«Man muss darüber reden, wie ein Krieg verhindert werden kann»*

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild zvg)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild zvg)

Der deutsche Marinechef und Vize-Admiral Kay-Achim Schönbach musste am 23. Januar aufgrund von Äusserungen zur aktuellen Lage um die Ukraine sein Amt zur Verfügung stellen. Er hatte bei einem Vortrag in Indien gewagt, einige kritische Anmerkungen zur angespannten Situation zu machen. Was er genau sagte und wie seine Aussagen einzuschätzen sind, erklärt der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko in folgendem Interview.

Zeitgeschehen im Fokus Was hat den Wirbel gegen den Vize-Admiral und Chef der Marine ausgelöst?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Das waren Aussagen, die er in einer kleinen Runde im Rahmen eines indischen Think-tanks gemacht hat. Ich habe mir das ganze Video angeschaut. Das Gespräch fand auf Englisch statt, und es kam mir so vor, dass die Sprache deshalb etwas ungehobelter war, als wenn er das in der Muttersprache geäussert hätte. 

Was war der Inhalt seiner Stellungnahme?

Er machte Aussagen zur Situation an der russisch-ukrainischen Grenze. Und er sagte, es sei Unsinn («nonsense») zu meinen, dass es Russland darum ginge, ein Stückchen von der Ukraine zu erobern. Damit steht er natürlich im Gegensatz zu dem, was uns vor allem in der letzten Zeit durch die Berichterstattung in den Medien und Stellungnahmen von Politikern vermittelt werden sollte.

Warum hält der Vize-Admiral einen Einmarsch für unwahrscheinlich?

Er hat weiter ausgeführt, dass es den Russen darum gehe, auf gleicher Augenhöhe mit den USA und der EU zu verhandeln, und dass Putin Respekt einfordere, den er wahrscheinlich auch verdient habe.

Er hat sich doch laut Medienberichten auch zur Krim geäussert…

Ja, er hat das Faktum dargestellt, dass die Krim jetzt russisch sei. Daran werde sich nicht rütteln lassen, das werde so bleiben. Das sind alles Aussagen, die ich für rational halte. Das Bemerkenswerte an der gegenwärtigen Situation ist aber, dass in der zentralen Frage der Auseinandersetzung mit Russ­land ein hoher Vertreter des Militärs offenbar mehr auf Diplomatie setzt als die Diplomaten selbst. Das muss der Bundesregierung sehr zu denken geben.

Hier haben sich quasi die Rollen verschoben …

Ja, das ist die paradoxe Situation. Wir haben Militärs, die vorsichtig sind und vor einer weiteren Eskalation warnen. Sie übernehmen nicht die Propaganda des bevorstehenden Einmarschs in die Ukraine. Offenbar auch, weil sie einen etwas realistischeren Blick haben. Ich bin kein Freund des Militärs, aber hier scheint mir von ihm ein ganz wichtiger Impuls auszugehen.

Ist das etwas Neues in der deutschen Politik?

Nein, das ist nicht das erste Mal, dass es vernünftige Stimmen aus den Reihen des Militärs in Deutschland gibt. Admiral Schönbach hat aber noch weitere Aussagen gemacht, die ich überhaupt nicht teile, z. B. dass man mit Russland und Indien zusammen gegen China vorgehen müsse, weil das der eigentliche Feind sei. Das ist ein anderes Feindbild als das, was hier gerade im Vordergrund steht. Dafür ist er aber nicht kritisiert worden, sondern für seine Aussagen zu Russland und der Ukraine, und das ist schon ungeheuerlich. 

Wie hat die Ukraine darauf reagiert?

Das ukrainische Aussenministerium hat den deutschen Botschafter in Kiew sofort einbestellt. Die deutsche Verteidigungsministerin hat unmittelbar danach den Admiral zum Rücktritt gedrängt. Er hat daraufhin sein Amt zur Verfügung gestellt. De facto war das eine Entlassung.

Ist die Ukraine damit zufrieden?

Nein, der ukrainische Botschafter in Deutschland liess verlauten, dass ihm das alles nicht genüge. Diese Aussagen seien ein Skandal und es müsse noch mehr geschehen. Am liebsten hätten sie in der Ukraine Waffen aus Deutschland. Das wird jetzt von ukrainischer Seite ausgeschlachtet und hat einen unglaublichen innenpolitischen Niederschlag in Deutschland.

Wieso denn das?

Es gelingt und gelang hier offenbar dem ukrainischen Botschafter, richtig Druck auszuüben und somit praktisch zur Entlassung beizutragen und auch noch die Geschichte zu verdrehen. Er sagte, dass das die gleiche Arroganz gegenüber der Ukraine sei, wie sie auch die Nazis an den Tag gelegt hätten. Das ist eine unfassbare Geschichtsverdrehung.

Wie reagiert Deutschland darauf?

Was ich so erschütternd finde, ist, dass es im veröffentlichten Diskurs in Deutschland tatsächlich gelingt, so einen unheimlichen medialen Druck aufzubauen. Im Radio, in den Zeitungen, überall wird berichtet, dass der ukrainische Botschafter immer noch die Stirne runzelt und weitere Forderungen im Raum stehen, insbesondere die geforderten Waffenlieferungen.

Gibt es keine Stimme der Vernunft?

Doch, ein ehemaliger ranghöchster Militär, der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, hat sich hinter Kay-Achim Schönbach gestellt und gesagt, wenn er Generalinspekteur gewesen wäre, hätte er mit allen Mitteln die Entlassung des Admirals zu verhindern versucht. Auch betont er, dass man in Bezug auf Russland deeskalieren und entspannen müsse. Er betonte auch, dass man nicht immer über den Krieg reden müsse, sondern darüber, wie man ihn verhindern kann.

Das Militär warnt also vor einem Krieg …

Ja, aber wo sind wir denn in Deutschland hingekommen? Harald Kujat ist ja kein Friedenskämpfer. Aber wenn mittlerweile Militärs die Rolle einnehmen, vor einer weiteren Eskalation zu warnen sowie auf Deeskalation zu drängen, und daran erinnern, was Krieg eigentlich bedeutet, dann ist die politische Positionierung Deutschlands in dieser Situation mehr als fragwürdig, um es diplomatisch auszudrücken. Zusätzlich haben wir einen öffentlichen Diskurs, in dem man sich überbietet, wer jetzt noch schneller Waffen an die Ukraine liefert. Das ist doch völliger Wahnsinn. Allerdings sind nach einer aktuellen Umfrage 73 % der Bevölkerung in Deutschland gegen solche Waffenlieferungen.

Gibt es in der neuen Bundesregierung keine einzige vernünftige Stimme?

Die Entlassung hat die Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht angeordnet. Mir ist keine vernünftige Stimme aus der Bundesregierung bekannt, zumindest nicht öffentlich. Aber im Kern kann ich mir schon vorstellen, dass es hier unterschiedliche Positionen gibt. Christine Lambrecht ist SPD. Das ist die Regierungspartei, die noch am moderatesten und am ehesten in Richtung Entspannung orientiert ist. Ich mache mir hier keine Illusionen. Es gibt Stellungnahmen auch von der FDP als Regierungspartei und von der CDU als Oppositionspartei, die beide das Vorgehen gegenüber Schönbach unterstützen.

Was heisst das jetzt?

Natürlich hat Admiral Schönbach auch Vorstellungen, die mir fremd sind. Aber, er wird dafür angegriffen und musste zurücktreten, weil er Verständnis für die russische Sicht geäussert hat. Ich denke, dass man im Militär diese Sicht hat, dass Putin nicht in den Donbas einmarschieren wird. Putin geht es um Sicherheitsgarantien, die Russen wollen keine weitere Nato-Osterweiterung. Sie wollen darüber reden und verhandeln. Sie wollen sicher sein, dass die Ukraine nicht in die Nato aufgenommen wird und nicht plötzlich US-amerikanische Atom-Raketen an der Grenze zu Russland stehen. Und das kann man, wenn man nur ein bisschen Geschichtsverständnis hat, nachvollziehen.

Muss man nicht auch davon ausgehen, dass ein Militär auch Quellen zur Verfügung hat, die nicht jedem zugänglich sind?

Genau, das denke ich auch. Ein Marinechef verfügt ganz sicher über genaue und präzise Informationen. Er kann sich nicht auf Propaganda stützen und braucht ein klares Lagebild. Deshalb gehe ich davon aus, dass das Hand und Fuss hat, was er zur Lage an der russisch-ukrainischen Grenze gesagt hat.

Es lässt zumindest etwas Hoffnung aufkommen, dass es Positionen gibt, die dem ganzen Kriegsgeheul etwas entgegenstehen.

Mich erinnert das an den Jugoslawienkrieg 1999. Damals hatte Scharping, SPD-Verteidigungsminister, der Öffentlichkeit den sogenannten Hufeisenplan verkauft. Mit grossen Bildern und Tafeln hat er damals versucht, die Öffentlichkeit zu täuschen, was angeblich auf Geheimdienstinformationen beruhte. Nichts davon hat gestimmt. Es gab damals einen General, namens Heinz Loquai, der sehr deutlich dagegen Stellung genommen hat.

Wie war die Stimmung am Europarat betreffend die Spannungen zwischen Ost und West?

In der Januar-Sitzungswoche der parlamentarischen Versammlung des Europarates wurden die Beglaubigungsschreiben der russischen Delegation erneut von rund 50 Abgeordneten der sogenannten Baltic-Plus-Gruppe blockiert. Das sind im Kern Abgeordnete aus den baltischen Staaten, der Ukraine, Polen, Georgien und der britischen Konservativen. Am Ende hat die Versammlung allerdings mit gut Zweidrittel-Mehrheit die Beglaubigungsschreiben der russischen Delegation anerkannt, auch wenn es Kritik zum Ablauf der Duma-Wahlen im Dezember gab. 

Wurde der russische Kandidat für das Vize-Präsidium gewählt?

Der russische Kandidat ist für den Posten des Vize-Präsidenten durchgefallen, weil er nicht die notwendige einfache Mehrheit erhielt. Russland steht wie allen grossen Mitgliedsstaaten ein Vize-Präsidentenplatz zu und normalerweise wird der jeweilige Kandidat durchgewunken wie aktuell Armin Laschet für Deutschland. Gegen den russischen Kandidaten gab es aber Widerstand, dann muss gewählt werden, was nicht erfolgreich war. Jetzt bleibt der Platz vakant, bis an der nächsten Sitzung erneut gewählt wird.

Es gibt auch einen neuen Präsidenten?

Der niederländische Senator Tiny Kox, der bislang der Linksfraktion UEL vorsass, wurde zum Parlamentspräsidenten gewählt. Für die Linke im Europarat ist das ein Riesenerfolg, weil sie zum ersten Mal eine solch herausgehobene Position bekleidet. Gegen diese Kandidatur gab es aber auch Widerstand: Als Gegenkandidatin trat die ukrainische Delegationsleiterin an, die von der genannten Balitic-Plus-Gruppe, aber auch etwa von den Rechtspopulisten wie der FPÖ unterstützt wurde. Tiny Kox wurde vorgeworfen, zu moderat in der Russlandfrage zu sein; er konnte die Wahl aber klar mit 162:80 gewinnen.

Wie äussern sich russische Parlamentarier?

Die russischen Abgeordneten waren in den Debatten, z. B. zu COVID-19, online erstaunlich präsent, obwohl sie aufgrund der Nicht-Anerkennung von Sputnik nicht nach Strasbourg kommen konnten. Ich hoffe, dass sie sich weiterhin so aktiv einbringen.

Was kann der Europarat zu einer Entspannung in der «Ukrainekrise» beitragen?

Der Europarat ist das einzige gesamteuropäische institutionelle Gefüge, das auf Grundlage vieler guter und völkerrechtlich bindender Konventionen arbeitet. Er ist eigentlich prädestiniert, zur Entspannung beizutragen. Er darf sich aber nicht vor irgendeinen geopolitischen Karren spannen lassen. Und er sollte sich auf seine Kernkompetenzen in den Bereichen Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit konzentrieren. Sicherheitspolitische und völkerrechtliche Fragen sind besser bei Uno und OSZE aufgehoben.

Gibt es vernünftige Stimmen, das Ganze zu deeskalieren?

Ja, es haben sich viele solcher Stimmen zu Wort gemeldet, allen voran der neue Parlamentspräsident Tiny Kox.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

*Aussage des ehemaligen Generalinspekteurs der Bundeswehr, Harald Kujat, in der ARD-Tagesschau vom 23.01.2022

 

Die Welt beherrschen zu wollen, wird am aufrechten Bürger scheitern

Konstanten US-amerikanischer Aussenpolitik

von Thomas Kaiser

Laut der «NZZ» förderten umfangreiche Analysen und Recherchen der «New York Times» Informationen zu Tage, die im Laufe der letzten Jahre sporadisch durchgesickert waren: US-amerikanische Luftschläge in Syrien und Irak haben vermutlich Hunderten wenn nicht gar Tausenden von unschuldigen Zivilisten das Leben gekostet.¹ Das ist deshalb erstaunlich, weil die Leitmedien bis heute vornehmlich über Luftangriffe der Russen in Syrien berichteten, bei denen sie  keine Rücksicht auf Zivilisten genommen hätten. Wer sich aber der Bilder von Mosul erinnert, das die US-Luftwaffe gnadenlos zusammengebombt hat, kann über diese neuerlich veröffentliche Erkenntnis nicht ernsthaft erstaunt sein. Ein Blick in die Geschichte offenbart das Muster, nach dem die USA ihre Interessen in der Welt durchsetzen – Völkerrecht hin oder her. 

Das im Juli 2021 von Bernd Greiner, em. Professor für Geschichte und Politik an der Universität Hamburg, veröffentlichte Buch mit dem vielsagenden Titel: «Made in Washington – Was die USA seit 1945 in der Geschichte angerichtet haben»² gibt einen vertieften Einblick in die Aussenpolitik der USA seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute, die ganz offensichtlich ein Kontinuum darstellt. Neue Erkenntnisse sind möglich, wenn nach Jahrzehnten die Archive geöffnet werden. Angeregt durch die vielen Fakten und Informationen, die das ausgezeichnete und sauber dokumentierte Buch liefert, ist folgender Artikel zustande gekommen. 

Bereits im Vorwort stellt Bernd Greiner dem in den Mainstreammedien gängigen und von westlichen Regierungen gerne kolportierten US-Bild von den stets Guten die historische Realität entgegen: «Die Vereinigten Staaten haben mit Abstand die meisten Kriege geführt, wiederholt Angriffskriege vom Zaun gebrochen und das Völkerrecht mit Füssen getreten […]» (S. 7). 

Im Gegensatz zu dieser Feststellung werden die USA in der Öffentlichkeit gerne als Hort von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten präsentiert. Aufgrund des US-amerikanischen Selbstverständnisses und ihrer Propaganda vergisst man allzu gerne, mit welcher Gewalt und Menschenverachtung sich bereits die 13 ehemaligen britischen Kolonien ihren Platz in der Geschichte eroberten, die sich 1776 von Grossbritannien für unabhängig erklärten und sich wenig später zu den Vereinigten Staaten von Amerika zusammenschlossen. Tod und Verderben brachten sie schon während ihrer Entstehungsgeschichte über Millionen von Menschen. 

Zunächst waren die Schwarzen betroffen, die als Sklaven ein fürchterliches Dasein führen mussten und schon auf dem Transport von Afrika nach Amerika zu Tausenden umkamen, ganz abgesehen von der unmenschlichen Behandlung, die sie als Arbeitssklaven erleben mussten. Die Opferzahlen gehen in die Millionen. Bei der Ausdehnung des US-Territoriums nach Westen im 19. Jahrhundert wurden Millionen von Ureinwohnern, die Indianer, niedergemetzelt und systematisch ausgerottet. Sie standen den Siedlern im Wege, die das grosse Geld und «big business» gerochen hatten. Nach neusten Schätzungen waren es in Nordamerika und Kanada zwischen 7 und 8 Millionen Menschen, die man aus reiner Gier und Menschenverachtung umgebracht hatte. 

Eine tiefrote Blutspur, wie Bernd Greiner eindrücklich darlegt, ziehen die USA bis heute hinter sich her. Etwas mehr Demut und Bescheidenheit stünde der US-amerikanischen Politik gut zu Gesichte, vor allem wenn man die Kriege und Toten des 20. und 21. Jahrhunderts dazuzählt, die auf ihr Konto gehen. Keiner dieser geprügelten Staaten, die die USA mit Krieg überzogen oder auf deren Territorium sie mit Hilfe ihres berüchtigten Geheimdienstes Bürgerkriege angezettelt hatten, bekam je eine Entschädigung für das von den USA angerichtete Desaster. Bis heute hüllt man konsequent den Mantel des Schweigens darum. Auch wenn da und dort etwas über die «Schweinereien» an die Öffentlichkeit dringt, verschwinden sie meist ohne weitere Konsequenzen wieder in der Versenkung. 

Bernd Greiner versucht mit seinem Buch, gerade dem entgegenzuwirken, und arbeitet sich mit viel Akribie und minutiös durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zu den letzten Kriegen dieses Jahrtausends. Seine Darlegungen und Erkenntnisse lassen auch aktuelle Entwicklungen, wie sie im Moment im Zusammenhang mit der Ukraine zu beobachten sind, in einem anderen Licht erscheinen, als es die Mainstreammedien und die westliche Propaganda uns gerne glauben machen wollen. 

Grösste Bedrohung für die Menschheit

Greiner analysiert verschiedene Aspekte US-amerikanischer Kriegs- und Aussenpolitik. Im Kapitel «Casino Royale» nimmt er das «Zocken mit den Nuklearwaffen» (S. 31) unter die Lupe. Das Erschreckende daran ist – diese Waffen sind bis heute immer noch vorhanden und werden ständig weiterentwickelt – dass von US-amerikanischen Präsidenten trotz aller Kenntnisse über die verheerenden Auswirkungen dieser Waffen deren Ersteinsatz genauso in Betracht gezogen wurde wie jede andere Munition. (S. 34) Die Gefahr, die Welt mit einem Atomkrieg zu vernichten, besteht laut Greiner ständig, und in der US-Armee scheint die Auffassung weit verbreitet, dass man Atomwaffen wie jede andere Waffe einsetzen könne. Dass die Verwendung von Atomwaffen trotz vieler Versuche, ein internationales Verbot durchzusetzen, bis heute eine Option zu sein scheint, hängt wie ein Damoklesschwert über der Menschheit. Wir machen uns für den Klimaschutz stark und geben Milliarden für Massnahmen aus, aber der Bestand an Atomwaffen, die eine viel grössere Bedrohung für die Menschheit und unseren Planeten darstellen, viel grösser als Klimawandel und Covid-19, wird nicht reduziert, sondern in den letzten Jahren weiterentwickelt und sogar ausgebaut. Es gibt keinen «Friday for future», der sich gegen die Atomwaffen wehrt. Warum wohl nicht?

Bei den Atomwaffen geht es neben der militärischen Bedeutung vor allem um eine Machtdemonstration, insbesondere der USA. Schon der erste Einsatz der Atombombe auf Hiroshima 1945, befohlen vom Präsidenten Harry Truman, hatte keine strategische Relevanz, sondern war eine Botschaft an die Welt. Nachdem die Waffe entwickelt worden war, wollte man sie auch einsetzen. «In letzter Konsequenz werden wir den Gang der Dinge kontrollieren können», liess der US-amerikanische Aussenminister James Byrnes im Juli 1945 verlauten. (S. 39) Ein zynisches «Spiel» mit Hunderttausenden von zivilen Opfern. Bernd Greiner kommentiert die amerikanische Haltung: «Doch dafür musste man ein Exempel statuieren und den beispiellosen Machtzuwachs der amerikanischen Streitkräfte demonstrieren. Bei der Entscheidung zur nuklearen Einäscherung von Hiroshima und Nagasaki spielten diese Überlegungen eine zentrale Rolle, sie gaben am Ende gar den Ausschlag.» (S. 39) Alle nachfolgenden Präsidenten, so Bernd Greiner, spielten mit der nuklearen Option. Und immer ging es darum, die Sowjetunion im Ungewissen zu lassen, «wie weit Washington im Zweifel wohl gehen würde.» (S. 41) 

«Nimbus der Stärke»

Diese Politik hat die Welt während der Kuba-Krise im Oktober 1962 an den Rand eines Atomkriegs gebracht. Auch hier ging es den USA in der Figur von Präsident John F. Kennedy darum, die Oberhand zu behalten und keine Schwäche zu zeigen. Letztlich ist es der Vernunft des sowjetischen Staatschefs Nikita Chruschtschow zu verdanken, dass die Lage nicht eskalierte und die Menschheit vor einem Atomkrieg verschont blieb. «Denn im Weissen Haus standen alle Zeichen auf Sturm, eine Invasion oder eine Bombardierung der Insel war nur noch eine Frage des Zeitpunkts. Warum? Weil man den Nimbus der Stärke wahren wollte, weil der politische Nutzen nuklearer Überlegenheit auf dem Spiel stand, weil der alte Mythos im neuen Glanz erstrahlen musste, dass die Welt im Chaos versinkt, wenn Amerika nicht für Ordnung sorgt.» (S. 44)

Dieser Mythos, der auf das «Manifest Destiny» [göttlicher Auftrag, sich überall auszubreiten] der amerikanischen Urväter zurückgeht, bestimmt über weite Strecken die Aussenpolitik der USA und hat nicht selten Staaten, ja ganze Gesellschaften ins Verderben gestürzt. Zwei Länder, die schon in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in den «Genuss» US-amerikanischer Einflussnahme kamen, waren Guatemala und der Iran. In beide Länder mischte sich der US-Geheimdienst CIA mit massiven Mitteln ein, weil verhindert werden sollte, dass zwei souveräne Staaten tatsächlich einen souveränen politischen Weg einschlügen. In beiden Fällen waren die Interventionen im Sinne der USA erfolgreich. «Innerhalb eines knappen Jahres, vom August 1953 bis zum Juni 1954 machten beide Staaten aus einem einzigen Grund Schlagzeilen – weil die Regierung in Washington der Meinung war, dass die künftige Ordnung der Welt von einer politischen Flurbereinigung in Guatemala und im Iran abhing. Und weil der amerikanische Geheimdienst CIA den Vorsatz auf seine Weise realisierte – indem er zwei demokratisch legitimierte Regierungen aus ihren Ämtern putschte.» (S. 54) 

Hatten wir in der Ukraine 2014 nicht einen ähnlichen Vorgang? Der demokratisch gewählte, russlandfreundliche Präsident Viktor Janukowitsch wurde mit einem von den USA und der EU geförderten Putsch gestürzt und ausser Landes gejagt, um die Ukraine in der Einflusssphäre der USA zu behalten und in die Nato zu führen, ganz nach den Vorgaben des inzwischen verstorbenen US-Geostrategen Zbigniew Brzeziński. Seine Theorie wird später noch genauer dargelegt.

Wirtschaftssanktionen als Brandbeschleuniger

Das im Iran und Guatemala erwähnte Vorgehen wiederholte sich immer wieder, meistens vertuscht oder schöngeredet, als notwendige Handlung, um den Weltfrieden zu erhalten oder Staaten vor der Übernahme durch die Kommunisten zu schützen. «Das Auftreten der USA seit den 1960er Jahren mutet wie eine Wiederholung des Immergleichen an: ‹Guatemala reloaded›. Land für Land wurde einem politischen Lackmustest unterzogen, randständige Kleinstaaten wie British-Guayana oder Haiti genauso wie Brasilien, Chile oder Argentinien.» (S. 91) Dabei gab es ein Raster, nach dem die einzelnen Staaten eingeteilt wurden: «‹Grün› galt für alle, die sich unauffällig verhielten, also das Los von Ausgebeuteten und Entrechteten als naturgegeben hinnahmen und im Übrigen an der weltpolitischen Richtlinienkompetenz der USA nichts auszusetzen hatten. ‹Gelb› war den Experimentierfreudigen vorbehalten, Reformern, die aussenpolitisch gehört werden wollten und im Inneren das Recht auf Mitbestimmung auch für jene forderten, deren Stimme gewohnheitsmässig nichts zählte – Landarbeiter, Gewerkschafter, Vertreter ethnischer Minderheiten. Alarmstufe ‹Rot› wurde ausgerufen, sobald Charismatiker mit der Aussicht auf Erfolg in freien demokratischen Wahlen auf den Plan traten […]» (S. 91) Wehe dem Land, das mit demokratischen Wahlen den falschen Präsidenten gewählt hat. Venezuela ist ein beredtes Beispiel dafür. Die Vorgehensweise der USA ist dort analog derjenigen in Chile 1973, nämlich ein Land mit Wirtschaftssanktionen zu erdrücken, um dann mit einem Putsch den unliebsamen Präsidenten loszuwerden. «Chile wurde in mehrfacher Hinsicht zum Inbegriff amerikanischer Übergriffigkeit.» (S. 93) Richard Nixon, zu dieser Zeit Präsident in den USA, war nach der erneuten Wahl Salvador Allendes ausser sich: «Dieser Hurensohn, dieser Hurensohn, wir werden ihn kurz und klein schlagen.» (S. 93) Damit war der Auftrag erteilt, so zumindest verstand es der Chef des CIA-Postens in Santiago: «Sie haben uns beauftragt, in Chile Chaos heraufzubeschwören. […] Wir liefern ihnen ein Rezept für ein Chaos, das vermutlich nicht ohne Blutvergiessen abgehen wird.» (S. 93)

Was in Chile gelang, scheiterte in Venezuela

Woraus bestand nun dieses Rezept? Bernd Greiner legt es dar: «[…] eine Gesellschaft so lange zu strangulieren und auf ‹kalten Entzug› zu setzen, bis putschwillige Militärs mit scheinbar guten Gründen losschlagen konnten.» (S. 93) Was für die USA in Chile aufgegangen ist, scheiterte in Venezuela kläglich. Zwar ist das Land durch US- und EU-Sanktionen wirtschaftlich in einem schlechten Zustand, aber das Militär und die Mehrheit der Bevölkerung stehen bis heute hinter der Regierung Maduro. Der von den USA protegierte selbsternannte Präsident Gaidó wird von der Bevölkerung ignoriert. Auch der Versuch, Syrien in die Einflusssphäre der USA zu ziehen, indem man das Land in einen Bürgerkrieg stürzt, ist misslungen. Mit Unterstützung des russischen Verbündeten konnte Syrien seine Souveränität behalten. 

26 Milliarden Bombenkrater

Ein drastisches Beispiel, wie aus verdeckten Geheimdienstaktionen ein handfester Krieg werden konnte, ist das Desaster in Vietnam. Die (Kriegs-)Methoden der USA sind bis heute unverändert, wenn es um Erhalt und Ausdehnung ihrer Macht geht. 

Eine «false flag operation», der erfundene Angriff eines nordvietnamesischen Schnellboots auf ein amerikanisches Kriegsschiff im Golf von Tonkin im Sommer 1964, lieferte den USA die Vorlage, offiziell in den Krieg einzutreten. «Im August 1964 nutzten Johnson und McNamara einen angeblichen Zwischenfall im nordvietnamesischen Golf von Tonkin, um den Krieg in Vietnam auf eine neue Eskalationsstufe zu hieven.»³ Bernd Greiner, der schon mit seinem Standardwerk über den Vietnamkrieg⁴ auf die Auswüchse dieses Konflikts und die Kriegsverbrechen aufmerksam gemacht hat, widmet sich auch in seinem neusten Werk den Hintergründen und Kriegsverbrechen der USA. Das Kapitel hinterlässt ein beklemmendes Gefühl, wenn einem ungeschminkt die Brutalität eines Krieges vor Augen geführt wird, der ausser riesigem menschlichem Leid, Elend und Zerstörung nichts, aber auch gar nichts gebracht hat, abgesehen von den satten Gewinnen der Rüstungsindustrie. Nur schon die von Bernd Greiner zusammengestellten Zahlen sind erschütternd und unvorstellbar: «Allein in den Jahren 1966 bis 1968 klinkten Kampfflugzeuge der USA und ihrer Verbündeten 2 865 808 Tonnen Bomben über Vietnam, Laos und Kambodscha aus – gut 800 000 Tonnen mehr als auf allen Schauplätzen des Zweiten Weltkriegs […]. Ein Land, das mit 330 000 Quadratkilometern Fläche etwas kleiner ist als Deutschland, blieb am Ende des Krieges mit 26 Milliarden Bombenkratern zurück.» (S. 105) Die Menschenverachtung und Kriegsbessenheit, die sich (nicht nur) bei Nixons Administration finden lässt, kann sich der brave Bürger, der im Glauben an das «gute Amerika» sozialisiert wurde, kaum vorstellen. Dass sich ein «zivilisierter» Präsident wie folgt äusserte, spricht schon Bände: «Wir werden den gottverdammten Norden bombardieren, wie er noch nie bombardiert worden ist. […] Lasst dieses Land in Flammen aufgehen. […] Einfach die verdammte Scheisse aus dem Land herausbomben. […] Einfach drei Monate lang die Scheisse aus ihnen herausprügeln. […] Macht Kleinholz aus ihnen, macht Kleinholz aus ihnen, macht Kleinholz aus ihnen. […] Wir müssen dort alles treffen, was sich bewegt […] Man muss die Bastarde einfach – einfach pulverisieren. […] Ich will, dass [Nordvietnam] zu Klump gebombt wird.» (S. 128) 

Der US-Plan ging nicht auf

Die Hintergründe dieses Krieges, deren Opferzahlen gemäss Schätzungen die zwei Millionen weit übertroffen haben, wobei ca. 70 Prozent die Zivilbevölkerung betrafen, liegen nach Bernd Greiner in der Logik des US-amerikanischen Denkens begründet. Aussagen von US-Politikern aus dem Zirkel der Macht sind dabei äusserst entlarvend: «‹Zu 70 Prozent geht es [in Vietnam] darum, eine für unseren Ruf als Schutzmacht demütigende Niederlage zu verhindern; zu 20 Prozent darum, Vietnam und die angrenzenden Gebiete nicht in die Hände der Chinesen fallen zu lassen; zu 10 Prozent darum, dem südvietnamesischen Volk ein besseres und freieres Leben zu ermöglichen›, so der stellvertretende Verteidigungsminister John Mc­Naughton, Staatssekretär im Pentagon.» (S. 112)

Und was steht hinter all dem sinnlosen brutalen und menschenverachtenden Verhalten? Präsident Nixon gibt die Antwort selbst: «Die Art, wie wir diesen Krieg beenden, ist entscheidend für Amerikas Position in der Welt und für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.» (S. 113) So werden für Prestige und die vermeintliche Stellung in der Welt Hundertausende unschuldiger Menschen geopfert. Nixon, der in seiner Wortwahl wie in seinen Handlungen wenig zimperlich war, griff immer wieder zum verbalen Zweihänder: «Ich sag’s jetzt mal geradeheraus. Südvietnam verliert vielleicht, aber die Vereinigten Staaten können nicht verlieren […] Wir werden gewinnen. Wir müssen es. Ich muss es. […] Diesen Hurensöhnen werden wir es zeigen.» (S. 115) «Hurensöhne»? Menschen, die selbstbestimmt leben und sich nicht von den USA Lebensform und Lebensstil aufzwingen lassen wollen? Bekanntlich sind die USA in Vietnam ziemlich baden gegangen, ähnlich wie in Afghanistan und im Irak, aber das Chaos, das Elend, die Verseuchung der Umwelt und das Desaster, was sie unter der Bevölkerung angerichtet haben, ist noch lange nicht vergessen. Entschädigt für all diese Zerstörungen und Verbrechen an der Zivilbevölkerung wurde bisher niemand, nicht einmal die vom giftigen Entlaubungsmittel Agent Orange verseuchten Böden wurden dekontaminiert. 

Scheitern in Afghanistan 

Wer glaubt, die damaligen Kriegsverbrechen der USA und die Verbrechen gegen die Menschheit seien Schnee von gestern, wird durch Bernd Greiner eines Besseren belehrt. Das Ereignis vom 11. September 2001 nahmen die USA zum Anlass, ihren «Krieg gegen den Terror» zu beginnen. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte rief die Nato den Bündnisfall aus. Mit den Worten «Jetzt sind wir alle Amerikaner!» schien in der Weltöffentlichkeit eine grosse Solidarität mit den USA zu bestehen. Auch Russland bot Unterstützung an. 

Doch die Pläne der USA waren schon lange vor 9/11 gemacht. Als erstes erlebte Afghanistan einen ungeahnten Bombenhagel gegen den Terror. Der amtierende Präsident George W. Bush «holte sich vom Parlament die Befugnis, gegen alle Nationen und Organisationen oder Personen vorzugehen, die seines Erachtens irgendetwas mit Terrorismus zu tun hatten. Es war das Plazet für einen Krieg unbestimmter Dauer.» (S. 186) Mit der «Koalition der Willigen» führten die USA gegen Afghanistan – eines der ärmsten Länder der Welt – einen Hightech-Krieg, den sie so wenig gewinnen konnten wie gegen die «unterentwickelten» Vietnamesen. Bernd Greiner meint dazu: «Demnach war der Einsatz in Afghanistan genauso dilettantisch geplant und ebenso stümperhaft umgesetzt wie der Krieg in Vietnam eine Generation früher. (S. 186) Noch sind viele Dokumente in den Archiven der USA der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Es ist anzunehmen, dass in Afghanistan Ähnliches geschehen ist wie in Vietnam. 

Verstoss gegen Menschenrechte und Humanität

Als nächstes Land im Krieg gegen den Terror nahmen die USA den Irak ins Visier. George Bush beauftragte seine Geheimdienste, einen Zusammenhang zwischen Al-Qaida und Saddam Hussein herzustellen. «Clarke, Koordinator für Terrorismusbekämpfung, wurde nicht nur von Rumsfeld unablässig unter Druck gesetzt, auch der Präsident wollte so schnell wie möglich Dokumente über eine Verbindung zwischen Al-Quaida und Saddam Hussein sehen. Derartige Belege gab es nicht.» (S. 190f.) Doch was nicht vorhanden, aber dringend gebraucht, wird Sache einer skrupellosen Propaganda. US-Aussenminister Colin Powell, so kommentierte Bernd Greiner, «liess sich zu einer hochnotpeinlichen Posterpräsentation vor den Vereinten Nationen herab, dozierte über ein umfängliches Arsenal irakischer Massenvernichtungswaffen und ‹bösartige Querverbindungen›  Saddams zu Al-Quaida.» (S. 191) Ähnlich wie im Vietnamkrieg kreierte man einen Kriegsgrund, der mit der Realität rein gar nichts zu tun hatte, aber den USA das «moralische Recht» übertragen sollte, einen von der Uno nicht mandatierten, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu führen, der einmal mehr Hunderttausende unschuldige Opfer mit sich brachte. Doch nicht nur das Bombardieren von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen, wenn es vorsätzlich geschieht, sondern auch die von den USA immer wieder angewendeten Folterpraktiken bilden einen eklatanten Verstoss gegen Menschenrechte und Humanität.

Mit dem «Weltrechtsprinzip» gegen Folter …

Letzte Woche ging der Prozess in Deutschland gegen einen syrischen Arzt durch die Medien, der, so die Anklage, sich in Syrien der Folter und damit dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafbar gemacht habe. Besonders positiv hoben die Medien hervor, dass Deutschland dem «Weltrechtsprinzip» Nachachtung verschafft habe. Dass Folterer vor Gericht gehören, ist unbestritten, Folter ist etwas absolut Widerwärtiges und ein eklatanter Verstoss gegen die Würde des Menschen und damit gegen die Menschenrechte sowie ein Verstoss gegen die 3. Genfer Konvention des humanitären Völkerrechts. Aus diesem Grund sollte mit allen Folterern gleich verfahren werden – und könnte es auch aufgrund des Weltrechtsprinzips, – aber das geschieht, wie zu erwarten war, so leider nicht. Wie auch bei den Prozessen vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) werden die mächtigen Staaten für ihre Kriegs- und Menschheitsverbrechen in der Regel nicht belangt. 

… auch in den USA

Bernd Greiner widmet sich in dem Kapitel «Verbrannte Erde» sehr ausführlich den US-amerikanischen Foltermethoden während Präsident George W. Bushs Krieg gegen den Terror. Es ist harter Tobak und verlangt vom Leser innere Überzeugung, um nicht den Glauben an die Menschheit und die ihr innewohnenden Menschlichkeit zu verlieren. In einem Netz von «Geheimgefängnisse(n) in Bulgarien, Mazedonien, Polen, Rumänien, Pakistan, Usbekistan, in der Ukraine sowie im Kosovo und im Norden Afrikas, die von den lokalen Behörden im Auftrag der CIA geführt werden», ist Folter an der Tagesordnung. (S. 196) Wie es in den Folterkellern zu und her geht, kennt man aus Beschreibungen oder bestenfalls aus Filmen. Aber was auf Geheiss des «zivilisiertesten Landes der Erde» geschieht, spricht für sich: «Die Zustände in den weltweit verteilten Folterkellern, obwohl vielfach beschrieben, spotteten jeder Beschreibung. Häftlinge wurden in Käfige gesperrt, schutzlos der Witterung und Ungeziefer wie Skorpionen und Ratten ausgesetzt. An Zellwänden angekettet, schliefen sie auf Zementfussböden, neben Löchern, die als Toiletten zu benutzen waren […] Gefangene wurden geprügelt, auf engstem Raum stundenlang mit kaltem Wasser bespritzt, bis zu 180 Stunden mit Schlafentzug gequält oder mit dem ‹Waterboard›, einem simulierten Ertrinken, in Todesangst versetzt.» (S. 197) Hier nur den «Folterknecht» zu Rechenschaft zu ziehen, greift zu kurz. «Welche Exzesse der ‹Krieg gegen den Terror› wann und wo nach sich zog, die Menschenschinderei nahm ihren Anfang ganz oben – im Weissen Haus, im Pentagon, bei der CIA und im Justizministerium. Dort wurde die Folter angeordnet, gedeckt und gerechtfertigt […]. Der Präsident [George W. Bush] seinerseits legte nach und bestätigte das Recht zum Rechtsbruch: Zum Schutz der ‹nationalen Sicherheit› waren und blieben ‹erweiterte Verhörmethoden› erlaubt.» (S. 198) Es sind Abscheulichkeiten, die sich die Herren im Weissen Haus ausgedacht und umgesetzt haben. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld genehmigte in einer Ministerdirektive 24 Foltertechniken, «darunter Isolation, Schlafentzug, Überhitzen und Unterkühlen von Zellen sowie diverse Massnahmen zum Auslösen von Angstzuständen.» (S. 199) Genug der Scheusslichkeiten! Aber hat man jemals einen Verantwortlichen US-Folterer aufgrund des «Weltrechtsprinzips» vor Gericht gestellt? Hat man die politisch Verantwortlichen für die grausamen Befehle, ob in Vietnam, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien etc. je zur Rechenschaft gezogen? Haben unsere Politiker signalisiert, dass sie keine weitere Zusammenarbeit mit Folterknechten wünschen?

Als Colin Powell vor kurzem starb, wurde er der Öffentlichkeit als «grosser Staatsmann» präsentiert. Absolut weltfremd!

Was hinter all den Beispielen sichtbar wird, ist die Gesinnung und tiefe Menschenverachtung dieser politischen Elite. Das Muster ist immer dasselbe. Es wird ein Feindbild kreiert, und der ins Visier genommene Gegner nach den Prinzipien der Kriegspropaganda⁶ entmenschlicht. Nur so lässt sich erklären, dass die natürliche Hemmschwelle gegenüber den Grausamkeiten, die man den Menschen antut, ausgeschaltet wird. 

Wenn wir heute – zumindest nach den Aussagen gewisser Medien – angeblich vor einem Einmarsch Russlands in die Ukraine stehen, muss man sich all der Abscheulichkeiten, strategischen und politischen Tricks bis hin zu organisierten Umstürzen, die die US-Politik in den letzten Jahrzehnten betrieben hat, bewusst sein. «Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben», weiss Putin, weiss Russland. Sind das alles Ereignisse und Vorkommnisse, die das Vertrauen der Russen in die USA stärken? Wohl kaum. Auch im Ukraine-Konflikt spielt die Ukraine selbst nur eine Statistenrolle. Dieser korrupte Staat ist Spielball der USA, denn die Ukraine gehört in das strategische Arsenal US-amerikanischer Hegemonialpläne. Auch die EU wird von den USA an den Rand gedrängt, und sie lässt sich das bieten. Hauptakteur sind die USA und Russland ist im Gegensatz zur Darstellung unserer Mainstreammedien in der Defensive.

Die einzige Weltmacht?

Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989, dem Ende des Warschauer Pakts und dem Ende der Sowjet­union verstärkte sich in den USA die Überzeugung, als Sieger aus dem Kalten Krieg hervorgegangen und somit «zu Recht» die einzige Weltmacht zu sein. George Bush «war erfüllt von der Genugtuung, das Ende des Kalten Kriegs herbeigeführt und damit den ultimativen Beweis für die natürliche Überlegenheit des amerikanischen Modells erbracht zu haben.» (S. 164) Doch nicht nur George Bush vertrat diese Meinung. Kein Geringerer als der Wiedervereinigungskanzler, Helmut Kohl, äusserte sich unmiss­verständlich: «Wir haben gesiegt und nicht sie. Wir können nicht zulassen, dass die Sowjets ihre Niederlage in einen Sieg verwandeln […] Wir werden das Spiel gewinnen, aber wir müssen uns dabei clever anstellen.» (S.168) 

Keine Erweiterung der Nato nach Osten

Das Ziel, als einzige Weltmacht den eurasischen Doppelkontinent zu beherrschen, legt der US-Geostratege Zbigniew Brzeziński in seinem Buch «Die einzige Weltmacht» dar. Er beschreibt darin, dass die USA, um Eurasien beherrschen zu können, die Ukraine in ihren Einflussbereich bringen müssen, wollen sie einzige Weltmacht bleiben. Auch ist die Erweiterung der Nato nach Osten eine Grundvoraussetzung US-amerikanischer Grossmachtpolitik. Zbigniew Brzeziński drückt das unverhohlen aus: «Sollte die von den Vereinigten Staaten in die Wege geleitete Nato-Erweiterung ins Stocken geraten, wäre das das Ende der umfassenden amerikanischen Politik für Eurasien.» Weiter führt er aus, «[…] für Amerika wäre es nicht nur eine regionale, sondern eine globale Schlappe.»⁷

«Ideales Instrument politischer Einflussnahme»

Die Erstausgabe dieses Buches erschien 1997, als in Russland der von den USA finanzierte und abhängige Staatschef Boris Jelzin die Geschicke des Landes bestimmte. Zu dem Zeitpunkt war noch kein Land der ehemaligen sowjetischen Einflusssphäre Mitglied der Nato, aber die Pläne, diese Staaten aus geostrategischen Überlegungen in die Nato einzubinden, bestanden bereits, wie Zbigniew Brzeziński darlegt. Trotz der in letzter Zeit vor allem von den USA immer wieder dementierten Zusage, es gebe keine Erweiterung der Nato nach Osten, haben die USA nicht nur die ehemaligen Satellitenstaaten in die Nato aufgenommen, sondern auch die drei ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken. Bernd Greiner widmet sich auch dieser Auseinandersetzung und hält fest: «Weil das westliche Militärbündnis für Washington ein ideales Instrument politischer Einflussnahme und Führung, zur Not auch zur Disziplinierung blieb.» (S. 169) Das Versprechen der USA, sich nicht weiter nach Osten auszudehnen, steht erneut im Zentrum der Auseinandersetzung. Denn die Forderungen Russlands, die Nato dürfe nicht weiter nach Osten vorrücken und schon gar nicht die Ukraine aufnehmen, beruht auf dieser Grundlage. Greiner formuliert das Verhalten der USA damals so: «Washingtons Verhandlungstaktik blieb zweideutig, doppelbödig und vorsätzlich irreführend – und erfolgreich wegen Gorbatschows zerbröselnder Macht.» (S. 169) 

Dass es bereits Anfang 1997 deutliche Warner gegenüber der US-Erweiterungspolitik gab, zeigt, dass man sich in diplomatischen Kreisen sehr wohl dieser Problematik bewusst war: «‹Hier steht etwas von der allergrössten Bedeutung auf dem Spiel.›, gab George F. Kennan, der legendäre Stichwortgeber für Washingtons frühere Eindämmungsstrategie, Anfang 1997 zu bedenken. ‹Eine Ausweitung der Nato wäre der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Politik nach dem Ende des Kalten Kriegs.›» (S. 171) Oliver Stone beschäftige sich ebenfalls mit dieser bis heute bedeutenden Frage: «Nun brach ein atemberaubender Wandel an, und Gorbatschow hoffte, dass ein neues Vertrauen zur Auflösung von Nato und Warschauer Pakt führen würde. Erstaunlicher Weise stimmte er sogar einer Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands in der Überzeugung zu, dass die Nato nicht nach Osten erweitert würde. Bush brachte ihn dazu, das zu glauben, schied aber 1993 aus dem Amt. Den Preis für Gorbatschows Vertrauen zahlte Russ­land, als US-Regierungen unter Clinton und Bush Junior die Nato bis vor Russlands Haustür ausdehnten.»⁸

Die Menschen wollen
keinen Krieg

Denkt man all die von Bernd Greiner zusammengetragenen Fakten und Aussagen der einzelnen Exponenten zusammen, betreiben die USA genau wieder die gleiche Politik, wie sie sie schon während des Kalten Krieges und während des Kriegs gegen den Terror betrieben haben. Das müssen wir durchschauen. Es ist nur eine kleine Clique von Politikern und ihren Beratern, die sich über alles hinwegsetzt, die Bedürfnisse der Menschen ignoriert, aber nicht unbesiegbar ist. Es gibt viele Beispiele in der Geschichte, bei denen es gelungen ist, aufgrund von Vernunft, menschlichem Mitgefühl und persönlichem Engagement Kriege und gewalttätige Auseinandersetzungen zu verhindern. Die Menschen wollen keinen Krieg. Sie wollen friedlich zusammenleben und sich nicht auf den Schlachtfeldern begegnen. Das menschliche Mitgefühl ist eine anthropologische Konstante, sie macht das Menschsein aus. Wenn Politiker und einzelne – getrieben von Machtgier – schreckliche Dinge auf dieser Welt verursachen, so ist das kein Gegenbeweis. Die vielen erwähnten Beispiele von US-Grossmachtpolitik sollen uns vor Augen führen, was in der Welt gespielt wird. Aber wenn das «Crescendo der Völker» gegen den Krieg so gross wird, können sich die USA und auch andere Grossmächte nicht darüber hinwegsetzen.

Pflichtlektüre

Das Buch von Bernd Greiner muss für jeden Staatsbürger, für jeden Historiker, für jeden Politiker, insbesondere Aussenpolitiker wie in der Schweiz der amtierende Bundespräsident Ignazio Cassis oder die deutsche Annalena Baerbock, Pflichtlektüre sein. Erst dann versteht man, was eigentlich «in der Welt der Grossen» gespielt wird.

Um in einem Konfliktfall zu einer diplomatischen Lösung zu kommen, ist die Schweizer Neutralität von grösster Bedeutung, da sie eine tragfähige Grundlage für Gespräche z. B. zwischen den USA und Russ­land bieten kann. Soll ein heraufziehendes Desaster verhindert werden, müssen die Menschen aufstehen und sich dagegen stellen. Die EU sollte endlich ihre Unterwürfigkeit gegenüber den USA beenden. Die einzelnen Staaten könnten aufrecht dieser unsäglichen Machtpolitik ein Ende setzen, indem sie sich emanzipieren und rote Linien ziehen, die nicht überschritten werden dürfen. Die EU und der grosse Rest von Europa sind nicht abhängig von den USA, sondern ohne Europa werden sich  die USA nicht weiter Richtung Osten wagen. Eine Auflösung der Nato und ein Austritt der Schweiz aus der Nato-Unterorganisation PfP sind schon lange fällig. Worauf wollen wir noch warten? 

¹ Der amerikanische Luftkrieg ist schmutziger als gedacht. In NZZ vom 31. 12. 2021
² Bernd Greiner: Made in Washington – Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. München 2021. ISBN 978 3 406 77744 8
³ Oliver Stone, Peter Kuznick: Amerikas ungeschriebene Geschichte. Berlin 2016. S. 233 
⁴ Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten – Die USA in Vietnam. Hamburg 2007
⁵ SRF-Dok-Sendung «Bomben für den Frieden» (2008)
⁶ Anne Morelli: Die Prinzipien der Kriegspropaganda. Springe ²2014
⁷ Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht. Rottenburg 2015. S. 104
⁸ Oliver Stone, Peter Kuznick: Amerikas ungeschriebene Geschichte. Berlin 2016. S. 276

Für eine nicht-aggressive, integrative und multipolare regionale Zusammenarbeit

Die Shanghai Cooperation Organization und ihre geo- und realpolitische Bedeutung

von Robert Fitzthum*

Im Zusammenhang mit der Situation in Afghanistan ist manchmal von einer Organisation, genannt «SCO», zu hören. Wer oder was ist die in Europa weitgehend unbekannte, weil von der Politik ignorierte, Shanghai Cooperation Organization (SCO)¹?

Die Organisation

Die SCO ist eine der wichtigsten Kooperationsplattformen in Asien. Sie feierte 2021 ihren 20. Geburtstag. Sie ist eine permanente internationale Organisation, die 2001 in Shanghai gegründet worden war. Sie hat derzeit acht Mitgliedsstaaten, nämlich China, Indien, Kasachstan, Kirgisistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan. Afghanistan, Belarus, die Mongolei und der Iran haben Beobachterstatus; Ägypten, Armenien, Aserbaidschan, Kambodscha, Nepal, Qatar, Saudi-Arabien, Sri Lanka und die Türkei sind Dialogpartner. Iran hat im September 2021 die Aufnahme als Mitglied beantragt, was auch bewilligt werden wird. Die SCO ist inzwischen die weltweit grösste Regionalorganisation geworden und deckt mehr als 20 % der Weltwirtschaft, 50 % der Weltbevölkerung und drei Fünftel des eurasischen Kontinents ab.² Der Sitz des Sekretariats ist in Beijing, das Exekutiv-Komitee der Regionalen Anti-Terrorstruktur hat seinen Sitz im usbekischen Taschkent. Die Besetzung des Generalsekretärs wandert in einem 3-Jahresrhythmus zwischen den Mitgliedsstaaten. Die Amtsperiode des jetzigen usbekischen Generalsekretärs Vladimir Norov endete am 31. Dezember 2021. Die jährlich stattfindende Versammlung der Staatsoberhäupter ist das oberste Entscheidungsgremium, das die politischen Richtlinien beschliesst, die Kooperationsstrategie festlegt sowie das Budget. Von Anfang an hatten die Schaffung einer regionalen Sicherheitsarchitektur sowie der Kampf gegen den Terrorismus sowie gegen Separatismus und Extremismus eine herausragende Bedeutung in der Arbeit der SCO. Eine Zusammenarbeit in Politik, Handel, Finanzen, Technik, Innovation, Infrastruktur und anderen Bereichen entwickelte sich im Laufe der Zeit und wird laufend weiterentwickelt.

Die Bedeutung der SCO im Herzen Eurasiens

Am 25. Jänner 1904 hielt der britische Geograph Halford Mackinder einen Vortrag vor der Royal Geographical Society in London mit dem Titel «Der geographische Angelpunkt der Geschichte» («The Geographical Pivot of History»). Mackinder, der sich Sorgen um die britische Vormachtstellung in der Welt machte, stellte Überlegungen an, in welcher Weise die politische Landschaft in der Welt auf den geographischen Bedingungen basiert und welche Chancen und Handlungsspielräume Länder deshalb hätten. Mit diesem Vortrag und seinen Ideen wurde er zum «Vater der Geopolitik». Mackinder zeichnete Festland-Europa und Asien als einen grossen Kontinent: Eurasien (oder auch «Welt-Insel» genannt). In Eurasien gibt es im Zentrum und Osten einen Kernbereich, das «Herzland» («Heartland»), das durch seine Geographie militärisch und wirtschaftlich bevorzugt ist. Abgeschlossen gegen das Meer und riesig gross – deshalb schwer zu erobern –, mit weiten Ebenen die früher mit Pferden dann mit der Eisenbahn leicht zu erschliessen waren, hat es jede Menge Bodenschätze. Es deckt sich in etwa mit dem geographischen Bereich der früheren Sowjetunion. Im Westen, Süden und Osten, um das «Heartland» herum, erstrecken sich in einem sichelartigen Bogen die vier «Inneren Randgebiete», nämlich Europa inkl. Nordafrika (unmittelbare Nachbarn des «Heartlands» waren Deutschland, Österreich-Ungarn), der Mittlere Osten (Ägypten, Türkei, Arabische Halbinsel, Iran), Südasien sowie das Ost- und Südostasiatische Festland. Aufgrund der Geographie und anhand historischer Beispiele untermauerte Mackinder die Gefahr aus britischer Sicht, dass ein Zugriff zur Weltherrschaft in der Schlüsselregion («Pivot Region»), dem «Heartland», seinen Ausgangspunkt finden könnte. Seiner Einschätzung folgend sollte daher die englische Politik durch Bündnisse und andere Massnahmen darauf ausgerichtet sein, Eurasien so zu spalten, dass es keinen Rivalen für das englische Imperium geben konnte. Dass die Ablösung des englischen Weltreichs gerade durch eine ehemalige englische Kolonie erfolgen würde, hat er allerdings nicht prognostiziert. Und die USA versuchten nach dem 2. Weltkrieg, Mackinders Analysen folgend, einen möglichst grossen Anteil an Eurasien abhängig zu halten und die Staaten zu spalten.

Durch den späteren Wegfall der Sowjetunion hatte Eurasien seine geopolitische Bedeutung keinesfalls verloren. Eurasien war, weiter folgend den Mackinder’schen Vorstellungen, für die USA weiter der Schlüssel der geopolitischen Auseinandersetzungen zur Erweiterung und Aufrechterhaltung ihrer Macht. «Inwieweit die USA ihre globale Vormachtstellung geltend machen können, hängt aber davon ab, wie ein weltweit engagiertes Amerika mit den komplexen Machtverhältnissen auf dem eurasischen Kontinent fertig wird – und ob es dort das Aufkommen einer dominierenden, gegnerischen Macht verhindern kann.»³ Diese «gegnerische Macht» entwickelt sich nun im Herzen Eurasiens als multipolare Macht, nicht als einzelne, dominierende Macht. Ohne Zweifel sind die dahinterstehenden Kern-Strategen dieser Entwicklung Russland und China. 

Diese multipolare Macht SCO ist eine der Organisationsformen dieser strategischen Veränderung, ihr Kern liegt in Zentralasien, im «Herzland». Die Kooperation im Rahmen der SCO, wiewohl eine nicht expansiv-militärische, schmerzt die USA in dem Areal, wo sie immer versucht haben, vor allem gegen die Sowjetunion und dann Russ­land, an Einfluss zu gewinnen. Jetzt mussten sich die USA, noch dazu blamabel, auch aus Afghanistan zurückziehen. Erstmals haben die USA keinen Stützpunkt mehr im «Heartland». Und was war das schlimmste Szenario für den amerikanischen Strategen Zbigniew Brzeziński – schon vor mehr als 20 Jahren formuliert? «Das gefährlichste Szenario wäre möglicherweise eine grosse Koalition zwischen China, Russland und vielleicht dem Iran, ein nicht durch Ideologie, sondern durch die tiefsitzende Unzufriedenheit aller Beteiligten geeintes antihegemoniales Bündnis.»⁴  Und genau das ist nun eingetreten. Ein antihegemoniales Bündnis China – Russland – Iran, eingebettet in eine Organisation, die vom europäischen Belarus bis zum Pazifik, von der Arktis bis Chennai reicht, versucht eine multipolare Kooperation in Eurasien aufzubauen.  

Die USA lassen aber nicht locker. Sie versuchen weiterhin, von Westeuropa ausgehend nach Osten vorzurücken und die Nato auszubauen. Die Ukraine war ihr letzter Coup. Das nächste Ziel ist Russ­lands Nachbar Belarus, das mit einer Farbenrevolution in die westliche Einflusssphäre gebracht werden soll. Im Süden des «Herzlands» wird die Türkei zunehmend zum Wackelkandidat, bekommt Indien seit einigen Jahren die Doppelfunktion, militärisch einerseits den Indischen Ozean abzudecken und eine chinesische Präsenz zu kontrollieren und andererseits an der chinesischen Südgrenze, in Tibet, für Unruhe zu sorgen. Aber Indiens Modi ist ein unsteter Partner. Die von Obama betriebene enge Bindung von Chinas Nachbarn Myanmar an die USA ist gescheitert. In Ostasien verstärken die USA ihre Bündnisse und rüsten auf, um einen «Ausbruch» Chinas vom Kontinent aufs offene Meer zu verhindern. Diese Vorgangsweise hat nicht nur aktuell vom Pentagon betriebene militärische Gründe, sie greift auf noch während des Zweiten Weltkrieges entwickelte strategische Konzepte des Kalten Kriegs zurück, der sogenannten «Spykman-Kennan Thesis of Containment».

In der SCO aber soll eine neue, nicht aggressive, nicht auf einen militärischen Beistandspakt ausgerichtete, integrative, multipolare Form eines Regionalbündnisses aufgebaut werden: «Die Mitgliedstaaten werden die SCO als Pfeiler der entstehenden repräsentativeren und gerechteren Weltordnung auf der Grundlage des Völkerrechts, allen voran der Uno-Charta⁵, weiter festigen.» Und die Organisation wächst: Es werden im Jahr 2022 weitere Dialogpartner zur SCO stossen, wie Libanon, Syrien, Irak, Serbien und andere. Die SCO unterhält offizielle Verbindungen zu den Vereinten Nationen. Die konstruktive Rolle der SCO wurde in einer Resolution der Generalversammlung der Uno im März 2021 anerkannt.

Es gibt Kontakte zu anderen Regionalorganisationen wie ASEAN, der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und einer Reihe anderer. Ein «Memorandum of Understanding» zwischen der SCO und der Eurasischen Wirtschaftsunion ist in Vorbereitung und zielt auf den Aufbau von Handelsbeziehungen der SCO-Mitglieder mit der Eurasischen Wirtschaftsunion ab. Weiters arbeitet die SCO an Vereinbarungen über die Beziehungen zur Arabischen Liga und der UN-Organisation für industrielle Entwicklung (UNIDO).

Glenn Diesen, Professor an der Universität Süd-Ost Norwegen [in Kongsberg], formuliert kompakt: «Der Grossraum Eurasien, der Asien und Europa integriert, wird derzeit mit einer chinesisch-russischen Partnerschaft im Zentrum verhandelt und organisiert. Die eurasischen geoökonomischen Machtinstrumente bilden nach und nach das Fundament einer Superregion mit neuen strategischen Industrien, Transportkorridoren und Finanzinstrumenten. Auf dem gesamten eurasischen Kontinent treiben so unterschiedliche Staaten wie Südkorea, Indien, Kasachstan und der Iran verschiedene Formate für die Integration Eurasiens voran.»⁶ Der amerikanische Einfluss in Zentralasien ist gebrochen – ein Zeichen des Niedergangs der imperialistischen Supermacht USA.

Die letzte Sitzung der SCO-Staatschefs in Duschanbe – im Zentrum der Realpolitik

Die 21. Sitzung der Staatschefs fand am 16. und 17. September 2021 in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe statt. Die Tagesordnung wurde natürlich vom ­aktuellen Thema der Taliban – Machtübernahme in Afghanistan dominiert. Afghanistan ist selbst ein Beobachterstaat und von mehreren Mitglieds- und Beobachterstaaten der SCO beinahe umschlossen⁷.

In einer gemeinsamen «Dushanbe Declaration»8 setzten sich die Staatsoberhäupter für die Entwicklung Afghanistans zu einem «unabhängigen, neutralen, geeinten, demokratischen Staat, frei von Terrorismus, Krieg und Drogen» ein. Die Staaten glauben, dass es wesentlich ist, «eine inklusive Regierung in Afghanistan, mit Repräsentanten aller ethnischen, religiösen und politischen Gruppen der afghanischen Gesellschaft» aufzubauen. Die inklusive Regierung ist vor allem für die afghanischen Nachbarn Tadschikistan und Iran wichtig, da einerseits Tadschiken ca. 30 % der Bevölkerung ausmachen (Paschtunen ca. 40%) und andererseits Iran die Angehörigen der schiitischen Minderheit geschützt haben möchte. Im Konkreten wurde ein einstimmiger Konsens erzielt (inkl. Indien!), dass Islamabad sich mit den Taliban bei der Bildung einer integrativen Regierung, die Tadschiken, Usbeken und Hazaren umfasst, abstimmen wird.

Während in der 20-jährigen amerikanisch-europäischen Besatzung Afghanistans die wenigsten Gelder in nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und Armutsbekämpfung, sondern in westliche Rüstungskonzerne, Beratungsunternehmen, NGOs, in den Aufbau korrupter lokaler loyaler Strukturen flossen, hält die Deklaration fest: «Die Mitgliedsstaaten sind davon überzeugt, dass ein wichtiger Schwerpunkt des weltweiten Kampfes gegen den Terrorismus darin bestehen sollte, den Terrorismus seiner sozialen Grundlagen zu berauben, einschliesslich der Beseitigung von Armut, Arbeitslosigkeit und Analphabetismus⁹. Das wird ihre eigenen Anstrengungen verstärken, um die Vorbereitung und Finanzierung von Terrorakten in ihrem Hoheitsgebiet zu verhindern und Terroristen sichere Häfen zu verweigern, die Zusammenarbeit bei der Ermittlung, Verhütung und Unterdrückung der Aktivitäten von Organisationen und Einzelpersonen, die an Terrorismus, Separatismus und Extremismus beteiligt sind, verstärken.»

Nachdem die armen Nachbarstaaten viele Jahre Kriegsflüchtlinge aus Afghanistan beherbergt haben, «halten (sie) es für wichtig, dass die internationale Gemeinschaft aktive Anstrengungen unternimmt, um ihre würdige, sichere und nachhaltige Rückkehr in ihre Heimat zu erleichtern». Während die EU annimmt, dass die Bevölkerung vor den Taliban flüchtet und Flüchtlingsströme aus Afghanistan heraus befürchtet, ist ja, z. B. in Pakistan, die gegenteilige Bewegung wahrzunehmen. Jetzt, nach Beendigung des Kriegs und der amerikanischen Besatzung, wollen viele wieder nach Afghanistan zurückkehren. Die westliche Gemeinschaft soll hier in die Pflicht genommen werden, die Repatriierungen zu unterstützen. Aufgrund der durch die westlichen Besatzungsmächte hinterlassenen ungleichgewichtigen Wirtschaftsstruktur, der Entlassung und des Wegfalls der Bezahlung von Hunderttausenden Afghaninnen und Afghanen10 und von Stützungszahlungen sowie der Blockade der afghanischen Zentralbankgelder im Wert von USD 9 Milliarden durch die USA verschlechtert sich rasant die soziale Lage für die Bevölkerung. «Fast 23 Millionen der rund 40 Millionen Menschen im Land leiden derzeit Hunger, sagt Martin Rentsch vom UN-Welternährungsprogramm (WFP)»11. Nach Uno-Schätzungen könnten bis Mitte 2022 97 % der Bevölkerung unter die absolute Armutsschwelle abrutschen – eine vor allem für Frauen und Kinder katastrophale Situation. Es ist unerträglich, dass der Westen die Menschen hungern und verhungern lässt, statt pragmatische Wege zu finden, über die Taliban, die nun einmal jetzt die Kontrolle über das Land ausüben und über internationale Organisationen die Bevölkerung mit Nahrung, Winterkleidung und Medikamenten zu unterstützen. Die EU und die Mitgliedsstaaten täten gut daran, zur Lösung des Afghanistan-Problems die pragmatische Kooperation mit der SCO zu suchen. Auch den panischen Bemühungen der EU (so auch die Reise das österreichischen Aussenministers Linhart nach Zentralasien), zu verhindern, dass afghanische Flüchtlinge nach Europa kommen, ist am besten gedient, indem man über Luft- und Landwege umfangreiche Unterstützung direkt nach Afghanistan liefert.

Aber zurück zur Sitzung in Duschanbe und zur Deklaration. Es wurde von den SCO-Mitgliedsstaaten auch beschlossen, Möglichkeiten zu sondieren, die Verrechnung der gegenseitigen Handelslieferungen in lokaler Währung abzuwickeln, um Kosten und Risiken durch die Dollar-Verwendung zu minimieren. Das könnte den Mitgliedsländern helfen, potenzielle US-Sanktionen wie das Einfrieren von US-Dollar-Vermögenswerten (letztes Beispiel Afghanistan) sowie ein Verbot der Verwendung des internationalen SWIFT-Zahlungsverkehrssystems zu umgehen und so die finanzielle Sicherheit der Region zu gewährleisten.

Weiters wurde in Duschanbe beschlossen, die Konsultationen über die Einrichtung einer «SCO Development Bank» und eines «SCO Development Fund» zur Sicherstellung der Finanzierung gemeinsamer Projekte fortzuführen.

Die EU und Eurasien – geopolitische Ignoranz

Von Seiten der EU gab es zeitweise Gesprächskontakte des früheren «Special Representative of the European Union for Central Asia» Peter Burian mit dem SCO-Generalsekretär Vladimir Norov. Es gibt aber keine formellen Beziehungen und keine politischen Statements und Einschätzungen der EU zur SCO. Die neue seit Juli 2021 bestellte Repräsentantin der EU, Terhi Hakala, ist eine finnische Diplomatin, die Ende August ihren ersten Besuch in Usbekistan absolvierte. 

Die EU hat zwar am 15. Mai 2019 eine Zentralasienstrategie veröffentlicht, nach dem Prinzip «viele schöne Worte, wenig Geld und der Zeit hintennach». Diese Strategie bezieht sich aber nur auf die einzelnen zentralasiatischen Stan-Staaten und nicht auf die SCO insgesamt. Die EU sieht die SCO noch als rein zentralasiatische Organisation und als «regional security structure», wobei eben die Bedeutung der SCO seit Jahren weit darüber hinausgeht. Die EU hat vor, die Entwicklungen der SCO zu «beobachten». Die EU-Kommission nimmt zwar immer in Anspruch nicht «naiv» zu sein, verschläft aber zum Nachteil Europas wichtige geopolitische Entwicklungen in drei Fünftel von Eurasien.

Das grundlegende Problem ist, dass die EU gar nicht versteht und sich nicht bewusst ist, welche grossen strukturellen Verschiebungen sich ausgehend von Eurasien entwickeln – im Kern durch die russisch-chinesische Zusammenarbeit. Die EU hat die Wahl zwischen Juniorpartner und Befehlsempfänger der USA in einem transatlantischen Bündnis zu bleiben oder unabhängige, selbstbestimmte Politik in einer multipolaren eurasischen Kooperation zu betreiben. Die EU weiss nicht, wie sie ihre Unabhängigkeit «leben» soll, da das Verständnis für die tatsächlichen realen Alternativen fehlt. Während «verkauft» wird, dass nach alter Kanonenboot-Manier die Entsendung von Kriegsschiffen in den Westpazifik ein Zeichen für die Unabhängigkeit Europas ist, ist es in Wirklichkeit ein Zeichen für die Unterordnung unter das geopolitische US-Interesse der Eindämmung Chinas von Osten her. Während «verkauft» wird, dass Sanktionen und Drohungen gegen Russland ein Zeichen für die Unabhängigkeit Europas sind, sind es in Wirklichkeit Anzeichen für die Unterordnung unter das US-Interesse der Eindämmung Russlands von Westen her. Während sich die EU vom verlogenen Menschenrechte-Gesäusel der USA einfangen lässt und die USA in ihren Hegemoniebestrebungen unterstützt – im Westen gegen Russland, im Osten gegen China – passieren ungeheure Veränderungen und Entwicklungen am Kontinent, von denen Europa als gleichberechtigter Kooperationspartner profitieren und das grosse Entwicklungspotential Eurasiens mit heben könnte.

Dazu Professor Glenn Diesen: «Die chinesisch-russische Partnerschaft zum Bau einer Grossregion Eurasiens erzeugt eine Anziehungskraft für den gesamten Superkontinent. Europa steht vor einem Dilemma, da die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit es erfordert, ein stärkeres Vertrauen zu chinesischen Technologien, russischer Energie, neuen eurasischen Verkehrskorridoren und neuen Finanzinstrumenten zu akzeptieren. Die fehlende Anpassung an die sich ändernde internationale Machtverteilung wird Europa somit weniger wettbewerbsfähig zurücklassen und es zwingen, sich unter die Schirmherrschaft der USA zurückzuziehen.»12

Es ist zu hoffen, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten die Zeichen der Zeit erkennen und sich an die neue geopolitische Situation als gleichberechtigte Partner anpassen.

* Mag. Robert Fitzthum, Ökonom und Beobachter der weltpolitischen Entwicklungen; lebt seit einigen Jahren in China; Redaktionsmitglied von «International»; Autor von «China verstehen» im ProMedia Verlag 2018 und «Erfolgreiches China» im Goldegg Verlag 2021

 

¹ http://eng.sectsco.org/ 
² Eurasiens Fläche beträgt 55 Mio. km², davon die westliche Halbinsel Europa ohne Russland 6 Mio km², also nur etwas mehr als ein Zehntel der Fläche Eurasiens
³ Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Fischer Taschenbuch Verlag 1999; Brzeziński ist ein sehr interessanter Autor. Er ist ein Realpolitiker und schreibt klar heraus aus US-Sicht, was Sache ist. Er verbrämt keine amerikanischen Aktionen als «moralisch» und «demokratisch» notwendig, sondern zeigt, worum es geht: um wirtschaftliche Interessen und Machtpolitik zur Durchsetzung der wirtschaftlichen Interessen.
⁴ Zbigniew Brzeziński, a.a.O.
⁵ Diese Formulierung grenzt sich ab von der amerikanischen «rules based order«, die eine US-geführte Weltordnung auf Basis amerikanischer rules/Richtlinien ausdrückt
⁶ Glenn Diesen: Europe as the Western Peninsula of Greater Eurasia – Geoeconomic Regions in a Multipolar World. Roman & Littlefield Publishing Group, 2021
⁷ Turkmenistan ist als einziger Nachbar Afghanistans nicht in der SCO beteiligt
https://mea.gov.in/bilateral-documents.htm?dtl/34275/Dushanbe_Declaration_on_the_Twseunctiheethn_Anniversary2_o3f_Stheep_S2h0an2g1ha2i1_C:5o2op:4e2ratUioTnC_O
⁹ Nach 20 Jahren westlicher Besatzung können nur 1/3 der Mädchen lesen und schreiben!
10 Die Absetzbewegung mit den westlichen Truppen und NGO’s kooperierender Personen ist zu einem erklecklichen Ausmass mehr mit ihrer durch die Entlassungen verursachten Arbeitslosigkeit und «No Future»-Angst zu erklären als mit der Angst vor den Taliban
11 www.derstandard.at/story/2000131228934/afghanistan-auf-dem-weg-zur-groessten-humanitaeren-krise-der-welt
12 Glenn Diesen, a.a.O.

Quelle: International – Die Zeitschrift für internationale Politik. Ausgabe VI, 2021

Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.

«Mit Angst lässt sich gut regieren»

«Die Krankenhäuser waren zu keinem Zeitpunkt mehr überlastet als bei den jährlichen Grippewellen»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Es ist offensichtlich, dass sich die «Pandemie» mit Omikron im Endstadium befindet, dennoch will die Bundesregierung eine Impfpflicht einführen. Wozu?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Das frage ich mich auch. Auf die gerade laufende Omikron-Welle dürfte sie keinen Einfluss mehr haben. Deshalb begründet Gesundheitsminister Lauterbach die Impfpflicht mit einer möglichen gefährlichen Mutation des SARS-COV-2-Virus im Herbst, für die dann noch ein Impfstoff entwickelt werden müsste. Ich halte das für spekulativ, damit lässt sich meines Erachtens kein so weit reichender Grundrechtseingriff begründen. Manchmal habe ich den Eindruck, es geht der Regierung darum, die Angst der Menschen zu nutzen, um autoritäre Massnahmen zu legitimieren.

Vor ein paar Monaten haben sowohl Frau Merkel als auch der jetzige Nachfolger im Amt, Olaf Scholz, eine Impfpflicht ausgeschlossen. Warum jetzt die 180Grad-Kehrtwende? 

Das ist wirklich ein einmaliger Vorgang der jüngeren Geschichte. Fast alle Politiker hatten im Wahlkampf die Impfpflicht kategorisch ausgeschlossen. Auf der Webseite des Gesundheitsministeriums wurde eine mögliche Impfpflicht als «fake news» unter «Verschwörungstheorien» aufgeführt. Im November wurde das dann klammheimlich gelöscht. Binnen weniger Wochen haben viele Politiker, darunter Scholz, Merkel und Lauterbach, ihre Position um 180 Grad gedreht. Begleitet wurde dieser Schwenk von einer beispiellosen Kampagne gegen Ungeimpfte, es war von einer «Tyrannei der Ungeimpften» die Rede, obwohl mittlerweile klar war, dass Geimpfte das Virus genauso weiterverbreiten wie Ungeimpfte, dass also die Impfung leider nicht zu einer sterilen Immunität führt, wie es zunächst kommuniziert wurde und wie es bei der Pocken- oder Masern­impfung der Fall ist.

Seit Beginn der Pandemie wurde die Impfung als einziger Ausweg präsentiert. 

Ich hatte damals gesagt, dass die Impfung ein wichtiger Baustein neben wichtigen anderen Bausteinen sein kann. Dazu gehören auch die Entwicklung von Medikamenten, eine frühzeitliche Behandlung bei auftretenden Symptomen, die Stärkung des natürlichen Immunsystems der Bevölkerung und die Stärkung des öffentlichen Gesundheitssystems. Zynischerweise wurden mitten in der Pandemie in Deutschland Intensivbetten abgebaut und mehrere Dutzend Krankenhäuser geschlossen.

Warum ist das so?

Die Interessen, die hinter dieser fragwürdigen Pandemiepolitik liegen, sind meines Erachtens vielfältig: Das Interesse, einen Durchbruch in der m-RNA-Technologie zu erzielen, die Interessen mächtiger Geldgeber wie der Gates-Foundation, die nicht nur die WHO finanzieren, sondern auch deutsche Institute wie das Robert-Koch-Institut oder willfährige Medien, das Interesse der Big-Tech-Konzerne an der Überwachung der Bevölkerung und nicht zuletzt die Erfahrung vieler Politiker, dass sich mit Angst gut regieren lässt.

Lässt sich die Einführung einer Impfpflicht überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbaren?

Aus meiner Sicht nicht. Sie müsste verhältnismässig, erforderlich und angemessen sein. Meines Erachtens trifft keiner der Punkte zu.

Die Argumentation für einen Lockdown oder später für die Impfung bezog sich immer auf die Überlastung der Spitäler. Davon sind wir aber weit entfernt. Wie will man diese Impfpflicht rechtfertigen? 

Die Krankenhäuser waren zu keinem Zeitpunkt mehr überlastet als bei den jährlichen Grippewellen. Wenn man gar nichts gemacht hätte, wäre das vermutlich anders gewesen, deshalb habe ich immer einen mehrgleisigen Ansatz vorgeschlagen, in dessen Mittelpunkt der Schutz der Vulnerablen steht. Jetzt wird die Impfpflicht mit einer möglichen gefährlichen Mutation im Herbst begründet. Natürlich kann das kein Mensch seriös vollkommen ausschliessen. Allerdings gehen viele Epidemiologen gegenwärtig davon aus, dass die Pandemie mit Omikron in eine Endemie übergeht und damit ihren Schrecken verliert. Eine kluge Regierung sollte zwar Notfallpläne für solch unwahrscheinliche Szenarien entwickeln, allerdings darauf verzichten, eine ohnehin schon traumatisierte Bevölkerung in einem Dauerzustand der Angst zu halten.

Welchen Nutzen soll die Impfung haben, wenn im Bundesland Bremen mit einer Impfquote von über 90 % die Infektionsrate am höchsten ist?

In der Tat hat Bremen innerhalb Deutschlands die höchste Impfquote. Die dortige (linke) Gesundheitssenatorin hatte frühzeitig eine aufsuchende und angebotsorientierte Impfstrategie verfolgt, indem mehrsprachige mobile Teams in den sozialen Brennpunkten entsprechende Aufklärung und Impfangebote gemacht haben. Allerdings immer auf Basis der Freiwilligkeit. Auch international kann man beobachten, dass die jeweilige nationale Impfquote stark abhängig ist vom generellen Vertrauen in die staatlichen Institutionen. Je niedriger dieses Vertrauen ist, desto niedriger ist in der Regel auch die Impfquote. Eine Impfpflicht ist hier völlig kontraproduktiv und führt nur zu mehr Misstrauen.

Könnte es sein, dass sich hier der Staat auf Jahre hinaus Durchsetzungsinstrumente verschaffen, um die Bevölkerung zu steuern und vor allem zu kontrollieren?

Es gibt zweifellos solche Überlegungen und Interessen. Ob sie tatsächlich dominant sind, kann ich nicht sicher einschätzen, manches deutet darauf hin. Deshalb ist es so wichtig, auch auf die anwendungsbezogene und zeitliche Begrenztheit etwa der Corona-Zertifikate zu drängen. Ich bin froh, dass ich eine Mehrheit für einen entsprechenden Änderungsantrag in einer neuen Europaratsresolution zu Covid-19 gewinnen konnte, auch wenn die Resolution insgesamt enttäuschend ist. Wir müssen hier weiter wachsam sein.

Wie gross ist der politische, aber auch gesellschaftliche Widerstand in Deutschland gegen eine allgemeine Impfpflicht?

In Deutschland gibt es nach veröffentlichten Umfragen immer noch eine Mehrheit für eine Impfpflicht, allerdings bröckelt die Zustimmung. Gleichzeitig gibt es seit Wochen in vielen Städten grosse Demonstrationen und «Spaziergänge» dagegen. Diese Demonstrationen werden von den grossen Medien als rechtsextremistisch oder verschwörungstheoretisch denunziert, obwohl sie eher einen Querschnitt aus der Bevölkerung darstellen. In meiner Stadt, in Aachen, werden sie eher aus dem linken politischen Spektrum organisiert. Im Bundestag gibt es zurzeit drei fraktionsübergreifende Anträge zur Impfpflicht: Einen für die allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren, einen für die Impfpflicht ab 50 Jahren und einen gegen eine allgemeine Impfpflicht. Ich unterstütze letzteren, der aus Kreisen der FDP kommt, aber auch von namhaften Linken mitgezeichnet wurde.

«Chefvirologe» Christian Drosten hat vor einer Ausbreitung der Omikron-Variante gewarnt, was nicht an der Realität orientiert war. Jetzt warnt er davor, dass Omikron von einer harmlosen Variante zu einer gefährlichen mutieren könnte. Warum hat bei einem so komplexen Thema ein einzelner Arzt so viel Medienpräsenz, während andere nicht gehört werden?

Es war seit Beginn der Pandemie ein Riesenfehler, nur bestimmte Stimmen aus der Wissenschaft zuzulassen und andere zu verunglimpfen. Das darf sich nie mehr wiederholen.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, ich danke für Ihre Antworten.

Interview Thomas Kaiser

Das Interview wurde schriftlich geführt.

«Wir dienen dem eigenen Glück, wenn wir anderen Gutes tun»

Neue wissenschaftliche Befunde zur Bedeutung der Empathie

von Susanne Lienhard

«Social distancing» in allen Lebensbereichen bis hin zu vollständiger sozialer Isolation und medial geschürte Angst dominieren nun schon seit zwei Jahren unser Zusammenleben. Kinder und Jugendliche leiden ganz besonders unter dieser Situation.

Georg Berger, leitender Arzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, schlägt Alarm. In den letzten zwei Jahren habe die Zahl der Notfalluntersuchungen von Kindern und Jugendlichen um 40 Prozent und stationäre Notfalleinweisungen gar um 70 Prozent zugenommen. 85 Prozent hätten letztes Jahr Suizidgedanken geäussert, 2019 waren es noch 68 Prozent. «Wir haben einen Notstand und sind nur noch am Feuerlöschen, so kann es nicht weitergehen!»¹

Unsere Jugend ist unsere Zukunft, und es gilt, ihr Zuversicht zu vermitteln und die Chance zu geben, ihre sozialen Potentiale zu entwickeln, die sie zu einem von gegenseitiger Menschlichkeit und Empathie geleiteten sozialen Zusammenleben befähigen und sie in die Lage versetzen, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Dies ist nur möglich in der direkten Beziehung von Mensch zu Mensch. Das «Social distancing», Einsamkeit und Angst machen krank, wie Joachim Bauer in seinem neuen Buch² eindrücklich zeigt.

Joachim Bauer trägt der aktuellen weltweiten Krisensituation Rechnung, indem er einleitend sagt: «Ein Blick in die Geschichte lehrt, dass Zeiten der Verunsicherung und Unruhe kein neues Phänomen sind, sondern immer wieder auftraten und dann häufig Leid – vor allem Kriege – nach sich zogen. […] Frieden ist keine Selbstverständlichkeit.» (S. 12) Bauer bleibt bei dieser Feststellung aber nicht stehen, sondern skizziert davon ausgehend mögliche Auswege: «Aus Unsicherheit und lähmender Trance, aus Angst und Depression, aus Desinformation und Hass herausführen kann uns einzig und alleine eine Rückkehr zu den Fakten, zu ruhiger, wissensbasierter Betrachtung und zu einem an Werten orientierten Handeln.» (S. 12 f.) Sein Buch ist dazu ein wertvoller Beitrag. 

Es braucht eine neue Aufklärung

Welche Werte sind für ein «gutes Zusammenleben» von Bedeutung? Der Philosoph Markus Gabriel ruft in seinem Buch «Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten»³ zu einer «neuen Aufklärung» auf. Joachim Bauer pflichtet ihm insofern bei, als er sagt: «Humanität, ist die Ausrichtung an den Idealen der Aufklärung: Befreiung des Menschen aus Unmündigkeit, Gleichwertigkeit aller Menschen und zwischenmenschliche Solidarität.» (S. 14) Bereits Aristoteles beschrieb den Weg zum Glücklichwerden, zur «Eudaimonia», zum «guten Leben» als ein ständiges Suchen, bei dem man persönlich wächst, sein Potential entfaltet, die zwischenmenschliche Verbundenheit vertieft und versucht, im Leben praktisch klarzukommen, aber auch über die grossen Fragen des Lebens nachdenkt. (vgl. S. 16) Bauer ist sich aber durchaus bewusst, dass es nicht reicht, zu wissen, was das Gute ist. Er geht deshalb der Frage nach, welche Potentiale wir Menschen besitzen und wie wir sie entfalten können, um das Gute auch zu tun.

Die innere Einstellung zum Leben

Zahlreiche Studien zeigen, dass eine sinngeleitete, prosoziale Einstellung zum Leben der psychischen und physischen Gesundheit förderlich ist und gar einen neurobiologischen Fingerabdruck im Gehirn hinterlässt. Dieser Befund bewog Genforscher dazu, zu untersuchen, ob eine bestimmte Einstellung gegenüber dem Leben auch Auswirkungen auf die Gene hat. Gene gelten als eine Art höchster und letzter Instanz, wenn es um die Frage geht, was der Mensch seiner Natur nach sei. Seit Darwin vertreten manche Evolutionsbiologen und Wirtschaftswissenschaftler das Dogma, der Mensch sei ein primär auf Egoismus, Wettbewerb und gegenseitige Verdrängung ausgerichtetes Wesen. Richard Dawkins versuchte in seinem 1976 veröffentlichten Buch «Das egoistische Gen», den Egoismus als vorherrschendes biologisches Prinzip darzustellen. Obwohl Dawkins nie an Genen geforscht hatte und seine Thesen wissenschaftlich unhaltbar sind, dient dieses Werk bis heute einem zunehmend entfesselten Kapitalismus als biologische Legitimation. (vgl. S. 19)

Das empathische Gen

Joachim Bauer widerlegt in seinem Buch diese falsche Theorie und zeigt, dass die Gene als solche menschliches Verhalten nicht bestimmen, der Lebensstil hingegen die Aktivität der Gene beeinflusst. Der Mensch hat rund 23 000 Gene, die in ihrer Gesamtheit das menschliche Genom, das Erbgut, bilden. Sie sitzen in den Zellkernen und enthalten die Baupläne für rund 30 000 Proteine, die in unserem Körper den gesamten Stoffwechsel steuern. Früher wurde angenommen, dass gute oder schlechte Gene über Gesundheit und Krankheit bestimmen. Heute weiss man jedoch, dass nicht die Gene an sich, sondern die Art und Weise, wie sie «bespielt» werden, unsere Gesundheit beeinflussen. Joachim Bauer vergleicht unser Genom mit einem Klavier: «Die Pianistinnen und Pianisten, die an diesem Klavier spielen, sind unsere Lebensstile und die Erfahrungen, die wir im Leben machen. […] Die grosse Mehrheit aller Erkrankungen ist nicht erblich, sondern wird dadurch verursacht, dass die Klaviatur unserer Gene in einer Art und Weise bespielt wurde, die – um im Bild zu bleiben – zu Miss­klängen oder zu einer Beschädigung des Klaviers geführt hat.» (S. 21) Die Erkenntnis, dass neben Umwelteinflüssen auch die innere Grundeinstellung zum Leben und zu den Mitmenschen die Aktivität unserer Gene beeinflusst, war ein sensationeller wissenschaftlicher Durchbruch.

Viele Krankheiten sind Folgen einer latenten Entzündungsreaktion

Unser Körper reagiert auf schädigende Einwirkungen mit einer Entzündungsreaktion, indem der Körper Gene für die Herstellung von Entzündungsbotenstoffen aktiviert. Während im Falle einer Infektion oder nach einer Verletzung die Entzündung Teil des Heilungsprozesses ist, gibt es auch unheilvolle, kaum wahrnehmbare schleichende Entzündungsprozesse, die erst beim Auftreten von entsprechenden Symptomen, wie schwere Arterienverkalkung, ein Krebsleiden, eine Demenzerkrankung und anderes mehr manifest werden. An einer solchen chronischen Entzündungsreaktion nehmen rund 50 Gene teil. Die moderne Gentechnik hat Methoden entwickelt, die Aktivität dieser Risikogene zu bestimmen und eine unterschwellige Entzündung schon im Frühstadium zu erkennen. Dabei zeigte sich, dass nicht nur eine gesunde Lebensweise zur Befriedung der Risikogene führt, sondern auch die innere Lebenseinstellung einen entscheidenden Einfluss auf die fatale Aktivität der Risikogene hat: Bei Menschen, die prosozial und empathisch eingestellt sind und sich um ein sinngeleitetes Leben bemühen, ist die Aktivität der Risikogene deutlich vermindert, bei Personen, die aussschliesslich um das eigene Wohlergehen bemüht sind, ist die Aktivität jedoch erhöht. (vgl. S. 25 ff.)

«Wer aus freiem Willen hilft, aktiviert gute Gene»

Bauer berichtet in der Folge von einem interessanten Experiment, das obige Erkenntnisse bestätigt. In Kalifornien leiden wie auch bei uns viele Schülerinnen und Schüler an Motivations- und Konzentrationsmangel und haben Probleme mit ihrem Sozialverhalten. Um diesen Kindern einen Menschen zur Seite zu stellen, der sie begleitet, der ihnen das Gefühl gibt, dass es nicht egal ist, wie sie sich entwickeln, der sie liebevoll korrigiert und ihnen Grenzen setzt, wenn sie rote Linien überschreiten, wurden Freiwillige, die nicht mehr im Erwerbsleben standen, gesucht und in einem einwöchigen Kurs zu Schulbegleiterinnen und Schulbegleitern ausgebildet. Alle bekamen ein Schulkind zugeteilt, das sich in familiären oder schulischen Schwierigkeiten befand. Ihre Aufgabe bestand darin, es während 9 Monaten zu begleiten. Um schwierige Situationen besprechen zu können, nahmen sie wöchentlich an einer Supervision teil. Steve Cole, Pionier der «Social Genomics»-Forschung und eine junge Nachwuchsforscherin hatten die Idee, die Schulbegleiter  ihrerseits zu begleiten. Sie wollten von den Mentorinnen und Mentoren erfahren, für wie sinnhaft sie ihr Leben empfanden und wie es um die Aktivität ihrer Risikogene bestellt war.

Im Verlauf des Projektes zeigte sich bei allen Teilnehmern eine eindeutige Zunahme des Gefühls, dass ihr Leben einen Sinn habe und sie mit ihren Mitmenschen in einer besseren inneren Verbindung stünden. Die Messung der Aktivität der Risikogene zeigte parallel dazu eine drastische Abnahme. (vgl. S. 31 ff.)

Für Joachim Bauer ist klar: «Menschen, die wie die Mentorinnen und Mentoren Gemeinsinn entwickeln und anderen Menschen aus freien Stücken helfen, tun nicht nur anderen Gutes. Sie verbessern nicht nur ihre eigene Lebensqualität und ihr psychisches Befinden. Sie rufen, indem sie Gutes tun, im eigenen Körper ein Genaktitivitätsmuster hervor, welches das Risiko für Herz-Kreislauf-, Krebs- und Demenzerkrankungen vermindert.» (S. 33)

Empathie muss erworben werden

Eine menschenfreundliche Einstellung zum Leben vermag also die Aktivität unserer Gene positiv zu beeinflussen. Empathisch, einfühlsam gegenüber anderen Menschen eingestellt sein, können Menschen allerdings nur, wenn sie selbst Empathie erlebt haben. Empathie ist nicht angeboren, nur die Fähigkeit, sie zu entwickeln. Es ist also entscheidend, wie ein Kind ins Leben eingeführt wird und welches Selbstbild es dabei entwickelt.

Joachim Bauer erwähnt als wichtige Faktoren für die Entwicklung von Empathie beim Kind eine sichere Bindung zu den ersten Beziehungspersonen, die es einfühlsam begleiten. Er erinnert, dass das kindliche Spiel eine der einfachsten und zugleich wirksamsten Formen der Empathieförderung ist. Für besonders anregend für die Fantasie und die soziale Entwicklung des Kindes erachtet er das Rollenspiel: «Nichts bietet dem Kind eine derart fantasiestimulierende und dabei völlig zwanglose Möglichkeit, die Perspektiven anderer auszuprobieren, zu erkunden und zu erfühlen wie das Spiel.» (S. 71) Eine weitere Möglichkeit für Eltern und Erzieherinnen und Erzieher, die eigene Empathie ins Spiel zu bringen, besteht im Vorlesen: «Es hilft, die soziale Vorstellungskraft – eine bedeutsame Komponente der Empathie – anzuregen und wachsen zu lassen.» (S. 72)

Kein «gutes Leben» ohne gute Schulen

Auch die Schule kann massgeblich zur Entwicklung von Empathie beitragen. Joachim Bauer sieht die wahre Misere des Bildungssystems in der Missachtung der Bedeutung der Lehrer-Schüler-Beziehung: «Wenn Kinder und Jugendliche keine Resonanz auf das erhalten, was sie tun, wenden sie sich ab. In die Resonanzlücke stossen dann die sozialen Medien und die sonstigen Angebote des Internets. […] Beziehungsorientierte Pädagogik ist keine Watte-Pädagogik, sondern Pädagogik mit beidem: Empathie und natürlicher Autorität. Empathie im schulischen Kontext bedeutet, auf die Person der Kinder und Jugendlichen zu fokussieren, ihre Perspektiven zu berücksichtigen und sie zu ‹sehen›. Natürliche Autorität besteht in der Notwendigkeit, über die Regeln im Gespräch zu sein, ohne die gemeinschaftliches Lernen, die Welt erforschen und Arbeiten nicht möglich ist.» (S. 73 f.) Joachim Bauer betont, dass für eine natürliche Autorität eine gute Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften untereinander sowie zwischen Lehrkräften und Eltern unabdingbar ist.

Bildung und Kultur: Alliierte für Frieden

Auch das Kulturleben und -erleben stärkt erwiesenermassen das Gefühl zwischenmenschlicher Verbundenheit. Joachim Bauer veranschaulicht diese Erkenntnis am Beispiel der Musik: «Wenn Menschen sich gemeinsam an Musik erfreuen, erzeugt dies starke Gefühle der Verbundenheit und Zugehörigkeit und kann Gefühle gegenseitiger Empathie hervorrufen. […] Die Musik überwindet ethnische, nationale und religiöse Grenzen. Die Klänge oder Gesänge einer fremden Kultur zu hören begünstigt bei unvoreingenommenen Menschen eine sympathisierende Einstellung dieser Kultur gegenüber und ruft Gefühle der Sympathie hervor. Miteinander zu musizieren trainiert bei den Musizierenden verschiedene Aspekte der Empathie: gemeinsame Aufmerksamkeit, Synchronisation und die intuitive Antizipation dessen, was andere im nächsten Moment tun werden.» (S. 80)

Joachim Bauers grosses Verdienst ist es, anhand neuster medizinischer Erkenntnisse zu zeigen, dass die Natur uns alle nötigen Voraussetzungen zu einem friedlichen Zusammenleben schenkt und dass das Dogma des egoistischen, auf Wettbewerb und Kampf eingestellten Menschen jeglicher wissenschaftlichen Grundlage entbehrt. Wenn es Kriege, Gewalt und Aggression gibt, so ist das nicht auf die menschliche Natur zurückzuführen, sondern auf einen grundsätzlichen Mangel an Empathie, der seinen Ursprung vor allem in Erziehung und Bildung hat.

Kinder erwerben Empathie nur, wenn sie erleben, dass ihre ersten Beziehungspersonen emotional präsent und mit ihnen im Dialog sind. Mütter, die während des Stillens ihre Mails checken oder Väter, die beim Kinderwagenschieben, ihr Facebook-Konto konsultieren, sind nicht beim Kind und können ihm die nötige emotionale Sicherheit nicht geben, die es braucht, um seinerseits Empathie zu entwickeln. 

Auch in der Schule braucht es ein grundsätzliches Umdenken. Mit den derzeit geförderten individualisierten Lehr- und Lernformen, der Reduktion des Lehrers zum Coach und der Verschiebung vom analogen Lernen, das im zwischenmenschlichen Spannungsfeld stattfindet, hin zum digitalen Lernen, beim dem die Kinder und Jugendlichen hinter ihren Bildschirmen allein gelassen werden, kann Empathiebildung nur bedingt stattfinden, da der direkte menschliche Kontakt auf ein Minimum reduziert wird. Die Bedeutung der pädagogischen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler muss zwingend wieder ins Zentrum gerückt werden. Eine präsente, fördernde und fordernde Lehrperson, die die Klasse als Ganzes und die einzelnen Schülerinnen und Schüler im Auge hat und anleitet, ist von fundamentaler Bedeutung bei der Entwicklung von Empathie.

Die Tatsache, dass seit rund 10 Jahren und insbesondere während der zwei Jahre des «Social distancing» die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Suizidgedanken derart zugenommen hat, ist ein Alarmzeichen. Die Pandemiemassnahmen haben während zwei Jahren die Menschen voneinander entfremdet und sie sozial isoliert. Wir brauchen aber alle ein menschliches Gegenüber, den menschlichen Austausch, das Gefühl, von anderen verstanden und geschätzt zu werden. Wenn uns das genommen wird, entwickeln wir Angst, Hass und Aggressivität und werden krank. Angst und Hass blockieren zudem das freie Denken und machen uns anfällig für Manipulation.

Wir müssen also alles daran setzen, der Empathieförderung in Erziehung und Bildung einen zentralen Platz einzuräumen. Wenn es uns gelingt, eine sinngeleitete, prosoziale Grundhaltung gegenüber dem Leben und unseren Mitmenschen zu entwickeln, dient dies nicht nur der körperlichen und psychischen Gesundheit jedes einzelnen, sondern befähigt uns auch, die Herausforderungen der Zukunft gemeinsam zu meistern.

¹ Sonntagszeitung.ch vom 23.01.2022, www.pukzh.ch/default/assets/File/Aktuelles/2022_01_23_SonntagsZeitung.pdf
² Joachim Bauer: Das empathische Gen. Humanität, das Gute und die Bestimmung des Menschen. Freiburg im Breisgau 2021. ISBN 978-3-451-03348-3.

Joachim Bauer ist Facharzt für Innere Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, und war nach seinem Medizinstudium viele Jahre in der Gen- und dann in der Hirnforschung tätig.
³ Markus Gabriel: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Ullstein Verlag, Berlin 2020

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