«An Julian Assange soll ein Präzedenzfall etabliert werden»

«Pressefreiheit und Informationsfreiheit der westlichen Öffentlichkeit würden entscheidend eingeschränkt»

Interview mit Professor Dr. Nils Melzer*, Uno-Sonderberichterstatter über Folter

Professor Dr. Nils Melzer (Bild zvg)
Professor Dr. Nils Melzer (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Sie engagieren sich im Fall Julian Assange. Warum tun Sie das?

Professor Dr. Nils Melzer Zunächst muss ich klarstellen, dass ich nicht der Anwalt von Julian Assange bin, sondern ich setze mich für den Rechtsstaat und für das Folterverbot ein. Natürlich verteidige ich die Folteropfer. Beim Fall Assange zögerte ich aber anfänglich sogar, mich darauf einzulassen.

Warum?

Ich denke, das hängt mit dem negativen Bild zusammen, das die Presse jahrelang über Julian Assange verbreitet hat. Nachdem ich die ersten Beweismittel und Gutachten von Ärzten, Experten und anderen Uno-Gremien gelesen hatte, wurde ich mir meiner eigenen Vorurteile jedoch bewusst und sah mir den Fall genauer an. Sobald man dort an der Oberfläche etwas kratzt, kommt sehr viel Schmutz zum Vorschein, sehr viel Missbrauch von Behörden. Je tiefer ich in die Materie eingedrang, um so schlimmer wurde es. Es wurde mir klar, wie stark der Fall verpolitisiert war, und so beschloss ich schliesslich, diesen Mann persönlich im Gefängnis zu besuchen, um mir ein objektives Bild von ihm und seiner Situation machen zu können. 

Haben Sie ihn alleine besucht?

Nein, ich war in Begleitung zweier Ärzte, die spezialisiert sind auf die Untersuchung von Folter­opfern. Sie sind beide sehr erfahren und können sehr gut unterscheiden zwischen den Konsequenzen von Folter und den Stresssymptomen eines normalen Haftregimes. Im Mai 2019 besuchten wir Assange also zu dritt im Gefängnis Belmarsh. Wir hatten vier Stunden zur Verfügung, und die Ärzte untersuchten ihn unabhängig voneinander. Danach waren wir uns alle einig: Assange zeigte tatsächlich die typischen Symptome von Opfern psychologischer Folter.

Wie hat sich das gezeigt?

Die detaillierten ärztlichen Diag­nosen sind natürlich vertraulich. Aber grundsätzlich handelte es sich um extreme posttraumatische Stresssymptome, aber auch messbare neurologische und kog­nitive Beeinträchtigungen, die typisch sind für das Gesamtbild von Isolationshäftlingen. Als Folterberichterstatter der Uno bin ich regelmässig damit konfrontiert. Die nächste Frage ist natürlich, woher diese Symptome kommen, denn sie könnten theoretisch auch andere Ursachen haben als Folter oder Misshandlung. Assange war sechs Jahre lang in der ecuadorianischen Botschaft blockiert und immer den gleichen Einflüssen ausgesetzt, welche daher mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die beobachteten Symptome verursacht haben mussten. Meine Untersuchungen ergaben für diese Zeit denn auch ein Gesamtbild verschiedener, sich gegenseitig verstärkender Missbräuche gegenüber Assange, und zwar von allen involvierten Behörden. 

Welche Behörden waren das?

Das waren zum einen die Vergewaltigungsvorwürfe der schwedischen Behörden, welche nie im guten Glauben untersucht wurden, sondern ganz bewusst zum Zweck der öffentlichen Dämonisierung von Assange missbraucht worden sind. 

Wie meinen Sie das?

Die schwedische Staatsanwaltschaft hat diese Vorwürfe rechtswidrig über die Massenmedien verbreitet, hat entlastendes Beweismaterial unterdrückt und Assange keine Möglichkeit gegeben, sich dagegen zu verteidigen, ohne gleichzeitig eine Auslieferung an die USA zu riskieren, wo er mit Sicherheit schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt würde. Die schwedischen Behörden hatten hinter den Kulissen alles daran gesetzt, dass es nicht zu einem Prozess kam, bei dem man ihn mangels Beweisen hätte freisprechen müssen. Da er im ecuadorianischen Asyl war, konnte man ihm das alles bequem in die Schuhe schieben. Aber auch die britischen Behörden haben das Verfahrensrecht systematisch verletzt.

Mit welchem Vorgehen?

Assange sitzt seit April 2019 in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis, und zwar unter sehr restriktiven Bedingungen, welche mit Isolationshaft vergleichbar sind und ihm den Kontakt mit seinen Anwälten, seiner Familie und anderen Insassen extrem erschweren. Das hat seinen Gesundheitszustand zusätzlich verschlimmert. Das ist weder notwendig noch verhältnismässig, denn er ist ja kein Straftäter, sondern sitzt in reiner Auslieferungshaft. Der chilenische Ex-Diktator Pinochet wurde in der gleichen rechtlichen Situation im Hausarrest in einer Londoner Villa untergebracht. Auch das amerikanische Auslieferungsverfahren sowie die Ausweisung aus der ecuadorianischen Botschaft waren von schweren Verfahrensverletzungen gekennzeichnet. Man sieht ganz deutlich, seit zehn Jahren werden die Rechte dieses Mannes systematisch verletzt. Das sind nicht nur die Unregelmässigkeiten, die in jedem Verfahren einmal vorkommen können. Es geht hier um Länder wie Schweden, Grossbritannien oder die USA. Diese Länder haben hoch entwickelte Rechtssysteme, in denen so etwas nicht zufällig passiert. 

Wie ist denn in diesem Zusammenhang der Entscheid über die Nichtauslieferung zu beurteilen?

Das ist keine Geste der Menschlichkeit. Das Gericht hat ganz bewusst die Logik des US-amerikanischen Strafverfahrens wegen der Spionage und der Veröffentlichung von geheimen Dokumenten bestätigt. Am Schluss schreibt das Gericht dann, man liefere ihn nur deshalb nicht aus, weil er psychisch krank sei und die amerikanischen Haftbedingungen ihn daher höchstwahrscheinlich in den Selbstmord treiben würden. Aus rechtlicher Sicht haben die Briten aber alles bestätigt, was die USA wollen. Den USA ist nämlich vor allem daran gelegen, dass man in Zukunft einen abschreckenden Präzedenzfall hat, demgemäss jeder Journalist, der geheime Informationen der USA veröffentlicht, als Spion verfolgt werden kann. Und diesem Ziel sind sie mit diesem Urteil einen grossen Schritt näher gekommen. 

Was hat dann der Zusatz, ihn wegen seines Gesundheitszustands nicht auszuliefern, für eine Bedeutung?

Man hofft wahrscheinlich, dass die Anwälte von Assange nun nicht in Berufung gehen, damit dieses Präzedenzurteil nicht als solches in Frage gestellt wird. Eine amerikanische Berufung hingegen wird natürlich nur den Teil des Urteils anfechten, der die Auslieferung aus medizinischen Gründen ablehnt. Wenn die US-Amerikaner nun Garantien aussprechen, dass sie Haftbedingungen anpassen und Assange einen Spezialarzt zur Verfügung stellen würden, dann könnte das Berufungsgericht den Entscheid kippen und ihn doch noch ausliefern lassen, ohne den Rest des Präzedenzurteils zu hinterfragen. Das ist jetzt das Risiko.

Was kann man dagegen allenfalls tun?

Die Anwälte von Assange müss­ten nun selbst gegen die anderen Punkte des erstinstanzlichen Urteils Berufung einlegen, damit auch diese Fragen vom Berufungsgericht diskutiert werden müssen. 

Könnte sich mit Präsident Biden die Situation für Assange ändern?

Es könnte sein, dass Präsident ­Biden nicht unbedingt einen Spionageprozess möchte, da er hiermit einen Konflikt mit den grossen US-Medien aber auch eine Abfuhr vor dem Supreme Court riskiert. Er wäre vielleicht ganz glücklich, wenn es beim erstinstanzlichen britischen Urteil bleibt. Er könnte also die Berufung zurückziehen, entweder schon jetzt oder in einem späteren Stadium. Die Anklage in den USA könnte er aber unabhängig davon trotzdem aufrecht erhalten. Assange müsste dann zwar freigelassen werden, könnte Grossbritannien aber nicht verlassen, weil die USA in jedem anderen Land sofort wieder die Auslieferung verlangen könnte. Assange müsste dann sein ganzes Leben unter diesem Damoklesschwert verbringen. 

Mit dieser Strategie wäre er eigentlich lahmgelegt.

Ja, die USA könnten damit verhindern, dass er je wieder in seinen angestammten Beruf als Journalist oder zu Wikileaks zurückgehen könnte. Würde er das nämlich tun, könnten die USA sofort wieder die Auslieferung verlangen. Ich glaube kaum, dass diese vier Staaten zehn Jahre lang Millionenbeträge in seine Verfolgung investiert haben, um ihn jetzt aus humanitären Gründen einfach wieder freizulassen. Man muss sich schon bewusst sein: Das ist kein rechtlicher, sondern ein rein politischer Prozess.

Die Vorwürfe «Geheimnisverrat» und «Vergewaltigung» sind, nach Ihren Ausführungen zu schliessen, konstruiert?

Geheimnisverrat kann man ausschliessen, denn Assange hatte gegenüber den USA nie eine Geheimhaltungspflicht und hat die veröffentlichten Informati­onen auch nicht gestohlen, sondern hat sie publiziert wie andere Journalisten auch. Bei der Vergewaltigung muss man aufpassen. Es kann schon sein, dass er sich nicht richtig verhalten hat, das weiss ich nicht. Aber wenn man sich die beiden Vorwürfe als Jurist anhört, sieht man sofort, dass sie nicht beweisbar sind, ausser Assange würde ein Geständnis ablegen oder hätte eine einschlägige Vorstrafe. Beides war nicht der Fall. 

Dann lässt sich der in den Raum gestellte Vorwurf kaum beweisen?

In beiden Fällen hängt die Strafbarkeit von Faktoren ab, für welche es einfach keine beweistechnischen Ermittlungsmöglichkeiten gibt. Ob ein Kondom absichtlich oder versehentlich zerstört wurde, von wem und zu welchem Zeitpunkt, und ob eine Frau im Augenblick des Verkehrs geschlafen hat oder nicht, lässt sich im Nachhinein einfach nicht mit rechtsgenügender Sicherheit feststellen. Dass Assange neun Jahre lang als «flüchtiger Vergewaltiger» gebrandmarkt wurde, obwohl die Untersuchungsbehörden wussten, dass sie die Vorwürfe am Schluss nicht würden beweisen können, belegt, dass sie etwas ganz anderes damit vorhatten. 

Wie kam es denn zu den Anzeigen?

Die Frauen hatten freiwilligen Sexualkontakt mit Assange und wollten eigentlich keine Anzeige machen, sondern wollten ihn dazu bringen, einen HIV-Test zu machen. Die Behörden haben dann die Frauen überzeugt, dass hier etwas ganz Schlimmes gegen sie verübt worden sei, was man jetzt ganz zwingend strafrechtlich verfolgen müsse. Die Behörden wussten natürlich, dass der Beweis nicht gelingen konnte, doch sie wollten das publik machen, um Assanges Reputation zu zerstören. Sie haben dann die Frauen ganz bewusst dem Medieninteresse ausgesetzt, und weil sich die Vorwürfe nicht beweisen liessen, wurde den Frauen auch bald schon vorgeworfen, sie hätten gelogen. Das ist ganz perfide.

Wie ist das alles an die Öffentlichkeit gelangt?

Die Behörden haben innert Stunden den Namen von Assange und soviel Information über die Frauen an die Presse geleakt, dass diese ebenfalls nicht anonym bleiben konnten. Nach schwedischem Gesetz dürfen die Namen der Betroffenen einer Strafuntersuchung jedoch nicht veröffentlicht werden, solange es nicht zu einer Anklagerhebung kommt.

Wie ist Assange damit umgegangen?

Er hat seinen Aufenthalt in Schweden um einen Monat verlängert, hat stets voll mit der Polizei kooperiert und zwei Wochen vor seiner Abreise sogar eine Ausreisebewilligung eingeholt. Die Behörden hingegen haben gewartet, bis er aus Schweden ausreist, und erhoben dann sofort den Vorwurf, er wolle sich der Gerichtsbarkeit entziehen. Danach hat man die Vorwürfe künstlich am Leben gehalten und gleichzeitig verhindert, dass es zu einem Prozess hätte kommen können. Da sich die schwedischen Untersuchungsbehörden bewusst waren, dass Assange aufgrund der mangelnden Beweislage hätte freigesprochen werden müssen, haben sie das Verfahren ständig verzögert und auch nie Anklage erhoben. In den Medien wurde aber zehn Jahre lang bewusst das Image vom verdächtigen Vergewaltiger aufrechterhalten, der sich dem Prozess entzieht.  

Wie gelangte Assange in die ecuadorianische Botschaft?

Schweden hat an die Briten einen Auslieferungsantrag gestellt, dem er sich durch Flucht in die Botschaft entzogen hat. Er ist davon ausgegangen, dass Schweden ihn formlos an die USA weiterreichen würde. Denn Schweden hat eine einschlägige Vorgeschichte und hatte das mit anderen Personen bereits gemacht. 

Wäre das so einfach möglich gewesen?

Es gibt im Auslieferungsvertrag mit den USA einen Passus, der erlaubt, jemanden ohne Auslieferungsprozess vorübergehend an die USA «auszuleihen», das heisst dann «temporary surrender», wobei die Dauer dieser Ausleihe nicht begrenzt ist. Assange hatte stets zugesagt, dass er nach Schweden komme, wenn die Behörden ihm die Garantie gäben, ihn nicht an die USA auszuliefern. Das hat man ihm aber verweigert. Das ist der einzige Grund, warum er in der ecuadorianischen Botschaft um Asyl ersucht hat. Ecuador hat ihn nicht vor der Verfolgung des Sexualdelikts geschützt, sondern nur vor der Auslieferung an die USA. Assange hat sich also dem schwedischen Prozess nie entzogen. 

Man hat den Eindruck, dass Julian Assange fertiggemacht werden soll, weil er Unangenehmes aufgedeckt hat. 

Wenn Journalisten zuverlässige Beweise über Verbrechen und Korruption von Behörden bekommen, werden sie diese aller Voraussicht nach veröffentlichen. Das ist auch die Funktion der Presse. Aufgrund Assanges Veröffentlichungen wurde niemand gefährdet, ausser vielleicht die Straflosigkeit der Verbrecher. Auch hat er entgegen verbreiteten Behauptungen grossen Aufwand betrieben, Namen zu zensurieren. Der Vorwurf, er hätte alles ungeschützt veröffentlicht, stimmt so nicht. Aber ein Guardian Journalist hat in einem Buch das Passwort veröffentlicht, das den Zugang zu allen zensurierten Dokumenten erlaubt hat. Daraufhin hat Assange sich entschlossen, die davon betroffenen Dokumente auch bei WikiLeaks unzensuriert zu veröffentlichen. Deswegen wird er heute verfolgt, also eigentlich für die Weiterverbreitung von Material, das bereits öffentlich zugänglich war.

Hat man den Guardian Journalist auch verfolgt?

Nein, nie.

Nach Ihren Ausführungen stellt sich doch die Frage, wie ist das möglich, dass man hier so offensichtlich Rechtsgrundsätze gebrochen hat und, wie Sie am Anfang ausgeführt haben, vor Formen von psychischer Folter nicht zurückschreckt. Hat sich das Vorgehen gegen Menschen, die sich gegen den Mainstream stellen oder Machenschaften von Regierungen aufdecken, in den letzten Jahren verschärft? 

In der Folge von 9/11 können wir beobachten, dass Folter leider wieder vermehrt praktiziert wurde mit den Aktivitäten der CIA in Guantánamo, dem Abu Ghraib Skandal etc. Das ist die eine Seite. Aber dass man nun auch westliche Dissidenten oder Whistleblower derart aggressiv verfolgt, dafür ist vor allem die Administration Obama verantwortlich. Obama hat mehr Whistleblower verfolgen lassen als alle vorherigen US-Präsidenten zusammengenommen. 

Ist das ein Phänomen in den USA?

Es ist ein zunehmender Trend, vor allem in den angelsächsischen Ländern. In Australien etwa gibt es den Fall von David McBride, der die Öffentlichkeit auf grausame Kriegsverbrechen der australischen Armee in Afghanistan aufmerksam gemacht hat und nun deswegen vor Gericht steht und mit einer hohen Gefängnisstrafe bedroht wird. Bereits Chelsea Manning hatte ja ursprünglich 35 Jahre Haft bekommen. Das ist völlig unverhältnismässig. In unserem Rechtssystem gibt es eine so lange Strafe gar nicht, und zwar auch für die schlimmsten Gewaltverbrecher nicht. Die hier erwähnten Personen aber werden mit drakonischen Strafen bedroht, nur weil sie die Wahrheit gesagt haben. 

Es scheint wirklich Methode zu sein?

Assange ist natürlich nicht der einzige, dem dieses Schicksal widerfahren ist, und ist natürlich auch nicht der schlimmste Folterfall, den ich in meiner Tätigkeit gesehen habe. Ich habe jeden Tag ein Dutzend solcher Berichte auf meinem Tisch, das sind immer grauenhafte Geschichten. Der Fall Assange ist aber zusätzlich auch emblematisch wichtig, weil hier ein Präzedenzfall etabliert werden soll. 

Was wären die Folgen?

Die Pressefreiheit und die Informationsfreiheit der westlichen Öffentlichkeit würden entscheidend eingeschränkt und Menschen, die schmutzige Geheimnisse der Behörden aufdecken, würden kriminalisiert. Wenn das einmal so weit ist, dann müssen wir uns keine Illusionen mehr machen, wo die Reise hingeht. Wir müssen uns also die Frage stellen, wie gehen wir mit der Wahrheit um, wie transparent sind unsere Regierungen heute noch? Wie viel Einblick haben wir eigentlich noch? Wir haben ja angeblich überall Informationsfreiheit, aber wenn man einmal etwas Delikates anfragt, bekommt man heute nur noch lauter geschwärzte Seiten. Wenn wir aber nicht mehr wissen dürfen, was unsere Behörden mit der ihnen zur Verfügung gestellten Macht tun, wenn unsere Bürgerfragen zum vermeintlichen Sicherheitsrisiko werden, und wenn jeder verfolgt wird, der die Straflosigkeit der Mächtigen in Frage stellt, dann sind auch Rechtsstaat und Demokratie akut gefährdet. Es ist daher ganz wichtig, zu verhindern, dass Strukturen geschaffen werden, die in Zukunft gefährlich werden könnten.  

Herr Professor Melzer, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

«Nur ein souveräner Staat kann über sich selbst bestimmen»

«Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs im Rahmenabkommen ist toxisch» 

Interview mit alt Nationalrat Ruedi Lustenberger

alt Nationalrat Ruedi Lustenberger (Bid thk)
alt Nationalrat Ruedi Lustenberger (Bid thk)

Zeitgeschehen im Fokus Welches sind die wichtigsten Punkte, die im Rahmenabkommen inakzeptabel sind und nachverhandelt werden müssen?

Alt Nationalrat Ruedi Lustenberger Es gibt vier Punkte, die meines Erachtens nachverhandelt werden müssen: die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), die Unionsbürgerrichtlinie, der Lohnschutz und die Einschränkungen der staatlichen Beihilfen.

Was ist mit der Unionsbürgerrichtlinie?

Es muss direkt im Vertrag, nicht in einem Anhang, festgehalten werden, dass die Unionsbürgerrichtlinie explizit kein Gegenstand des Rahmenabkommens ist. Das ist nur eine von mehreren Forderungen, die ich an das Rahmenabkommen stelle, sonst ist es für die Schweiz ungeniessbar.

Warum muss das ausdrücklich so festgehalten werden?

Wir kennen das, es gibt in fünf oder zehn Jahren ein Gericht, z. B. den EuGH, der in einem Urteil festhält, die Richtlinie gehöre doch dazu. Ich traue dem EuGH und auch dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nicht. Deshalb darf die Gegenstandslosigkeit der Richtlinie nicht in einem Anhang festgehalten sein, sondern es muss explizit im Vertrag erwähnt werden, dass sie nicht Gegenstand dieses Abkommens ist.

Warum sind Sie so dezidiert gegen die Unionsbürgerrichtlinie?

Die Schweiz ist schon heute ein Magnet für Wirtschaftsmigranten inner- und ausserhalb der EU. Wenn die Unionsbürgerrichtlinie in unserem Land umgesetzt wird, dann wird diese Magnetwirkung noch verstärkt und alle – ich betone – alle können sich am aufgestellten Buffet, an unseren Sozialwerken bedienen.

Was ist problematisch an der Rolle des EuGH?

Es findet keine Übernahme fremden Rechts statt, sondern es ist eine Übernahme von Gerichtsurteilen fremder Richter, und das ist nicht das Gleiche. Wenn wir einen Vertrag abschliessen, übernehmen wir allenfalls fremdes Recht. Aber unsere Gerichte werden dann über das fremde Recht entscheiden oder mindestens mitentscheiden. Beim EuGH haben wir nichts mehr zu sagen, und das geht nicht. Geri Pfister, der Parteipräsident der neuen Mitte-Partei, hat es richtig gesagt: «Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs im Rahmenabkommen ist toxisch.»

Wie sehen Sie den Punkt betreffend den Lohnschutz?

Ich habe Verständnis für die Bedenken der Gewerkschaften. Ich kenne die Situation, weil ich während meiner Zeit als Präsident des Schweizerischen Schreinermeisterverbandes den Gesamtarbeitsvertrag für das Schreinergewerbe mit den Gewerkschaften immer wieder neu ausgehandelt habe. Nicht nur die Arbeitnehmer, auch die Arbeitgeber haben ein Interesse am Lohnschutz, weil dadurch auch Hürden für ausländische Dumpingunternehmungen aufgestellt werden. Die Schweiz ist nun einmal ein Hochpreis- und Hochlohnland. Wenn die Preise hoch sind und die Löhne gedrückt werden, dann schwindet die Kaufkraft. Was mich erstaunt, ist, dass die Gewerkschaften ihre Ablehnung gegenüber dem Rahmenabkommen so unmissverständlich deklarieren.

Werden die Gewerkschaften standhaft bleiben?

Das Worst-Case-Szenario für mich sieht wie folgt aus: Der Bundesrat erreicht bei der EU im Bereich Lohnschutz ein Entgegenkommen, welches von den Gewerkschaften akzeptiert wird. Damit wären diese nicht mehr im Boot der Gegner. In den anderen Bereichen setzt sich die EU durch. In einer solchen Konstellation wird es für die Gegner in einer Volksabstimmung viel schwieriger, weil dann ein starker Partner im linken Parteienspektrum fehlt.

Was bedeutet der Punkt zu den staatlichen Beihilfen, die durch den Rahmenvertrag tangiert oder gar verboten werden? Was und wer wäre davon betroffen?

Die kantonalen Gebäudeversicherungen, die Kantonalbanken, die Stromwirtschaft im Allgemeinen und die staatliche Wohnbauförderung, um nur vier zu erwähnen. Es kann nicht sein, dass sich die EU in solche innerstaatlichen, vielfach sogar in kantonale Angelegenheiten einmischt!

Für den Bundesrat waren bisher der EuGH und der Souveränitätsverlust kein Thema. Es wird immer nur von der Unionsbürgerrichtlinie, dem Lohnschutz und der Einschränkung der staatlichen Beihilfen gesprochen, aber der Souveränitätsverlust wird ignoriert. Wie kann man hier sensibilisieren?

Ich nehme an, der Bundesrat ist langsam aufgeschreckt. Das, was die Gegner eines Abkommens von Anfang an gesagt haben, wollte man dort nicht wirklich wahrhaben. Auch ich habe diese Punkte von Beginn an bemängelt. In einem Interview in dieser Zeitung im September 2018 haben Sie mich im Titel zitiert: «Das höchste Gut einer Nation ist die Souveränität». Das gilt heute mehr denn je. Der Bundesrat hat nun langsam begriffen, was es geschlagen hat. Alleine die personellen Wechsel, die er vollzogen hat, sprechen Bände: Die Delegationsleitungen wurden in den letzten acht Jahren drei- oder viermal ausgewechselt.

Wird es mit Livia Leu besser werden?

Ich kenne Frau Leu nur sehr flüchtig. Aber sie muss jetzt darüber verhandeln, was auf dem Tisch liegt. Die Fehler sind viel früher geschehen, anfänglich unter Frau Micheline Calmy-Rey und später und vor allem unter Bundesrat Didier Burkhalter. Er war immer sehr EU freundlich und hatte in dieser Frage wenig Bodenhaftung. Ignazio Cassis wird jetzt für das kritisiert, was sein Vorgänger ihm eingebrockt hat. Ich hoffe, dass er den «Reset-Knopf» drückt, von dem er behauptet hat, dass es ihn gebe. Wenn er ihn jetzt nicht bedient, verliert er seine Glaubwürdigkeit.

Sie haben Frau Calmy-Rey erwähnt. Sie hat letztes Jahr in einem Interview genau die Gefahr betont, dass durch das Abkommen die Schweiz einen Souveränitätsverlust erleiden würde.

Dann hat sie einen Gesinnungswandel durchgemacht. Mit ihrer Aussage hat sie natürlich Recht: Die Souveränität ist das höchste Gut einer Nation. Wir geben so viel Souveränität auf, dass es sich nicht lohnt, das Abkommen unter diesen Bedingungen zu unterzeichnen.

Warum hat die Souveränität heute einen niedrigen Stellenwert?

Es gibt zwei Gründe. Zum einen hat man sie bis heute als selbstverständlich angesehen. Die meisten denken, die Schweiz ist ein souveräner Staat, wir sind nicht in der EU und niemandem verpflichtet. Bis vor dreissig Jahren war es tatsächlich so. Die Souveränität war selbstverständlich, auch in den Köpfen der politischen Linken.

Warum hat sich das verändert?

Die andere Wahrnehmung ist auch ein Resultat der Globalisierung. Diese ist im Grunde genommen nichts anderes als ein wirtschaftlicher Internationalismus. Mit jedem internationalen Abkommen geht etwas an staatlicher Souveränität verloren, aber man bekommt etwas dafür, z. B. einen Handelsvertrag mit guten Konditionen. Der Vertragsabschluss ist ein bewusster Akt. Im Rahmenabkommen geht es aber um viel mehr. Ich stelle fest, dass das Selbstverständnis von der Souveränität als das höchste Gut einer Nation in der jungen Generation nicht mehr den gleichen Stellenwert hat wie vor Jahrzehnten. Das sieht man z. B. an der Operation Libero, die meines Erachtens am liebsten eine Weltgemeinschaft gründen möchte.

Was geht mit der Souveränität verloren?

Die Selbstbestimmung. Nur ein souveräner Staat kann über sich selbst bestimmen. Es hat niemand das Recht, einem anderen Staat zu sagen, was er zu tun hat. Wenn wir uns das Rahmenabkommen vor Augen führen, dann geben wir einen rechten Teil unserer Souveränität auf.

Der Preis für den Souveränitätsverlust ist aber viel zu hoch dafür, dass wir am Ende zum Beispiel ein Stromabkommen erhalten. Wenn man es gut aushandelt, kann es Vorteile für die Schweiz bringen. Aber ein Stromabkommen allein ist es doch nicht wert, ein solches Rahmenabkommen abzuschliessen. Und bevor in Paris die Lichter ausgehen, wird Frankreich alle verbrieften Lieferverträge nicht erfüllen, denn in der Not schaut jeder immer zuerst für sich. Das sieht man gegenwärtig z. B. bei Covid-19 bei den Impfungen. Es ist ein Trugschluss, zu meinen, man könne sich darauf verlassen. In einer Notsituation funktioniert das nicht. 

Das heisst also …

Tritt Unvorhergesehenes ein, wird alles über den Haufen geworfen; unsere Souveränität aber haben wir dann bereits nach Brüssel abgegeben. Das dürfen wir auf keinen Fall tun, denn wie gesagt, die Souveränität ist das höchste Gut eines Staates.

Herr alt Nationalrat Lustenberger, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Micheline Calmy-Rey: «Beim Rahmenabkommen wird eine Anrufung des Europäischen Gerichtshofes in vielen möglichen Streitfällen zwischen der Schweiz und der EU wahrscheinlich sein. Es ist die Konsequenz davon, dass die fünf dem Abkommen unterstellten Marktzugangsabkommen zum grössten Teil auf EU-Recht basieren. So wird im Konfliktfall die Konformität der Anwendung des Europäischen Rechts schlussendlich vom Europäischen Gerichtshof interpretiert. Es geht für die Schweiz also nicht um eine Detailfrage, sondern um eine Grundsatzfrage zur Souveränität.»

Quelle: zofingertagblatt.ch/?id=290235, vom 16.11.2020

 

Volksabstimmung vom 7. März 2021: Referendum «Stop Palmöl» – «eine erste Bremse für eine globalisierte Wirtschaft, die nur den Interessen ihrer grössten Akteure dient»

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Im Dezember 2019 haben National- und Ständeräte dem CEPA zugestimmt, einem weitreichenden Wirtschaftsabkommen zwischen den EFTA-Staaten und Indonesien. Gegen dieses Freihandelsabkommen hat Weinbauer Willy Cretegny aus Satigny (GE) das Referendum ergriffen, das dann von rund 50 zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt wurde. Im Sommer 2020 wurden über 61 000 Unterschriften bei der Bundeskanzlei deponiert. Damit wurde der «Weg frei gemacht für die erste Volksabstimmung über ein Freihandelsabkommen in der Geschichte unseres Landes», so das Referendumskomitee in seiner Pressemappe zur kommenden Abstimmung.

«Dieses Referendum ist auch eine erste Bremse für eine globalisierte Wirtschaft, die nur den Interessen ihrer grössten Akteure dient und Menschen von einem Ende der Welt zum anderen in Konkurrenz zueinander bringt. Es ist ein erster Schritt, auch wenn wir wissen, dass der Bund in den kommenden Jahren weitere Wirtschaftspartnerschaften mit Malaysia, dem Mercosur und den Vereinigten Staaten abschliessen möchte. All diese Vereinbarungen erhöhen unsere Abhängigkeit von langen Produktions- und Vertriebswegen, die im Allgemeinen für unseren Planeten und oft auch für die lokale Bevölkerung schädlich sind», so das Referendumskomitee.

Um dem Referendum, das bei vielen Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern auf Sympathie stösst, den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat der Bundesrat Ende Dezember eine «Verordnung über die Einfuhr von nachhaltig produziertem Palmöl aus Indonesien zum Präferenz-Zollansatz» in die Vernehmlassung geschickt. Darin fordert der Bundesrat unter Art.  3 «Zugelassene Zertifizierungssysteme» unter anderen «Zertifizierung nach Roundtable on Sustainable Palm Oil (RSPO)». Mit echter Nachhaltigkeit scheinen diese Zertifizierungen jedoch wenig zu tun zu haben, so das Referendumskomitee: «3/4 der RSPO zertifizierten Palmölplantagen stehen auf ehemaligen Waldgebieten. […] Die RSPO-Richtlinien sind ungenügend. […] Immense Flächen fallen der Gier nach Palmöl zum Opfer: Bereits 17 Millionen Hektar Land – eine Fläche viermal so gross wie die Schweiz.»

Im folgenden Beitrag von Willy Cretegny aus der Pressemappe sind die Argumente gegen das Freihandelsabkommen CEPA differenziert und schlüssig dargelegt.

«Ohne Freihandel hätten wir nicht all diese billigen Waren, die Überkonsum und Raubbau an unseren Ressourcen fördern»

von Willy Cretegny, Bio-Winzer in Satigny (GE)

Die Schweiz hat wie viele Länder soziale Regelungen wie Mindestlöhne erlassen, aber auch verbindliche Umweltvorschriften für die landwirtschaftliche, handwerkliche und industrielle Produktion. Es gibt Regeln für Gesundheit, Sicherheit und sogar für die Nachhaltigkeit von Waren.

Die BefürworterInnen des Freihandels betrachten all diese Regeln als Handelshemmnisse. Das Wirtschaftspartnerabkommen (CEPA) mit Indonesien bildet hier keine Ausnahme. Ziel ist es, alle Handelsbarrieren zu senken oder sogar zu beseitigen.

Erklärtes Ziel ist es, den Handel zu erleichtern und damit zu steigern. Heute ist der Handel unter Beachtung der Standards des jeweiligen Landes und unter Anwendung von Massnahmen zum Schutz der lokalen Produktion möglich. Morgen, mit CEPA, ist es die Vervielfachung von Handel und Gewinn durch die Senkung oder Beseitigung von Handelsbarrieren. Dies unter völliger Missachtung der lokalen Wirtschaft, der Umwelt und der Ressourcen. Die Vervielfachung des Handels bedeutet auch immer mehr Verschmutzung durch das exponentielle Wachstum des See- und Luftverkehrs.

Seit langem setze ich mich für die Umwelt im weitesten Sinne ein, was sich nicht nur auf den Schutz der Natur, der Tiere und der Artenvielfalt beschränkt. Für mich müssen wir eine globale Vision haben, die auch die Lebensqualität, Verantwortung und Kohärenz, sprich, den gesunden Menschenverstand, berücksichtigt.

Heute entfernt sich unsere Gesellschaft von dieser Kohärenz, indem sie Produkte von der anderen Seite des Planeten importiert. Wir denken nicht in Zusammenhängen, wenn wir immer mehr Wachstum im Handel, im Konsum und in der Nutzung von Ressourcen wollen.

Wir müssen zu intelligenten Praktiken zurückkehren, die lokale Beschäftigung begünstigen, die der Rolle eines jeden auf diesem Planeten einen Sinn geben. Wir müssen die Bedeutung von Zollmassnahmen zum Schutz der lokalen Produktion, sei es in der Landwirtschaft, im Handwerk oder in der Industrie, erhalten und wiederherstellen. Der Preis von Waren muss an die lokalen Arbeitskosten gekoppelt sein, um Überkonsum und Wegwerfware einzudämmen.

Ohne Freihandel hätten wir nicht all diese billigen Waren, die den Überkonsum und den Raubbau an unseren Ressourcen fördern. Die Wirtschaft darf nicht einfach nur in Kreisläufen funktionieren, sie muss dabei energie- und ressourceneffizient sein. Palmöl ist ein sinnbildliches Produkt der Freihandelspolitik. Durch die Abschaffung von Importsteuern schaffen wir ein riesiges Gewinnpotenzial. Während wir in Europa alle Pflanzenöle haben, die wir brauchen, zerstören wir Tausende von Hektar Primärwälder, vernichten die ­Artenvielfalt, schwächen die lokale nahrungsmittelproduzierende Landwirtschaft und vernichten die lokale Fauna wie die Orang-Utans. Und das alles nur aus einem Grund: Profit.

Mit dieser Vereinbarung wird auch die lokale Produktion von Sonnenblumen- und Rapsöl in der Schweiz geschwächt. Letztere, die unseren Ansprüchen genügt, wird mit einem immer stärker werdenden Preisdruck zu kämpfen haben.

Der einzige Grund, warum wir uns erst jetzt in einem Referendum gegen diese Art von Abkommen aussprechen, ist der, dass das Parlament Freihandelsabkommen nicht zum Gegenstand eines Referendums gemacht hat.

Und warum sollte man dagegen sein, wenn die Mehrheit der Organisationen in der Palmöl-Koalition mit den Versprechungen zur nachhaltigen Produktion zufrieden ist?

Das liegt daran, dass es sich nur um Versprechen handelt. Die Vertragsparteien vereinbarten, das CEPA-Schiedsverfahren nicht zur Beilegung von Streitigkeiten im Zusammenhang mit Kapitel 8 über Handel und nachhaltige Entwicklung zu nutzen. Die Schweiz befürwortet in diesem Bereich eher einen kooperativen Ansatz als eine auf Zwang basierende Politik. Das aber kann man als Wunschdenken bezeichnen. Ein Streit über Kapitel  8 wird nicht zu einer Anfechtung der Vereinbarung führen.

Erstaunlicher ist, dass Natur- und Menschenrechts-NGOs die Freihandelspolitik unterstützen können, die jedem Volk das Recht auf unterschiedliche Wahlmöglichkeiten abspricht und zu Umweltverschmutzung, Überkonsum, Wettbewerbsverzerrung und Ressourcenverknappung führt.

Abschliessend möchte ich noch folgendes sagen: Ja zum Protektionismus, denn Schutz ist eine noble, verantwortungsvolle Handlung. Wir schützen diejenigen, die wir lieben, genauso wie wir es für die Natur und unsere Umwelt tun.

Heute entscheiden wir uns für eine verantwortungsvolle, in sich schlüssige Wirtschaft, die die Entscheidungen der Menschen respektiert.

Stimmen Sie am 7. März 2021 mit einem NEIN gegen das Freihandelsabkommen mit Indonesien.

 

Faktenblatt RSPO

Inhaltliche Schwächen und institutionelle Mängel des Runden Tisches für nachhaltiges Palmöl / Roundtable on Sustainable Palm Oil (RSPO)

Aus Sicht der Palmöl-Koalition* kann das RSPO-Label keine Nachhaltigkeit im Palmölsektor sicherstellen. Auch nach 15-jährigem Bestehen ist es dem RSPO nicht gelungen, Biodiversität und Menschenrechte in den Anbaugebieten wirksam zu schützen. So werden lokale Gemeinden nachweislich von RSPO-Firmen aus ihren Waldgebieten vertrieben und Sekundärregenwälder sowie Torfmoore für neue Ölpalmplantagen zerstört. Der RSPO verfügt weder über wirksame Kontrollen noch über effiziente Sanktionsmechanismen zur Durchsetzung seiner Nachhaltigkeitskriterien. Damit ist das Label zu einem Instrument der Gewissensberuhigung für KonsumentInnen sowie des Reputationsschutzes für Firmen, insbesondere in Europa und den USA, geworden. […] Aufgrund seiner inhaltlichen Schwächen und institutionellen Mängel ist das RSPO-Label weder glaubwürdig noch verhindert es die zerstörerischen und klar nicht-nachhaltigen Auswirkungen des Palmölanbaus.

Quelle: Johanna Michel, Bruno Manser Fonds, 23.2.2018

* Der Palmöl-Koalition gehören folgende Organisationen an: Alliance Sud, Biovision, Brot für alle, Bruno Manser Fonds, Fédération romande des consommateurs, PanEco, ProNatura, PublicEye, Schweizer Bauernverband, Schweizerischer GetreideproduzentenVerband, Uniterre.

 

Warum sich Mobbing in den Schulen ausbreitet

von Dr. phil. Alfred Burger, Erziehungswissenschafter, Zürich

An unserer Privatschule bekommen wir in letzter Zeit vermehrt Schüler, die sich in der öffentlichen Schule nicht mehr wohlfühlen. Sie werden gemobbt, ausgeschlossen oder sonst schlecht behandelt. Das ist kein neues Phänomen, seit längerer Zeit ist Mobbing in der Schule ein Thema. Viele Fachleute haben sich damit beschäftigt. In der Schweiz z. B. Frau Professor Françoise Alsacker in Bern und Allan Guggenbühl in Zürich. F. Alsacker hat für das Problem Mobbing in der Schule sehr anschauliche und praxisnahe Schriften ausgearbeitet, die vielen Lehrerinnen und Lehrern eine Hilfe waren, um diesem Problem Herr zu werden.

Nun erzählen aber Eltern, sie würden bei den Lehrerinnen und Lehrern gar keine Unterstützung mehr finden, wenn ihre Kinder gemobbt werden. Sie unternehmen offensichtlich nichts mehr und überlassen das Geschehen mehr oder weniger den Kindern. Sie sollen offensichtlich ihre Angelegenheiten selber untereinander ausmachen. Was vor vielen Jahren noch selbstverständlich für die Lehrer war, nämlich das spontane Einschreiten bei ungemeinschaftlichem und asozialem Verhalten wie Mobbing, Ausschluss, Auslachen, Hänseln usw. gehört anscheinend heute in der Schule nicht mehr zu den Aufgaben der Lehrer. Wie sonst sollte man erklären, weshalb sich in manchen Schulen ein gewalttätiger und negativer Umgang unter den Kindern ausbreitet? Früher gehörte es selbstverständlich zu den Pflichten eines Lehrers, auch erzieherisch tätig zu sein. Ich mag mich persönlich noch daran erinnern, dass mein Primarlehrer mich und meinen Freund zu sich zitierte, nachdem wir in der Pause ein jüngeres Kind ausgelacht und drangsaliert hatten. Er hat uns eindringlich ins Gewissen geredet und uns daran erinnert, dass wir kein Recht hätten, andere Kinder zu plagen. Das war eine Lektion, an die ich mich noch heute erinnere. Warum geschieht das heute in den Schulen oft nicht mehr?

Lehrer als Coach

Das hat mit dem Rollenwechsel der Lehrerinnen und Lehrer zu tun. Früher galten sie als Wissensvermittler und Erzieher. Sie hatten einerseits die Aufgabe, die Kinder in die verschiedenen Fächer einzuführen und ihnen die sie umgebende Welt zu vermitteln. Andererseits hatten sie auch mitzuhelfen, störendes Fehlverhalten der Kinder zu erkennen und ihnen zu helfen, ihre sozialen Fähigkeiten zu verbessern. Dieses Bild wird heute als veraltet angesehen. Der heutige Lehrer ist Moderator, Coach, Begleiter, Arrangeur von Lernprozessen oder Facilitator, um es in Englisch auszudrücken. Lehrerinnen und Lehrer ziehen sich also explizit aus der Beziehung zum Schüler zurück, sie arrangieren nur noch und erwarten von den Kindern, dass sie sich den Stoff mehr oder weniger selbstständig erarbeiten. Darum sollen sie auch nichts erklären – oder höchstens einmal, dann müssen sich die Schüler selber zurechtfinden. 

Falsche Theorien

Die abstruse Theorie, die hinter diesem Verhalten steckt, sieht die Kinder von Geburt an als von der Natur soweit ausgestattete Wesen, dass man ihnen nur die richtige Nahrung zuführen muss, damit sie sich entwickeln. So, wie man einer Pflanze Wasser und Dünger gibt, und sie so von selber wächst und gross wird. Darum dürfen gemäss dieser konstruktivistischen Theorie die Erwachsenen nicht führend in die Entwicklung der Kinder eingreifen. Die Heranwachsenden sollen ihre Persönlichkeit aus sich heraus entfalten und ein individuelles Lern- und Sozialverhalten entwickeln. Der Lehrer erklärt ihnen möglichst wenig, sie sollen alles selber herausfinden – so bleibe es auch besser haften, als wenn der Lehrer es ihnen beibringt. Entdeckendes Lernen heisst das oder SOL (selbstorientiertes Lernen).

Daraus ergibt sich dann glasklar: Erzieherisches Eingreifen hat in der Schule nichts mehr verloren. Man darf die Entfaltung der Kinder nicht stören oder gar einschränken. Wie sich dann die Kinder «entfalten», kann man auf den Pausenplätzen oder auch in gewissen Klassenzimmern beobachten. 

Diese Theorie ist grundfalsch, sie konnte sich nur ausbreiten, weil sie von gewissen politisch motivierten Theoretikern unseren Politikern und der Bevölkerung unter Vorspiegelung falscher Tatsachen untergejubelt wurde. 

«Wer will denn schon rückständig sein?»

Eine wichtige Rolle hat dabei die Sprachtäuschung gespielt. Mit schönfärberischen Worten wie Autonomie der Schulen, Individualisierung des Unterrichts, Management und Effizienz in den Schulen, Lernkontrollen, Kompetenzen statt «Rucksackwissen», das nicht mehr nötig sei, weil es ohnehin schnell veralte, hat man für Veränderungen geworben, ohne allerdings zu sagen, wohin diese führen sollen. Gleichzeitig hat man alle, die auf bewährte Unterrichtsmethoden setzten, verunglimpft und ins Abseits gestellt, indem man sie als Ewiggestrige bezeichnete, die einer Schule wie 

zu Gotthelfs Zeiten anhängen würden. Auf diese Weise sind Lehrerinnen und Lehrer Schritt für Schritt dazu gedrängt worden, ihre bewährte Schulführung zu ändern. Besonderen Druck haben auch die an den Pädagogischen Hochschulen neu Ausgebildeten in den Lehrerzimmern aufgebaut. Wer will denn schon rückständig sein? Dabei haben die bewährten Lehrerinnen und Lehrer ganz übersehen, dass unsere Schulen gar nicht mehr waren wie zu Gotthelfs Zeiten. Sie hatten sich über Jahrzehnte ständig entwickelt, und noch vor dreissig Jahren hatte die OECD den Schweizer Schulen ein hervorragendes Zeugnis ausgestellt. 

Lehrer als Wissensvermittler und Erzieher

Nun, welcher Lehrer wagt es heute noch, sich Wissensvermittler und Erzieher zu nennen? Dabei wäre diese Bezeichnung die einzig richtige. Kinder, alle Menschen, haben eine Natur. Kinder brauchen die Anleitung von uns Erwachsenen, sie sind erziehungsbedürftige Wesen. Wer das negiert, bekommt früher oder später die Quittung. Kinder, die nicht angeleitet werden, lernen kaum Mitmenschlichkeit, sie entwickeln wenig Empathie und Mitgefühl, sie denken vor allem an sich, sie werden oft rücksichtslos, sie verachten Schwächere, sie übernehmen kritiklos alles aus den Medien, sie haben keine Ethik, kurz, sie sind nicht vorbereitet für ein Leben in der Gemeinschaft. Sie müssten aber unsere Gesellschaft später einmal gestalten. Wie sieht diese dann später aus, wenn sie von Menschen geprägt wird, die von den Eltern und Lehrern keine Orientierung und keine gemeinschaftlichen Wertehaltungen gelernt haben? Die Gesellschaft wird verrohen; die ersten Anzeichen sind unübersehbar. Nicht nur auf einzelnen Pausenplätzen. Wer hätte sich vor 30 Jahren vorstellen können, dass Polizisten, Feuerwehrleute, ja sogar Sanitäter von Zuschauern gehindert werden zu helfen oder von ihnen sogar tätlich angegriffen und verletzt werden? 

Solche Tendenzen dürfen sich nicht weiter ausbreiten. Elternhaus und Schulen sind dazu aufgerufen, die Bedeutung der Erziehung wieder mehr zu gewichten. 

Vom notwendigen «Nid nahla!»

von Dr. phil. Carl Bossard

Krisenzeiten à la Corona sind Durststrecken. Gefordert ist Durchhalten. Davon ist im Moment üppig die Rede. Die Devise gilt auch fürs Lernen. Ein pädagogischer Erinnerungsversuch. 

«Nid nahla» verkündet die Porträtskulptur am Berner Münster (Bild: Xxlstier / Wikimedia)

 

Vom Turm des Berner Münsters verkündet eine robuste Brustfigur ihre Botschaft ins weite Land hinaus. Aktueller könnte sie nicht sein: «nid nahla!» steht eingemeisselt auf dem Schriftband. Die steinerne Skulptur hält es in ihrer linken Hand. Mit der Rechten fixiert sie das Kassenbuch. Es ist die Porträtkonsole von Karl Howald, dem beharrlichen Baukassier.¹ Seiner Energie und seiner Ausdauer ist es zu verdanken, dass das Berner Münster zwischen 1889 bis 1893 zur endgültigen Höhe von gut 100 Metern ausgebaut wird – und damit zum höchsten Sakralgebäude der Schweiz. Der zähe Kassenwart lässt nicht locker, bis das Werk vollendet ist.

Nicht nachlassen!

«Halten Sie durch!» zählt wohl zu den meistgehörten Parolen dieser Shutdown-Zeiten – und beigefügt der Satz: «Die ganze Situation geht auch wieder vorbei und zurückkehrt die Normalität.» Dann könne man in den Anstrengungen wieder nachlassen, heisst es von offizieller Seite besänftigend.

Dieser Nachklang wirkt befreiend; auf ihn hoffen und freuen sich unzählige. Endlich nachlassen und dem maskierten Dasein nach langem Warten Ade sagen. Zurück ins normale, unbeschwerte Leben. Wer möchte das nicht?

Lernen ist keineswegs etwas Leichtes

Doch vorläufig zählt nur eines: «Nid nahla!» und «Nid lugg lo!». Das gilt ja auch fürs Lernen, und zwar generell. Lernprozesse erfordern Einsatz; verlangt ist Ausdauer, gefragt Fleiss. Während langer Zeit gab es im Schulzeugnis darum sogenannte Fleissnoten. Ihre versteckte Botschaft: «ohne Fleiss kein' Preis». Das weiss jede junge Geigerin, das hat jeder Junioren-Fussballer verinnerlicht. Nur so wird aus dem nerventötenden Gekratze dereinst virtuose Musik, aus dem ungelenken Gekicke hohe Ballkunst. Üben heisst das Zauberwort; «nid nahla!» wird zum ehernen Grundsatz.

Der Wert des Übens ging vergessen

Genau das Gegenteil aber versprechen IT-Konzerne und ihre computerbasierten Medien: mit digitalen Programmen und Produkten spielerisch leicht und ohne Anstrengung zu Lernerfolgen kommen. So schön die These klingt, so verführerisch falsch ist sie. Die Schalmeienklänge bringen der Digitalindustrie zwar viel Geld ein, verdrängen aber die Grammatik des Lernens: Bildung im Allgemeinen und Lernen im Besonderen seien nichts Leichtes, betont der Erziehungswissenschafter Klaus Zierer.² Da heisse es Üben und Automatisieren. Da gilt wohl Karl Howalds Prinzip des «Nid nahla!»

Vergessen ging leider «in der modernen Unterrichtskultur der Wert des Übens», bedauert der Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich, Heinz Rhyn.³ Um beispielsweise eine Information aus dem Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis zu bringen, braucht der Mensch sechs bis acht Wiederholungen. Das weiss man aus zahlreichen psychologischen Studien.

Der Unterricht muss herausfordernd sein

Zum Lernen, so Zierer, gehören auch Irrwege und Umwege; da gibt es Unterholz und Dickicht. Da stellen sich Misserfolg und Scheitern ein – und Fehler. Fehler in einem fehlerfreundlichen Klima führen weiter. «Failure is the mother of success», heisst es. Darum darf es im Bildungsbereich nicht primär darum gehen, Lernen möglichst leichtzumachen. Es muss darum gehen, Lernen möglichst anspruchsvoll zu gestalten – und herausfordernd.⁴

«Nid nahla!» gilt für Lernende wie für Unterrichtende. Der erfolgreiche Lehrer lenkt kontinuierlich und schülerzentriert die Lernprozesse, eine gute Lehrerin gestaltet als Regisseurin den Unterricht. Sie wirkt schüleraktivierend und ist mehr als nur Lernbegleiterin, mehr als lediglich Lernpartnerin, betont der profilierte Bildungsforscher Andreas Helmke.⁵ Kinder und Jugendliche brauchen für ihr Lernen nicht einen «Guide at the Side», sie bräuchten einen «Change Agent», einen Lehrer, der sie weiterbringen will, der ermutigt und kognitive Ansprüche stellt, eine Lehrerin, die ihnen den Spiegel vorhält und lernprozessbezogenes Feedback gibt. Es sind Lehrpersonen, die intensives Lernen in einem förderlichen Klima ermöglichen, verbunden mit hohen Erwartungen und vielfacher Schüleraktivierung. Es sind Pädagogen, welche die Kinder und Jugendlichen in ihrer Möglichkeitsform sehen und sie darum so «nehmen», wie sie sein könnten. Unermüdlich.

Die beharrliche Energie des «Nid nahla!»

«In der Schule war ich zu träge, um all das zu lernen, was ich heute gelernt haben wollte», bekennt einer der erfolgreichsten Musiker im deutschsprachigen Raum, der österreichische Entertainer und Popsänger DJ Ötzi.⁶ Und er fügt bei: «Mein Traum war es, Theologie zu studieren; das ging nicht ohne Abitur.» Hätte er nur nicht nachgelassen! Und wäre er vielleicht zu Lehrerinnen und Lehrern in die Schule gegangen, die nicht nachgegeben oder gar aufgegeben hätten, wer weiss!?

Aufgegeben haben die Berner den Ausbau ihres Münsters. 1521 wird der Turmbau unterbrochen. Erst 1893 erreicht der Turm seine heutige Höhe. Es brauchte den unerschütterlichen Glauben und das beharrliche Feu sacré eines Karl Howald. Sein fester Vorsatz: «Nid nahla!»

¹ Paul Schenk (1963), Die Porträtkonsolen am Berner Münster. In: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 25, S. 83.
² Klaus Zierer (2018), Die Grammatik des Lernens, in: FAZ, 04.10.2018, S. 7.
³ Alexandra Kedves, «Die Ablehnung des Drills war unheilvoll», in: Tages Anzeiger vom 07.12.2019, S. 7.
⁴ John Hattie & Klaus Zierer (2017), Kenne deinen Einfluss! «Visible Learning» für die Unterrichtspraxis. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 60.
⁵ vgl. Andreas Helmke (2015), Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. Seelze-Velber: Friedrich Verlag, S. 205f.
⁶ In: DIE ZEIT, 23.12.2020, S.  13.

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