen Land und enthält die viel zitierten Zeilen: ‹Die Neutralität und Unverletzlichkeit der Schweiz und ihre Unabhängigkeit von allen ausländischen Einflüssen liegen im wahren Interesse der Politik ganz Europas.› »

Das Schweizer Aussenministerium preist die Neutralität der Schweiz auf seiner Website als «unantastbares» Gut an, und verweist dabei auf die Den Haager Konventionen vom Oktober 1907.²

Doch unsere Verteidigungsministerin und derzeitige Bundespräsidentin der Schweizerischen Eidgenossenschaft rückt die Schweiz immer näher an die NATO heran, ohne das Schweizer Volk zu konsultieren. Ein Beitritt zur NATO wäre der Todesstoss für die Schweizer Neutralität. Das wissen Sie, sehr geehrte Bundesräte.

Schliesslich wurde eine erfolgreiche Volksinitiative für die Schweizer Neutralität abgeschlossen und am 11. April 2024 mit fast 130 000 gültigen Unterschriften (100 000 sind erforderlich) bei der Bundeskanzlei eingereicht. Sie wird voraussichtlich 2025/2026 zur Volksabstimmung vorgelegt, und wenn angenommen, wird die Neutralität in der Schweizer Verfassung verankert werden.

NATO-Haushalt

Geehrte Bundesräte, Sie wissen vielleicht, dass sich das gesamte NATO-Budget 2024 auf etwa 1,4 Billionen US-Dollar beläuft – wovon etwa zwei Drittel von den USA und ein Drittel von Europa und Kanada finanziert werden. Es handelt sich um einen «jährlichen Fonds» zum Töten und Zerstören – und für die Bereicherung des internationalen Militär-Industriekomplexes.

In seiner ersten Amtszeit forderte Präsident Trump die europäischen NATO-Mitglieder auf, ihr Militärbudget auf mindestens 2 % ihres BIP zu erhöhen. Einige Länder haben dies möglicherweise getan, andere sind noch weit davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen.

Es ist denkbar, dass Herr Trump in seiner neuen Amtszeit als US-Präsident diese Forderung an die europäischen NATO-Mitglieder wiederholen wird.

Das Schweizer Militärbudget für die kommenden vier Jahre – 2025 bis 2028 – beläuft sich auf etwa 30 Milliarden CHF, also etwa 7,5 Milliarden CHF pro Jahr. Dies entspricht weniger als 1 % des geschätzten Schweizer BIP für 2024 (784 Milliarden CHF). Wenn die Schweiz der NATO beitreten und dem Auftrag von Herrn Trump folgen würde, müsste das Militärbudget auf etwa 15 Milliarden CHF pro Jahr verdoppelt werden.

Alternative zum NATO Budget

Mit einem Bruchteil des NATO-Budgets von 1,4 Billionen US-Dollar im Jahr 2024 könnte die Hungersnot in der Welt beseitigt werden. Oxfam schätzt, dass die Beseitigung des Welthungers in all seinen Formen 31,7 Milliarden US-Dollar erfordern würde, zuzüglich 4 Milliarden US-Dollar für den Schuldenerlass der ärmsten Länder der Welt, insgesamt also etwa 35,7 Milliarden US-Dollar. Dies sind weniger als 3 % des jährlichen Militärbudgets der G7 oder etwa 2,55 % des NATO-Budgets für 2024.³

Sehr geehrte Bundesräte, glauben Sie, dass die Schweizer Bürger an diesem monströsen und mörderischen Unterfangen namens NATO teilnehmen wollen? Und das zum Nachteil der Schweizer Neutralität?

Ich persönlich glaube, dass die meisten Schweizer nicht NATO-Mitglied werden und ihre legendäre Neutralität aufgeben wollen.

Deshalb, liebe Bundesräte, möchte ich Sie dringend bitten, als souveräne Schweizerische Eidgenossenschaft, die keinen Druck von aussen akzeptiert, diesen Schritt gegen die Neutralität zu überdenken und aufzugeben.

Eine neutrale Schweiz wäre in der Lage, zwischen Konfliktparteien zu vermitteln und beim Wiederaufbau einer stabilen, harmonischen und friedlichen Weltgesellschaft zu helfen.

Peter Koenig, 11. November 2024

 

Quelle: www.globalresearch.ca/offener-brief-an-den-schweizerischen-bundesrat-neutralitat-ist-frieden-nato-ist-krieg/5872491, 11.11.2024

*Peter Koenig ist geopolitischer Analyst und ehemaliger Ökonom bei der Weltbank und der Weltgesundheitsorganisation (WHO), wo er über 30 Jahre lang weltweit tätig war. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Centre for Research on Globalization (CRG) und nicht ansässiger Senior Fellow des Chongyang Instituts der Renmin Universität in Peking.

¹ www.parlament.ch/en/organe/delegations/delegations-international-parliamentary-assemblies/nato-parliamentary-assembly

² www.eda.admin.ch/missions/mission-eu-brussels/en/home/key-issues/neutralitaet-der-schweiz.html

³ www.oxfam.org/en/press-releases/less-3-g7-military-spending-could-help-end-global-hunger-and-solve-global-south-debt

veröffentlicht am 23. November 2024

Der Finanzplatz Schweiz war einst erste Adresse

Vermögen des Ausgleichsfonds der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), der Invalidenversicherung (IV) und der Erwerbsersatzordnung (EO) in den USA verwaltet

von Reinhard Koradi

«Der AHV/IV/EO-Ausgleichsfonds lässt seine Wertschriften vom US-Bankenriesen State Street verwahren. Im Fall von Sanktionen könnte die US-Regierung die Gelder blockieren, befürchtet SVP-Finanzpolitiker Thomas Matter in einer Interpellation. Es geht um 40 Milliarden Franken. Der SonntagsBlick schreibt dazu: ‹Es war ein kleines Erdbeben, das diesen Sommer den Schweizer Finanzplatz erschütterte. Am 1. Juli gab der AHV-Ausgleichsfonds bekannt, dass er der UBS das Mandat für die Wertschriftenverwahrung nach 26 Jahren entziehen werde.› Nach einem langen Auswahlverfahren setzte sich der US-Bankenriese State Street gegen die Schweizer Grossbank durch. Ausschlaggebend waren technische Aspekte und der Preis. Die Übertragung der Vermögenswerte ist im Gange und soll bis Ende September abgeschlossen sein. Verantwortlich für den Entscheid ist Compenswiss, eine öffentlich-rechtliche Anstalt des Bundes mit Sitz in Genf. Sie ist für die Verwaltung der Ausgleichsfonds der AHV, der IV und der EO zuständig. In den drei Fonds der ersten Säule sind über 40 Milliarden Franken angelegt.»¹

Warum kein Schweizer Finanzinstitut?

Dass eine öffentliche Anstalt des Bundes das Vermögen nicht durch eine Schweizer Bank verwalten lässt, irritiert. Haben unsere Behörden ihr Vertrauen in den Schweizer Finanzplatz verloren, oder spielen im Hintergrund einmal mehr verborgene transatlantische Konventionen eine richtungsweisende Rolle? Vor einigen Jahren hatte der Finanzplatz Schweiz noch einen sehr guten Ruf. Im internationalen Wettbewerb standen die Schweizer Banken stets an vorderster Front. Wer für sein Vermögen einen sicheren Anlageplatz suchte, bevorzugte Schweizer Banken. Selbst heute noch sind in unsicheren Zeiten die Schweiz und damit ihre Banken ein sicherer Zufluchtsort. Warum dann dieser Gesinnungswandel, wenn es um die Verwaltung von Vermögen geht, das dem Schweizer Volk gehört? 

Sind unsere Vermögen in den USA sicherer aufgehoben?

Wohl kaum, es sei denn, die Bundesbehörden und die Direktion der Schweizerischen Nationalbank verschweigen uns etwas. Hat doch der Finanzplatz Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten erheblichen Schaden verkraften müssen. In den 90-er Jahren ging es um jüdische Gelder, die während des Zweiten Weltkriegs auf Schweizer Bankkonten gelandet sind. Den Banken wurde damals vorgeworfen, sogenannte namenlose Vermögen jüdischer Herkunft zu horten. Die USA übten erheblichen Druck auf die Schweiz aus (Senator Alfonse D’Amato), der schliess­lich in einem Vergleich endete, der die UBS zwang, über 1 Milliarde Dollar auszuzahlen. Gegenwärtig bahnt sich im Zusammenhang mit den russischen Vermögen auf Schweizer Banken ähnliches Unheil an. Der Schweiz wird vorgeworfen, die Sanktionen gegenüber Russ­land nicht voll mitzutragen. Sie sei das schwächste Glied in der Abwehrkette der wehrhaften westlichen Demokratien, heisst es. Im April hatten die Botschafter der G7-Staaten in Bern in einem Brief an den Bundesrat kritisiert, die beschlagnahmten 7,5 Milliarden Franken an russischen Vermögenswerten seien zu wenig – obwohl die Summe höher als in den meisten anderen Staaten sei und nicht alle Oligarchen sanktioniert worden seien. 

Um es klarzustellen: Die USA haben kein Recht, Sanktionen auszusprechen und andere Staaten dazu zu zwingen, diese umzusetzen. Das ist reine Willkür, bricht internationale Verträge und zwingt einst souveräne Staaten zum Rechtsbruch. Die Geschichte lehrt uns so oder so, dass die meisten Krisen ihren Ursprung in den USA haben. Sie werden weitgehend durch die USA ausgelöst oder auch inszeniert. Da ist der Angriff auf das Schweizer Bankgeheimnis durch die US-Administration, die Immobilienkrise, die die Lehmann Brothers Bank in die Insolvenz stürzte und letztlich eine globale Finanz- und Wirtschaftskrise auslöste. Die anschliessenden Rettungsversuche über die Notenpresse bescherten den nationalen Volkswirtschaften einen zerstörerischen Schuldenberg, dessen Lasten in Form von Inflation, Vermögensvernichtung und auch Steuererhöhungen noch heute nicht ausgestanden sind. Die durch die USA verhängten Sanktionen gegenüber Abweichlern von den durch die USA angeordneten Denk- und Handelsweisen sowie gegenüber Russland belegen zudem die Unberechenbarkeit und Willkür der USA. Ernsthafte Bedrohungen einer einvernehmlichen Wirtschaftspolitik sind zudem vom neu gewählten US-Präsidenten Donald Trump zu erwarten. Mit dem Slogan «America first», droht er, die Einfuhren in die USA mit massiven Zollerhöhungen zu verteuern. Der angekündigte Wirtschaftskrieg lässt nichts Gutes erahnen. Für exportorientierte Volkswirtschaften wie die der Schweiz kann der Rückfall in den Protektionismus schwerwiegende Wettbewerbsnachteile nach sich ziehen.

Ein NO GO!

Unter diesen Perspektiven ist es unhaltbar, dass die Vermögen der schweizerischen Altersvorsorge einer US-Bank anvertraut werden. Dies vor allem auch, weil die Politik der USA sich längstens über vertragliche Vereinbarungen hinwegsetzt und Entscheidungen trifft, die einseitig den US-Interessen dienen. So ist nicht auszuschliessen, dass die US-Administration erneut willkürliche Massnahmen verhängt, wenn sie der Meinung ist, die Schweiz würde US-Interessen verletzen. Verlockend wäre dann bestimmt der Griff auf die in den USA verwahrten Vermögen unserer Altersvorsorge. Die Zeit ist reif, dass unsere Behörden endlich die Interessen unseres Landes und der Bevölkerung schützen und wahrnehmen sowie den neoliberalen, globalen Praktiken den Riegel schieben. 

¹ www.vorsorgeforum.ch/bvg-aktuell/2024/9/16/kritik-an-ahv-vermoegen-in-us-verwaltung.html

veröffentlicht am 23. November 2024

Wollen Nato und EU sich selbst in den Abgrund stürzen?

Der Kampf um Lithium nimmt ungeheuerliche Formen an

von Thomas Kaiser

Seit dem 5. November steht die Welt – schenkt man den grossen Medien Glauben – mal wieder vor einer «Zeitenwende», die vor allem bei den Traumtänzern in Europa, die sich auf den Standpunkt stellten, «was nicht sein darf, ist nicht», Erstaunen und Entsetzen auslöste: die Wahl Donald Trumps zum neuen US-Präsidenten. Kaum eine Wahl wurde medial so aufgebauscht wie die Donald Trumps. Bis heute ist er nicht aus den Schlagzeilen verschwunden und dominiert weiterhin die Zeitungsinhalte, in der sich Spekulationen über die Zukunft der USA, der EU und der Nato nahezu überschlagen. Doch was wird sich tatsächlich ändern?

Ein Rückzug der USA aus der europäischen Politik wäre ein Segen. Europa – und nicht nur die EU – könnte sich von den USA emanzipieren und auf der Grundlage traditioneller humaner Werte, die Europa aus bitteren Erfahrungen der letzten Jahrhunderte entwickelt hat, eine positive und friedensfördernde Rolle in der Weltpolitik einnehmen. Wenn der politische Wille da ist, kann eine solche Entwicklung schon morgen beginnen. Doch die Nato-Staaten scheinen bei dem Gedanken, Trump könnte Europa den Rücken zukehren, zu erschaudern, anstatt darin eine Chance zu sehen. Ob die Abkehr wirklich geschieht, sei einmal dahingestellt. Solange Europa den USA in ihrer Machtpolitik nützlich ist, werden sie nicht einfach verschwinden.

Sollte sich Trump tatsächlich aus dem Krieg in der Ukraine zurückziehen, sollen oder eher wollen die Europäer in die Bresche springen, um den Krieg weiterzuführen und damit unseren Kontinent noch mehr zu ruinieren. Eine Hoffnung bleibt jedoch, dass EU und Nato (ohne die USA) nicht in der Lage sind, den Krieg in gleichem Masse fortzuführen. Nach der seit zwei Jahren völligen Emotionalisierung des Konflikts, verbunden mit einem erschreckenden Rückfall hinter die Errungenschaften der Aufklärung, könnte sich – in Anbetracht der neuen Situation – vielleicht die Vernunft doch noch durchsetzen, der Krieg sofort eingestellt und dem Töten und Zerstören auf beiden Seiten ein Ende gesetzt werden.

Kriegspolitik in Raten

Was sich in den letzten zwei Jahrzehnten durch das Vorgehen der Nato vollzogen hatte, nämlich eine «Kriegspolitik in Raten», führte dazu, dass die Sicherheitsinteressen Russlands, des grössten europäischen Staats – und zwar ohne seinen asiatischen Teil – ignoriert wurden. Die EU isolierte das dem übrigen Europa freundlich gesinnte Land zunehmend. Die Nato breitete sich sukzessive nach Osten aus und steht schon heute an der Grenze zu Russland. Anstatt eine Politik des Ausgleichs zu führen, fiel man hinter die diplomatischen Bemühungen, die während des Kalten Kriegs immer Gültigkeit hatten, zurück. Der Krieg wird weitergeführt, die Sanktionen werden aufrechterhalten, wobei Europa mehr darunter leidet als der sanktionierte Staat.

Die Wirtschaft der EU serbelt

Die Wirtschaft in der EU, besonders bei den sonst wirtschaftlich starken Ländern, läuft schlecht – auch in Deutschland. So musste zum Beispiel einer der grossen deutschen Autohersteller, Volkswagen, Werke schliessen oder der renommierte Autobauer BMW einen extremen Rückgang im Export verzeichnen und einen Gewinneinbruch von 80 Prozent verbuchen

Die Staatsverschuldung Deutschlands lag Ende 2023 über dem gemäss Masstrichter Kriterien erlaubten Wert von 60 Prozent Gesamtverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) und hat einen Schuldenzuwachs von sekündlich knapp 4000 Euro.²

In Frankreich und Italien sieht es bei den Staatsschulden noch düsterer aus. Frankreichs Schulden liegen bei 3228 Milliarden Euro. Sie sind nahezu doppelt so hoch, wie es die Maastrichter Konvergenzkriterien zulassen.³ Italiens Verschuldung liegt bei knapp 3000 Milliarden Euro. Das sind über 140 Prozent der Wirtschaftsleistung.⁴ Keiner der drei Staaten dürfte gemäss den Konvergenzkriterien weiterhin den Euro behalten oder müsste eine saftige Strafe zahlen.

Die EU für die USA wertlos?

Was wollen die USA noch von den europäischen Nato- und EU-Staaten ausser dem militärischen Arm, der ihnen aber auch zu schwach ist? Eigentlich haben die USA ihr Ziel doch erreicht. Als wirtschaftlicher Konkurrent ist die EU ausgeschaltet und die Leitungen für billiges Gas aus Russland sind gekappt. Somit ist die EU von teurem Fracking-Gas aus den USA abhängig. Das wollte schon Donald Trump erreichen, als er während seiner ersten Amtszeit allen nicht russischen Firmen drohte, wenn sie weiterhin an der Erstellung von Nord-Stream II teilnähmen, würden sie mit Sanktionen belegt und bekämen keine Aufträge mehr aus den USA.⁵ Das hat gesessen und der Politik Joe Bidens den Weg geebnet.

US-Diktatur – etwas Neues?

In Medienanalysen wird immer wieder erwähnt, dass Donald Trump Diktatoren bewundere und aus den USA ein autokratisches, sogar ein faschistisches Land machen möchte.⁶ Es erstaunt, dass die hochgelobte US-Demokratie, die, einzigartig und der Verbreitung verpflichtet, so leicht in eine Autokratie transferiert werden kann. Das gelobte System von «checks and balances» scheint also seit Trumps Wahlsieg ins Wanken zu geraten. In welchem Zustand muss die Demokratie der USA sein, wenn sie sich innerhalb einer Amtsperiode zur Diktatur wandelt?

Inwieweit Trumps Vorgehen autoritär oder diktatorisch sein wird, lässt sich heute noch nicht abschätzen. Die Mannschaft, die er für seine Administration zusammengestellt hat, verheisst wenig Gutes, aber das war auch bei Biden nicht besser. Wenn zum Beispiel Marco Rubio, der designierte US-Aussenminister, in der Vernichtung der Palästinenser die Lösung des Nahost-Problems sieht,7 dann ist das faschistoid, absolut verabscheuungswürdig und muss international mit allen Mitteln verhindert werden. Aber er liegt damit erschreckenderweise nicht so weit von Annalena Baerbock entfernt, die in ihrer Rede vom 10. Oktober vor dem Deutschen Bundestag billigend erklärte: «Dann können auch zivile Orte ihren Schutzstatus verlieren, weil Terroristen diesen missbrauchen.»⁸ Da jedes Wohnhaus und jedes Spital ein Hort von Terroristen sein könnte und das Leben der Menschen wertlos ist – wo sind die Grenzen?

Parteienverbot in Deutschland?

Sollte Trump Gesetze erlassen, die die Meiungsäusserungsfreiheit oder andere Freiheitsrechte einschränkten, wäre es an der US-amerikanischen Bevölkerung, sich dagegen zu wehren. Andere Länder geht das grundsätzlich nichts an.  Aber wenn dem so wäre, wird das erstens nichts an seiner Aussenpolitik ändern und zweitens läge er damit im Trend. 

Verschiedene westliche Staaten, insbesondere der Nachbar im Norden, haben begonnen, die Grundrechte einzuschränken. Was während der Corona-Zeit begonnen hat, scheint seit dem Ukraine-Krieg in «angepasster» Form weiterzugehen. Wer nicht das Narrativ der Regierenden stützt, gerät entweder ins Visier des Geheimdienstes, genannt Verfassungschutz, oder wird auf der politischen Ebene mit unzulässigen Mitteln diszipliniert und von den Hauptmedien massiv attackiert. Das geht so weit, dass eine Gruppe von Parlamentariern des Deutschen Bundestags die AfD vom Bundesverfassungsgericht verbieten lassen möchte.⁹

Das Verbot des russischen Senders «Russia Today» ist Zensur. Was in dunklen Zeiten in Deutschland unter Strafe gestellt wurde, wird jetzt technisch gelöst. Im Dritten Reich war es verboten, ausländische Sender zu hören. Der Staat hatte damals (noch) keine Möglichkeiten, den Empfang staatskritischer Sender grossflächig zu stören oder zu verhindern. Oft sind Menschen mit dem Rundfunkempfänger in einen Kleiderschrank gekrochen, damit niemand im Haus davon Wind bekam, dass man BBC oder einen anderen «feindlichen» Sender hörte und so unter Lebensgefahr zu «verbotenen» Informationen über den Krieg kam, anstatt ständig von der «Goebbels-Schnauze» indoktriniert zu werden. 

Wo bleibt die Schweiz?

Bei all diesen Entwicklungen braucht es umso mehr mutige Menschen, die immer wieder auf den Wahnsinn des Krieges aufmerksam machen und dabei nicht müde werden. Die Schweiz könnte hier eine ganz wichtige Rolle einnehmen. Wenn sie sich des Werts der Neutralität wieder bewusst wird und sich nicht länger an die USA und die EU bindet, sondern ihre Bedeutung für Europa realisiert, gäbe es zumindest einen Hoffnungsschimmer. Die engere Zusammenarbeit mit Staaten, auch in der EU, die sich bemühen, dem Krieg fern ab von Verblendung und banalem schwarz-weiss Denken ein Ende zu setzen, muss von Bundesrat und Parlament angestrebt werden. Die Idee Ignazio Cassis', den chinesischen Friedensplan zu unterstützen, ist ein Lichtblick. Es ist beschämend, auf den US-Präsidenten zu warten, anstatt die eigenen Fähigkeiten in der Friedensvermittlung in die Waagschale zu werfen. Die Schweiz hätte schon längst einen Friedensplan auf der Basis von Realität und Neutralität entwickeln können, der eine Grundlage für einen gerechten Frieden hätte bilden können, so wie es der Türkei direkt nach Beginn des Krieges gelungen war. Vielleicht wacht der Bundesrat doch noch auf und engagiert sich nicht in Abhängigkeit von den USA, der Nato oder der EU für den Frieden – abzuwarten, bis alles zerstört ist, kann keine Alternative sein. Sich auf das Völkerrecht zu berufen und den Krieg weiterlaufen zu lassen, ist sinnlos und führt am Schluss zu einer Eskalation, die wahrscheinlich keiner will. Aber manchmal hat man den Eindruck, dass der Wille durch die Emotionalisierung verdrängt wird. Sich für die Einhaltung des Völkerrechts einzusetzen, ist unterstützenswert. Sich um ein Ende des Kriegs zu bemühen, um Zerstörungen und weiteres Töten zu verhindern, braucht mehr, als sich nur auf das Völkerrecht zu berufen. Wem soll man mehr Gewicht geben: dem menschlichen Leben oder dem Völkerrecht? ν

¹ www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/bmw-gewinneinbrauch-china-100.htm

² www.steuerzahler.de/aktion-position/staatsverschuldung/staatsverschuldung/?L=0

³ www.srf.ch/news/international/budget-fuer-2025-darum-sitzt-frankreich-auf-einem-so-hohen-schuldenberg

www.dw.com/de/in-sieben-eu-staaten-m%C3%BCssen-die-schulden-runter/a-69416024

www.tagesschau.de/ausland/trump-nord-stream-2-sanktionen-101.html

www.fr.de/kultur/gesellschaft/mit-donald-trump-steht-der-faschismus-vor-der-tuer-der-amerikanische-diktator-93392370.html

https://www.nachdenkseiten.de/?p=124633

www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2679468

www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/afd-verbot-verfahren-antrag-eingereicht-bundesverfassungsgericht-haldenwang-entlassen-100.html

veröffentlicht am 23. November 2024

«Die Europäer müssen Trump in seinem Bemühen um ein friedliches Ende des Ukraine-Kriegs unterstützen»

Interview mit General a. D. Harald Kujat*

General a. D. Harald Kujat (Bild wikimedia)
General a. D. Harald Kujat (Bild wikimedia)

Zeitgeschehen im Fokus Trump hat angekündigt, als zukünftiger Präsident den Ukraine-Krieg zu beenden. Wie soll sein Plan aussehen?

General a. D. Harald Kujat Die Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten bedeutet einen Wendepunkt in der amerikanischen Ukraine-Strategie. Trump hatte immer wieder betont, Frieden und das Ende des Tötens hätten für ihn die höchste Priorität. Er könne den Konflikt schnell beenden, indem er beide Seiten an den Verhandlungstisch bringe. Bisher hat es Trump jedoch abgelehnt, seinen Plan zu veröffentlichen, weil er ihn dann nicht mehr umsetzen könne. 

Inzwischen sickern jedoch einzelne Elemente durch. Der desig­nierte Vize-Präsident, Vance, hat beispielsweise in einem Interview Teile eines Friedensplans zur Beendigung des Krieges erwähnt. Er sagte, dass Russland die eroberten Gebiete behalten soll. Entlang der gegenwärtigen Front soll eine demilitarisierte Zone eingerichtet und die ukrainische Verteidigung soll verstärkt werden, um eine weitere russische Invasion zu verhindern. Die Rest-Ukraine bliebe ein unabhängiger Staat, der gegenüber Russland seine Neutralität erklärt und weder der Nato noch einer ihrer Organisationen beitritt.

Es ist allerdings bekannt, dass Trump sich wichtige politische Entscheidungen vorbehält und oft ad hoc-Entschlüsse fasst, die nicht der Empfehlung seiner Berater entsprechen. Sollten die von Vance genannten Elemente tatsächlich Teil seines Plans sein, wären die Europäer gefordert, die Überwachung der demilitarisierten Zone zu übernehmen, denn amerikanische Soldaten würden dafür nicht eingesetzt.

Was bedeutet das für Europa?

Ich betone, es soll sich um Truppen europäischer Staaten handeln. Das könnte bedeuten, dass es Soldaten aus Nato-Staaten, jedoch keine Nato-Truppen unter Nato-Kommandogewalt sind.

Ich halte das trotzdem für riskant, denn durch ein menschliches oder technisches Versagen könnte eine Situation entstehen, aus der sich eine Eskalation entwickelt, die politisch nicht mehr beherrschbar ist und zu einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland führt. Es ist auch denkbar, dass eine Kriegspartei eine derartige Situation provoziert.

Deshalb würde ich eine robuste Uno-Blauhelm-Mission nach Artikel 7 der Uno-Charta favorisieren. Allerdings haben Uno-Missionen, wie die Erfahrung aus den Balkankriegen zeigt, grosse Nachteile. Vor allem, weil die Uno nicht über eine effektive Kommandostruktur und eine enge politische Kontrolle des Einsatzes verfügt. Zudem müssen sich Staaten dazu bereit erklären, die über geeignete militärische Fähigkeiten verfügen, wie beispielsweise Indien, Brasilien, Ägypten, Österreich, die Schweiz oder Irland. Die Vor- und Nachteile beider Optionen sollten sorgfältig abgewogen werden.

Einige europäische Staaten, zum Beispiel Deutschland, wollen ihre finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine fortsetzen. Gefordert wird, dass sie auch den bisherigen Anteil der USA übernehmen sollen, falls die Trump-Regierung ihre Unterstützung einstellt. Kann Europa die USA ersetzen?

Die Ukraine braucht Geld, sie braucht militärische Ausrüstung, Waffen und Munition, aber ihr fehlen vor allem Soldaten. «Wir sind auf finanzielle Unterstützung angewiesen, sonst verlieren wir», erklärte Selenskyj. Fast die Hälfte des ukrainischen Staatshaushaltes wird vom Westen finanziert. Jede Verzögerung oder Verringerung des Mittelflusses könnte die staatliche Insolvenz auslösen, obwohl die Ukraine durch die allgegenwärtige Korruption selbst erheblich zu ihren finanziellen Problemen beiträgt. Solange der Krieg dauert, ist die Ukraine auf die umfassende militärische Unterstützung des Westens angewiesen. Noch viele Jahre darüber hinaus erfordern der Wiederaufbau und die wirtschaftliche Gesundung des Landes ein grosses, langfristiges Engagement, vor allem der Europäer.

Die USA liefern jedoch nicht nur Geld und Waffen. Sie leisten einen erheblichen Beitrag zur Ausbildung ukrainischer Soldaten, liefern zeitnah Aufklärungs- und Zieldaten und wirken ganz entscheidend bei der Operationsplanung mit. Diese Leistungen können die europäischen Staaten nicht erbringen. Was dies für die Ukraine bedeutet, darüber sollten sich die europäischen Politiker Klarheit verschaffen, bevor sie grosssprecherische Zusagen machen. Sie würden nicht nur die finanzielle und materielle Leistungsfähigkeit ihrer Länder überfordern, sondern müssten auch die Verantwortung für eine militärische Niederlage der Ukraine übernehmen. Im Übrigen könnten die Europäer diese Option nur realisieren, falls Trumps Friedensbemühungen scheitern, weil sie von einer Kriegspartei abgelehnt werden oder die von ihm anberaumten Verhandlungen ergebnislos bleiben.

Die Europäer haben im Grunde nur eine rationale Option: Sie müssen mit unserem engsten Verbündeten einen Schulterschluss vornehmen und Trump in seinem Bemühen um ein friedliches Ende des Krieges unterstützen. Über die besten Voraussetzungen dafür verfügt der für seine Friedensmission masslos kritisierte ungarische Ministerpräsident Orban. Die Europäische Union und europäische Regierungen haben gegenüber Orban einiges gutzumachen. Es erweist sich, dass Orbans Initiative höchste Anerkennung verdient, in direkten Gesprächen mit den Konfliktparteien im Ukraine-Krieg und den Grossmächten China und USA Friedensverhandlungen zu initiieren.

Wird Trumps Friedenspolitik von Biden torpediert, indem er jetzt der Ukraine erlaubt, die ATACMS auch auf russischem Territorium einzusetzen? Bisher lehnte er das ab, um  keinen Dritten Weltkrieg zu riskieren. Warum hat er diese Kehrtwende vollzogen?

Ich erinnere daran, dass der britische Premierminister Starmer diesen Vorschlag zu seinem Hauptanliegen bei seinem Antrittsbesuch am 13. September in Washington gemacht hat. Grossbritannien war dazu bereit, Frankreich unter bestimmten Auflagen. Starmer wollte ausdrücklich Bidens Zustimmung, um eine gemeinsame Strategie der USA, Grossbritanniens und Frankreichs zu schmieden. Präsident Biden war dazu nicht bereit, um, wie er mehrfach sagte, einen «dritten Weltkrieg zu vermeiden». In der Tat könnten erneute Angriffe mit leistungsfähigen westlichen Waffensystemen auf das ­interkontinentalstrategische Frühwarnsystem und Flugplätze der strategischen Bomberkräfte Russ­lands – mit Drohnen hat die Ukraine derartige Angriffe bereits durchgeführt – zu einer Eskalation des Krieges auf die Ebene der beiden nuklearen Supermächte und zu einer direkten militärischen Konfrontation führen. Präsident Biden wollte dieses Risiko nicht eingehen. Der britische Premierminister erklärte nach dem Gespräch mit Biden lapidar: «Wir hatten eine umfassende Diskussion über Strategie.»

Genau das ist des Pudels Kern: Es geht nicht um eine völkerrechtliche, sondern um eine entscheidende strategische Frage. Denn völkerrechtlich ist ein Angriff der Ukraine auf das Gebiet des Angreifers selbstverständlich erlaubt. Die Ukraine ist jedoch für die Einsatz- und Zielplanung von Angriffen mit westlichen weitreichenden Waffensystemen auf strategische Ziele im russischen Hinterland völlig auf die Unterstützung westlicher Spezialisten angewiesen. Wer diese Unterstützung personell und materiell leistet, macht einen grossen Schritt in Richtung direkter Kriegsbeteiligung.

Ich denke, der Bundeskanzler hat die Risiken erkannt und eine rationale, strategisch richtige Entscheidung getroffen, indem er ablehnt, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zu liefern. Offenbar ist darüber auf dem Vierertreffen mit den Präsidenten Biden und Macron sowie dem britischen Premierminister Starmer am 18. Oktober auch ein Einvernehmen erzielt worden.

Obwohl es Präsident Biden mehrfach strikt abgelehnt hat, amerikanische ATACMS für Angriffe auf russisches Territorium freizugeben, um, wie er sagte, einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden, hat er nun doch erlaubt, diese Systeme mit einer Reichweite von 300 km zunächst gegen nordkoreanische Truppen im Raum Kursk einzusetzen, um der nordkoreanischen Regierung die Verwundbarkeit ihrer Soldaten zu demonstrieren und sie davon abzuschrecken, noch mehr Soldaten zu schicken. Ich halte diese Begründung nicht für überzeugend, und der erste Einsatz dieses Waffensystems gegen ein Munitionsdepot im Raum Brjansk zeigt das auch. Die Frage ist berechtigt, ob die amerikanische Regierung bereit ist, wegen der kritischen Lage der Ukraine, die trotz massiver westlicher Unterstützung immer unhaltbarer wird, das Risiko eines grossen europäischen Krieges einzugehen, zumal sie weiss, dass diese Raketen ebenso wenig wie die bisher gelieferten Waffen die strategische Lage zugunsten der Ukraine wenden können. Inzwischen haben die USA sogar angekündigt, geächtete Anti-Personen-Minen zu liefern, damit die ukrainischen Streitkräfte das noch unter ihrer Kontrolle befindliche Territorium verteidigen können.  Ich halte diesen dramatischen Kurswechsel für ein Zeichen grösster Frustration, denn das strategische Ziel, Russ­land, den zweiten geopolitischen Rivalen neben China, politisch, wirtschaftlich und militärisch zu schwächen, ist nicht erreichbar. Es gibt nur eine vernünftige Erklärung: Der amerikanische Präsident will nach dem fluchtartigen Rückzug aus Afghanistan nicht auch gemeinsam mit der Ukraine diesen Krieg verlieren. Es ist gewissermassen ein letztes Aufbäumen, bevor sein Nachfolger den angekündigten Friedensplan umsetzt. Die Europäer haben nicht die Kraft, sich konstruktiv für Friedensverhandlungen einzusetzen, obwohl es um das Schicksal ihres Kontinents geht. Es ist peinlich, dass die Hoffnungen derjenigen, die Sicherheit und Frieden wollen, in dieser hochbrisanten Lage auf Putin und Trump ruhen, einen grossen europäischen Krieg mit dem Risiko einer nuklearen Eskalation zu verhindern. Auf Putin in der Erwartung, dass er besonnen und massvoll reagiert und auf Trump, dass er die Entscheidung Bidens, wie vom ihm angekündigt, rückgängig macht.

Es ist bekannt, dass Trump die Nato skeptisch sieht und die Europäer einen grösseren Beitrag für die europäische Sicherheit leisten sollen. Inzwischen wird bereits gefordert, die Nato-Mitgliedstaaten sollen künftig drei Prozent ihres BIP in die Verteidigung investieren. Was soll das bringen?

Sowohl der Ukraine-Krieg als auch die Rückkehr Trumps als amerikanischer Präsident haben vielen europäischen Politikern die Augen geöffnet, wie wichtig eine eigenständige europäische Sicherheitspolitik und die Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeiten, vorzugsweise als starker europäischer Pfeiler der Nato, sind. Das ist jedoch zu kurz gedacht. Dringend notwendig ist eine Gesamtstrategie, die alle für die Selbstbehauptung Europas erforderlichen Elemente in einer sich ergänzenden und synergetisch verstärkenden Weise verbindet. Nur eine geopolitische und geostrategische Gesamtstrategie würde Europa in die Lage versetzen, auf die sich dynamisch verändernden politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und frühzeitig auf entstehende Krisen und sicherheitspolitische Herausforderungen zu reagieren, die eigenen Interessen durchzusetzen und einen Beitrag zu internationaler Stabilität, zur Eindämmung von Konflikten sowie zur Beseitigung von Konfliktursachen wie beispielsweise der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen zu leisten.

Der Ukraine-Krieg hat Europa an eine Wegscheide geführt. Denn es geht in diesem Krieg nicht nur um die Sicherheit und die territoriale Integrität der Ukraine, sondern auch um eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung, in der alle Staaten des europäischen Kontinents ihren Platz haben. Immer stärker zeichnen sich aber auch die dramatischen weltwirtschaftlichen Konsequenzen dieses Krieges für den Industrie- und Wirtschaftsstandort Europa ab. Man sollte sich nicht täuschen lassen; es geht nicht um gemeinsame Werte mit der Ukraine. Die Ukraine verteidigt nicht unsere Freiheit und unsere Sicherheit, es geht auch nicht um die sogenannte regelbasierte internationale Ordnung, es geht vor allem um die Menschen in der Ukraine und um die Zukunft unseres Kontinents.

Sie haben eng mit Helmut Schmidt zusammengearbeitet. Wie hätte er in der aktuellen Situation reagiert?

Ich frage mich in letzter Zeit selbst oft, wie Helmut Schmidt auf die gegenwärtige Sicherheitslage in Europa reagieren würde. Er würde wohl sagen, dass ein militärisches Gleichgewicht ein notwendiges aber kein hinreichendes Element ist, den Frieden zu sichern. Hinzukommen muss das Bemühen, ein militärisches Gleichgewicht politisch zu stabilisieren. Hinzukommen muss der Wille, mit der anderen Seite zu reden und auf ihre Interessenslage einzugehen. Hinzukommen müssen Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen sowie Vereinbarungen über grössere Transparenz und militärische vertrauensbildende Massnahmen.

Deshalb plädiere ich dafür, die Anstrengungen darauf zu richten, die Bundeswehr wieder in die Lage zu versetzen, ihren verfassungsmässigen Auftrag der Landes- und Bündnisverteidigung zu erfüllen. Dazu muss die Bundeswehr über aufwuchsfähige Strukturen verfügen, um durch eine problemlose Integration von Reservisten schnell einen aufgabengerechten Verteidigungsumfang zu erreichen, mit einem Personalumfang, der das notwendige Fähigkeitsspektrum abdeckt und einer bedrohungsgerechten und technologisch zukunftsfesten Ausrüstung und Bewaffnung in allen Fähigkeitskategorien. Dies wäre auch ein überzeugendes Signal der Entschlossenheit, keine Verschiebung des militärischen Gleichgewichts zu unseren Ungunsten zuzulassen. 

Ob die Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf drei Prozent notwendig ist, kann nur durch den Vergleich von Streitkräfte- und Verteidigungsplanung festgestellt werden. Die Mitgliedstaaten haben sich nicht nur zur Erhöhung der Verteidigungshaushalte auf zwei Prozent des BIP verpflichtet, sondern auch dazu, den Anteil der Ausgaben für moderne Bewaffnung und Ausrüstung auf mehr als zwanzig Prozent des Verteidigungshaushalts anzuheben. Nur in der Verbindung beider Aspekte ist es möglich, modern ausgerüstete, leistungsfähige Streitkräfte zu unterhalten.

Wie sehen Sie die Zukunft von Selenskyjs «Siegesplan» und seines «Friedensplans»?

Noch vor wenigen Wochen hat der ukrainische Präsident für seinen «Siegesplan» geworben, dessen Ziel es nach seinen Worten war, stark genug zu sein, um den Krieg zu beenden. Der Plan ist gescheitert, weil weder Präsident Biden noch der Bundeskanzler bereit waren, ihn zu unterstützen. Selenskyj sah offenbar das direkte militärische Eingreifen der Nato in den Krieg als einzigen Ausweg aus der sich abzeichnenden militärischen Niederlage. Deshalb verlangte Selenskyj die Lieferung und Freigabe weitreichender westlicher Waffensysteme für den Einsatz gegen Ziele in der Tiefe Russ­lands und eine bedingungslose Nato-Mitgliedschaft.

Das hätte den Kriegseintritt der Nato an der Seite der Ukraine gegen Russland bedeutet. Der Bundeskanzler hatte offenbar verstanden, welche Konsequenzen es hätte, auf diese Forderungen einzugehen. Denn er wollte, «dass die Nato nicht zur Kriegspartei wird» und damit «dieser Krieg nicht in eine noch viel grössere Katastrophe mündet».

Hinsichtlich seines «Friedensplans» ist anzumerken, dass Selenskyj bisher nicht einmal die Absicht erkennen liess, seinen Plan direkt mit Russland zu verhandeln. Denn sein Dekret von Anfang Oktober 2022 ist noch nicht aufgehoben worden; es verbietet immer noch Verhandlungen mit Russland und insbesondere mit Putin. Die letzte Gipfelkonferenz in der Schweiz zu Selenskyjs «Friedensplan» hat bereits gezeigt, dass es eine Sackgasse ist, die den Krieg nicht beendet, sondern verlängert. Trotzdem wirbt der Bundeskanzler dafür, dass eine weitere Konferenz stattfindet und Russland daran teilnimmt.

Die New York Times berichtete kürzlich, die Ukraine sei bereit, ihre Position zu lockern, sie würde in keinem Friedensabkommen von Russen besetzte Gebiete abtreten; Sicherheitsgarantien hätten mindestens die gleiche Bedeutung. Der ukrainische Verteidigungsminister hat jedoch widersprochen und erklärt, diese Behauptung sei falsch. Er bekräftigte vielmehr das strategische Ziel der Ukraine, alle von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern. Diese Position ist aber angesichts der militärischen Lage und den bisher bekannten Informationen über Trumps Friedensplan sicherlich nicht zu halten.

Denn bereits in den Istanbul-Verhandlungen im März/April 2022 gab es in der Frage von Sicherheitsgarantien für die Ukraine eine Annäherung. Die Verhandlungspartner einigten sich auf mögliche Garantiestaaten, darunter auch China, Russland und die Vereinigten Staaten. Die Garantiestaaten und die Ukraine würden vereinbaren, «dass im Falle einer Aggression, eines bewaffneten Angriffs auf die Ukraine oder einer militärischen Operation gegen die Ukraine jeder Garantiestaat nach dringenden und sofortigen Konsultationen untereinander der Ukraine als einem dauerhaft neutralen Staat, der angegriffen wird, Hilfe leisten wird.» 

Strittig blieb die Frage, ob über die Hilfeleistung in den Konsultationen Einvernehmen erzielt werden muss – was Russland aus ukrainischer Sicht ein Vetorecht einräumen würde – oder jeder Garantiestaat unabhängig davon selbst entscheiden kann, Hilfe zu leisten.

Herr General Kujat, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* General a. D. Harald Kujat, geboren am 1. März 1942, war unter anderem Generalinspekteur der Bundeswehr und als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses höchster Militär der Nato. Zugleich amtete er als Vorsitzender des Nato-Russland-Rates sowie des Euro-Atlantischen-Partnerschaftsrates der Generalstabschefs. Für seine Verdienste wurde Harald Kujat mit einer grossen Zahl von Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Kommandeurs­kreuz der Ehrenlegion der Republik Frankreich, dem Kommandeurskreuz des Verdienstordens Lettlands, Estlands und Polens, der Legion of Merit der Vereinigten Staaten, dem Grossen Band des Leopoldordens des Königreichs Belgien, dem Grossen Bundesverdienstkreuz sowie mit weiteren hohen Auszeichnungen, unter anderem aus Malta, Ungarn und der Nato.

 

veröffentlicht am 23. November 2024

Wahlen in Georgien und Moldawien: «Demokratische Standards fallen der Geopolitisierung zum Opfer»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Bundestagsabgeordneter A. Hunko, BSW (Bild thk)
Bundestagsabgeordneter A. Hunko, BSW (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Sie waren als Wahlbeobachter in Georgien. In wessen Auftrag waren Sie dort?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Ich war dort als Wahlbeobachter für die Parlamentarische Versammlung des Europarats. Das ist ein Teil der internationalen Wahlbeobachtungsmission. Es gab vier Missionen: eine des Europarats, eine von der parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), eine von der Parlamentarischen Versammlung der Nato und eine von der EU. Das waren etwa 100 Abgeordnete und zusätzlich noch mehrere Hundert Lang- und Kurzzeitbeobachter der OSZE. Das war im gesamten schon eine grosse Mission, die mehr als 50 Prozent der Wahllokale am Wahltag, dem 26. Oktober, beobachtete. Vier Wochen vor dem Wahltag war ich bereits Teil einer Vorabmission in Tiflis, um mir ein Bild von der politischen Lage zu machen. Am Wahltag war ich in Tiflis und Gori, einer Kleinstadt mit 50 000 Einwohnern, und habe dort die Wahlen beobachtet.

Gab es bei den anderen Organisationen, die alle starke Vertreter der westlichen Politik darstellen und erklärte Gegner Russlands sind, in der Beurteilung der Wahl grosse Diskrepanzen, oder war man sich mehrheitlich einig?

Man muss feststellen, dass auch die Vertreter der OSZE-Beobachter überwiegend Nato- oder mit der Nato verbündeten Staaten angehörten. Es war schon deutlich spürbar, dass die überwiegende Zahl der Beobachter dem «Georgischen Traum», der Regierungspartei, sehr ablehnend und misstrauisch gegenüber standen und wenig neutral an die Beobachtung herangingen. Die Schärfe, mit der Unregelmässigkeiten kritisiert wurden, war jedoch nicht durchgehend. Man ging nicht von einem grossflächigen Wahlbetrug aus. Keiner, auch nicht diejenigen mit Antipathie gegenüber dem «Georgischen Traum», äusserte sich dahingehend. Man hat diverse Unregelmässigkeiten kritisiert, die es schon in vorangegangenen Wahlen gab. Die OSZE war in ihrer Beurteilung etwas zurückhaltender. Am unangenehmsten fielen mir die Abgeordneten des EU-Parlaments auf, die offensichtlich mit dem Ziel anreisten, die Regierung zu stürzen.

Welche Aufgaben sind mit Ihrem Mandat als Wahlbeobachter verbunden?

Ich sprach unter anderem mit der Regierungspartei, der Opposition, mit der Wahlbehörde, mit NGOs und Medienvertretern. Ich traf mich parallel zum offiziellen Programm mit kritischen Akteuren, mit jungen Leuten, die engagiert sind.

Sind sie kritisch gegenüber der Regierung?

Nicht nur, sondern auch kritisch gegenüber den grossen prowestlichen NGOs. Man muss sich das einmal vorstellen: Es gibt 31 000 registrierte NGOs in dem kleinen Land mit 3.7 Millionen Einwohnern. Das wäre verglichen mit der Grösse Deutschlands eine Million NGOs. 99 Prozent der NGOs in Georgien sind vom Westen finanziert, sei es von George Soroš, dem Europeen Endowment of Democracy, von westlichen Stiftungen, von der Europäischen Kommission, von US-amerikanischen Institutionen und so weiter. Das ist ein riesiger innenpolitischer Faktor in diesem Land. Wenn man als junger Mensch politisch interessiert ist, Ambitionen hat, Karriere zu machen, dann bieten die NGOs eine Chance dazu. Die jungen Menschen, mit denen ich sprach, sind nicht nur kritisch gegenüber den NGOs und der westlichen Einmischung, sondern auch gegenüber der Regierung.

Bei  sehr vielen Personen, die ich in Georgien traf, insbesondere am Tag der Wahl, konnte ich feststellen, dass das brutale Regime unter Saakaschwili bis 2012 immer noch tief in den Knochen sitzt. Das wird in den westlichen Medien kaum erwähnt. Damals waren 300 000 Menschen, 10 Prozent der Bevölkerung, in den Gefängnissen gelandet, in denen sie teilweise gefoltert wurden. Über 100 Menschen wurden von der Polizei auf offener Strasse erschossen. Die jetzige Regierung, der «Georgische Traum», hat das Land ein Stück weit zivilisiert, das ist einer der Gründe, warum sie seit 2012 alle Wahlen haushoch gewonnen hat. Die Erinnerung an die dunklen Jahre unter Saakaschwili, der auch im Jahr 2008 den Krieg gegen Südossetien begonnen hat, ist bis heute präsent.

Saakaschwili war ein Mann des Westens.

Ja, er war pro USA. Er hat sich auch aller Wahrscheinlichkeit nach von den USA zu diesem Angriff ermutigen lassen. Aber am Schluss distanzierte sich der Westen, und er wurde sicher aus seiner Sicht im Stich gelassen. Er ist eine zwielichtige Figur, der dann plötzlich Gouverneur von Odessa wurde. Er ist mittlerweile in Georgien verurteilt und sitzt im Gefängnis, hat aber immer noch eine relevante radikalisierte Anhängerschaft.

Inwiefern spielt er heute noch eine Rolle?

Er führt nach wie vor die Oppositionspartei UNM, die zu einem Oppositionsbündnis gehört, das bei dieser Wahl aber deutlich verloren hat. Dieses Bündnis hat nur rund 10 Prozent der Stimmen bekommen. Es gab bei den Wahlen innerhalb der Opposition eine Verschiebung von der UMN zur «Coalition of Change» mit anderen Oppositionsparteien, die deutlich zugelegt haben, während die Saakaschwili-Partei klar verloren hat. Die Coalition for Change erreichte als stärkstes Oppositions-Parteienbündnis knapp 11 Prozent, die Regierungspartei 54 Prozent.

Was für eine Stimmung unter der Bevölkerung konnten Sie kurz vor den Wahlen feststellen?

Am Mittwoch vor den Wahlen gab es eine grosse Kundgebung vom «Georgischen Traum». Nach Augenzeugenberichten sei sie riesig gewesen, etwa drei- bis viermal so gross wie die Kundgebungen der Opposition. Es seien auch viele junge Menschen dort gewesen, nicht sonderlich enthusiastisch, so wie ich es bei den Gesprächen mit der Bevölkerung auch empfand, aber die sich in der bestehenden Gemengelage in Richtung der Regierungspartei orientiert hatten. In den westlichen Medien wurden diese Kundgebungen nicht gezeigt, auch nicht darüber berichtet. Für Menschen aus dem ländlichen Raum stellte man sicher Busse zur Verfügung, damit sie an der Kundgebung teilnehmen konnten, aber das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch Leute an der Kundgebung waren, die nicht unbedingt zu den Parteigängern des «Georgischen Traums» gehörten, sie aber gewissermassen als kleineres Übel empfanden. 

Was noch eine Rolle spielt, ist die offene Einmischung der EU, die die Wahl als eine «Schicksalswahl zwischen Russland und der EU» hochstilisiert hatte. Die meisten Menschen in Georgien sind nach Westen orientiert. Das Volk ist aber nicht so gespalten wie zum Beispiel in Moldawien. Auch dass die Regierungspartei immer als pro russisch dargestellt wird, ist völliger Unsinn. Die Regierungspartei hat das Ziel einer EU- und Nato-Mitgliedschaft in die Verfassung geschrieben. Sie hat auch den Kandidatenstatus unter ihrer Regierung mit der EU ausgehandelt. Es ist eine Partei, die westlich orientiert ist. Der grosse Unterschied besteht darin, dass sie sagt, sie wolle keinen Krieg mit Russ­land.

Sie ist also nicht antirussisch, möchten aber auch mit der EU Handel treiben.

Ja, die Politik gegenüber ­Russland ist pragmatisch. Die Realität ist, dass russische Panzer 40 Kilometer von Tiflis entfernt stehen, in Südossetien, wo sie seit dem Konflikt mit Georgien einen Militärstützpunkt haben. Die grosse Verbindungsstrasse von Tiflis ans Schwarze Meer geht wenige hundert Meter an der Grenze zu Südossetien vorbei. Seit dem Krieg 2008 sind die offiziellen diplomatischen Beziehungen abgebrochen. Georgien betreibt jedoch Handel mit Russland, vor allem Export von landwirtschaftlichen Gütern. Georgischer Wein ist sehr berühmt. Das ist ein wichtiger Faktor für die georgische Wirtschaft.

Für die Georgier ist ganz klar, sie wollen keine zweite Ukraine werden. Es gibt zwei Gebiete, die abtrünnigen Provinzen, Südossetien und Abchasien, die völkerrechtlich zu Georgien gehören. Sie stehen unter russischer Kontrolle, vergleichbar mit Donezk und Luhansk in der Ukraine. Die georgische Regierung will aber pragmatisch mit der Situation umgehen, nicht eskalieren, das Land weiter entwickeln. Sie ist der Meinung, wenn sich das Land zum Positiven entwickelt, wird es auch für die Menschen in den abtrünnigen Provinzen wieder attraktiv. Das ist ihre Politik und ihre Vorstellung, und das seit vielen Jahren. Sie haben ein gutes Wirtschaftswachstum, allerdings mit vielen sozialen Verwerfungen.

Hat der Krieg in der Ukraine das Verhältnis vom Westen zu Georgien gerändert?

Ja, seit dem Einmarsch Russ­lands in die Ukraine übt der Westen massiven Druck auf die georgische Regierung aus, sich an der Konfrontation gegen Russland zu beteiligen. Sie sollen an den Wirtschaftssanktionen mitmachen und den Westen militärisch gegen Russ­land unterstützen. Das lehnt die Regierung ab. Sie wollen in diesem Konflikt neutral sein, auch wenn sie dem Westen und der Ukraine zugeneigt sind. Sie leisten humanitäre Hilfe, aber in den bewaffneten Konflikt wollen sie sich nicht hineinziehen lassen. Der Premierminister Georgiens spricht sogar offen von einer «globalen Kriegspartei», einer «global war party», die den grossen Krieg mit Russland will und sozusagen Georgien darin einbetten, um somit eine Südfront gegen Russland zu eröffnen. Sie wollen nicht das Bauernopfer in diesem Stellvertreterkrieg sein. Deshalb setzt die georgische Regierung auf Ausgleich und pragmatische Beziehungen mit Russland, ohne dass sie die abtrünnigen Provinzen aufgibt, sondern nach wie vor völkerrechtlich als Bestandteil Georgiens betrachtet. Auch hält sie an der Perspektive einer Nato- und EU-Mitgliedschaft fest. 

Der «Georgische Traum» hat die Wahlkampagne ganz auf dieses Thema Krieg und Frieden zugeschnitten. Überall gab es grosse Wahlplakate mit zerstörten ukrainischen Städten oder Kirchen und intakten georgischen. Darunter stand: «Stoppt den Krieg! Für den Frieden!» Das war die Wahlkampagne, darum ging es. Das wird bei uns nicht kommuniziert. Da heisst es nur: pro russisch oder pro europäisch. Wer für Frieden ist, ist demnach prorussisch. 

Was Sie jetzt erzählt haben, erinnert mich an die Abläufe in der Ukraine unter Janukowitsch, der sowohl mit Russland als auch mit der EU zusammenarbeiten wollte.

Ja, das ist bis zu einem gewissen Grad vergleichbar. Ich war 2012 bei den Parlamentswahlen als Wahlbeobachter in der Ukraine. Das war ganz genauso. Da fiel mir das zum ersten Mal auf. Die westlichen Botschafter sassen da mit hängenden Köpfen, weil die Ukrainer immer noch an Janukowitsch festhielten. In Georgien war wie in der Ukraine 2013/14 auch ein «Maidan» geplant und möglicherweise auch ein Staatsstreich. Aber das scheint nicht aufzugehen. Das haben vor allem die Amerikaner begriffen, im Unterschied zu vielen europäischen Politikern, die das gerne gesehen hätten. Die Demonstration am Montag nach der Wahl war deutlich schwächer, als erwartet. Bei uns in der Tagesschau zeigte man zwar andere Bilder. Aber das war reine Propaganda für die Bevölkerung im Westen. Interne Untersuchungen über die Voraussetzung eines möglichen Umsturzes kommen zu einem anderen Ergebnis: Die Stimmung ist nicht vorhanden. Das liest man eher in den amerikanischen Strategiepapieren als in den europäischen. Die USA hatten sich eher zurückgehalten. Sie waren auch nicht mit vielen Wahlbeobachtern vor Ort. In der Regel schicken sie Wahlbeobachtungskommissionen der republikanischen oder demokratischen Partei und ihren jeweiligen Stiftungen. Die habe ich diesmal nicht gesehen. Bereits im Sommer las ich Analysen aus den USA, die die Situation nicht für einen Regime-Change eingeschätzt hatten. Das deckt sich mit der Stellungnahme des US-Aussenministeriums nach der Wahl, die besagte, dass es Unregelmässigkeiten gegeben habe, die von der kommenden Regierung aufgearbeitet werden müssten, aber sie stellten die Wahl und damit ihre Anerkennung nicht infrage. Im Unterschied zu dem, wie viele europäische Politiker sich äusserten, reagierten die USA vergleichsweise zurückhaltend.

War es nicht die EU, die gesagt hat, dass sie die Wahl nicht anerkennen werden?

Es ist nicht eindeutig. Die Staaten sehen das nicht alle gleich. Unter dem Strich war die Reaktion der EU jedoch schärfer in Richtung nicht Anerkennung als die der USA. Natürlich haben die USA ein Interesse an der Destabilisierung Russlands und an einem entsprechenden Regime-Change in Georgien, aber sie sind auch nicht total blind und prüfen, wie die Lage ist. In der Ukraine hatte man 2013 die Situation so eingeschätzt, dass der Zeitpunkt für einen Regime-Change gegeben sei. Dann begann man, «Kampfgruppen» zu unterstützen, die es in Georgien so nicht gibt, schon gar nicht wie in der Ukraine mit dem rechten Sektor. In Georgien ist die Stimmung nicht so aufgeheizt wie 2013/14 in der Ukraine. Zudem waren die USA auch mit ihrem eigenen Wahlkampf beschäftigt.

Es ist also extrem, wie hier im Westen die Propaganda bezüglich Georgiens funktionierte. Man versuchte wohl mit allen Mitteln, den Vorwurf der Wahlfälschung zu zementieren, um so die Bevölkerung aufzuhetzen.

Bei meinen Beobachtungen habe ich nichts gesehen, was das rechtfertigen könnte. Es war in den Wahllokalen friedlich. In allen Wahllokalen gab es Wahlbeobachter der Opposition und der NGOs. Ich habe die immer nach Problemen gefragt, alle verneinten. Es gibt neue Wahlmaschinen, die Wahlbetrug erschweren. In 90 Prozent der Wahllokale gab es diese Maschinen, die die Stimmzettel einziehen. Sie haben eine Zählfunktion. Die Stimmen wurden insgesamt viermal gezählt: erstens durch die Wahlmaschinen, zweitens fallen die Wahlzettel nach den Wahlmaschinen in die Urne, die anschliessend ausgezählt wurden. Die kamen zum gleichen Ergebnis, vielleicht gab es ein, zwei Stimmen Unterschied, was normal ist. Dann folgte die eigene Zusammenzählung durch die NGOs, die in allen Wahllokalen anwesend waren und ihre Ergebnisse über ihre eigenen Strukturen übermittelten. Sie kamen auch zum gleichen Ergebnis von knapp 54 Prozent. Dann wurden die schweren Vorwürfe von Wahlbetrug laut. Daraufhin ordnete die oberste Wahlbehörde in einem vierten Schritt an, die Wahlzettel von zufällig fünf ausgewählten Stimmbezirken pro Region nachzuzählen, was letztlich 14 Prozent aller Wahllokale betraf. Auch sie erhielten das gleiche Ergebnis. Also viermal wurde das Ergebnis überprüft und bestätigt. Es kamen immer knapp 54 Prozent mit kleinen Schwankungen für den «Georgischen Traum» heraus. Trotzdem wird die Behauptung des Wahlbetrugs aufrechterhalten und unterstützt, ohne dass konkrete Beweise dafür vorgelegt werden. Der Vorwurf lautete, es habe eine Atmosphäre der Einschüchterung gegeben. Möglicherweise kam es zu administrativem Missbrauch, wie das in kleinen Orten in diesen Ländern leider immer wieder vorkommen kann. Das wird aber nicht als Wahlbetrug gewertet. 

Waren beide Parteien im Wahlkampf in gleichem Masse vertreten?

Die Opposition hat ausser in Tiflis keine Werbung gemacht. Der ganze ländliche Raum, der über 50 Prozent der Wähler ausmacht, wurde von der Opposition nicht beachtet. Nur der «Georgische Traum» hat hier Wahlkampf geführt. Die Opposition hat sich ausschliesslich auf Tiflis konzentriert. 

Es gibt keine Beweise für einen grossflächigen Wahlbetrug. Die Wahlmaschinen wurden nur in Wahllokalen eingesetzt mit mehr als 300 Wählern. Es gab noch 10 Prozent der Wahllokale, in denen noch traditionell, also ohne die Wahlmaschinen gewählt wurde. Da war es möglich, dass man ganz viele Wahlzettel in eine Urne wirft. Jetzt gibt es ein Video in einem kleinen Wahllokal im ländlichen Raum, auf dem zwei Typen ganz viele Wahlzettel in eine Urne stopfen. Dieses Video ging um die ganze Welt. Darauf hat man sofort reagiert. Die Urheber wurden verhaftet. Der Inhalt der Urne für ungültig erklärt. Stellen wir uns vor, es gäbe eine Abstimmung in einer kleinen Gemeinde auf dem Land. Zwei Leute stopfen irgendwelche Zettel in die Urne, und ein Dritter filmt das. Bevor jemand reagieren kann, ist das Video schon um die Welt gegangen und der Wahlbetrug «bewiesen».  

Wenn Unruhen ausbleiben und der Sturz der gewählten Regierung nicht gelingt, so wie es jetzt aussieht, was heisst das für die EU, die sich einmal mehr weit aus dem Fenster lehnte?

Die EU hat sich in eine ganz miss­liche Lage gebracht. Sie betrieb Propaganda und stilisierte die Wahl zu einer Schicksalswahl, zu einer Wahl zwischen «Russland oder Europa». Gemäss ihrer eigenen Propaganda entschied sich die Bevölkerung für Russland. Das ist alles völlig unsinnig, denn die Regierungspartei möchte sowohl mit Russland als auch mit der EU gute Beziehungen. Die EU muss jetzt einen Dreh finden, wie sie sich aus dem Dilemma befreien kann. Sie müssen sich irgendwie arrangieren, denn ihr Plan analog zur Ukraine ging nicht auf. Die EU hat sich damit ins eigene Fleisch geschnitten.

Der aktuelle Ablauf erinnert auch etwas an die Geschichte in Venezuela mit Juan Guaidó, der sich selbst zum Präsidenten erklärte.

Ja, es gab im Januar 2019, als Guaidó sich zum Präsidenten ausrief, eine starke oppositionelle Stimmung in Venezuela. Aber der Widerstand verblasste sehr schnell. Regime-Change-Politik stützt sich auf reale Stimmungen. Dafür braucht es Zehntausende, wenn nicht gar Hundertausende, die auf die Strasse gehen und für solche Zwecke ausgebildete Schlägertrupps das Ganze zusätzlich noch anheizen, wie 2014 in der Ukraine.

Ich würde gerne noch auf die Wahlen in Moldawien vor 14 Tagen zu sprechen kommen. Hier wird, wie bei der Wahl in Georgien, behauptet, Russland habe die Wahlen manipuliert, obwohl die vom Westen favorisierte Person, Maia Sandu, sich als Wahlsiegerin versteht. Können Sie den Widerspruch auflösen?

In Moldawien ist alles spiegelverkehrt. Wenn man von Wahlmanipulation sprechen will, dann in Moldawien, aber nicht in Georgien. In Moldawien lehnte der sogenannte pro-russische Kandidat der Sozialdemokratischen Partei, Stoianoglo, einen Eintrag in die Verfassung Moldawiens für die Aufnahme in die EU ab. Er will eine ausgleichende Politik sowohl mit dem Westen als auch mit Russland führen. Er gewann in Moldawien, denn er konnte 51,2 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, während Sandu 48,8 Prozent erreichte. Aber sie profitierte von den Auslandsstimmen. Mit einer Million Diaspora-Moldawiern konnte das Ergebnis gedreht werden. Innerhalb Moldawiens hat jedoch der russlandfreundliche Kandidat gewonnen, während die EU-freundlichen verloren haben.

Was heisst in Moldawien gewonnen und am Schluss doch verloren?

In Russland leben nach unterschiedlichen Schätzungen 200 000 bis 500 000 Moldawier. Das sind nahezu die Hälfte der Auslandmoldawier. Für diese Menschen gab es in ganz Russland zwei Wahllokale mit jeweils 5 000 Stimmzettel. Die hat die moldawische Regierung unter Sandu eingerichtet. In Italien, wo ungefähr zweihunderttausend Exilmoldawier leben, gab es 60 Wahllokale. Das ist unzweifelhaft Wahlmanipulation. Damit entsteht eine völlige Verzerrung der Stimmanteile der Auslandmoldawier. Die Wahlberechtigten in Italien sind natürlich in der Tendenz westlich ausgerichtet und werden auch die entsprechende Kandidatin unterstützt haben. Während die in Russ­land lebenden Moldawier zu ungefähr  80 Prozent dem Gegenkandidaten die Stimme gegeben hätten. Dazu muss man wissen, dass Moldawien zum Teil russisch-, aber auch rumänischsprachig ist. In diesem Land existieren also zwei Amtssprachen, die auch die politische Einstellung widerspiegeln.

Welche Bedeutung muss man in dem ganzen Prozess Transnistrien geben?  

Transnistrien ist eine abtrünnige Republik Moldawiens, in der russisches Militär stationiert ist. Die Menschen können dort nicht wählen, sondern müssen über die Grenze nach Moldawien. Gemäss verschiedener Berichte wurden viele Menschen nicht über die Grenze gelassen, um zu verhindern, dass sie ihre Stimme abgeben konnten. Mehrheitlich hätte dieser Bevölkerungsteil für Stoianoglo gestimmt, der für ein normales Verhältnis zu Russland eintritt. Das ist himmelschreiend, das Verhalten ist dermassen dreist und undemokratisch. Das wird im Westen überhaupt nicht thematisiert. Aber es wird als Einmischung kritisiert, dass wohl mit Hilfe aus Russ­land Busse nach Belarus fuhren, weil es nur die zwei Wahllokale in Moskau gab, um dort abzustimmen. So konnten einige Moldawier wenigstens in Belarus ihre Stimme abgeben.

Die Doppelmoral ist so schreiend, wenn man die Reaktion des Westens auf beide Wahlen nebeneinanderlegt. Es ist haarsträubend. An Wahlmanipulation kann man sehr viel mehr in Moldawien feststellen als in Georgien. Unter dem Strich ist das Erschreckende, dass demokratische Standards der Geopolitisierung zum Opfer fallen. In Georgien haben sie falsch gewählt und werden abgestraft, in Moldawien wurde mit manipulativer Schützenhilfe richtig gewählt. Dann ist alles im Lot.

Noch eine kurze Ergänzung zu dem ganzen Trauerspiel. Es gab letzte Woche in der Uno-Generalversammlung eine Resolution gegen das völkerrechtswidrige Embargo der USA gegen Kuba. Die ganze Welt hat dieser Resolution zugestimmt. Selbst Milei in Argentinien, die Ukraine, die treusten US-Länder haben dennoch diese Blockade verurteilt. Nur zwei Länder waren dagegen, Israel und die USA. Es gab nur ein einziges Land, das sich enthalten hat. Das war Moldawien. Das ist ein Signal an die Welt, dass die Regierung Sandu bereit ist, sich geopolitisch auf der Seite der USA zu exponieren.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

veröffentlicht am 23. November 2024

«Lebensgrundlagen sind auf Generationen verwüstet»

«Netanyahu hat kein Interesse an Frieden»

Interview mit Karin Leukefeld, freie Journalistin und Nahost-Expertin

Karin Leukefeld (Bild thk)
Karin Leukefeld (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Vor kurzem konnte man in den Medien lesen, dass Israel grosse Probleme bei der Bodenoffensive gegen die Hisbollah habe. Wissen Sie, wie die Situation dort konkret aussieht?

Karin Leukefeld Aus Israel kommen diesbezüglich keine oder Erfolgsmeldungen. Man habe Feldkommandeure getötet, Raketenabschussrampen, Waffendepots, Kommandozentralen zerstört. Jeder israelische Luftangriff – bei Nabatieh, Tyros, im Süden von Beirut oder in der Beeka-Ebene wird übrigens so begründet. Beweise für die Angaben liefert Israel nicht. Die israelischen Truppen – die entsprechenden Divisionen werden in den Medien auch benannt – konnten offenbar an einigen Stellen auf libanesisches Territorium vordringen, aber die Truppen können sich nicht halten und müssen sich immer wieder zurückziehen. 

Seitens der Hisbollah gibt es Informationen, dass es heftige Kämpfe entlang der «Blauen Linie» gibt, der Waffenstillstandslinie. Die Hisbollah meldet hohe Verluste unter den israelischen Soldaten, über die eigenen Verluste macht die Organisation keine Angaben. Sie werden aber vermutlich hoch sein. Die Zerstörung in den Dörfern im Süden ist gross. Israel setzt auch Weissen Phosphor und – nach Angaben der Hisbollah – Streumunition ein.

Die Hisbollah hat vor ein paar Tagen eine Salve von Raketen auf Israel abgefeuert und dabei ausschliesslich militärische Ziele ins Visier genommen. Von zivilen Opfern hört man kaum etwas? Warum kann Israel das nicht, obwohl sie von gezielten Angriffen sprechen und davon, sich immer zu bemühen, die Zivilbevölkerung so gut wie möglich zu schützen?

Die Hisbollah hat sich mit ihren Angriffen auf Israel von Anfang an – also seit dem 8. Oktober 2023 – auf militärische Ziele konzentriert. Anfangs wurden auch Soldaten ausgespart. Inzwischen hat sich das geändert, es werden auch Militärbasen, Flughäfen und Ortschaften im Norden Israels – die Hisbollah spricht von Siedlungen im besetzten Palästina –, Armeeangehörige und Milizen attackiert. Jeder Eskalationsschritt folgte nach einer Eskalation  israelische Streitkräfte und wurde von der Hisbollah angekündigt. Die militärischen Ziele der Hisbollah waren, Israel zu einem Waffenstillstand in Gaza zu drängen. Ihre Angriffe sollten israelische Armeeeinheiten binden und militärische Infrastruktur zerstören. Der Preis für Israel sollte hochgetrieben werden.

Israel hielt sich anfangs weitgehend an dieses «Gleichgewicht». Doch allein die Menge von israelischen Angriffen auf Libanon machen deutlich, dass Israel mindestens vier Mal so viele Angriffe gegen Libanon durchgeführt hat, als umgekehrt. ACLED (Armed Conflict Location and Event Data), eine Gruppe in Grossbritannien, wertet die Angriffe beider Seiten über Satellitenaufnahmen aus. Ende September 2024 zeigten die Zahlen, dass 81 Prozent der Angriffe auf den Libanon von Israel ausgingen. Konkret: 8313 Angriffe gingen auf das Konto der israelischen Armee, 1901 auf das Konto der Hisbollah und ihrer Verbündeten. Im Libanon wurden bis zu dem Zeitpunkt 752 Personen getötet, einschliesslich Kämpfern. In Israel wurden 33 Tote gemeldet.¹

Natürlich könnte die israelische Armee Zivilisten und zivile Infrastruktur nicht angreifen, sie will es aber. Jeder Angriff wird mit Waffendepots oder Kommandozentralen der Hisbollah begründet, ohne einen Beweis vorzulegen. Bei «gezielten Tötungen» von Hisbollahangehörigen werden Häuser in Grund und Boden gebombt, um eine Person zu töten. Dabei werden Hunderte mitgetötet. Die Botschaft ist – und Netanyahu hat das auch gesagt: «Kämpft gegen die Hisbollah, dann werden wir euch in Ruhe lassen!» Das ist eine Aufforderung zum Bürgerkrieg.

Wenn man die Rechtfertigungen Israels für Angriffe auf Wohnhäuser in Beirut oder auch im Gaza-Streifen hört, müsste es also bei der Hamas oder der Hisbollah Hunderte von Kommandozentralen geben. Das ist doch ein Witz.

Es ist Krieg, und Israel und seine Verbündeten beherrschen die Medien und die Medienpropaganda. Mir ist unklar, ob Journalisten, die nicht vor Ort sind, das Geschehen dort wirklich intensiv verfolgen. Aber natürlich muss es Journalisten auffallen. Zumal Israel erklärt, das und das zerstört zu haben, und gleichzeitig wird der Norden Israels, auch Tel Aviv und Haifa, täglich von Hisbollah Drohnen und Raketen angegriffen.

Das Bombardieren von Banken, weil dort die Hisbollah vielleicht ein Konto hat, ist ungeheuerlich. Was sind das für Banken?

Diese Banken gehören zum Geldinstitut Qard al-Hassan, das in den 1980iger Jahren während des Bürgerkriegs von einem privaten Geschäftsmann gegründet wurde.  Es bot parallel zum offiziellen libanesischen Bankensystem der Bevölkerung die Möglichkeit, Geld zu erhalten, zu verschicken, Kredite zu bekommen. Nach dem Bankencrash im Libanon 2019 bekam das Bankhaus neue Bedeutung. Es vermittelt Kleinkredite an jeden, um Startkapital für ein kleines Geschäft, für Solarpanelen, den Kauf eines kleinen Generators oder für Heizöl zu erhalten. Der Kreditempfänger hinterlässt als Sicherheit meist Gold, das den Frauen bei der Hochzeit als Mitgift gegeben wird. Ist der Kredit abbezahlt – die Höhe der Rückzahlung kann der Kreditempfänger nach seinen eigenen Möglichkeiten bestimmen – wird das Gold zurückgegeben. 

Ich habe im Laufe der Jahre im Libanon zahlreiche Gesprächspartner getroffen, die auf diese Weise ihren Lebensstandard verbessern konnten, die meisten konnten sich so eine Solar-Anlage leisten, um die schlechte staatliche Stromversorgung auszugleichen. Im Libanon heisst es, dass die Kleinkredite die Widerstandskraft der ärmeren Bevölkerung stärken sollten, die unter grossen Mängeln zu leiden hat. Im Westen wird im Rahmen der Entwicklungshilfe das gleiche System von Minikrediten eingesetzt, um die «Resilienz» der Bevölkerung zu stärken.

Seit über einem Jahr führt Israel Krieg gegen die Hamas. Eine hochgerüstete Armee gegen eine Guerillaarmee. Ist das nicht schon eine Niederlage für Israel?

Israel hätte längst ein Ende des Krieges gegen die Palästinenser erklären können. Die Lebensgrundlagen sind auf Generationen hin verwüstet. Aber Netanyahu hat kein Interesse an Frieden. Er drängte nicht nur darauf, den Krieg gegen den Libanon auszuweiten, auch in Syrien wird angegriffen. Und ein Krieg gegen Iran ist das, worauf Netanyahu seit 30 Jahren hinarbeitet. Bisher gab es kein grünes Licht dafür von den USA, dem grossen Unterstützer Israels. Doch das Pentagon hat kürzlich ein Raketenabwehrsystem (THAAD) mit 100 Soldaten in Israel stationiert und die Entsendung von mehr Kriegsschiffen und B 52-Bombern in die Region angekündigt. 

Was geschieht gerade im Westjordanland?

Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich, ein rechtsrextremer religiöser Politiker, hat vor wenigen Tagen angekündigt, dass man nun die Annexion des Westjordanlandes vorbereiten werde. Er setzt auf den neu gewählten US-Präsidenten Donald Trump. Das bedeutet eine Ausweitung des Krieges, der dort schon täglich stattfindet. Die Siedler und die Besatzungstruppen gehen gegen die Palästinenser vor, wo sie können. Der israelische Staat hält Gelder für die palästinensische Autonomiebehörde zurück – es gibt so viele Arten der Repression gegen die Palästinenser im Westjordanland.

Kennen Sie die näheren Hintergründe für die Entlassung von Yoav Gallant, der schon einmal von Netanjahu herausgeworfen wurde? 

Yoav Gallant war vor dem Krieg ein politischer Konkurrent von Netanyahu, hatte sich aber nach dem 7. Oktober – wie auch Benny Gantz – dem Kriegskabinett angeschlossen. Beide suchten aktiv Kontakt und Gespräche mit der Biden-Administration und waren offen für einen Waffenstillstand, auch um die Geiseln frei zu bekommen. Gallant hatte wiederholt gefordert, den Krieg im Gaza-Streifen mit einem Waffenstillstand zumindest vorerst zu stoppen. Keine Armee hält zudem auf Dauer einen Krieg an sieben Fronten durch. Er reagierte damit sicherlich auch auf Stimmen aus der Armee, es sind ja im Laufe dieses Jahres zahlreiche Offiziere aus Armee und Geheimdienst zurückgetreten. Alle haben als Begründung ihre Verantwortung für den 7. Oktober genannt. Gallant forderte wiederholt eine offizielle Untersuchung der Geschehnisse am 7. Oktober 2023, was Netanyahu verweigert. Es gab Massendemonstrationen gegen Netanyahu nach der Entlassung von Gallant. Die Demonstranten forderten, dass Netanyahu zurücktreten müsse, anstatt Gallant zu entlassen. Ihm wird vorgeworfen, nur an seinem Amt und an seiner rechtsextremen Koalition festzuhalten, er führe das Land in den Abgrund. Netanyahu zeigt sich unbeeindruckt. Er scheint überzeugt, mit dem neuen US-Präsidenten Trump auf der Siegerspur zu sein. Für die Region bedeutet das noch mehr Krieg.

Was ist vom neuen Verteidigungsminister zu erwarten?

Anders als Gallant ist Israel Katz kein Militär, wohl aber ein Hardliner. Katz war Aussenminister und hat sich mit äusserst harten und undiplomatischen Äusserungen hervorgetan. Er rief schon früh nach einer Invasion in den Libanon und forderte unmittelbar nach seiner Ernennung zum Verteidigungsminister, dass jetzt ein guter Zeitpunkt für einen Krieg gegen den Iran sei. Katz wird tun, was Netanyahu von ihm will.

Baerbock brüstet sich damit, Israel auf die Einhaltung des Völkerrechts zu verpflichten. Ist das Bündnis mit Israel immer noch ungebrochen?

Fest an der Seite Israels, das ist deutsche Staatsräson. Wie Sie wissen, ist Deutschland ja der zweitgrösste Waffenlieferant an Israel nach den USA. Und innenpolitisch wird eine erhebliche Repression gegen Palästinenser, Araber und Unterstützer der palästinensischen Sache durchgesetzt. Begründung: Die Kritiker Israels und seiner brutalen, illegalen Kriegsführung seien «anti-semitisch» (Aufgeklärte wissen, dass Araber Semiten sind).

Zwar hört man in den Medien zunehmend auch kritische Stimmen zu dem Begriff «Staatsräson», doch ist das vermutlich nur, weil man gemerkt hat, dass Deutschland massiv an Ansehen in der arabischen Welt verloren hat. Frau Baerbock «steht auf den Schultern von Madeleine Albright», wie Baerbock selber einmal sagte. Und so wie Albright den Tod von 500 000 Kindern im Irak aufgrund von Uno-Sanktionen, auf denen die USA beharrten, für richtig hielt, so sagte Frau Baerbock, dass Israel bei seiner Selbstverteidigung den terroristischen Gegner auch «zerstören» dürfe.

Bei einer Debatte im Deutschen Bundestag am 10. Oktober 2023 sagte Baerbock, dass das Recht auf Selbstverteidigung des israelischen Staates im Gaza-Krieg nicht nur bedeute, «Terroristen anzugreifen, sondern auch, sie zu zerstören». Wenn die «Hamas-Terroristen» sich hinter der Bevölkerung versteckten, hinter Schulen, so Baerbock, «dann verlieren zivile Orte ihren Schutzstatus, denn Terroristen missbrauchen ihn». Francesca Albanese, die Uno-Sonderberichterstatterin für die Einhaltung der Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten, reagierte scharf darauf und erklärte, die Ministerin solle Beweise für Ihre Behauptungen vorlegen, dass die Angriffe Israels (auf Schulen, Krankenhäuser und Notunterkünfte) legal seien. Sie wies darauf hin, dass die politische Entscheidung Deutschlands, sich mit einem Staat zu verbünden, der internationale Verbrechen begehe, rechtliche Folgen habe. Sie hoffe, «dass sich die Gerechtigkeit durchsetzt, wenn Politik auf so widerliche (abstossende) Weise versagt».²

Frau Leukefeld, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ www.aljazeera.com/news/2024/9/24/israel-attacks-lebanon-in-maps-and-charts-live-tracker

² www.palestinechronicle.com/legal-implications-un-rapporteur-slams-germanys-support-for-israels-actions-in-gaza/

veröffentlicht am 23. November 2024

Westsahara: Wirtschaftliche und geopolitische Rendite vor Völkerrecht

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

2025 jährt sich die völkerrechtswidrige Besetzung der Westsahara durch das Königreich Marokko zum 50. Mal. Marokko verweigert dem Volk der Sahraouis das Recht auf Selbstbestimmung¹ und das Recht auf die Nutzung der Ressourcen ihres Heimatlandes. Dabei spielen westliche Staaten – oft ehemalige Kolonisatoren – eine unrühmliche Rolle. Statt von Marokko die Einhaltung des Völkerrechtes, der zahlreichen Uno-Resolutionen und der Urteile des Europäischen Gerichtshofes zur Westsahara konsequent einzufordern, kungeln westliche Staaten mit Marokko und ziehen daraus wirtschaftlich und politisch Profite.

 

Über die bedrückenden Lebensbedingungen der Sahraouis unter marokkanischer Besatzung ist in der westlichen Welt nur wenig zu hören. Vergleichbar sind diese mit der Situation im palästinensischen Westjordanland. Auch das marokkanische Königshaus versucht über einen völkerrechtswidrigen Siedlerkolonialismus, sich das Heimatland eines anderen Volkes einzuverleiben. Hier wie dort willkürliche Inhaftierungen, schlimmste Haftbedingungen und Gerichtsurteile ohne jegliche Beweise. Landwirtschaftliche Produkte aus der besetzten Westsahara mit dem Etikett «Marokko» sowie Medjoul Datteln aus dem palästinensischen Jordan Valley etikettiert mit «Israel», schweizerische Grossverteiler stört das nicht. «Pecunia non olet» (Geld stinkt nicht), so ein lateinisches Sprichwort.

Gegen Selbstbestimmungsrecht und Völkerrecht

«Werteorientierte» westliche Staatschefs haben keinerlei Probleme mit der völkerrechtswidrigen Besetzung der Westsahara. Während sie Russland, China, Korea, Kuba und Venezuela mit Menschenrechts- und Demokratiepredigten kujonieren und mit völkerrechtswidrigen Sanktionen drangsalieren, gilt für Marokko das Drei-Affen-Prinzip: Man sieht, hört und sagt nichts! Wenn politisch oder pekuniär Vorteile winken, hofiert man Mohammed VI. und wallfahrtet ins marokkanische Königshaus, um dort zu kungeln.

Der marokkanische Autonomieplan. . .

1991 hatte Marokko und die sahraouische Frente Polisario den Friedensplan der Uno und der Organisation Afrikanischer Staaten unterzeichnet, der für 1992 vorsah, dass das sahraouische Volk über die Zukunft der Westsahara abstimmen sollte. Diese Volksabstimmung wurde seither von Marokko immer wieder verhindert und hintertrieben, so auch 2007 mit der Präsentation eines marokkanischen Autonomieplanes für eine Westsahara unter marokkanischer Herrschaft. 

. . . ein Schmierenstück, hoffähig gemacht von den USA, Spanien und Israel

2020 anerkannte US-Präsident Trump die Westsahara als Teil Marokkos. Dieser völkerrechtswidrige Deal kam zustande, weil Marokko als «Morgengabe» im Rahmen der «Abraham-Abkommen» seine Beziehungen zu Israel normalisierte. Seit 2022 unterstützt auch Spanien den Autonomieplan. 2023 einigten sich Israel und Marokko: Anerkennung der marokkanischen Autonomie in der Westsahara versus keinerlei Unterstützung für Palästina.

Auch Macron kungelt . . .

Ende Juli 2024 wurde öffentlich, dass Frankreich den marokkanischen Autonomieplan unterstützt, der das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Beschlüsse der Uno und des Europäischen Gerichtshofes zur Westsahara missachtet, was von Algerien und der Exilregierung der Sahraouis, der DARS (Demokratischen Arabischen Republik Sahara), aufs Schärfste verurteilt wird.  

. . . ein völkerrechtswidriges Präsent zum Geburtstag

Zum 25. Jahrestag der Thronbesteigung erhielt der marokkanische König einen persönlichen Brief von Präsident Macron mit folgender Passage: «Insbesondere wird Frankreich weiterhin die Aufrichtigkeit seiner Freundschaft zu Marokko und die Wirksamkeit seiner Partnerschaft mit Marokko in einer klaren und starken Position zu den für Ihre Majestät und die Marokkaner wesentlichsten Fragen verankern. In diesem Zusammenhang bin ich der Ansicht, dass die Gegenwart und die Zukunft der Westsahara im Rahmen der marokkanischen Souveränität liegen. Daher bestätige ich Ihnen die Unantastbarkeit der französischen Position zu diesem Thema der nationalen Sicherheit Ihres Königreiches. Frankreich beabsichtigt, auf nationaler und internationaler Ebene im Einklang mit dieser Position zu handeln. Für Frankreich ist die Autonomie unter marokkanischer Souveränität der Rahmen, in dem diese Frage gelöst werden muss. Unsere Unterstützung für den von Marokko 2007 vorgeschlagenen Autonomieplan ist klar und beständig. Für Frankreich stellt dieser nun die einzige Grundlage für eine gerechte, dauerhafte und ausgehandelte politische Lösung im Einklang mit den Resolutionen des Uno-Sicherheitsrats dar.»² In Tat und Wahrheit steht der marokkanische Autonomieplan in diametralem Gegensatz zu den Resolutionen des Uno-Sicherheitsrates.

. . . Mohammed VI jubiliert

Am 31. Juli 2024 veröffentlichte das marokkanische Aussenministerium die Antwort des Königs auf das inoffizielle Schreiben Macrons, das folgende Passage enthielt: «Ich freue mich insbesondere über die klare und starke Position, die Frankreich in Ihrer Botschaft zur marokkanischen Sahara einnimmt. Ich schätze die klare Unterstützung Ihres Landes für die Souveränität Marokkos über diesen Teil seines Territoriums und die Entschlossenheit, mit der Frankreich die Autonomie unter marokkanischer Souveränität als Ausweg aus diesem regionalen Streit unterstützt und damit den von Marokko bereits 2007 vorgeschlagenen Plan als einzige Grundlage für die Erreichung dieses Ziels festschreibt, sehr.»³

Geharnischter Einspruch der DARS und Algeriens

Am 1. August 2024 erfolgte der geharnischte Einspruch der DARS gegen Macrons Verneinung des Selbstbestimmungsrechtes des sahraouischen Volkes. In ihrer Presseerklärung zitierte die DARS aus dem Brief des französischen Abgeordneten Jean-Paul Lecoq an Macron, der die Zustimmung zum Autonomieplan, die «das ­Ansehen Frankreichs in der Welt verzerrt und unsere Demokratie zerstört», als «prokolonial» bezeichnet. «Aus Sorge um die Achtung der Menschenwürde, des Völkerrechts und des Ansehens Frankreichs verurteile ich diese Haltung des Präsidenten der Republik, die im Widerspruch zur Charta der Vereinten Nationen steht, insbesondere in dem Teil, der sich auf den Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker bezieht.»⁴

Als Reaktion auf Macrons Brief rief Algerien den Botschafter aus Frankreich zurück. Algérie patriotique charakterisierte am 30. Juli 2024 die Lage der Sahraouis in der Westsahara: «Eine lokale Bevölkerung, die unter der Unterdrückung durch das Folterregime in Rabat leidet und ihre Unabhängigkeit fordert. Doch der französische Präsident, der sich nach der Kolonialzeit sehnt, ist taub und blind für diese beiden Realitäten, die ihm und seinem Freund, dem König, um die Ohren fliegen werden.» 

Macron auf Staatsbesuch in Marokko

Bei seinem Auftritt vor dem marokkanischen Parlament in Rabat am 29. Oktober 2024 betonte Macron die neu vereinbarte «verstärkte Ausnahmepartnerschaft» mit dem marokkanischen Königshaus, die unter anderem «die illegale Einwanderung» verhindern sowie die Rückführung illegaler Einwanderer erleichtern soll. Macron betrachtet Marokko als «ein sicheres Land», das «eine gewisse Anzahl von Rückübernahmen beschleunigen» könnte. Auch vor dem Parlament bekräftigte Macron – kräftigst beklatscht – seine Unterstützung des marokkanischen Autonomieplanes.⁵ 

Wirtschaftliche und geopolitische Interessen haben in den «regelbasierten» westlichen Staaten oberste Priorität. Menschenrechte und Völkerrecht sind vernachlässigbar, so auch für Frankreich. Marokko, «eine der am schnellsten aufsteigenden Volkswirtschaften Afrikas», hat als Handelspartner zwischen Europa und Afrika an Bedeutung gewonnen. Der französische Ökonom, Christian de Boissieu, hatte daher der marokkanischen Regierung empfohlen «auf zwei Beinen, Europa und Afrika» zu gehen, da Afrika «der Kontinent des XXI. Jahrhunderts» sei. Im Maghreb sei nur Marokko fähig, eine panafrikanische Strategie zu entwickeln. «Klarer kann die französische Vision von Marokko als einer euro-afrikanischen Scharniermacht wohl kaum formuliert werden», so der deutsche Politikwissenschaftler Werner Ruf.⁶ ν

 

¹ Uno Resolution 1514 von 1960

² TELQUEL, Le 30 Juillet 2024, La lettre d’Emmanuel Macron à Mohammed VI

³ Royaume du Maroc, Ministère des Affaires Etrangères, 31 Juillet 2024

⁴ Sahara Press Service, RASD, Paris, August 01, 2024

⁵ Le Monde, 29. Oktober 2024,

⁶ Westsahara Afrikas letzte Kolonie, Judit Tavakoli, Manfred O. Hinz, Werner Ruf und Leonie Gaiser (Hrsg.), Berlin 2021.

 

Zur Geschichte der Westsahara

hhg. Die Westsahara mit ihren riesigen Phosphatvorkommen und ergiebigen Fischgründen vor ihrer 1110 km langen Atlantikküste war seit der Berliner Kongokonferenz von 1885 spanische Kolonie. 1960 entschieden die Vereinten Nationen, dass alle kolonisierten Länder und Völker das Recht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung haben, so auch die Sahraouis in der spanischen Kolonie Spanisch-Sahara, der heutigen Westsahara. 1975 zog sich Spanien aus der Westsahara zurück, die daraufhin von Marokko und Mauretanien mit Waffengewalt besetzt wurde. Viele der Sahraouis flohen in die algerische Sahara, wo sie bis heute in Flüchtlingslagern leben, während die sahraouische Widerstandsarmee Frente Polisario gegen die Besatzer kämpfte. 1979 verzichtete Mauretanien auf seine Ansprüche auf die Westsahara zugunsten der Sahraouis. 

1991 vermittelte die Uno einen Waffenstillstand zwischen Marokko und der Frente Polisario, unter der Bedingung, dass die Sahraouis unter Aufsicht der Uno darüber abstimmen können, ob die Westsahara unabhängig werden soll, oder ob sie in das Königreich Marokko integriert wird. Seit 1991 warten die Sahraouis in der besetzten Westsahara und in den Flüchtlingslagern in der algerischen Sahara auf die von der Uno versprochene Volksabstimmung über die Zukunft ihres Landes, die von Marokko bis heute hintertrieben wird.

 

veröffentlicht am 23. November 2024

Deutsche Kriegspolitik: Wou issn is Hirn? – Wo ist denn sein Gehirn?

Boris Pistorius: «Wir müssen kriegstüchtig werden»

von Dr. Stefan Nold*

«Kriegstüchtig» müssten wir werden, fordert einer unserer Minister, den man konsequenterweise dann auch als «Kriegsminister» bezeichnen sollte.¹ Kriegstüchtig, was ist das? Verkehrstüchtig ist, wer sich und sein Fahrzeug unfallfrei nach Hause bringt. Wenn der eigene Sohn in den Krieg zieht, denken die Eltern nur eins: «Hauptsache, er kommt heil zurück.»

Richard Timberlake war im Zweiten Weltkrieg Copilot auf einem B-17 Bomber und wurde bei einem Einsatz über Deutschland verwundet. Später war er in den USA ein bekannter Wirtschaftsprofessor. Über seine Zeit als Soldat hat er ein Buch geschrieben. Tenor: Im Krieg war das wichtigste Ziel von Dick Timberlake, das Leben von Dick Timberlake zu erhalten.2/ 3 Er zitiert Arthur Hoppe, einen Journalisten des San Francisco Chronicle: «Ich glaube, es gab im Zweiten  Weltkrieg ein paar, die für Freiheit und Demokratie gekämpft haben, aber während meiner drei Jahre in der Navy habe ich keinen davon getroffen. Wir haben gekämpft, um am Leben zu bleiben. Das ist der wahre Schrecken des Krieges.» In den letzten Kriegswochen sollte mein Vater beim Einschiessen der Artillerie nach vorne gehen, um die Position der Einschläge zurück an die Geschützstellung zu funken. Er berichtet: «Als mein Feldwebel zu einem unserer Panzer ging, die sich vorne gut versteckt hatten und sagte, was wir vorhatten, meinte der Kommandant: ‹Ihr seid wohl verrückt geworden. Wir haben uns hier verständigt, tun uns gegenseitig nicht weh und warten das Ende des Krieges ab. Es ist eh bald alles vorbei.› Man einigte sich darauf, beim Einschiessen ein wenig so zu tun als ob. Der Feldwebel und der Kommandant waren erfahrene Leute, ‹kriegstüchtig› im besten Sinne des Wortes. Während dessen tobte 100 Kilometer entfernt die Schlacht um Wien mit circa 75 000 Toten und 150 000 Verwundeten auf beiden Seiten innerhalb eines Monats.»

Verluste möglichst gering halten

«Kriegstüchtig» zu sein, heisst zuallererst, seinen Verstand zu gebrauchen und keine sinnlosen und unnötigen Risiken einzugehen. Das gilt vor allem für die Führung. Mit Feigheit hat das nichts zu tun. Dwight D. Eisenhower war der Oberkommandierende der Alliierten bei der Landung in der Normandie. Er wusste genau, dass dabei viele Menschen ums Leben kommen würden, aber er hat mit sorgfältiger Planung und ungeheurem Materialeinsatz alles dafür getan, um die Verluste seiner Leute so gering wie möglich zu halten. Später, in seiner Abschiedsrede als US-Präsident hat er eindringlich vor den Gefahren des «militärisch-industriellen Komplexes»⁴ gewarnt. 

Merz: Ultimatum an Russland

Vor kurzem hat Friedrich Merz, Spitzenkandidat der CDU bei der nächsten Wahl, gesagt, er würde als Kanzler Russland ein 24-Stunden-Ultimatum stellen: Entweder sofortige Einstellung der Kämpfe oder Deutschland liefert Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine⁵ zusammen mit den Geodaten,⁶ um damit Ziele tief in Russland treffen zu können, «nicht nur Ölraffinerien, sondern Ministerien», wie sein Kollege Kiesewetter im Februar bereits gefordert hatte.⁷ Auf Antenne Bayern gibt es die Serie «Metzgerei Boggnsagg»⁸, die immer mit dem Wortwechsel schliesst: «Wou issn is Hirn?» – «Da wo‘s hi ghört.» In der CDU scheint das heute nicht mehr der Fall zu sein.

Nur gemeinsam mit Russland

1993 war Helmut Kohl zu Besuch in St. Petersburg und sprach mit dem Bürgermeister. Wladimir Putin, damals dessen Vize, war dabei und erinnerte kürzlich an Kohls Worte bei diesem Treffen: «Wenn Europa ein unabhängiges Zentrum der globalen Zivilisation bleiben möchte, geht das nur gemeinsam mit Russland. Wir müssen unsere Kräfte bündeln.»⁹ Horst Teltschik, Kohls Chef der aussen- und sicherheitspolitischen Abteilung, hat über diese Zeit gesagt: «Die damaligen Politiker haben alles getan, um ein wechselseitiges Vertrauensverhältnis aufzubauen.»10 Heute reden deutsche Generäle über die Zerstörung der Krimbrücke,11 wollen deutsche Politiker Ministerien in Moskau angreifen. Dann sind wir laut Putin im Krieg mit Russland.12 Die Taurus können wir selbst liefern, Franzosen und Briten benötigen für ihre Raketen die Zustimmung der USA – und die ist derzeit mehr als fraglich. Wir wären also allein und nicht durch Artikel 5 des Nato-Vertrags geschützt. Russlands Antwort wäre wohl «symmetrisch»: Raffinerie für Raffinerie, Ministerium für Ministerium, Brücke für Brücke, «Auge um Auge, Zahn um Zahn, … Brandmal um Brandmal» (2. Mose 21,24). Wozu das – noch dazu im Alleingang? Soll nach der Ukraine auch Deutschland zerstört werden?

Ein Wink mit dem Zaunpfahl

Es kann noch schlimmer kommen. Was ist, wenn die Ukraine wie angekündigt die Bombe baut?13 Vor kurzem hat Moskau seine nukleare Triade getestet. Man sah, wie jemand ein Kommando entgegen nimmt: «Bestätige, Befehl erhalten! Paarweise Übertragung des Befehls an die Abschussrampe … Überprüfung der eingegebenen Daten auf Korrektheit. Daten korrekt. Achtung Start.» Dann drückt jemand eine rote Taste.14 Mit dramatischer Musik unterlegt, sieht man, wie eine Interkontinentalrakete in einem gewaltigen Feuerschwall abhebt, sieht eine andere Rakete aus dem Meer hochsteigen und die nächtliche Landung eines Atom-Bombers. Eine Choreographie des Todes wie aus dem Kubrick-Film «Dr. Seltsam» – nur in echt.15 Versteht bei uns niemand diesen Hinweis mit dem Zaunpfahl? Vor einem Jahr hatte ich Boris Pistorius in einem Brief eindringlich davor gewarnt, Taurus-Raketen an die Ukraine zu liefern.16 Bislang hat Scholz dem Druck der Kriegstreiber standgehalten und das nicht gemacht. Aber auch die SPD ist – ebenso wie CDU, Grüne und FDP – bereit, Wohlstand, Renten, Sozialsystem, Staatsfinanzen, Infrastruktur und ökologische Wende (war da was?) für einen Krieg mit Russland zu ruinieren. «Wou issn is Hirn?» – «Hirn is aus. Kommt vorerst nicht wieder rein.» 

* Stefan Nold, Jahrgang 1959, 1x Ehemann, 3x Vater, 5x Grossvater, studierte Elektrotechnik und promovierte an der TH Darmstadt. 1985 bis 1990: KSB Pumpen, Frankenthal, 1991 Gründung des Ingenieurbüros SOFT CONTROL GmbH Automatisierungstechnik, Darmstadt. Aktivist und Mitbegründer erfolgreicher lokaler Bürgerinitiativen. 2 Bücher: 2012: «Beerdigung, Reifenwechsel, Hochzeit» (2012) Justus von Liebig Verlag, Darmstadt;  «Kein Frieden – keine Zukunft. Schlagt Brücken und Versteht eure Feinde» (2024) Open Source. Download: https://overton-magazin.de/wp-content/uploads/2024/07/Nold-KeinFriedenKeineZukunft-24720sN.pdf

 

¹ Pistorius, Boris (10.11.2023) Rede auf der jährlichen Bundeswehrtagung: Berlin.https://www.zdf.de/nachrichten/heute-in-deutschland/bundeswehr-muss-kriegstuechtig-werden-100.html Minute 0:0:15 – 0:0:20. ZDF: Mainz.

² Timberlake, Richard (2002) They never saw me then. Xlibris: Bloomington (USA) zitiert nach [3]

³ Henderson, David R.(11.11.2024) A veteran‘s day tribute. Antiwar.com (Division of Randolph Bourne Institute: Redwood CA (USA) https://original.antiwar.com/henderson/2024/11/11/a-veterans-day-tribute-2/ Zitat im Original: «I suppose there were a few in World War II who were fighting for freedom or democracy, but in my three years in the Navy I never met one of them. … We were fighting to stay alive. And that is the true horror of war.»

⁴ Eisenhower, Dwight D. (17.01.1961) Farewell address. Final TV Talk 1/17/61 (1), Box 38, Speech Series, Papers of Dwight D. Eisenhower as President, 1953-61, Eisenhower Library. www.archives.gov/milestone-documents/president-dwight-d-eisenhowers-farewell-address National Archives and Records Administration (NARA): College Park, MD (USA)

⁵ Merz Friedrich (12.11.2024) Interview mit dem Stern zitiert nach: Markus Klöckner: Mehr Waffen, Aufrüstung und Abschreckung: Was CDU-Chef Merz als Kanzler für den Ukraine-Krieg bedeuten würde. Die Weltwoche: CH-Zollikon. weltwoche.de/daily/mehr-waffen-aufruestung-und-abschreckung-was-cdu-chef-merz-als-kanzler-fuer-den-ukraine-krieg-bedeuten-wuer-de/

⁶ Hegmann, Gerhard (30.09.2021) Zentimetergenaue Geodaten: Diese Karten der Bundeswehr identifizieren Putins Riesenreich exakt wie nie. www.welt.de/wirtschaft/plus234119738/Bundeswehr-bestellt-hochaufloesende-Russlandkarten.html Die Welt: Hamburg,

⁷ Kiesewetter, Roderich (09.02.2024) Gespräch mit Katja Theise. Kiesewetter: Den Krieg nach Russland tragen. www.dw.com/de/kiesewetter-den-krieg-nach-russland-tragen/a-68215200 Deutsche Welle: Bonn.

⁸ Regenauer, Bernd (1997) Metzgerei Boggnssagg. Antenne Bayern: Ismaning. Video-Clip siehe z.B: www.youtube.com/watch?v=f_K-4pFX1Mg

⁹ Putin, Wladimir (07.11.2024) Valdai Club Discussion Meeting, Sochi: «I will indulge in recalling a conversation with former Chancellor Kohl in 1993, when I chanced to be present during his conversation with the then mayor of St Petersburg. I had not forgotten my German then and acted as the interpreter... Unexpectedly, Kohl said that the future of Europe, if it wanted to remain an independent centre of the global civilisation, could only be together with Russia, that we must join our efforts. My jaw dropped. He went on in the same spirit… » http://en.kremlin.ru/events/president/news/75521 The President of Russia; Moscow.

10 Teltschik, Horst (25.06.2019) im Gespräch mit Florian Rötzer. Bericht: Bulgan Molor-Erdene (23.07.2019) «Völker vergessen Geschichte nicht» www.heise.de/tp/features/Voelker-vergessen-Geschichte-nicht-4477016.html Minute 23:46-23:51. Heise Medien GmbH & Co KG: Hannover. Anmerkung: Dieses Gespräch sollte sich jeder anhören, der wissen will, was die deutsche Einheit möglich gemacht hat und was wir tun sollten, um den gegenwärtigen Konflikt mit Russland friedlich zu lösen.

11 Maier, Michael (01.03.2024) Brisanter Audio-Mitschnitt: Taurus-Raketen für Angriff auf Krim-Brücke? www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/brisanter-audio-mitschnitt-taurus-raketen-fuer-angriff-auf-krim-bruecke-li.2192733 Berliner Zeitung: Berlin

12 Putin, Wladimir (12.09.2024) St. Petersburg. Answer to a media question. Question: .. we have been hearing statements at a very high level in the UK and the United States that the Kiev regime will be allowed to strike targets deep inside Russia using Western long-range weapons. … Could you comment on what is going on? Answer: ... the key point is that only Nato military personnel can assign flight missions to these missile systems. Ukrainian servicemen cannot do this. If this decision is made, …it will mean that Nato countries– the United States and European countries – are at war with Russia. And if this is the case, then, … we will make appropriate decisions in response to the threats that will be posed to us. http://en.kremlin.ru/events/president/news/75092 The President of Russia: Moscow.

13 Meldung zum Nato-Gipfel in Brüssel (18.10.2024) Beitritt oder Atomwaffen – Ukraine stellt Nato Ultimatum. www.focus.de/politik/Nato-beitritt-fuer-die-ukraine-selenskyj-droht-mit-atomwaffen-bei-ablehnung_id_260404163.html Focus / Burda Forward GmbH: München.

14 RT (30.10.2024) Nuklear-Manöver: Russische Streitkräfte starten Interkontinentalraketen. https://dert.site/kurzclips/video/224156-nuklear-manoever-russische-streitkraefte-starten/ TV-Novosti: Moskau.

15 Kubrick, Stanley (1964) Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben (Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb). Stanley Kubrick: GB, USA.

16 Nold, Stefan (16.09.2023) Glasige Augen. Brief an den Verteidigungsminister. Aus: Kein Frieden – keine Zukunft. Schlagt Brücken und versteht eure Feinde. Kapitel III.5, S. 55. Stefan Nold: Darmstadt. (Open Source) https://overton-magazin.de/wp-content/uploads/2024/07/Nold-KeinFriedenKeineZukunft-24720sN.pdf

veröffentlicht am 23. November 2024

«Lesestadt Aadorf»

Das Kulturgut Buch und das Lesen wieder ins Zentrum rücken

Interview mit Peter Bühler*

Peter Bühler (Bild zvg)
Peter Bühler (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Die Resultate der PISA-Studie 2022 im Bereich Lesen haben der Schweiz kein gutes Zeugnis ausgestellt. Jeder vierte Jugendliche ist am Ende der obligatorischen Schulzeit nicht in der Lage, einen einfachen Text zu verstehen. Mit der Genossenschaft «bücherchorb.ch» und dem Projekt «Lesestadt Aadorf», das Sie kürzlich mitinitiert haben, wollen Sie dem Kulturgut Buch und dem Lesen in der Gemeinde wieder mehr Bedeutung geben. Was haben Sie 2020 unternommen, als die Aadorfer Buchhandlung vor dem Aus stand?

Peter Bühler Als die Schliessung der Buchhandlung publik wurde, sagte der damalige Aadorfer Gewerbepräsident Paul Lüthi: «Das kann es nicht sein, ein Buchladen gehört zum Kulturgut, den müssen wir behalten.» Er überzeugte Aadorfer Gewerbler, die kurzerhand ein Initiativkommitee auf die Beine stellten. Dank einer beispiellosen Solidarität gelang es, das erforderliche Startkapital zur Gründung der Genossenschaft «buecherchorb.ch» in nur wenigen Wochen zusammenzutragen. Bereits vier Wochen später, am 13. November 2020, konnten wir das neu gestaltete Ladenlokal eröffnen. 

Das ist ja ein beachtlicher Erfolg …

Ja, das ist klassisches Unternehmertum. Wir haben gemerkt, dass der Rückhalt in der Bevölkerung gut ist. Die Leute wollten nicht, dass der Buchladen aus Aadorf verschwindet, wenigstens die Leseratten und alle dem Buch und dem Lesen zugewandte Personen. Wir haben mit viel Euphorie gestartet, und dann wurden im Dezember 2020 die Covid-19 Massnahmen wieder verschärft! Wir mussten eine Weile schliessen, konnten aber nicht von den verschiedenen staatlichen Härtefall-Unterstützungsprogrammen profitieren, da die Genossenschaft erst im November gegründet worden war. Die Anfangsphase war sehr turbulent; viel Zeit musste aufgewendet werden – natürlich alles ohne Entschädigung –, damit das Projekt zum Laufen kam. Unterdessen sind wir etwa bei 95 Prozent des notwendigen Umsatzes, um erfolgreich zu sein. Uns fehlen also noch die letzten 5 Prozent. Erwiesenermassen sind das die schwierigsten. Wir versuchen auf verschiedene Art den Leuten klar zu machen, dass Orell-Füssli nicht billiger ist, dass es sich lohnt, die lokale Buchhandlung zu berücksichtigen. «buecherchorb.ch» bietet auch einen online-Bestellservice an. Wir bauen die Zusammenarbeit mit Schulen und Bibliotheken in der Umgebung aus. Den Firmen schlagen wir vor, dieses Jahr den Mitarbeitern als Dankeschön ein Buch zu schenken. Wir organisieren auch in Zusammenarbeit mit der Bibliothek Autorenlesungen. Bewährt hat sich auf jeden Fall, dass wir eine Genossenschaft sind.

Inwiefern? Weshalb haben Sie diese Organisationsform gewählt?

Ich kenne diese Form sehr gut, da ich 27 Jahre hier im Ort die Raiffeisenbank geleitet und geführt habe, die auch eine Genossenschaft ist. Eine Genossenschaft hat grosse ideelle Vorteile: Man kann die interessierten Kreise beteiligen, alle können zum Beispiel Mitglied werden. Es ist eine sehr soziale Organisationsform, da jedes Mitglied eine Stimme hat, egal ob es fünf oder zehn Anteile besitzt. Die Genossenschaft entspricht der direkten Demokratie, sie ist eine klassisch schweizerische Form. Zudem kann eine Genossenschaft nicht so einfach übernommen werden wie eine Aktiengesellschaft (AG). Bei einer AG muss man nur ein dickes Portemonnaie haben und denjenigen mit der Aktienmehrheit gewinnen. Das geht bei einer Genossenschaft nicht. Man muss die Hälfte der Mitglieder überzeugen. Das würde ziemlich viel kosten. Raiffeisenbanken wurden nie übernommen. Wir haben uns nur innerhalb von Raiffeisen zusammengeschlossen. Eine weitere positive Erfahrung mit der Organisationsform der Genossenschaft habe ich mit der Hinterthurgauer Lokalzeitung REGI Die Neue gemacht. Nach Verkauf der alten «Regi» an die Thurgauer Zeitung, schlug ich vor, für das neue Lokalblatt REGI Die Neue eine Genossenschaft zu gründen, damit sie nicht mehr so einfach übernommen werden konnte. Das hat sich extrem bewährt.

Im Buchladen helfen Mitarbeiter auch unentgeltlich mit. Sind das vor allem Genossenschafter, die einen Beitrag zum Überleben des Buchladens leisten?

Ja, die meisten sind Genossenschafter, nicht ganz alle. Es sind wirklich Leute, die entweder sehr nahe am Buch oder im klassischen Sinne gemeinnützig eingestellt sind. Sie wollen aus inneren Herzensgründen der Gesellschaft etwas zurückgeben. Das ist wirklich schön. Mich als Unternehmer beunruhigt das allerdings etwas, dass wir Freiwillige auch nach 3 Jahren immer noch brauchen, damit das Gesamtsystem funktioniert. Im Gegensatz zu einem Verein, sind wir doch eine kommerzielle Unternehmung. Ein gesunder Betrieb sollte auch unabhängig von freiwilligen Helfern überlebensfähig sein. Das wäre eine solidere Grundlage.

Im Zeitalter der Digitalisierung kämpfen viele kleine Buchläden ums Überleben. Selbst am Gymnasium gibt es immer weniger Leseratten, die auch in der Freizeit Bücher lesen. Auf den «sozialen Medien» präsent zu sein hat Vorrang. Worin liegt für Sie der Mehrwert des Lesens von Büchern?

Dass viele nicht mehr lesen, ist eine extreme Verarmung. Wenn man ein Buch liest, macht man sich doch innere Bilder von den Figuren, von der Umgebung. Ich war zum Beispiel immer enttäuscht, wenn ich nach der Lektüre eines Buches dessen Verfilmung anschaute, weil ich mir die Personen ganz anders vorgestellt hatte. Lesen fördert das Vorstellungsvermögen, die Sprach­kompetenz, das Einfühlungsvermögen und das Wissen. Wer nicht liest, macht dieses Erlebnis nicht. Das war einer der Gründe, weshalb wir das Projekt «Lesestadt Aadorf» angestossen haben.

Können Sie dieses Projekt und dessen Entstehung genauer beschreiben?

An einer Verwaltungsratssitzung der Genossenschaft «büecherchorb.ch» schlug Paul Lüthi, ehemaliger Präsident des Aadorfer Gewerbevereins und heutiger Verwaltungsrat der Genossenschaft «buecherchorb.ch», vor, etwas für die Leseförderung in der Gemeinde zu unternehmen. Wir sagten uns, es gibt das Label «Energiestadt», warum also nicht auch ein Label «Lesestadt» ins Leben rufen? Eine Gruppe um Lüthi befasste sich mit der Ausarbeitung einer Projektskizze. Im Zentrum soll zum Beispiel eine Literatur- und Lesewoche stehen: eine Lesenacht, Autorenlesungen, auch Handwerkliches zum Buchdruck und weitere Aktionen, wie «Aadorf liest ein Buch», sind erste Ideen. Das Label «Lesestadt Aadorf» verpflichtet natürlich auch dazu, das Kulturgut Buch und das Lesen zu hegen und zu pflegen. Wir wollen auch die Gemeinde, die Schulen, die Bibliothek und das Gewerbe mit ins Boot holen. Der Zufall wollte es, dass eine andere Genossenschaft, der örtliche Kabelnetzbetreiber Agla, verkauft wurde. Die Genossenschafter entschieden, das noch vorhandene Eigenkapital für gemeinnützige Projekte innerhalb der Gemeinde Aadorf zur Verfügung zu stellen. Wir reichten unsere Projektskizze «Lesestadt Aadorf» ein und erhielten eine Kostengutsprache von 25 000 Franken. Diesen Vorschuss sehen wir natürlich als Verpflichtung. Am 30. September stellten wir das Projekt der Öffentlichkeit vor, es kamen rund 50 interessierte Personen. Am 20. November ist die Gründung eines Vereins geplant, der das Projekt ausgestalten und koordinieren wird.

Wie stellen Sie sich den Einbezug der Schule vor?

Um die Freude am Lesen auch bei Kindern und Jugendlichen zu fördern, muss das Lesen wieder mehr thematisiert werden. So wie es einen Sporttag, einen Tag der Musik oder einen Waldputztag gibt. Eine Lesewoche ist eine Möglichkeit. Man könnte das Leseprojekt auch verbinden mit der Challenge einer «digital free week». Ich habe die Erfahrung kürzlich in den Ferien gemacht. Am ersten Tag streikte mein Handy, nichts ging mehr. Am Anfang dachte ich: «Um Himmelswillen», doch dann schrieb ich ein Mail an meine Kontakte, um ihnen mitzuteilen, dass ich im Moment nur auf diesem Weg erreichbar sei. Schwierig war der Tag eins, Tag zwei fand ich schon sehr schön und am Tag drei sagte ich mir: «So war es doch früher.» Ich entschied spontan, das Handy nicht sofort zur Reparatur zu bringen, so angenehm war es, nicht rund um die Uhr erreichbar und abgelenkt zu sein. Einen solchen Effekt könnte auch eine Detox-Lesewoche in der Schule haben. Im Moment ist das Problem Handy, soziale Medien und Digitalisierung im Bereich Jugend auch im Grossen Rat angekommen. Meine neunjährige Tochter war kürzlich auf einer Jugi-Reise: Es galt die Doktrin: kein Handy, kein I-Pad, gar nichts. Die Kids hatten eine Superzeit. Wir als Eltern mussten uns daran gewöhnen, dass wir nicht zeitgleich über den Verlauf informiert wurden, sondern nur bei Problemen von den Leitern kontaktiert worden wären. Das Ziel der Lesewoche ist, dass es für die Schülerinnen und Schüler erlebbar wird, was für eine Bereicherung ein Buch sein kann.

Sie sagten in einem Interview, dass das Projekt «Aadorf liest ein Buch» auch in der Gemeinde mehr Verbundenheit schaffen soll.

Ja, das gemeinsam gelesene Buch könnte auch in der Bevölkerung zum Gesprächsstoff werden. An der Bushaltestelle oder am Bahnhof fänden vielleicht wieder Gespräche statt, anstatt, dass jeder in sein Handy starrt. Bei uns in der Firma gilt zum Beispiel auch: Während der Arbeitszeit und in den Pausen kein Handy. Wir reden in der Pause miteinander, über Mode, Autos, Sport und gesellschaftliche Fragen. Das schafft Verbindung und verbessert das Arbeitsklima.

Solche Beispiele können einen Schneeballeffekt haben…

Ja, Familienväter, die das Erlebnis machen, starten vielleicht auch einen ähnlichen Versuch zu Hause am Familientisch. Die Kinder kommen nach dem handyfreien Leseprojekt nach Hause und fragen: «Können wir das nicht auch einmal in der Familie machen, das war so cool?» Der Multiplikatoreneffekt ist für unser Projekt «Lesestadt Aadorf» wichtig. In meiner Familie haben zum Beispiel alle ein Buch in die Herbstferien mitgenommen. Die ältere Tochter ist neun und geht in die vierte Klasse. Wir haben es uns gemütlich gemacht und es genossen, in Ruhe ein Buch zu lesen. Meine dreijährige Tochter, die natürlich noch nicht lesen kann, rebellierte und wollte auch ein Buch. Vorbild zu sein und Vorbild zu geben ist entscheidend. Wenn wir in einer ganzen Gemeinde die Freude am Lesen anstossen können, machen das vielleicht plötzlich auch andere Gemeinden im Thurgau. Das «Energiestadt-Label» wurde am Anfang belächelt und heute gehört es zum guten Ton. So könnte es vielleicht auch beim Projekt «Lesestadt» sein.

Herr Bühler, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Susanne Lienhard

veröffentlicht am 23. November 2024

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