«Der Westen und die Ukraine stecken in Schwierigkeiten»

«Unsere Medien geben lediglich die ukrainische Propaganda wieder»

Fragen an Jacques Baud* zur aktuellen Lage in der Ukraine

Jacques Baud (Bild thk)
Jacques Baud (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Warum hat sich Russland aus der Stadt Cherson zurückgezogen?

Jacques Baud Seit Mai versprach Selenskij eine grosse Offensive auf Cherson, um die Krim zurückzuerobern und den Süden des Landes zu befreien. Im Juli kündigten die Ukrainer sogar an, dass diese Initiative eine Million Mann¹ umfassen würde, doch sie fand nie statt. Natürlich erwähnt man im Westen nur die Offensiven, aber nie deren Ergebnisse! Daher spricht man auch von Russlands «schwieriger Lage». In Wirklichkeit wurden die von unseren Medien angekündigten zahlreichen ukrainischen Offensiven nicht nur alle erfolgreich zurückgeschlagen, sondern systematisch von der russischen Artillerie ohne wirkliche Kämpfe vernichtet. So erlitten die Ukrainer enorme Verluste, ohne Boden gutmachen zu können, während die russischen Verluste sehr gering waren.

Die genaue Anzahl der Toten auf beiden Seiten ist nicht bekannt, da weder die Russen noch die Ukrainer genaue Zahlen nennen. Dennoch deuten Schätzungen von US-Militärexperten darauf hin, dass insgesamt das Verhältnis der Verluste zwischen Ukrainern und Russen 20 – 11:1 betragen könnte. Die Ukraine befürchtet zu Recht, dass die westliche Öffentlichkeit, wenn sie die Zahl der Toten kennen würde, sich der Unterstützung des Krieges durch ihre Regierungen widersetzen würde. Aus diesem Grund geben unsere Medien niemals Schätzungen zu den ukrainischen Verlusten ab und behaupten weiterhin, dass Russland den Krieg verliert. Das ist auch der Grund, warum die Ukrainer, als die Russen den ihnen die Möglichkeit boten, ihre Toten einzusammeln, sich weigerten, dies zu tun – wie in der Stadt Izium

Für diejenigen, die den Konflikt ernsthaft analysieren (was unsere Staatsmedien ausschliesst!), haben sich die Russen also nicht unter ukrainischem Druck aus Cherson zurückgezogen.

Offenbar war dieser Abzug seit Ende September Gegenstand langer Debatten in Russland. Das Militär forderte ihn, aber die Politiker waren eher dagegen, und zwar aus zwei Gründen. Der erste war, dass das betroffene Gebiet, auch wenn es nur 40 Prozent des Oblasts Cherson ausmacht, im September formell russisch geworden war; der zweite war, dass der russische Abzug der Ukraine einen leichten Sieg bescheren würde, der von der westlichen Propaganda ausgenutzt werden würde. Bei seiner Kommandoübernahme Anfang Oktober 2022 hatte General Sergej Surowikin angekündigt, dass er schwierige Entscheidungen treffen würde. Dabei bezog er sich eindeutig auf Cherson. Letztendlich setzte sich das Militär durch und selbst «Falken» wie Ramsan Kadyrow begrüssten den Abzug

Im Oktober evakuierten die russischen Streitkräfte Zivilisten und brachten russische Denkmäler und Kunstwerke und die sterblichen Überreste des Fürsten Grigori Potjomkin, der Cherson gegründet hatte, und auf russischem Territorium in Sicherheit. Von einem überstürzten Rückzug, wie ihn uns unsere Medien präsentieren, sind wir also weit entfernt. Laut der in Estland ansässigen russischen Oppositionswebsite Meduza waren am 22. Oktober bereits 25 000 Zivilisten evakuiert worden.⁴

Der Grund für den Abzug ist, dass sich die Russen in Cherson im November 2022 in der gleichen Situation befinden wie auf der Schlangeninsel im Juni oder in Charkow im August: Der Aufwand, diese Gebiete zu verteidigen, ist grösser als das strategische Interesse, sie zu erhalten. Was wie eine Niederlage aussieht, ist nur das Ergebnis einer Abwägung zwischen dem strategischen Ziel und den Kosten, um es zu erreichen. Das ist die Definition von Effizienz.

Die russische Operationsführung ist äusserst effizient

Der Grund, warum der Westen und die Ukraine in Schwierigkeiten stecken, ist, dass wir nicht verstehen wollen, wie die Russen funktionieren. Wir glauben nicht nur, dass sie sich so verhalten sollten, wie wir uns in der gleichen Situation verhalten würden, sondern wir unterschätzen auch permanent ihre Fähigkeiten. Es ist interessant festzustellen, dass die «Militärexperten» in den Schweizer oder französischen Fernsehstudios uns die Situation auf der Grundlage ihrer eigenen militärischen Kultur erklären. Deshalb haben sie sich von Anfang an geirrt!

In Wirklichkeit ist die russische Operationsführung äusserst effizient. Ich erinnere daran, dass Russland in der Ukraine mit einer Stärke intervenierte, die – zusammen mit der der Republiken Donezk und Lugansk – der der Ukrainer im Verhältnis 2 – 3:1 unterlegen war. Unter diesen Umständen erklärt sich ihr Erfolg dadurch, dass sie besser als die Ukrainer in der Lage waren, ihre Kräfte zu erhalten.

Mitte Oktober erklärte General Surowikin: «Wir streben nicht nach einem hohen Fortschrittstempo, sondern danach, das Leben unserer Soldaten zu schützen und den vorrückenden Feind methodisch zu ‹zermalmen›».⁵

Abzug, nicht Rückzug

Durch den Abzug ihrer Streitkräfte auf das linke Ufer des Dnepr verkürzten die Russen ihre Frontlänge, erhöhten ihre Truppendichte und gewannen eine stärkere Stellung durch den Fluss. Ausserdem hatte Russland in Cherson eine sehr starke Kampfkraft, insbesondere sehr kampferprobte Fallschirmjägertruppen, die das Militär lieber im Donbas einsetzen wollte, wo deutliche Erfolge zu beobachten sind.

Im Westen spricht man von einer «grossen Niederlage» für die russische Armee und Putin. Teilen Sie diese Einschätzung?

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich also um einen Abzug und nicht um einen Rückzug handelt. Technisch gesehen ist ein Rückzug eine Bewegung, die unter dem Druck des Gegners und in ständigem Kontakt mit ihm durchgeführt wird. Ein Abzug ist eine Operation, die darauf abzielt, Kräfte zu bündeln, eine Frontlinie zu straffen oder sich auf eine spätere Aktion vorzubereiten. Im Fall von Cherson waren die Russen jedoch überrascht, dass die ukrainischen Streitkräfte nicht einmal versuchten, sie zu «verfolgen», sondern in ihren Stellungen blieben, bis die Russen ihre Bewegung beendet hatten! Russland zog sich also aus eigener Entscheidung und nicht unter dem Druck der ukrainischen Streitkräfte zurück. Zur Erinnerung: Russlands Ziel besteht nicht in territorialen Gewinnen, sondern in der Zerstörung der militärischen Bedrohung gegen die Bevölkerung des Donbas («Demilitarisierung»). Im Gegensatz dazu strebt die Ukraine die Rückeroberung ihrer Hoheitsgebiete an, ungeachtet der menschlichen Kosten. Das macht den russischen Abzug zu einem Sieg beider Seiten. Zumindest momentan, denn Russland hat erklärt, dass Cherson russisches Land bleibt.

Davon abgesehen bleibt die russische Entscheidung nicht ohne aussen- und innenpolitische Konsequenzen.

Aussenpolitisch haben die Ukraine und der Westen natürlich schnell den «Sieg» der Ukraine und die Schwäche Russlands kommuniziert. Das Problem ist, dass man, wie schon seit Beginn der russischen Operation, das Risiko eingeht, die ukrainischen Fähigkeiten zu überschätzen und damit die Idee von Verhandlungen zu verwerfen.

Putins Popularität steigt auf 79 Prozent

Innenpolitisch konnte man eine Enttäuschung erwarten, die sich in einem Misstrauen gegenüber der Regierung ausdrückte. Doch der russische Generalstab hatte aus dem Abzug aus Charkow Lehren gezogen: Anstatt im Nachhinein die Gründe für die Entscheidung zu erklären, kommunizierte General Surowikin dieses Mal im Voraus. So scheinen die russischen Staatsbehörden das Vertrauen der Öffentlichkeit nicht verloren zu haben. Laut dem Levada-Zentrum (das in Russland als «ausländischer Agent» gilt) war die Popularität Wladimir Putins im September nach der Ankündigung des Abzugs aus Charkow und der Teilmobilisierung auf 77 Prozent gesunken. Im Oktober (vor dem Abzug aus Cherson) stieg sie jedoch wieder auf 79 Prozent.⁶

Es sei hier daran erinnert, dass das Ziel der Russen ursprünglich nicht die Eroberung von Territorium war. Die Verbindung zwischen russischem Territorium und der Halbinsel Krim wurde im Zuge der Vernichtung der ukrainischen Streitkräfte hergestellt, aber die Russen haben offensichtlich nicht die Absicht, sich an Stabilisierungsmassnahmen jenseits der Sprachgrenze zu beteiligen.

Interessanterweise ist Wolodimir Selenskij zurückhaltender, während der Westen nach der Rückeroberung von Cherson jubelt. Denn in der Tat wissen die Ukrainer, was zwei Monate zuvor in Charkow passiert war: Das Gebiet wurde zu einer Feuerblase, und sie verloren Tausende von Männern, obwohl es keine Kämpfe gab. Wie das Sprichwort sagt: «Das gebrannte Kind scheut das Feuer».

Enorme Verluste und hohe Ineffizienz

Übrigens befindet sich die Ukraine heute in der gleichen Situation wie die Russen und evakuiert die Stadt bereits, nachdem sie versucht hat, Artillerieeinheiten dort zu positionieren.7

Wir können aus dem Abzug aus Cherson zwei Lehren ziehen. Die erste ist, dass die russische Operationsführung weniger politisch als militärisch ist und dass es das Militär ist, das die operativen und taktischen Ziele festlegt. Dies steht im Gegensatz zur Ukraine, wo die Operationsführung vollständig politisch ist, was die enormen Verluste und die hohe Ineffizienz erklärt. Diese Ineffizienz (d. h. die Menge an Ressourcen, die zur Erreichung eines bestimmten Ziels eingesetzt werden) lässt sich daran messen, wie schnell die Ukrainer die vom Westen gelieferten Materialien verlieren.

Die zweite Lehre ist, dass wir diesen Konflikt nicht verstehen können, weil wir nicht verstehen wollen, was die Russen tun. Seit Februar versuchen unsere Medien, uns davon zu überzeugen, dass Russland den Krieg verloren hat, dass ihm die Luft ausgeht, dass es enorme Verluste anhäuft, dass es keine Raketen mehr hat8 und dass Wladimir Putin schwer krank ist.⁹ Die Ironie ist, dass der Westen beispielsweise so sehr davon sprach, dass Russland keine Luftwaffe und keine Raketen mehr habe, dass er der Ukraine keine Luftabwehrmittel gab und sich auf offensives Material konzentrierte (um die berühmten «Gegenoffensiven» zu führen). Das Ergebnis war, dass die Ukraine im Oktober/November völlig machtlos war, sich gegen die russischen Raketenwellen zu wehren. Unsere Medien tragen daher eine erdrückende Verantwortung für die Unzulänglichkeit unserer Hilfe für die Ukraine, die auch diplomatischer Natur sein sollte.

Seit Februar wird künstlich die Vorstellung aufrechterhalten, die Ukraine befinde sich in einer Siegesdynamik, und daher sei jetzt nicht die Zeit für Verhandlungen. Dies hatten Boris Johnson im August¹⁰ und Ursula von der Leyen im September¹¹ gesagt. Diese Sichtweise resultiert aus der Tatsache, dass unsere Medien lediglich die ukrainische Propaganda wiedergeben. Sie haben beschlossen, dass nur die Ukraine die Wahrheit sagt, obwohl bekannt ist, dass in jedem Konflikt beide Seiten ein unterschiedliches Bild von der Situation haben. Wir sehen also nur eine Seite des Konflikts.

Anwendung illegaler Kriegsmethoden durch Kiew?

Selenskij behauptet trotz dem Dementi der Nato, Russland habe die Rakete auf Polen abgeschossen und nicht die Ukraine. Warum beschwichtigt hier die Nato, obwohl Selenskij nach bekanntem Muster versucht, die antirussische Kriegsstimmung anzuheizen?

Nein, ich würde nicht sagen, dass Selenskij versucht, eine antirussische Kriegsstimmung zu schüren. Ich denke, dass er seit Beginn der russischen Sonderoperation nach einem Weg sucht, die Nato dazu zu bringen, sich in den Konflikt einzumischen. Im März versuchte er, eine «Flugverbotszone» über der Ukraine zu erreichen, indem er die Vorfälle im Krankenhaus¹² und im Theater von Mariupol ausnutzte, um die Nato zum Eingreifen aufzufordern.¹³ Aus diesem Grund bezweifeln viele Experten auf der anderen Seite des Atlantiks, dass Russland für diese Vorfälle verantwortlich ist.

Im Sommer 2022 versuchte Selenskij, den Westen durch Angriffe auf das Atomkraftwerk Saporoshje (das zu diesem Zeitpunkt von russischen territorialen Sicherheitseinheiten ohne schwere Waffen besetzt war) dazu zu bringen, eine Sicherheitszone in der Ukraine einzurichten.¹⁴ Die Idee war, ein Problem zu schaffen, das den Westen so sehr beunruhigt, dass er sich direkt in den Konflikt einmischt. Deshalb behauptet der Westen weiterhin, dass die Russen auf Anlagen schiessen, die unter ihrer Kontrolle stehen, obwohl vor Ort die Wrackteile von Brimstone- und HIMARS-Raketen gefunden wurden.

In diesem Zusammenhang kommt die Affäre um die «schmutzige Bombe» auf, d. h. eine konventionelle Bombe, deren Explosion radioaktives Material verbreiten würde. Sie ist keine Atomwaffe und hat auch nicht deren zerstörerische Fähigkeit. Durch die Verbreitung von radioaktivem Staub könnte sie jedoch die gleiche Wirkung haben wie die Geschosse, die im ehemaligen Jugoslawien von den amerikanischen M-1-Panzern und den A-10-Bodenunterstützungsflugzeugen eingesetzt wurden, die Granaten mit einem Kern aus abgereichertem Uran verwendeten, deren Trümmer ganze Landstriche verseuchten. Die schmutzige Bombe ist eine Waffe, die bereits von tschetschenischen Terroristen in Russland eingesetzt worden war.¹⁵

Im September/Oktober 2022 scheiterten die Offensiven der Ukraine allesamt und waren mit enormen Verlusten verbunden. Sie könnte daher versuchen, den Konflikt eskalieren zu lassen und eine Situation zu schaffen, in der sich die Nato gezwungen sähe, einzugreifen. Ob wahrscheinlich oder nicht, aber das glauben die Russen. In einem Interview, das von der russischen Oppositionswebsite Meduza wiedergegeben wurde, erklärte der neu ernannte General Sergej Surowikin, er habe «Informationen, dass Kiew illegale Kriegsmethoden anwenden könnte».¹⁶ Was genau, wissen wir nicht.

Am 6. Oktober tauchen in sozialen Netzwerken (auch in der Schweiz) Meldungen über den Einsatz einer in der Ukraine hergestellten Atomwaffe auf, die per Zug nach Russland transportiert und dort aktiviert werden solle. Die Beschreibung weist darauf hin, dass es sich um eine «schmutzige Bombe» handeln könnte. In der Tat sind diese Behauptungen nicht überprüfbar. Die Drohung wurde jedoch in sozialen Netzwerken verbreitet, und das Vorsorgeprinzip zwingt die russischen Behörden dazu, zumindest vor der Gefahr zu warnen und so den Ukrainern «den Wind aus den Segeln zu nehmen», falls sich die Drohung als wahr erweisen sollte.

«Keine Hinweise darauf, dass Russland den Einsatz von Atomwaffen vorbereitet»

Am 24. Oktober 2022 warnten die russischen Behörden die westlichen Länder, dass «das Regime in Kiew eine Provokation mit einer ‹schmutzigen Bombe› vorbereite».¹⁷ Die Ukraine und der Westen bezichtigten Russland der Lüge. Es braucht nicht mehr, damit Verschwörungstheoretiker die russischen Warnungen aufgreifen und die Theorie verbreiten, dass die Russen, wenn sie solche Behauptungen aufstellten, selbst eine solche Aktion unter falscher Flagge vorbereiteten, um Atomwaffen einzusetzen. Genau das tut die Sendung Geopolitis vom 20. November 2022. Das ist Verschwörungstheorie im wahrsten Sinne des Wortes: Man nimmt Ereignisse, verknüpft sie durch eine willkürliche Logik miteinander und gibt ihnen ein ebenso willkürliches Ziel. Selbst die russische Oppositionswebsite Meduza¹⁸ übernimmt den Wortlaut der «New York Times», in der es heisst, das Weisse Haus habe «auch keine Hinweise darauf, dass Russland den Einsatz von Atomwaffen vorbereite».¹⁹ Unsere Medien sind also wieder einmal «päpstlicher als der Papst» und erfinden eine völlig spekulative Geschichte, die auf absolut keinen Fakten beruht. Dies entspricht einmal mehr der Definition einer Verschwörungstheorie!

Provokation der Ukraine

Am 15. November, als Russland seine Raketenangriffe intensivierte, meldete Associated Press unter Berufung auf einen «anonymen Beamten», dass zwei russische Raketen in Polen eingeschlagen hätten. Die Tatsache, dass es zwei Raketen waren, scheint einen Unfall auszuschliessen. Wenn es sich um einen vorsätzlichen Akt handelt, ist das Ereignis schwerwiegend und könnte zur Anwendung von Artikel 5 des Nato-Vertrags und zur Möglichkeit eines dritten Weltkriegs führen. Aber unsere Medien – die immer blutrünstig sind – preschen etwas zu schnell vor. Die Nato ist nicht RTS und überprüft zuerst die Informationen, bevor sie Stellung bezieht. Die Nato-Länder überwachen den Luftraum in diesem Grenzgebiet ständig und die Flugbahnen der Raketen sind bekannt. Dank der Fotos, die ein polnischer Feuerwehrmann, der sofort vor Ort war, gemacht hat, wissen wir, dass es nicht zwei, sondern nur eine Rakete gab und dass es sich dabei um eine Boden-Luft-Rakete vom Typ S-300 handelte. Anschliessend sperrten die polnischen Behörden das Gebiet ab und verhängten über die Bilder des Ereignisses eine Nachrichtensperre. Es handelte sich also um eine ukrainische Luftabwehrrakete. Ein polnischer Politiker sprach sogar davon, dass es sich um eine Provokation der Ukraine²⁰ gehandelt haben könnte, um eine westliche Intervention auszulösen. Doch fast unmittelbar danach, am 15. November, erklärte Joe Biden, es sei «unwahrscheinlich, dass die Rakete von Russland aus abgefeuert worden sei».²¹ Tatsächlich handelte es sich höchstwahrscheinlich um eine ukrainische Rakete, die ihr Ziel verfehlte und in Polen landete, wo sie zwei Menschen tötete. 

Es ist nicht nachvollziehbar, welches Interesse die Russen daran gehabt hätten, die Nato absichtlich zu provozieren. Das Problem ist, dass Selenskij weiterhin behauptete, es habe sich um eine russische Rakete gehandelt, mit dem Ergebnis, dass er seine westlichen Verbündeten verärgerte. Seltsamerweise wird auf RTS weiterhin der Ausdruck «Rakete aus russischer Produktion» verwendet, obwohl bekannt ist, dass es sich um eine ukrainische Rakete handelt.²² Das nennt man Propaganda.

Während der Coronavirus-Krise hatte es einen ähnlichen Fall gegeben. RTS hatte weiterhin den Ausdruck «chinesisches Virus» verwendet,²³ obwohl die WHO²⁴ und die wissenschaftliche Gemeinschaft²⁵ empfohlen hatten, diese Bezeichnung nicht zu verwenden, da sie Gewalt erzeuge. Im Ukraine-Konflikt ist das Gleiche zu beobachten: eine einseitige und voreingenommene Darstellung der Fakten, die nicht versucht, die Wogen zu glätten – ganz im Gegenteil.

Die Verurteilung von drei Personen, die für den Absturz der Flugs MH-17 verantwortlich sein sollen, wirft Fragen nach der Seriosität der Untersuchung auf. Auch kommt sie zu einem Zeitpunkt, in dem der Westen sich massiv im Krieg mit Russland befindet. Haben Sie Informationen, wer dieses Flugzeug tatsächlich abgeschossen hat? Gibt es hier klare Beweise? War es am Ende die Ukraine selbst?

Der Fall der MH-17 ist äusserst komplex, hauptsächlich weil es sich um eine technische Frage handelt, die politisch ausgenutzt werden soll. Er war Gegenstand unzähliger Theorien und Erklärungen, von denen jede weniger befriedigend war als die andere. Ausserdem waren die Versionen des Ereignisses, die von den einen und den anderen gegeben wurden, unterschiedlich.

Nichtsdestotrotz ist das von den niederländischen Richtern gewählte Szenario «abracadabrantesque» (haarsträubend), wie der ehemalige französische Präsident Jacques Chirac gesagt hätte.

Man stellte sich vor, dass die Russen einen BUK-Flugabwehrraketenwerfer auf einem zivilen Lastwagen auf der Strasse 200km in ukrainisches Hoheitsgebiet geschickt hätten, um die MH-17 und ihre 298 Insassen abzuschiessen, um dann sofort auf einer anderen Strasse nach Russland zurückzufahren.

Der Vorfall an sich wirft viele Fragen auf, deren Antworten sehr unbefriedigend bleiben. Wenn man davon ausgeht, dass eine Abschussvorrichtung in die Ukraine gebracht wurde, bedeutet dies, dass es eine Absicht gab. Wenn die Absicht bestand, ukrainische Flugzeuge abzuschiessen, warum wurde dann nur ein Trägersystem ins Land gebracht? Tatsächlich besteht das BUK-System normalerweise aus einer mobilen Kommandozentrale, einem Zielerfassungsfahrzeug und einem mobilen Abschussgerät. Um dieses System effektiv zu nutzen, sind mindestens ein Zielerfassungssystem und ein Werfer erforderlich. Wenn nur die Abschussvorrichtung vorhanden ist, muss die Rakete ihr Ziel selbst erfassen, was zur Folge hat, dass sie das Ziel nicht identifizieren kann und das Risiko, es zu verfehlen, sehr hoch ist.

Angenommen, Russland oder die Donbas-Autonomisten hätten die Absicht gehabt, ein malaysisches Zivilflugzeug mit Europäern an Bord abzuschiessen, welches Ziel verfolgten sie dann? Russland war nicht in den Donbas-Konflikt verwickelt und sein Ziel wäre alles andere als klar. Wollte es den Konflikt eskalieren und damit eine ausländische Intervention provozieren, um die Ukraine zu unterstützen?

Russland und Malaysia nicht in Untersuchungen einbezogen

Es gab zwei Untersuchungen in diesem Fall: erstens eine vom niederländischen Amt für Sicherheit (OVV) unter der Schirmherrschaft der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (OPCW) durchgeführte Untersuchung, deren Ziel «die Verhinderung von Unfällen und ähnlichen Vorfällen» und nicht die Feststellung der Verantwortlichkeiten war;  zweitens eine weitere, vom Joint Investigation Team (JIT) unter der Schirmherrschaft von Europol und Eurojust durchgeführte Untersuchung, die strafrechtlicher Natur war und darauf abzielte, die Verantwortlichkeiten für den Vorfall zu ermitteln. In der ersten Untersuchung ist Malaysia von Rechts wegen anwesend; in der zweiten Untersuchung wurde Malaysia jedoch nur aufgefordert, einen Beobachter zu stellen, erhält aber aus unklaren Gründen weder Berichte noch Schlussfolgerungen.²⁶ Warum wurde Malaysia von einer der beiden Untersuchungen ausgeschlossen? Der malaysische Premierminister erklärte selbst, dass die Untersuchung auf Gerüchten basiere.²⁷

Warum wurde Russland nicht in die Ermittlungen einbezogen und warum wurden die von Russland vorgelegten Beweise mit der Begründung, es handele sich um Propaganda, für unzulässig erklärt? Dies gilt auch für die Dokumente, die belegten, dass die gefundenen Trümmerteile von einer BUK-Rakete stammten, die an die ukrainische Armee geliefert worden war.

In einem Bericht vom 26.September 2016 gab der niederländische Militärgeheimdienst MIVD an, dass er am 17.Juli 2014 kein einsatzbereites BUK-Raketensystem in einem Radius entdeckt habe, der ausgereicht hätte, um die MH-17 abzuschiessen.²⁸

Es gab keine Gegengutachten zu einer Reihe von «Beweisen», insbesondere Videos, von denen einige behaupteten, dass es sich um digitale Montagen gehandelt habe. Fast 2600 Beweisstücke (Projektiltrümmer) wurden vom Gericht ohne seriöse Erklärung abgelehnt.

Die Amerikaner hatten behauptet, über Satellitenbilder zu verfügen, die während des Raketenabschusses aufgenommen worden waren, die jedoch niemand sehen konnte. Viele Zeugen und Dokumente, die das Gericht zitierte, wurden als geheim eingestuft und waren daher nicht zugänglich.

Der ukrainische Pilot des Suchoi-25-Flugzeugs, den Russland als Schuldigen an der Katastrophe nannte, beging 2018 opportunerweise «Selbstmord».²⁹

Aus diesen Grauzonen ergibt sich, dass das Urteil in der westlichen Welt sicherlich Beifall finden wird, aber es ist nicht sicher, ob der «Rest der Welt» davon überzeugt ist. Da man einen niederländischen Akteur der Untersuchung kannte, kann man sagen, dass das Gericht unter enormem politischen Druck stand.

Zufällige Tragödie für politische Zwecke ausgenutzt?

Ich habe keine Ahnung, was genau passiert ist. Aber die vorliegenden Erkenntnisse lassen Zweifel an dem vom Gericht angenommenen Szenario zu und lassen mich vermuten, dass der Vorfall auf einen Bedienungsfehler bei Wartungsarbeiten an der Trägerrakete zurückzuführen ist. Eine ukrainische Flugabwehreinheit befand sich tatsächlich im Bereich des Vorfalls und Einheiten wurden gewartet. Mein Eindruck ist, dass es sich um eine rein zufällige Tragödie handelt, die jedoch für politische Zwecke ausgenutzt wurde.

Es sei daran erinnert, dass dies nicht das erste Mal wäre. Die ukrainische Armee hatte bereits irrtümlich ein russisches Zivilflugzeug über dem Schwarzen Meer abgeschossen, den Flug Siberia Airlines 1812 im Oktober 2001. Ausserdem schoss der US-Kreuzer USS Vincennes am 3.Juli 1988 den Flug Iran Air 655 ab, wobei 290 Menschen, darunter 66 Kinder, ums Leben kamen. Spätere Untersuchungen der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) und der US-Marine bestätigten, dass sich der Kreuzer in iranischen Hoheitsgewässern befand und tatsächlich ein aufsteigendes Zivilflugzeug entdeckt hatte. Nachdem die US-Regierung zunächst alles abgestritten und dann gelogen hatte, indem sie behauptete, ihr Schiff habe sich in internationalen Gewässern und der Airbus habe sich im Sturzflug gegen das Schiff befunden, rechtfertigte sie den Abschuss mit einem «Fehler», was ebenfalls falsch war. Schliesslich verurteilte die internationale Justiz³⁰ die USA dazu, die Familien der Opfer zu entschädigen und sich zu entschuldigen. Präsident George H. Bush sen. erklärte jedoch: «Ich werde mich niemals für die Vereinigten Staaten von Amerika entschuldigen. Niemals. Mir sind die Fakten egal.»³¹

Trotz der politischen Komplexität des Falls von Flug MH-17 scheint das niederländische Gericht nicht unparteiisch und integer gearbeitet zu haben. Angesichts des Krieges in der Ukraine war es schwer vorstellbar, dass das Urteil unparteiisch sein würde, und ebenso unvorstellbar, dass es glaubwürdig sein würde. Wahrscheinlich hätten die Richter einen ehrenhaften Ausweg finden können, indem sie sich hinter Ziffer 5 des Minsk-II-Abkommens vom 15.Februar 2015 verschanzt hätten, die Begnadigung und Amnestie für alle «Ereignisse, die in bestimmten Gebieten der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk stattgefunden haben», garantierte.

Trotz allem Kriegsgeheul hat man den Eindruck, dass vermehrt Stimmen im Westen an einer Beendigung des Kriegs interessiert sind. Beobachten Sie das auch?

Wenn der Westen wirklich am Frieden interessiert gewesen wäre, hätte er alles getan, um ihn zu fördern, als er die Mittel dazu hatte.

Unsere Diplomaten hätten sich um die zivilen Opfer sorgen müssen, die sich seit 2014, als die Regierung in Kiew auf ihre eigenen Bürger schoss, angesammelt haben. Angesichts der Erfahrungen mit Georgien ist bekannt, dass Russland bereit ist, zum Schutz der Mitglieder der Gemeinschaft der ehemaligen UdSSR einzugreifen. Es war vollkommen klar, dass der Krieg gegen die Autonomisten im Donbas zu einem Konflikt führen könnte. Aber für unsere Journalisten sind die Toten im Donbas «vernachlässigbare Mengen», «Untermenschen». Deshalb kann niemand verstehen, dass man zu ihrer Verteidigung zu den Waffen gegriffen hat. Unsere Medien haben die heilige Faser, die die «Befreier» von Charkow 1943 hatten!

Frankreich und Deutschland hätten ihre Rolle spielen und die Ukraine dazu zwingen müssen, ihre Verpflichtungen aus den Minsker Abkommen einzuhalten. Es ist jedoch bekannt, dass die Ukraine diese Abkommen nur unterzeichnet hat, um Zeit zu gewinnen und ihre Armee wieder auf Kriegskurs zu bringen,³² wie Petro Poroschenko kürzlich am Telefon bestätigte, als Journalisten ihn in eine Falle gelockt hatten. Danach versuchte der Westen, die Minsker Vereinbarungen neu zu verhandeln, anstatt die bestehenden Vereinbarungen umzusetzen. Sie wollten ein Abkommen zwischen Kiew und den autonomistischen Oblasten in ein Abkommen zwischen der Ukraine und Russland umwandeln, was der Natur der Krise nicht gerecht wurde. Im Gegensatz zu dem, was Angela Merkel dem Spiegel sagte, fügte der Westen dem inneren Problem der Ukraine also nur eine weitere Schicht hinzu.³³

Ukraine in schlechter Lage

Speziell unter den politischen und militärischen Eliten stellt man fest, dass dieser Krieg aussichtslos ist und nicht ohne eine ukrainische Niederlage beendet werden kann, egal welches Szenario zugrunde gelegt wird. Insbesondere General Milley, der Leiter des Joint Chiefs of Staff, schlug vor, dass man sich auf einen Friedensprozess einlassen und einräumen müsse, dass die Ukraine einen Teil ihres Territoriums verlieren werde. Seit mehreren Monaten erstellt das US-Militär vermehrt Analysen, aus denen hervorgeht, dass die Ukraine in einer schlechten Lage ist. Es sind die Politiker – und ganz besonders die europäischen Politiker –, die nicht zugeben wollen, dass sie die falsche Strategie gewählt haben.

Es steht fest, dass Russland keinen längeren Krieg führen wollte. Daher war es im Februar und März sofort zu Verhandlungen bereit. Doch angesichts des westlichen Willens, den Konflikt zu verlängern mit dem Ziel, den Zusammenbruch Russlands³⁴ herbeizuführen, änderte Russland seine Strategie. Wie General Surowikin im Oktober erklärte, geht es nicht um grosse Operationen, sondern darum, den ukrainischen Militärapparat langsam und systematisch zu zerschlagen. Dies erklärt auch die Angriffe auf die Infrastruktur, deren Instandsetzung für den Westen zu einer unerträglichen Belastung werden könnte.

Der Hauptgrund für die Haltung des Westens zugunsten des Krieges ist, dass wir uns weigern, die wahren Gründe für diesen Krieg zu verstehen, der multifaktoriell ist. Ich möchte daran erinnern, dass Russland in der Ukraine nur interveniert hat, um die Übergriffe und Bombardierungen gegen die Bevölkerung des Donbas gemäss dem Prinzip der «Responsability to protect» (R2P) zu stoppen. Hintergrund dieser Intervention ist die Expansion der Nato in die Ukraine, die Russland auf diplomatischem Wege lösen wollte. Aus diesem Grund hatte es im Dezember 2021 Vorschläge kommuniziert, die der Westen nicht einmal in Erwägung ziehen wollte. Die ukrainische Offensive, die sich im Februar 2022 im Donbas anbahnte, bot Russland die Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: die Bedrohung für die russischsprachigen Menschen im Donbas zu beseitigen und die Ukraine zu Verhandlungen über ihre Stellung gegenüber der Nato zu drängen.

Aus russischer Sicht – einschliesslich der russischen Bevölkerung – ist das Ziel dieser Intervention legitim. Im Westen haben wir ein Narrativ entwickelt, das darauf abzielt, dieses Ziel zu delegitimieren. Es wurde behauptet, Russland wolle die Ukraine übernehmen und zerstören (was übrigens ein wenig widersprüchlich klingt!), die Regierung stürzen, ihre Reichtümer plündern und so weiter. Die Russen haben das nicht nur nie gesagt, sondern nach acht Monaten stellt man fest, dass diese Erklärungen völlig losgelöst von den Tatsachen sind.

«Die Ukraine hat ein Problem mit rechtsextremer Gewalt»

Um dieses Narrativ durchzusetzen, musste der Westen einen Teil der Realität verschweigen. Deshalb wird nie über die Opfer im Donbas oder die Kriegsverbrechen berichtet, die seit 2014 von den ukrainischen Neonazi-Milizen begangen wurden. So nehmen unsere Medien die Position dieser Milizen ein, die ihre Übergriffe gegen die Bevölkerung im Donbas leugnen und eine «rassisch reine» Ukraine wollen.³⁵ Nie (!) erwähnen sie diese Gewalttaten seit 2014 und behaupten sogar, dass es in der Ukraine keinen Neonazismus gebe!³⁶

Während die RTS in der Sendung Geopolitis die Präsenz von Neonazis in der Ukraine als Teil einer «Parallelwelt» beschrieb,³⁷ verhaftete die Polizei in Italien eine Neonazi-Zelle – den Hogal-Orden – unter Terrorismusverdacht, die «direkte und häufige Kontakte zu ukrainischen ultra-nationalistischen Formationen wie dem Bataillon Asow, Pravi Sector und Centuria hatte, wahrscheinlich im Hinblick auf eine mögliche Rekrutierung in die Reihen dieser Kampfgruppen».³⁸ Diese Zelle wurde mit Veröffentlichungen auf Telegram in Verbindung gebracht, die «Kampagnen zur Verherrlichung des Faschismus, Leugnung des Holocaust, Aufstachelung zu Rassenhass und Antisemitismus» betrafen.³⁹

In der Tat haben die amerikanischen Medien schon lange die Alarmglocken läuten lassen. Der Atlantic Council, ein mit der Nato und der US-Regierung verbundenes Medium, hatte schon lange davor gewarnt, dass «das Asow-Regiment sich nicht entpolitisiert hat»⁴⁰ und dass «die Ukraine ein echtes Problem mit rechtsextremer Gewalt hat (und nein, RT hat diese Schlagzeile nicht geschrieben)».⁴¹ Im März dieses Jahres schrieb NBC News, dass «das Naziproblem in der Ukraine real ist».⁴² Das zentristische US-Medium «The Hill» erklärte sogar, dass das Problem des Neonazismus in der Ukraine nichts mit der Propaganda des Kreml zu tun habe⁴³. Diese Medien hatten also Recht, im Gegensatz zu unseren Journalisten, die natürlich frei sind, ihre politischen Präferenzen zu haben. Tatsächlich ist es das Ziel unserer Medien, ein polarisiertes Bild des Konflikts aufrechtzuerhalten, mit dem jegliche Verhandlungen ausgeschlossen sind. Kann man mit dem Teufel verhandeln?

Es muss das Bild eines unverantwortlichen Wladimir Putin aufrechterhalten werden, der unfähig ist, Entscheidungen zu treffen (die übrigens automatisch falsch sind), der das Zarenreich (oder die Sowjetunion laut «Experten») wiederherstellen will, der die Existenz der Ukraine leugnet, der versucht, seine Atomwaffen einzusetzen usw., usw.

In einer kürzlich erschienenen Ausgabe der RTS-Sendung Geopolitis behauptete der Journalist Jean-Philippe Schaller, Wladimir Putin sei der erste gewesen, der mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht habe. Er ist ein Lügner. Wladimir Putin erwähnte den Einsatz von Atomwaffen,⁴⁴ nachdem (!) der französische Aussenminister Jean-Yves Le Drian⁴⁵ und die britische Aussenministerin Liz Truss⁴⁶ am 24. und 27. Februar den Einsatz von Atomwaffen durch die Nato und die Zerstörung des russischen Industriepotenzials angedeutet hatten. Unser «Journalist» von RTS verschweigt auch, dass Liz Truss am 24. August erklärt hat, sie sei bereit, Atomwaffen einzusetzen, selbst wenn dies zu einer «globalen Vernichtung» führen würde.⁴⁷ Ich weiss nicht, ob man Wladimir Putin als Diktator bezeichnen kann oder nicht, aber er scheint weniger zu lügen als unsere Journalisten, zumindest in dieser Hinsicht!

Verbreitung von Falschinformationen

In der Schweiz sind unsere Staatsmedien zu Propagandainstrumenten geworden, die Behauptungen aufstellen, ohne jemals etwas zu belegen. So hat RTS sogar russische Kriegsverbrechen in der Ukraine angeprangert, die die Ukrainer selbst als Fälschung betrachteten. Dies gilt auch für Vergewaltigungen. Es gab sicherlich Vergewaltigungen durch russisches (und ukrainisches) Militär während des Konflikts. Doch Anfang April 2022 kam es plötzlich zu einem Anstieg dieser Anschuldigungen. Sie stammen von der ukrainischen Menschenrechtskommissarin Ljudmila Denisowa.⁴⁸ RTS berichtet über diese Vergewaltigungen und betont, dass diese Verbrechen sorgfältig überprüft wurden⁴⁹ und dass sie «zum russischen Kriegsarsenal gehören», räumt aber gleichzeitig ein, dass «Beschwerden selten seien».⁵⁰ Das Problem ist, dass alles falsch war⁵¹ und Denisova entlassen wurde, weil es für diese Anschuldigungen keine Beweise gab und ihre Behauptungen dem Ansehen der Ukraine schadeten, wie das ukrainische Medium Ukrinform berichtet.52

Das Problem hier ist nicht, ob die Anschuldigung richtig oder falsch ist: Es gab sicherlich Vergewaltigungen auf beiden Seiten. Das Problem ist auch nicht einmal, dass RTS behauptet, diese Verbrechen seien bestätigt, obwohl sie es nicht sind: Der «Nebel des Krieges», wie Clausewitz es nannte, kann Fehler erklären (technisch: «Fehlinformation»). Das eigentliche Problem ist, dass RTS, um sein antirussisches Narrativ zu bewahren, obwohl es wusste, dass es falsche Informationen verbreitet hatte, nicht versuchte, seinen Fehler zu korrigieren. Während die Entlassung Denisowas den ukrainischen Parlamentariern hätte zugeschrieben werden können, zogen es die Schweizer Journalisten vor, ihre falschen Behauptungen zu schütze. «Gut geordnete Liebe beginnt bei sich selbst!»

«Wie man eine Krise versteht, davon hängt es ab, wie man sie löst»

Um ihr Narrativ zu schützen, und unfähig, mit Fakten zu argumentieren, beschränken sich unsere Medien schliesslich auf persönliche Angriffe. So erklärt der Journalist Jean-Philippe Schaller, dass Wladimir Putin über Informationsnetzwerke in Europa verfüge, zu denen ich zusammen mit Alain Juillet, einem ehemaligen Direktor des französischen Geheimdienstes, und mit Hubert Védrine, dem ehemaligen Aussenminister Frankreichs, gehören würde. Das ist nicht nur eine unbegründete Behauptung, die genau der Definition von Verschwörungstheorien entspricht,⁵³ sondern jeder ernsthafte Beobachter stellt fest, dass es sich dabei um eine Lüge handelt. Ich betone hier, dass alle Informationen, die ich verwende, aus dem Westen, der Ukraine oder von der russischen Opposition stammen. Übrigens werde ich auf dem amerikanischen Kontinent eher als «ukrainefreundlich» angesehen, während in Frankreich – abgesehen von einigen verschwörungstheoretischen Journalisten – meine Aussagen als ausgewogen gelten! Ein russischer oder intelligenter Zuschauer versteht sehr schnell, dass solche – ansonsten unbewiesene – Anschuldigungen nichts anderes als Desinformation sind. Diese Art von Informationen ist genau das, was die Meinung zugunsten Russlands stärkt. Dies geschieht auch in den afrikanischen Ländern, in denen ich ein beachtliches Publikum habe!

Wir kommen immer wieder auf denselben Punkt zurück: Wie man eine Krise versteht, davon hängt es ab, wie man sie löst.

Es ist ein bisschen einfach zu denken, dass wir uns alles erlauben könnten, nur weil Putin ein Diktator sei. Ich habe nicht gesehen, dass unsere Medien Sendungen machen, in denen sie den irakischen oder afghanischen Widerstand loben und unsere Jugendlichen ermutigen, zu ihnen zu gehen und sie zu unterstützen.

Es ist übrigens interessant zu sehen, dass niemand den Konflikt in Frage stellte, solange wir nicht betroffen waren. Heute, da unsere Wirtschaft zusammenbricht und wir spüren, dass unser Geldbeutel betroffen ist, beginnen unsere Politiker langsam einen Rückzieher zu machen, gegen unsere Medien, die weiterhin in Richtung Unnachgiebigkeit drängen. Man muss nur die Kommentare in der Sendung Geopolitis⁵⁴ und in meinem kürzlich von Sud Radio ausgestrahlten Interview⁵⁵ vergleichen, um festzustellen, dass die Öffentlichkeit sich nicht irrt. Unserer Bevölkerung geht es nicht darum, Russland oder die Ukraine zu verurteilen, wie es unsere Politiker und Medien tun, sondern um eine Lösung für einen Konflikt, den sie auf Kosten des Lebens der Ukrainer instrumentalisiert haben. Ich erinnere daran, dass Selenskij sich auf Druck der Westler und ihrer Medien⁵⁶ von den Verhandlungen zurückgezogen hat, die er selbst Ende Februar und Ende März 2022 gefordert hatte. Die europäische Öffentlichkeit hat die Situation sehr gut verstanden: Es sind unsere sogenannten Eliten, die sich weigern, das kriegerische Narrativ, das sie seit 2014 entwickelt haben, in Frage zu stellen.

Herr Baud, vielen Dank für Ihre Antworten.

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete u.a. für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

 

¹ «Ukraine attacks Russian-held Kherson, plans counterattack», aljazeerah, 12 July 2022 (www.aljazeera.com/news/2022/7/12/ukraine-strikes-russian-held-kherson-as-kyiv-plans-counterattack)

² youtu.be/I6ngm-QUn4M

³ Mark Trevelyan, « Russia's war hawks rally behind decision to abandon Ukrainian city of Kherson », Reuters, 10 novembre 2022 (www.reuters.com/world/europe/russias-war-hawks-rally-behind-decision-abandon-ukrainian-city-kherson-2022-11-09/)

⁴ « Жителей Херсона призвали «незамедлительно» уехать. На левый берег Днепра вывезли уже 25 тысяч человек », Meduza, 23 octobre 2022 (meduza.io/feature/2022/10/23/zhiteley-hersona-prizvali-nezamedlitelno-uehat-na-levyy-bereg-dnepra-vyvezli-uzhe-25-tysyach-chelovek)

rg.ru/2022/10/18/surovikin-ukrainskaia-storona-teriaet-do-tysiachi-chelovek-v-sutki.html

www.levada.ru/indikatory/

⁷ Lorenzo Tondo & Peter Beaumont, « Ukraine to start evacuations in Kherson and Mykolaiv regions as winter sets in », The Guardian, 21 novembre 2022 (www.theguardian.com/world/2022/nov/21/ukraine-evacuations-kherson-mykolaiv-regions-winter-war-damage-infrastructure)

⁸ Christopher Gettel, « Russia Is Running Out of Missiles. That’s Bad News for Ukraine », The Defense Post, 1er septembre 2022 (www.thedefensepost.com/2022/09/01/russia-missiles-running-out/); Cristina Gallardo, « Russia is running short of long-range missiles, say Western officials », Politico, 18 octobre 2022 (www.politico.eu/article/russia-running-short-of-long-range-missiles-ukraine-war/)

⁹ «Selon une enquête, Vladimir Poutine aurait un cancer de la thyroïde, mais devrait en guérir », rts.ch, 13 juin 2022 (www.rts.ch/info/monde/13162992-selon-une-enquete-vladimir-poutine-aurait-un-cancer-de-la-thyroide-mais-devrait-en-guerir.html)

10 Roman Romaniuk, « Possibility of talks between Zelenskyy and Putin came to a halt after Johnson’s visit », Ukrainskaya Pravda, 5 May 2022 (www.pravda.com.ua/eng/news/2022/05/5/7344206/)

11 «Discours sur l'état de l'Union 2022 de la présidente von der Leyen », Commission Européenne,14 septembre 2022 (ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/fr/speech_22_5493)

12 Brad Dress, « Mariupol mayor calls for no-fly zone after maternity hospital bombing », The Hill, 9 mars 2022 (thehill.com/policy/international/597635-mariupol-mayor-calls-for-no-fly-zone-after-maternity-hospital-bombing/)

13 « Ukraine calls for no-fly zone to stop Russian bombardment », Reuters, 1er mars 2022 (www.reuters.com/world/europe/russias-isolation-deepens-ukraine-resists-invasion-2022-02-28/)

14 Ross Peel, « Zaporizhzhia: proposals for demilitarised zone around Europe’s biggest nuclear power plant are unprecedented – expert reveals », The Conversation, 7 septembre 2022 (theconversation.com/zaporizhzhia-proposals-for-demilitarised-zone-around-europes-biggest-nuclear-power-plant-are-unprecedented-expert-reveals-189927)

15 Jeffrey Bale, “The Chechen Resistance and Radiological Terrorism”, Center for Nonproliferation Studies, 1er avril 2004. (www.nti.org/analysis/articles/chechen-resistance-radiological-terror/)

16 «‘We may have to make some difficult decisions in Kherson’ Meduza's summary of the first interview given by Russia's new top commander in Ukraine », Meduza, 19 octobre 2022 (meduza.io/en/feature/2022/10/19/we-may-have-to-make-some-difficult-decisions-in-kherson)

17 «Шойгу позвонил министрам обороны четырех стран НАТО. И заявил, что Украина якобы готовится взорвать «грязную бомбу». Никаких доказательств он не привел», Meduza, 23 octobre 2022 (meduza.io/feature/2022/10/23/shoygu-pozvonil-ministram-oborony-chetyreh-stran-nato-i-zayavil-chto-ukraina-yakoby-gotovitsya-vzorvat-gryaznuyu-bombu-nikakih-dokazatelstv-on-ne-privel)

18 meduza.io/feature/2022/10/25/rossiya-aktivno-preduprezhdaet-o-podryve-gryaznoy-bomby-v-ukraine-na-zapade-eto-rastsenivayut-kak-proverku-reaktsii-ili-predlog-dlya-novoy-eskalatsii-konflikta

19 www.nytimes.com/2022/10/24/us/politics/russia-dirty-bomb-west-ukraine.html

20 «Missile incident was Ukrainian ‘provocation’ – Polish politician», The Press United, 17 novembre 2022 (thepressunited.com/updates/missile-incident-was-ukrainian-provocation-polish-politician/)

21 Emma Kinery, «Biden says it’s ‘unlikely’ the missile that hit Poland was fired from Russia», CNBC, 15 novembre 2022 (www.cnbc.com/2022/11/15/biden-says-its-unlikely-russia-fired-the-missile-that-hit-poland.html)

22 www.rts.ch/audio-podcast/2022/audio/la-pologne-a-ete-touchee-par-un-missile-de-fabrication-russe-tout-pres-de-sa-frontiere-avec-l-ukraine-25875879.html; https://www.rts.ch/audio-podcast/2022/audio/reportage-en-pologne-pres-du-site-de-l-impact-du-missile-de-fabrication-russe-25876297.html

23 www.rts.ch/info/monde/11159819-le-pouvoir-chinois-souhaite-faire-oublier-lorigine-du-coronavirus.html

24 Dawn Kopecki, « WHO officials warn US President Trump against calling coronavirus ‘the Chinese virus’ », CNBC, 18 mars 2020

25 Marietta Vazquez, «Calling COVID-19 the “Wuhan Virus” or “China Virus” is inaccurate and xenophobic», Yale School of Medicine, 12 mars 2020 ; « Calling COVID-19 a ‘Chinese virus’ is wrong and dangerous – the pandemic is global », The Conversation, 25 mars 2020 ; Zhaohui Su et al., « Time to stop the use of ‘Wuhan virus’, ‘China virus’ or ‘Chinese virus’ across the scientific community », BMJ Journal, 20 août 2020

26 1er août 2019

27 youtu.be/fRplsSshPKI

28 maxfromthewharf.com/wp-content/uploads/2020/03/MIVD_EN.pdf

29 «MH17 crash: Ukraine pilot blamed by Russia 'kills himself'», BBC News, 19 mars 2018 (www.bbc.com/news/world-europe-43457694)

30 John F. Burns, « World Aviation Panel Faults U.S. Navy on Downing of Iran Air », The New York Times, 4 décembre 1988

31 «When America Apologizes (or Doesn’t) for Its Actions », The New York Times, 6 décembre 2011

32 «Minsk deal was used to buy time – Ukraine’s Poroshenko », The Press United, 17 juin 2022 (thepressunited.com/updates/minsk-deal-was-used-to-buy-time-ukraines-poroshenko/)

33 www.spiegel.de/panorama/ein-jahr-mit-ex-kanzlerin-angela-merkel-das-gefuehl-war-ganz-klar-machtpolitisch-bist-du-durch-a-d9799382-909e-49c7-9255-a8aec106ce9c; www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/merkel-zu-ukraine-101.html

34 youtu.be/Ntzacqlm-Ac

35 «Український соціальний націоналізм. — Харків: «Патріот України», 2007 (https://web.archive.org/web/20080409023834) (http://www.patriotukr.org.ua/index.php?rub=stat&id=267)

36 youtu.be/bEv4-IJsl9k?t=212

37 youtu.be/bEv4-IJsl9k?t=414

38 Lucia Liccardi, « I neonazisti della Campania », agi.it, 15 novembre 2022 (www.agi.it/cronaca/news/2022-11-15/terrorismo-associazione-neonazista-quattro-arresti-campania-18834751)

39 «Operazione antiterrorismo tra Napoli, Caserta e Avellino: 5 arresti», poliziadistato.it, 15 novembre 2022 (www.poliziadistato.it/articolo/289963737a1f95b85474505806)

40 Oleksiy Kuzmenko, « The Azov Regiment has not depoliticized », Atlantic Council, 19 mars 2020 (www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/the-azov-regiment-has-not-depoliticized/)

41 Josh Cohen, « Ukraine’s Got a Real Problem with Far-Right Violence (And No, RT Didn’t Write This Headline) », The Atlantic Council, 20 juin 2018 (www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/ukraine-s-got-a-real-problem-with-far-right-violence-and-no-rt-didn-t-write-this-headline/)

42 Allan Ripp, « Ukraine’s Nazi problem is real, even if Putin’s ‘denazification’ claim isn’t », NBC News, 5 mars 2022 (www.nbcnews.com/think/opinion/ukraine-has-nazi-problem-vladimir-putin-s-denazification-claim-war-ncna1290946)

43 Lev Golinkin, « The reality of neo-Nazis in Ukraine is far from Kremlin propaganda », The Hill, 9 novembre 2017 (thehill.com/opinion/international/359609-the-reality-of-neo-nazis-in-the-ukraine-is-far-from-kremlin-propaganda/)

44 Runai Tairov, «Путин приказал перевести силы сдерживания в особый режим боевого дежурства», Forbes.ru, 27 février 2022; Andrew Roth, Shaun Walker, Jennifer Rankin & Julian Borger, « Putin signals escalation as he puts Russia’s nuclear force on high alert », The Guardian, 28 février 2022.  

45 Anthony Audureau/AFP, « Ukraine : Le Drian rappelle à Poutine que “l’Alliance atlantique est aussi une alliance nucléaire” », BFM TV, 24 février 2022 (www.bfmtv.com/international/ukraine-le-drian-rappelle-a-poutine-que-l-alliance-atlantique-est-aussi-une-alliance-nucleaire_AD-202202240685.html).

46 Stephen Mcilkenny, « Liz Truss: Kremlin says decision to put nuclear bases on high alert due to comments made by Foreign Secretary | What did she say about Ukraine crisis? », The Scotsman, 28 février 2022 (www.scotsman.com/news/politics/kremlin-says-nuclear-bases-on-high-alert-due-to-comments-made-by-liz-truss-3589463)

47 www.independent.co.uk/news/uk/politics/liz-truss-nuclear-button-ready-b2151614.html; https://youtu.be/IvH7cgbdazU

48 www.francetvinfo.fr/monde/europe/manifestations-en-ukraine/guerre-en-ukraine-apres-le-massacre-de-boutcha-les-temoignages-glacants-des-victimes-de-viols-commis-par-l-occupant-russe_5145007.htm

49 www.rts.ch/audio-podcast/2022/audio/multiplication-des-accusations-de-viols-en-ukraine-interview-de-lea-rose-stoian-25813937.html

50 www.rts.ch/info/monde/13005321-les-viols-de-civils-font-partie-de-larsenal-de-guerre-russe-en-ukraine.html

51 hromadske.ua/posts/deputati-zibrali-pidpisi-za-vidstavku-ombudsmenki-denisovoyi-vona-nazivaye-mozhlive-zvilnennya-nezakonnim

52 www.ukrinform.fr/rubric-ato/3496821-la-commissaire-aux-droits-de-lhomme-ukrainienne-demise-de-ses-fonctions.html

53 fr.wikipedia.org/wiki/Théorie_du_complot

54 youtu.be/bEv4-IJsl9k

55 youtu.be/3h-JJQMgUT4

56 www.rts.ch/audio-podcast/2022/audio/a-quoi-bon-negocier-avec-poutine-a-propos-de-l-ukraine-interview-de-nicolas-tenzer-25808171.html

«Der Westen hat ein gewaltiges Interesse am Krieg»

«Die Schweiz hätte so viel in der Friedensvermittlung zu bieten, was sie achtlos aus der Hand gibt»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Artikel 20 des Internationalen Pakts der Bürgerlichen und Politischen Rechte verbietet per Gesetz «jegliche Kriegspropaganda und jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird.» Wenn wir uns die letzten Monate anschauen, sieht man, dass das von westlicher Seite völlig ignoriert wird. Was sind die Ursachen dafür?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Die westlichen Länder verdienen am Krieg, sie haben starke Waffenindustrien und wollen diese Waffen verkaufen. Dies geht aber nur, wenn die Drohnen, Raketen, Panzer, Kanonen etc. gebraucht werden, wenn die Flugzeuge abgeschossen werden. Dann müssen sie ersetzt werden, und der Waffen-Zirkus läuft lustig weiter. Der Westen hat ein gewaltiges Interesse am Krieg und wird sich kaum verpflichten, den Krieg oder die Kriegspropaganda zu ächten. Die Staaten Australien, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Island, Irland, Luxembourg, Malta, die Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Schweden, die Schweiz, Grossbritannien und die Vereinigten Staaten haben alle Vorbehalte gegen Artikel 20 des Paktes, so dass die Regierungen und die Medien weiterhin Kriegspropaganda betreiben können. Kein lateinamerikanischer oder afrikanischer Staat hat solche Vorbehalte.

Das sind die doppelten Standards. Niemand auf dieser Welt heult so auf wie der Westen, wenn die Menschenrechte nicht eingehalten werden. Was ist das für eine Gesinnung?

In vier Jahrzehnten Menschenrechtstätigkeit habe ich genug von dieser unredlichen Gesinnung gesehen. Es ist interessant, wie sich die westlichen Staaten bei den Diskussionen über die Einführung des Menschenrechts auf Frieden in den Jahren 2012 bis 2016 verhalten haben.¹ Ich habe seinerzeit allen Tagungen der Arbeitsgruppe² des Menschenrechtsrates beigewohnt und auch in meiner Funktion als Sonderberichterstatter wiederholte Male gesprochen (siehe Kapitel 3 meines Buches «Building a Just World Order»). Der Westen hat dafür gesorgt, dass der exzellente Entwurf der Deklaration, die seinerzeit vom Advisory Committee³ erstellt wurde, ausgehöhlt wurde. Allerdings waren nicht alle Amerikaner mit der Haltung der US-Regierung bezüglich des Menschenrechts auf Frieden einverstanden. So sagte der US-Völkerrechtsprofessor Curtis Doebbler am 1. August 2016: «Die angenommene Erklärung ist eine Beleidigung für Verteidiger der Menschenrechte und alle, die ihr Vertrauen der Uno schenken, um den Frieden in der Welt zu fördern. Am auffallendsten ist, dass die Erklärung nicht das Recht auf Frieden bekräftigt, das in einer Erklärung der Uno-Generalversammlung von 1984 für alle Völker anerkannt wurde. Eine Erklärung zum Recht auf Frieden zu verabschieden, die das Recht auf Frieden nicht klar und unzweideutig bekräftigt, ist eine Botschaft an uns alle, dass unsere diplomatischen Vertreter nicht in unserem besten Interesse handeln. Entweder müssen die Diplomaten ausgewechselt werden oder die Regierungsbeamten, die sie ernennen.»⁴ 

Wenn man es mit den Menschenrechten ernst meinte, müssten die westlichen Staaten das voll und ganz unterstützen. Es ist schon unglaublich, mit welcher Propaganda man die eigene Bevölkerung lenkt, um sich selbst als die Guten zu präsentieren.

Noch schändlicher ist die Art und Weise, wie sich der Westen in diesem Zusammenhang verhalten hat. Zunächst hat der Westen alles getan, um die Deklaration zu schwächen, eigentlich um sie auszuweiden. Das war einfach dreist und unehrenhaft vom Westen, ein Verrat an der Zivilgesellschaft. Man muss bedenken, dass der Ursprung der Deklaration nicht der Menschenrechtsrat war, sondern Tausende von Friedensaktivisten auf der ganzen Welt unter der Leitung der Asociacion Española para el Derecho Internacional de los Derechos Humanos (ich bin seit 2004 Mitglied), die die ganze Bewegung für das Menschenrecht auf Frieden in Gang setzte, nämlich durch die Annahme der Declaracion de Luarca, gefolgt von der Declaracion de Bilbao (ich war Rapporteur), dann die Declaracion de Santiago de Compostela vom 10. Dezember 2010. Es war diese Declaracion de Santiago, die vom Advisory Committee des Menschenrechtsrates übernommen und dann an die «Arbeitsgruppe» weitergegeben wurde. Wenn man den Entwurf des Advisory Committees kennt und mit der endgültigen Deklaration vergleicht, kann man nur schockiert sein, entsetzt, wieviel Zeit und Geld vergeudet wurde. Adding insult to injury, der Westen stimmte sogar gegen das wenige, was von der Deklaration übrig geblieben war.⁵ Die Resolution 32/28 wurde mit 34 Stimmen dafür, 4 Enthaltungen und 9 Gegenstimmen angenommen.⁶

Wie muss man dieses Ergebnis interpretieren?

So, dass der Westen eine «love affair» mit dem Krieg hat. Die Schweiz hätte sich natürlich der Mehrheit anschliessen müssen – aber die mutlose Delegation hat sich der Stimme enthalten. Ich war dabei. Was für eine Schande! Hierzu muss man sagen, dass die Deklaration, die 2016 von der Generalversammlung angenommen wurde (A/RES/71/189), kein Menschenrecht auf Frieden als solches anerkennt. Es ist ein leeres Bla-Bla – eigentlich weniger, als wir bereits 1984 mit der Resolution 39/11 der Generalversammlung⁷ hatten. 

Während Ihrer Zeit als Unabhängiger Experte an der Uno haben Sie sich für den Frieden eingesetzt. Es gibt verschiedene Menschenrechte wie das Recht auf Leben und viele andere. Wie wird das oberste Prinzip der Uno, Sicherung und Erhaltung des Weltfriedens, verfolgt und eingehalten?

Kapitel drei meines Buches «Building a Just World Order» gibt ausführliche Antworten auf Ihre Fragen. Das Menschenrecht auf Frieden z. B. wird vom Westen völlig ignoriert. Die Völker Lateinamerikas, Afrikas und Asiens wollen bestimmt den Frieden. Das Geld will aber Krieg. Und es ist der Westen, der solche Situationen sucht und die Kriegsstimmung vorantreibt. In der Ukraine kann man das genau beobachten. Milliarden an Geldern – wohlgemerkt Steuergeldern – werden für Waffen ausgegeben. Die Aktien der Rüstungsfirmen wie z. B. Rheinmetall in Deutschland sind nahezu explodiert. Das Volk wird allerdings nie gefragt, ob es seine Steuergelder für den Krieg einsetzen will. Vielleicht hat das Volk andere Prioritäten wie Krankenhäuser und Schulen. Aber es wird nicht konsultiert. Es gibt keine Referenden.

Hat der Menschrechtsrat an seiner letzten Session sich für den Frieden in der Ukraine eingesetzt und die Ursachen thematisiert, die zur militärischen Aktion der Russischen Föderation geführt haben?

Der Menschenrechtsrat entpuppt sich zunehmend als parteiisch und im Dienste des Westens. China und einige Staaten haben sich für Friedensverhandlungen im Ukrainekrieg konstruktiv geäussert, aber der Rat hat die Konfrontation bevorzugt und nur Russland für den Krieg verantwortlich gemacht, ohne sich mit der Vorgeschichte, mit den Provokationen durch die Nato zu beschäftigen oder konkrete Vorschläge für Friedensverhandlungen zu machen. Der Rat hat sich damit begnügt, einen Sonderberichterstatter für Russland zu bestellen, um die Hetze – was wir «Naming and Shaming» nennen – fortzusetzen, nicht aber um dem Frieden zu dienen. Obwohl 24 Staaten sich der Stimme enthielten und sechs dagegen stimmten, die 17 Stimmen der westlichen Staaten haben die Resolution getragen.⁸

Stellt sich der neue Hochkommissar für Menschenrechte wie viele seiner Vorgänger und Vorgängerinnen in den Dienst der USA und der EU?

Leider ja. Ich hatte ursprünglich gewisse Hoffnungen gehegt, die ich inzwischen aufgeben musste. Seine Äusserungen über Russland sind unausgewogen. Er scheint sich besonders für LGBT-Sachen zu interessieren.⁹ 

Es gibt an der Uno ein Heer von Unabhängigen Experten und Sonderberichterstattern. Was spielen sie für eine Rolle bei der Erhaltung des Friedens und der Verteidigung der Menschenrechte?

Praktisch keine Rolle. Die meisten Sonderberichterstatter kümmern sich nicht um den Frieden, sondern geniessen die Gelegenheit, sich grandios zu äussern und Richter zu spielen, indem sie «Naming and Shaming» betreiben, Staaten kritisieren, ohne sich die Mühe zu geben, pragmatische oder friedensfördernde Vorschläge zu formulieren. Über die Jahre hat es eine Reihe mutiger und unabhängiger Sonderberichterstatter gegeben u. a. Jean Ziegler, Olivier de Schutter, Richard Falk, Michael Lynk, Virginia Dandan, Ben Emmerson, Juan Pablo Bohoslavsky, Nils Melzer, Idriss Jazairi, Alena Douhan – die ich alle gut kenne. Leider ist das Auswahlsystem äusserst politisch, und selten werden wirklich unabhängige Experten ernannt. Die meisten kommen aus dem «Mainstream» und folgen dem Zeitgeist. 

In Konflikten melden sich häufig die grossen NGOs wie AI (Amnesty International) oder HRW (Human Rights Watch) zu Wort. Wie verläss­lich sind ihre Positionen, und können sie völlig unabhängig agieren?

Weder AI noch HRW sind wirklich unabhängig. Schliesslich brauchen sie Geld, und die Stifter wollen auch mitspielen. So werden bestimmte Themen bevorzugt, z. B. gender equality. Andere wichtigere Menschenrechtsthemen wie das Menschenrecht auf Frieden werden komplett ausgeblendet. Wikileaks, das European Center for Law and Justice10 und andere investigative Journalisten haben gezeigt, dass eine bestimmte Durchdringung der Geheimdienste Grossbritanniens, Israels und den USA geschehen ist und dass es eine gewisse Drehtür zwischen Regierungsposten und AI und HRW – was wir «revolving door» nennen – gibt. Noch ärger ist es nämlich, wenn genau diese Menschen dann von den USA, von Grossbritannien oder Frankreich auf höhere Posten im Büro des Hochkommissars für Menschenrechte berufen werden.

Ein wichtiger Faktor in der internationalen Vermittlung von Konflikten kommt den neutralen Staaten zu. Seit dem Ukraine-Konflikt können wir feststellen, dass die wenigen westlich ausgerichteten neutralen Staaten sich den Sanktionen gegen Russland angeschlossen haben, einschliesslich der Schweiz. Wie ist das aus Sicht des Völkerrechts zu beurteilen?

Unilaterale Zwangsmassnahmen sind völkerrechtswidrig. Man kann aber nichts machen, denn die USA, Grossbritannien und Frankreich sind Vetomächte im Sicherheitsrat. Es ist ein Skandal, dass sich Länder wie die Schweiz den illegalen Sanktionen angeschlossen haben. Die Neutralität ist ein bedeutender Wert und eine Verpflichtung. Ich verstehe die Schweizer Politiker nicht.

Welche heutigen Staaten können noch glaubhaft die Vermittlerrolle einnehmen, nachdem neutrale so eindeutig für eine Kriegspartei Stellung genommen haben?

Die Schweiz gewiss nicht mehr. Ich kann mir vorstellen, dass Mexiko, Argentinien, Brasilien, Südafrika, Algerien oder Indien diese Rolle einnehmen könnten. Es ist schon beklagenswert, dass neutrale Staaten wie die Schweiz oder Schweden sich immer mehr der Nato-Kriegsallianz angeschlossen haben, vor allem in der Übernahme der völkerrechtswidrigen Sanktionen. Dass die Schweiz die Weitergabe der Munition an die Ukraine den Deutschen untersagt, ist die richtige Haltung und äusserst unterstützenswert. Sie hätte bei den Sanktionen der EU und der USA gegen Russland genau gleich handeln müssen. Denn bei den Sanktionen handelt es sich um einen offenen Handels- und Wirtschaftskrieg der USA gegen Russ­land. Wider alle Vernunft machen die EU und die Schweiz dabei mit. Die Schweiz hätte so viel in der Friedensvermittlung zu bieten, was sie achtlos aus der Hand gibt, nur damit sie weiterhin die Gunst der USA geniessen können, obwohl die USA in den letzten Jahrzehnten der Schweiz übel mitgespielt haben und es auch jetzt wieder tun, indem sie Schweizer Treuhänder sanktionieren, wenn diese mit russischen Geschäftsleuten Beziehungen unterhalten. 

Wie beurteilen Sie das Verhalten des Schweizer Bundesrats, insbesondere Ignazio Cassis', der für die Aussenpolitik der Schweiz verantwortlich ist?

In höchstem Masse undemokratisch. Das Schweizer Volk hätte konsultiert und per Referendum gefragt werden müssen, ob es mit dem aussenpolitischen Kurs von Ignazio Cassis einverstanden ist. Der Bundesrat hat gegen die Schweizer Verfassung gehandelt. Es ist eine Treulosigkeit gegenüber dem Schweizer Erbe der Neutralität, eine leichtsinnige und ehrlose Aufgabe von alten, bewährten schweizerischen Traditionen, eine völlig unnötige Preisgabe ohne Gegenleistung. Für die Schweiz ein riesiger Verlust. Und für die übrigen neutralen Staaten eine Schwächung. Hätte sich die Ukraine an der Schweizer Neutralität orientiert, wie es Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg getan hat, wäre uns die aktuelle Auseinandersetzung wohl erspart geblieben. 

Welchen Stellenwert messen Sie aus Ihrer internationalen Erfahrung als jahrelanger hoher Uno-Beamter und Unabhängiger Experte an der Uno der Neutralität von Staaten bei?

Der neue Kalte Krieg, der sich in der Ukraine zu einem heissen Krieg entwickelte, geht auf eine primitive Polarisierung zurück. Die Uno-Charta verpflichtet alle Staaten zum Dialog, zu Verhandlungen. Man braucht mehr neutrale Staaten, nicht weniger. Neutrale Staaten haben eine hohe Glaubwürdigkeit, wenn sie ihre Neutralität nicht preisgeben, und können die Rolle des Schiedsrichters zwischen den Konfliktparteien einnehmen. Diesen Trumpf hat die Schweiz aus der Hand gegeben, den übernimmt jetzt im aktuellen Konflikt die Türkei. 

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Interview.

Interview Thomas Kaiser

 

¹ https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/advisory-committee/right-to-peace

² https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/right-peace/wg-draft-un-declarationonthe-rightto-peace

³ https://www.ohchr.org/en/stories/2013/04/right-peace

https://www.transcend.org/tms/2016/08/the-un-human-rights-council-adopts-the-declaration-on-the-right-to-peace/
«the adopted declaration is an insult to human rights defenders and anyone who puts their faith in the UN to promote peace in the world. Most strikingly the declaration does not reconfirm the right to peace that was recognized for all peoples in a UN General Assembly declaration adopted in 1984. To adopt a declaration on the right to peace that does not clearly and unambiguously state the right to peace sends the message to all of us that our diplomatic representatives are not acting in our best interests. Either the diplomats needs to be changed or the government officials who appoint them»

https://digitallibrary.un.org/record/845647,  A/HRC/RES/32/28 2

⁶ In favour: Algeria, Bangladesh, Bolivia (Plurinational State of), Botswana, Burundi, China, Congo, Côte d’Ivoire, Cuba, Ecuador, El Salvador, Ethiopia, Ghana, India, Indonesia, Kenya, Kyrgyzstan, Maldives, Mexiko, Mongolia, Morocco, Namibia, Nigeria, Panama, Paraguay, Philippines, Qatar, Russian Federation, Saudi Arabia, South Africa, Togo, United Arab Emirates, Venezuela (Bolivarian Republic of), Viet Nam
Against: Belgium, France, Germany, Latvia, Netherlands, Republic of Korea, Slovenia, the former Yugoslav Republic of Macedonia, United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland
Abstaining: Albania, Georgia, Portugal, Switzerland

https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/declaration-right-peoples-peace

⁸ In favour (17): Argentina, Czechia, Finland, France, Germany, Japan, Lithuania, Luxembourg, Marshall Islands, Montenegro, Netherlands, Paraguay, Poland, Republic of Korea, Ukraine, United Kingdom and United States.
Against (6): Bolivia, China, Cuba, Eritrea, Kasachstan and Venezuela.
Abstentions (24): Armenia, Benin, Brazil, Cameroon, Cote d’Ivoire, Gabon, Gambia, Honduras, India, Indonesia, Libya, Malawi, Malaysia, Mauritania, Mexiko, Namibia, Nepal, Pakistan, Qatar, Senegal, Somalia, Sudan, United Arab Emirates and Usbekistan.

9 https://www.fmreview.org/sogi/tuerk
https://newsrnd.com/news/2022-10-28-un-denounces-tougher-russian-law-on--lgbt-propaganda-.HygcSo4Y4o.html

10 https://eclj.org/

«Die Welt ist in einer enormen Umbruchsphase»

Interview mit der freien Journalistin und Nahost-Expertin Karin Leukefeld

Karin Leukefeld (Bild thk)
Karin Leukefeld (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wir haben im Iran wieder einmal medial aufbereitete Unruhen, die im Westen vor allem als Kampf der «unterdrückten Frauen» gegen die Regierung analysiert werden, aber wohl einen anderen Hintergrund haben. Können Sie dazu etwas sagen?

Karin Leukefeld Wenn wir über diese Frage sprechen, dann möchte ich vorausschicken, dass wir sehr wenig über dieses Land wissen. Das hängt unter anderem auch damit zusammen, dass der Iran seit der Islamischen Revolution vom Westen als Feindesland betrachtet wird. Vor dieser Zeit war der Iran unter der Regierung des Schahs ein Verbündeter der USA. Im «Westen» wissen die Menschen nicht sehr viel über dieses Land. Man bezeichnet die Regierung als «Extremisten» und seit dem Irakkrieg der USA 2003 als «Expansionisten». Dazu zählt man auch das Verhalten im Syrienkrieg an der Seite der syrischen Armee. Aber was gesellschaftlich innerhalb des Landes geschieht, darüber wissen wir sehr wenig. Was wir in den letzten Jahren sehen, ist die Folge von 9/11. Dazu muss man sich nochmals vor Augen halten, was der ehemalige US-General, Wesley Clark, berichtete, nämlich dass man nach den Anschlägen im Pentagon überlegt hatte, welche Länder man aus den Angeln heben soll: Der Iran gehörte auch dazu.

Das war doch die von Gorge W. Bush kreierte «Achse des Bösen».

Das waren die Länder Afghanistan, Syrien, Irak, Libyen, Sudan, Libanon und der Iran. Und viele dieser Länder sind heute zerstört, wirtschaftlich und politisch. Libyen steht dafür als ein fürchterliches Beispiel. Der Iran hat es geschafft trotz dieser unsäglichen Liste von Sanktionen schon seit über 40 Jahren, und zwar nicht nur von Seiten der USA, sondern auch von der EU, sich auf den Beinen zu halten und konnte trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten seine Souveränität behaupten. Unabhängig davon muss man im Land auch die gesellschaftliche Ebene betrachten. Wie leben die Menschen dort, was haben sie für Vorstellungen? Ich bin selbst im Iran gewesen, was aber schon eine Zeitlang her ist. 

Was haben Sie auf der gesellschaftlichen Ebene festgestellt?

Dass die Frauen, deren Rechte bei uns ständig thematisiert werden, sehr selbstbewusst, forsch und bildungshungrig auftreten. Bei uns wird das Kopftuch gerne als Ausdruck von Unterdrückung gedeutet, aber für die Frauen dort ist das gar nicht so ein Problem. Sie sagten mir damals, dass es nicht ihr Hauptanliegen sei, ob sie ein Kopftuch tragen müssten oder nicht, sondern dass sie lernen wollten. Die Studierenden an den Universitäten sind überwiegend Frauen. Sie sind z. B. stark vertreten in technischen Berufen, was in Europa gar keine Selbstverständlichkeit ist. Man muss schon konstatieren, dass die Situation anders ist, als wir sie von unseren Medien vermittelt bekommen. 

Die Sanktionen machen das Leben im Iran wahrscheinlich auch nicht angenehmer?

In diesem Land gibt es garantiert grosse Probleme, nur schon aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation. Ich habe Menschen getroffen, die haben das Land verlassen, nicht weil sie sich eingeschränkt fühlten, sondern weil sie ihren beruflichen Traum nicht erfüllen können. Es ist wie in allen Ländern sehr vielschichtig, aber was wir im Moment sehen, das Verhalten der USA oder der EU, die Äusserungen, die sie machen, und die Massnahmen, die sie gegen das Land ergreifen, erinnern mich sehr an den Beginn des Syrienkrieges.

In welcher Beziehung?   

Die mediale Verurteilung, die Sanktionen und die politische Isolation. Da gibt es eine Absicht und ein Interesse dahinter.

Sie haben die Situation im Iran mit der Syriens vor einigen Jahren verglichen. Hängt die Politik des Westens nicht auch damit zusammen, dass der Iran deutlich an der Seite Syriens steht und enger mit Russ­land zusammenarbeitet? 

Das spielt auf alle Fälle eine Rolle. Ich fand vor kurzem einen Artikel, der ganz interessant ist. Es hat nämlich an dem Tag, an dem er erschienen ist, ein Treffen mit dem Generalsekretär des russischen Sicherheitsrates, Nicolai Patruschew, und dem Chef des iranischen Sicherheitsrates, Ali Schamkhani, mit ihren jeweiligen Delegationen gegeben, und sie haben über die Ukraine und den Mittleren Osten gesprochen. Dazu hat gestern BBC einen Beitrag veröffentlicht, wonach Patruschew mit dem US-amerikanischen nationalen Sicherheitsberater Sullivan im Gespräch ist. Das heisst, es gibt intensive Debatten, und Jake Sullivan sagte, dass die iranisch-russische Kooperation eine profunde Bedrohung sei. 

Wie muss man so eine Aussage deuten?

Die enge russisch-iranische Zusammenarbeit bei der Umgehung der Sanktionen – der Iran hat 40 Jahre Erfahrung mit der Umgehung von Sanktionen – und die militärische Kooperation zwischen Russland und Iran passen den USA überhaupt nicht. Dazu kommt, dass der Iran auch mit China zusammenarbeitet, militärisch sowie wirtschaftlich. Beide Staaten haben ein Wirtschaftsabkommen für 30 Jahre geschlossen. China investiert in den Iran, insbesondere in die Infrastruktur wie in die Stromversorgung oder das Strassen- und Schienennetz. Von diesem Abkommen profitieren auch der Irak, Syrien und der Libanon. 

Entsteht hier in der Zusammenarbeit mit China auch ein engeres Verhältnis unter den von Ihnen anfänglich genannten Staaten?

Diese Entwicklung zeigt sich in den letzten zwei Jahren immer deutlicher. China hat im Rahmen seines Seidenstrassenprojekts mit den Golfstaaten schon länger Kontakt aufgenommen und ist in deren Häfen bis ins Mittelmeer präsent. Wir wissen das z. B. von Griechenland. Die von China erschlossene Landverbindung geht über Russland bis nach Rotterdam. Eine weitere Transversale führt durch die zentralasiatischen Staaten, über den Iran, die Türkei bis hin zum Mittelmeer. Dieses Wirtschaftsprojekt ist für die Länder im Nahen Osten von grosser Bedeutung, aber ganz besonders für den Iran. Der Iran verkauft auch sein Öl an China. So gibt es für die USA und für Europa viele Ansatzpunkte, unzufrieden zu sein.  

Auf dem Hintergrund Ihrer Ausführungen kann man sich vorstellen, dass andere die Unzufriedenheit einiger Iraner ausnützen wollen, um das Land zu destabilisieren. 

Die Situation im Iran ist ein Merkmal US-amerikanischer Interventionspolitik nach dem Ende der UdSSR, aber auch schon vorher. Brzezinski beschreibt das auch in seinem Buch «The Grand Chessboard», wie man mit zivilgesellschaftlichen Organisationen religiöse und ethnische Gruppierungen in anderen Ländern infiltrieren kann, da es in den Ländern immer Reibungspunkte oder Ungerechtigkeiten gibt. Besonders deutlich wurde das durch die Veröffentlichung der Korrespondenzen der US-amerikanischen Botschaft in Damaskus durch Wikileaks. Das war noch vor dem Krieg, der in Syrien 2011 begann, als der damalige Botschafter in Damaskus eine Liste aufgestellt hatte, wo Syrien angreifbar sei und wo man ansetzen könnte, z. B. bei den Kurden, bei den Differenzen zwischen Schiiten und Sunniten, bei der Bevorzugung der Alawiten, bei Unzufriedenheit der Drusen etc. An diesen gesellschaftlichen «Bruchstellen» könnte man Konflikte schüren. Wenn man das tut, kann man zivilgesellschaftliche Gruppen oder humanitäre Organisationen unter das Diktat einer Besatzungsmacht stellen, wie das in Afghanistan oder im Irak der Fall war. So kann man auf die Gesellschaften Einfluss nehmen. 

Sie haben den Irak erwähnt, der lange unter der Knute der USA gestanden ist. Hier hat man den Eindruck, dass er sich davon etwas wegbewegt. 

Ich glaube, der Irak möchte das gerne, aber hängt mit einem Fuss immer noch in der Schlinge. Die USA haben ihren Abzug beschlossen und verkündet, aber sie haben nur ihren Kampfeinsatz beendet, zugunsten einer Art Ausbildungs- und Beratungshilfe. Damit ­begründen sie ihre fortgesetzte Präsenz genauso wie die Nato-Staaten, die beschlossen haben, ihre Präsenz in Bagdad zu erhöhen. Mit einer «Ausbildungsmission» wird auch die Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes im Irak begründet. Man bildet die irakische Armee aus und unterstützt sie technisch. 

Von den politischen Entscheidungsträgern im Irak nimmt man doch eher eine Zurückhaltung gegenüber der westlichen Politik wahr. Ist das richtig?

Von aussen betrachtet, ist es ein Ringen zwischen den USA und dem Iran. Saudi-Arabien spielt hier auch eine Rolle. Saudi-Arabien hat eine lange Grenze mit dem Irak. Die Tatsache, dass das Verhältnis zwischen Saudi-Arabien und den USA in der letzten Zeit gelitten hat, drängt den Einfluss der USA in der Region insgesamt zurück. Auch die USA und der Westen haben an Ansehen verloren. Der westliche Einfluss ist also insgesamt zurückgegangen. Der Auslöser für den grossen Imageverlust war u. a. der plötzliche Rückzug der USA aus Afghanistan, denn das machte klar, so kann es einem ergehen, wenn man sich mit den USA einlässt.

Hat sich dadurch das Verhältnis zwischen Saudi-Arabien und dem Iran etwas geändert? 

Ja und nein. Es gibt eine Initiative, die ursprünglich angestossen wurde von Intellektuellen aus den jeweiligen Ländern, die die Länder zum Dialog auffordert. Das geschah in Form eines Briefes. Darin stand sinngemäss, man sei seit Jahrzehnten im Krieg und so könne es nicht weitergehen, die Menschen litten, die Wirtschaft gehe zugrunde und ganze Staaten würden zerstört, man müsse wieder zurückfinden zum Dialog. Das war das Offizielle. Inoffiziell war es das russische Aussenministerium, das sich seit dem Eingreifen in Syrien für einen Dialog über die Sicherheit der Golf-Region einsetzt. Sie gehen davon aus, dass das, was in Syrien passiert ist, damit zu tun hat, was zwischen Saudi-Arabien und dem Iran abläuft. Alle müssen an einen Tisch und darüber debattieren, wie man sich gegenseitig Sicherheitsgarantien geben kann. Russland hat auch einen konkreten Plan vorgelegt, der sich an der OSZE orientiert. Diesen hat Russ­land auch dem Uno-Sicherheitsrat vorgelegt, doch der Westen hat ihn nicht aufgegriffen, während die betroffenen Länder dem sehr wohl Beachtung schenkten. Dann kam die Pandemie, und alle waren nur noch damit beschäftigt. 

Hat die Auseinandersetzung in der Ukraine auf die Positionen im Nahen Osten einen Einfluss?

Es gibt inzwischen die offene Konfrontation zwischen der US-geführten Nato und Russland, es gibt international neue politische Allianzen jenseits des US-geführten westlichen Blocks. Saudi-Arabien hat gegenüber Iran erneut eine konfrontative Position eingenommen. Bei den aktuellen Protesten im Iran nutzt Saudi-Arabien seinen Einfluss innerhalb Irans, um das Land zu destabilisieren. Das kommt den US-Interessen entgegen.

Es ist schon auffallend, auch wenn alle Zeitungen etwas anderes berichten, die USA betreiben eine viel aggressivere Politik als die Russen. Während die USA immer versuchen, einzelne Länder oder Volksgruppen zu spalten, um ihren Führungsanspruch durchzusetzen, kann man das bei Russland so nicht beobachten. Auch Putin hat sich lange um eine Kooperation in Eu­ropa bemüht und ist doch immer wieder abgeblitzt. Seine öffentlichen Reden legen ein Zeugnis davon ab.

Wenn man sich die Geschichte des aktuellen Konflikts in der Ukraine anschaut, – und die Ukraine ist nur der Austragungsort, was schlimm genug ist, – dann sieht man auch, dass es vor allem von russischer Seite immer sehr viele Vorschläge gegeben hat. Initiator war besonders Präsident Putin, der Europa gut kennt, vor allem Deutschland. Er war lange Zeit in Deutschland, spricht Deutsch und kennt das Land. Aber das Problem ist, die Nato als Institution der USA hier in Europa ging immer dagegen vor und zeigte kein Interesse daran. Es gibt sowohl kluge Köpfe in den USA als auch in Europa, insbesondere Militärs, die diese Problematik sehr gut herausgearbeitet haben und diese Vorgänge gut beleuchten. Aber sie finden in den Medien zumindest in Deutschland keinen Niederschlag. Die meisten deutschen Medien vermeiden es, auf diese Vorgeschichte im Ukraine-Konflikt einzugehen. 

Gibt es denn Länder oder Regionen, die in letzter Zeit vermehrt mit Russland zusammenarbeiten?

Man sieht dies in Syrien, im Iran, im Mittleren Osten und Asien allgemein oder auch in Afrika. Natürlich will Russland als Grossmacht dort Einfluss nehmen, aber man sieht auch, dass hier positive Beziehungen und eine Zusammenarbeit entstehen. Vieles deutet darauf hin, dass der Ausbruch des aktuellen Konflikts in der Ukraine damit zu tun hat, dass Russland 2015 – auf Bitten Syriens – im Syrienkrieg intervenierte. Die USA und einige der europäischen Staaten waren und sind der Meinung, die arabische Welt sei ihre Interessens- und Einflusssphäre. Nun beansprucht Russland dort seine Interessen – u. a. den Zugang zum Mittelmeer – zu behaupten.

Was sich im Nahen und Mittleren Osten im Moment vollzieht, ist geschichtlich nicht neu. Russland und England hatten im 18. bzw. 19. Jahrhundert bereits Auseinandersetzungen um den Einfluss in Indien oder Afghanistan. Das sind gewisse Konfliktlinien, an denen sich bis heute wenig geändert hat. Vielleicht haben sich die Akteure verändert, aber noch immer geht es um den Anspruch des Westens – heute USA und EU – in Regionen von Ost- und Westasien, im Nahen und Mittleren Osten seinen Einfluss zu behaupten. Russland und China haben durch eine kluge Politik das Vertrauen der Staaten in der Region gewonnen. Das wirkt sich auf das ganze Gefüge aus. Die Staaten des Nahen und Mittleren Ostens haben natürlich auch ihre eigenen Interessen. Noch vor kurzem waren beispielsweise Teheran und Riad im Dialog, heute unterstützt Riad Proteste in Teilen des Irans.

Wenn man die von Ihnen skizzierte Entwicklung im Nahen Osten, der seit dem Sykes-Picot-Abkommen westliche, damals britische und französische, Einflusssphäre war, dann wird man in Zukunft wohl mit weiteren Störmanövern in der Region rechnen müssen.

Ja, wie vor nicht allzu langer Zeit. Als der Dialog zwischen Saudi-Arabien und dem Iran spruchreif wurde, fiel der iranische General Kassem Soleimani einem Attentat zum Opfer. Er sollte in Bagdad eine diplomatische Note für Saudi-Arabien übergeben. Mit diesem Anliegen war er nach Bagdad gereist, als er einem Attentat, das Donald Trump in Auftrag gegeben hatte, zum Opfer fiel. Damit wurde die Dialoginitiative erst einmal unterbrochen. Trump hat dann mit seinem Aussenminister Mike Pompeo, dem ehemaligen CIA-Direktor, und mit seinem Schwiegersohn die «Abraham Initiative» gestartet und die verbündeten arabischen Staaten nahezu gedrängt, eine Vereinbarung mit Israel einzugehen, die darin gipfeln sollte, mit Israel gemeinsam ein Militärbündnis gegen den Iran zu schmieden. Das ging auch weiter ohne Trump. Es ist die US-Linie in der Region, aber es ist nicht ausgemacht, ob sich das entwickeln wird. Sehr wenige Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate oder Bahrain haben ein Abkommen mit Israel unterschrieben, aber die Staaten versuchen, vor allem auch wirtschaftlich voneinander zu profitieren. 

Wie hat sich das auf die anderen arabischen Staaten ausgewirkt?

Es brachte eine Spaltung in die Arabische Liga, die ohnehin sehr schwach ist. Es wird noch schwieriger sein, einen gemeinsamen Weg zu finden, und das stört natürlich die Zusammenarbeit in einer ohnehin schon fragilen Region. 

Die Briten waren historisch gesehen immer sehr aktiv im Nahen Osten. Wie sehen Sie denn die Rolle der Briten heute?

Es gibt eine Kooperation zwischen den USA und Grossbritannien: Die Briten haben das Know-how und die USA das Geld. Die Briten bieten ihr Know-how an, was die Geheimdienstarbeit betrifft. Das hat man in Syrien ganz deutlich gesehen. In der Ukraine ist das auch der Fall. Man sieht das zum Beispiel an dem täglich-morgendlichen Communiqué, das vom «Institute for the Study of War» veröffentlicht wird. Das ist der britische Militärgeheimdienst und hiesige Journalisten bekommen ihre Informationen fast nur von dort. 

Während des Kriegs in Syrien meldete sich doch immer die «Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte» aus London, die über das Kriegsgeschehen Auskunft gab.

Das machen sie bis heute. Diese Stelle wurde vom britischen Aussenministerium finanziert. Das britische Aussenministerium hat eine spezielle Stelle für «besondere Auslandsdienste». Über diese Abteilung werden Offiziere der britischen Armee, die Mitglied der Nato ist, für Sonderaufgaben ausgegliedert. In Syrien gründete James Le Mesurier, ein ehemaliger Offizier der britischen Armee, die «White Helmets». Er war unter anderem ein Spezialoffizier im Jugos­lawienkrieg. Aus Grossbritannien kamen übrigens auch die ersten, die als Freiwillige in den Ukrainekrieg gegangen sind. Es gibt auch ehemalige britische Soldaten, die berichtet haben, dass sie in Syrien für die Kurden gekämpft haben und dann in die Ukraine weitergezogen sind. Es sind Söldner, private Sicherheitskräfte, die für ihren Einsatz bezahlt werden.

Ein Staat, der im Zusammenhang mit den Entwicklungen im Nahen Osten auch eine Rolle spielt, ist die Türkei. Auf der einen Seite ist sie Nato-Land auf der anderen Seite unterstützt sie Russland beim Verkauf des Öls oder bietet sich als Vermittler an. Hier besteht eine Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. Im Syrienkrieg waren sie in gewissem Sinne Gegner. Die Türkei hat 2015 einen russischen Kampfjet im syrisch-türkischen Grenzgebiet abgeschossen. Was ist denn heute die Rolle der Türkei?

Die Türkei hat in erster Linie ihre eigenen Interessen. Erdoğan befindet sich im Moment in einer schwierigen Situation. Im nächsten Jahr sind Präsidentschaftswahlen und Erdoğan möchte weiter regieren. Im nächsten Jahr hat die türkische Republik ihren 100. Geburtstag. Dafür hatte er einen gigantischen wirtschaftlichen Plan entwickelt, der natürlich überhaupt nicht umgesetzt werden konnte. Das Land hat riesige wirtschaftliche Probleme, eine Inflation von 83 Prozent, es gibt grosse innenpolitische Schwierigkeiten, deshalb versucht Erdoğan, in jeder Situation zu manövrieren. Er provoziert die Nato mit Schweden und Finnland wegen ihrer Kurdenpolitik. Die Türkei war sehr aufgebracht über das Verhalten der USA, weil sie mit den Kurden in Syrien ein Bündnis eingegangen sind, um den IS zu bekämpfen, der wiederum die Unterstützung der Türkei hatte. In diesen Auseinandersetzungen sind viele Selbstverständlichkeiten, die eigentlich die Bündnispartner verbinden sollten, ausser Kraft gesetzt worden.

Was sind die Folgen?

Durch die Provokationen ist natürlich auch innerhalb der Nato-Partner ein Chaos entstanden. Auch wenn die Türkei immer als wichtiger Bündnispartner an der Südostflanke der Nato betrachtet wurde, lassen sich diese Unstimmigkeiten nicht so einfach beheben. Die Türkei hat sich erheblich von der Nato entfernt, und die Politik Russlands in dieser Beziehung war klug. Man darf nicht ausser Acht lassen, dass die Befreiung Aleppos nur gelungen ist, weil es Russland gelang, mit der Türkei und dem Iran eine Lösung zu finden. Es entstand das Astana-Format, in dem diese drei Staaten mit der Regierung und der Opposition Syriens sprechen. An den Gesprächen sind inzwischen auch die Uno, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und als Beobachter auch Jordanien, Libanon und Irak beteiligt. Aber die Türkei ist kein zuverlässiger Partner. Dass Ankara sich wieder Assad annähert, hängt sicher damit zusammen, dass die Türkei aktuell von Russland mehr bekommt als vom Westen. Zusätzlich hat die Türkei ihre Position im Hinblick auf die arabischen Staaten verändert. Dazu hegt sie recht gute Beziehungen zum Iran. Es ist eine sehr komplexe Lage, die keine Eindeutigkeiten zeigt.

Inwiefern haben sich die türkischen Beziehungen zu den arabischen Staaten geändert?

Die Türkei hat praktisch die letzten 10 Jahre während des Syrienkrieges das Projekt der Muslimbruderschaft gefördert. Die AKP ist eine Schwesterpartei davon und in Koordination mit Katar. Die Regierung steht auch der Muslimbruderschaft nahe, das hat zu viel Ärger mit anderen Staaten wie Ägypten, Saudi-Arabien und auch mit den Emiraten geführt. Diese Länder braucht die Türkei aber als Partner, wenn sie tatsächlich im östlichen Mittelmeerraum eine Position als Öl-Hub einnehmen will. Die Türkei selbst hat kein Öl, aber sie will eine Drehscheibe für den Ölhandel sein. Erdoğan sieht einen Ausweg aus der wirtschaftlichen Misere, indem er sich den arabischen Staaten neu zu nähern versucht. Dabei wird die Türkei von Russland unterstützt. 

Wenn man die Macht- und Einfluss­verschiebung im Nahen Osten, die Sie jetzt aufgezeigt haben, richtig einschätzt, dann muss man doch auch die Ereignisse um die Ukraine unter diesem Gesichtspunkt betrachten. Die USA verliert doch zunehmend an Einfluss im Nahen Osten und das wird sich doch nicht völlig geräuschlos vollziehen?

Was die USA und der Westen völlig unterschätzt haben, ist die starke Ablehnung bei Staaten, von denen sie immer dachten, sie hätten sie auf sicher wie z. B. Saudi-Arabien. 

Lassen Sie uns noch kurz auf Deutschland zu sprechen kommen. Gibt es hier auch eine Änderung in der Politik?

Unter der letzten Regierung Merkel war Deutschland immer bemüht, mit Russland im Dialog zu bleiben. Das war nicht im Interesse Washingtons. Man darf nicht vergessen, unter Obama wurde das Handy von Frau Merkel abgehört. Das ist keine Kleinigkeit und war ein Ausdruck tiefsten Misstrauens. Sie wird gewusst haben, warum das gemacht wurde. Wenn ich mir die heutige Regierung anschaue, hatte Merkel doch letztlich mehr politische Erfahrung. Deutschland wird im Moment geradezu von den USA verschluckt. Der wirtschaftliche Einfluss nimmt zu. Hier wird darüber diskutiert, dass man keine chinesischen Investoren in Deutschland zulassen soll, wie viele US-amerikanischen Investoren sind aber in deutschen Firmen engagiert? Darüber wird gar nicht gesprochen, denn es ist ein Vielfaches davon. Die Politik in Deutschland wird immer mehr von den USA bestimmt.

Ja, diesen Eindruck bekommt man. Vor allem die Politik der Grünen mit Annalena Baerbock als Aussenministerin sind doch der verlängerte Arm der US-Aussenpolitik. Ist Deutschland überhaupt ein souveräner Staat?

Diese Frage stellt sich. Wir haben mit Ramstein eine der grössten US-Militärbasen, die es ausserhalb der USA gibt, die nahezu ein ganzes Bundesland umfasst und immer grösser wird. Man kann schon fast von einem besetzten Land sprechen. Aber es ist nichts in Stein gemeisselt. Die Medien haben wahrscheinlich deshalb so eine starke Rolle, damit man nicht auf die Idee kommt, darüber nachzudenken und in eine andere Richtung zu überlegen. Die Welt ist in einer enormen Umbruchsphase, nicht nur im Nahen Osten. 

Frau Leukefeld, ich danke Ihnen für das Interview.

Interview Thomas Kaiser

Ein neues Zeitalter der Zensur bricht an: Wehret den Anfängen!

Freie Rede ist das Fundament der Res publica, doch selbst demokratische Regierungen sind dabei, dieses Prinzip zu entsorgen

von Dr. phil. Helmut Scheben

Wer etwas auf Google sucht, schaut meist nur die obersten Treffer an. Niemand kennt die genauen Algorithmen, nach denen Google die Reihenfolge seiner Suchergebnisse priorisiert. In den USA fand der Psychologe Robert Epstein mit seinem Team heraus, dass die Suchmaschine auf diese Weise «die Gedanken und das Verhalten ihrer Nutzer weltweit manipulieren kann.» Indem bestimmte Inhalte in der Pole Position platziert und andere unterdrückt werden, könne zum Beispiel das Wählerverhalten von Milliarden Google-Nutzern beeinflusst werden.

Google oder Twitter sind längst nicht mehr einfach private Unternehmen, die im gesetzlichen Rahmen tun und lassen können, was sie wollen. Vielmehr verfügen diese Konzerne über eine internationale Marktmacht im politisch und demokratisch sensiblen Informationsangebot.

Früher hatten Staat und Kirche das Monopol auf die orthodoxe Meinung

Zensur von geschriebenen Texten gab es, seit die Schrift erfunden wurde. Umberto Ecco hat in seinem historischen Roman «Der Name der Rose» geschildert, wie die katholische Kirche im Spätmittelalter versuchte, Handschriften verschwinden zu lassen, welche die philosophischen Erkenntnisse der vorchristlichen Antike vermittelten. 

Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern war eine Medien-Revolution, welche die Gesellschaft so durchschlagend veränderte wie die heutige Internet-Revolution. Druckerzeugnisse konnten ab etwa 1450 schneller, billiger und in grossen Mengen hergestellt werden, eine Welle der Alphabetisierung setzte ein. Aber Staat und Kirche verloren damit das Monopol auf Verbreitung der orthodoxen Meinung, und die Santa Inquisición, die Behörde zur Unterdrückung der Ketzerei, bekam viel zu tun. 

Die Heilige Inquisition
unserer Tage

Mit der digitalen Revolution hat sich die freie Produktion von Texten millionenfach gesteigert, und der Zugang zu Informationen ist grenzenlos geworden. Die politische Sprengkraft dieser Entwicklung bewirkte, dass der Backlash nicht auf sich warten liess. Die Heilige Inquisition unserer Tage heisst zum Beispiel Digital Services Act, ein «digitales Grundgesetz», welches die EU soeben einführt. Es soll in Deutschland das seit 2017 geltende «Netzwerkdurchsetzungsgesetz» ablösen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versprach, das neue Gesetz werde unter anderem «die freie Meinungsäusserung gewährleisten».

Wenn das so ist, muss man sich fragen, warum die Kontrolle der Social Media flächendeckend forciert und die Internet-Überwachung mit künstlicher Intelligenz in einem Ausmass perfektioniert wird, welches man noch vor wenigen Jahren für unvorstellbar hielt. 

YouTube löscht 40 bis 50 Millionen Einträge pro Jahr

Niemand widersetzt sich der Idee von Zensur, wo sie strafrechtlich begründbar ist. Wir sind aber in eine Situation geraten, wo einzelne Netzwerk-Giganten in Kalifornien in völliger Intransparenz entscheiden, was die Zivilgesellschaft sehen, hören und lesen darf. Grosse Online-Plattformen wie die Google-Tochter YouTube löschen 40 bis 50 Millionen Einträge pro Jahr. Sie haben Zehntausende von Moderatorinnen und Moderatoren für die Zensur ausgebildet. Ziel sei unter anderem die Abwehr von Hassrede und Lüge, so wird argumentiert. 

Das Problem bei dieser «algorithmischen Überwachung» lässt sich mit einer einzigen Frage auf den Begriff bringen: Wer bestimmt, was Wahrheit und Lüge ist, wer legt fest, was Desinformation und was Information ist? 

Was heute falsch ist, kann sich morgen als richtig erweisen. Das sagen nicht nur Historikerinnen und Historiker, das weiss jeder von uns aus eigener Lebenserfahrung.

Vor dem Siegeszug der Social Media hatte die Zensur noch beinah verträgliche, fast könnte man sagen folkloristische Züge. Es gab Bücher, in denen ganze Seiten geschwärzt waren. Diese Art von Zensur war man zwar gewöhnt von Dokumenten, bei Büchern ergibt sich von der rein ästhetischen Wahrnehmung her ein ungewohntes Bild. Dass da ein Buch gedruckt wird, in welchem an schwarzen Balken sichtbar wird, was laut Verfügung der Obrigkeit nicht gelesen werden darf, erinnert ein wenig an die Zeiten von Wilhelm Busch und die Pädagogik des Schulmeisters Lämpel. Oder an den vatikanischen «Index» der sündhaften Bücher, der in meiner Jugendzeit noch galt.

«Ein Prozess völliger Intransparenz»

John Nixon, ein Nahost-Experte der Central Intelligence Agency (CIA), war der erste, der Saddam Hussein nach seiner Gefangennahme im Dezember 2003 ein paar Wochen lang befragte. 2011 schied Nixon aus dem Dienst aus und schickte der CIA das Manus­kript für ein Buchprojekt mit dem Titel «Debriefing the President: The Interrogation of Saddam Hussein». Das Buch erschien 2017 mit zahlreichen schwarzen Abdeckungen. Sechs Jahre lang hatte das Gerangel zwischen dem Autor und seinen ehemaligen Arbeitgebern gedauert, bis endlich klar war, was geschrieben werden durfte und was nicht. Nixon sagte über seine Probleme mit dieser Zensur, es sei ein Prozess von völliger Intransparenz gewesen: «Ich denke, die CIA ist nie auf die Idee gekommen, dass Leute, die einmal dort gearbeitet haben, Bücher schreiben. Es wird immer als eine Art Verrat angesehen.» 

Wo das politische Problem liegt, wird klar, wenn man liest, was von Nixons Buch noch zu lesen erlaubt ist. Er hält Saddam Hussein zwar für den Kopf eines brutalen, autoritären Regimes, nimmt bei dem Mann aber auch eine gewisse Glaubwürdigkeit und charismatische Züge wahr. Saddam sei 2003 nicht mehr der mächtige politische Player gewesen, den der Westen kolportierte, sondern habe sich vor allem um die Publikation seiner Romane gesorgt. Saddam bestritt gegenüber Nixon, für den fatalen Giftgaseinsatz in der kurdischen Stadt Halabdscha im März 1988 den Befehl gegeben zu haben. 

Nixon demontiert in seinem Buch somit ein klein wenig das Bild vom grossen Teufel, das im Westen vom irakischen Präsidenten gezeichnet wurde und nützlich war, um den Angriffskrieg zu rechtfertigen. Würde man aber bei den US-Behörden anfragen, so bekäme man ohne Zweifel eine völlig andere Begründung für die Zensur, nämlich den Standard-Text, sie sei unvermeidlich, wo die Sicherheit der USA und ihrer Leute gefährdet sei. Dieselbe Begründung, die mit der Zuverlässigkeit eines Telefonbeantworters ertönt, wenn in den USA mit geschwärzten Texten der Freedom of Information Act (Öffentlichkeitsgesetz) ausgehebelt wird. 

Auch in der Schweiz wird munter geschwärzt

Die Methoden der US-Geheimdienste machen seit langem Schule. Der Schweizer Bundesrat wollte seine Impfstoff-Verträge mit der pharmazeutischen Industrie unter Verschluss halten. Als er sich gezwungen sah, diese öffentlich zu machen, liess er weite Teile schwarz machen. Das hört sich in der kleinen Schweiz an wie eine Geschichte aus Seldwyla, aber kaum jemand findet sie lustig.

Öffentlichkeitsprinzip und Garantie der Meinungsvielfalt werden bei jeder Festrede als politische Goldwährung der westlichen Demokratien gepriesen. Politische Zensur oder Täuschung der Öffentlichkeit? Um Gottes willen! Das gibt es nur in Russland. Oder in China. Oder in anderen autoritären Systemen. 

Es sei denn, unsere sogenannte «nationale Sicherheit» wäre in Gefahr. Oder die Interessen mächtiger Konzerne. Oder die Interessen der USA. Dann wird angeführt, die Regierung sei nicht mehr verpflichtet, Auskunft zu geben über ihr Tun. Da kommt es dann vor, dass der Bundesrat knapp zwei Tonnen Dokumente über Atomwaffen-Deals verschwinden lässt, wie bei der Tinner-Affäre. Äusserst praktisch ist immer wieder das rhetorische Juwel, das Handeln der Regierung sei leider «alternativlos». 

Das Recht der freien Rede und der Meinungsfreiheit ist eine Errungenschaft, die über Jahrhunderte in leidvollen Erfahrungen erkämpft werden musste. Mächtige Konzerne der Internet-Kommunikation sind dabei, dieses Grundrecht demokratischer Politik zu beseitigen. Die politische Zensur ist zum Normalbetrieb geworden. Mit durchschlagendem Erfolg. Dieser ist abzulesen an der Tatsache, dass die erschreckende neue Normalität von der breiten Öffentlichkeit als «ganz normal» betrachtet wird. 

Beispiel Syrienkrieg: Nur die eine Kriegspartei zensuriert

Im Syrienkrieg versuchten die Kriegsparteien mit zahlreichen News-Plattformen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die Sicht der Aufständischen, die mit finanzieller und politischer Hilfe des Westens und der Golfemirate die Regierung Assad stürzen wollten, wurde unter anderem verbreitet von einem Medienportal namens Syrian Free Press, das nach bisherigen Erkenntnissen bis heute keiner Zensur unterlag. 

Anders die Internetseite Syrianfreepress.Wordpress, welche die Position der syrischen Regierung verbreitete. Als ich in meinem Syrien-Archiv die Seite öffnete, um ein Video von 2015 anzuschauen, erhielt ich die Auskunft: «This video is no longer available.» Tausende YouTube-Clips des genannten Portals wurden gelöscht. Wer bei Google nachforscht, der wird belehrt, welches die Gründe für die Sperrung eines Kontos oder Kanals sein können:

«Die Community-Richtlinien geben vor, welche Inhalte auf YouTube nicht zulässig sind. Zum Beispiel erlauben wir keine Pornografie, Anstiftung zu Gewalt, Belästigung oder Hassrede.»

In dem gelöschten YouTube-Link gab es keine Verstösse gegen diese Richtlinien, sondern politische Argumente zur Beendigung des Krieges in Syrien. Die Entscheidung, die meisten Videos dieser Netzseite zu löschen, war eine politische Zensur. «Hate speech» ist offensichtlich auch ein anderes Wort für «Meinung, die wir nicht ertragen». Und «Falschinformation» ist offensichtlich auch ein anderes Wort für «Meinung, die wir nicht teilen».

Die Vorstellung, dass ein Filz von politischen Machtgruppen und Internet-Konzernen systematisch ausschaltet, was politisch unerwünscht ist, ist ein Albtraum. Und dieser Albtraum ist längst Wirklichkeit geworden. Zu offensichtlich sind beispielsweise die derzeitigen Verflechtungen der mächtigen IT-Unternehmen im Silicon Valley mit der Demokratischen Partei und ihren Seilschaften in der Verwaltung und im Sicherheitsapparat. 

Mark Zuckerberg räumte kürzlich ein, das FBI habe bei Facebook diskret interveniert, um zu verhindern, dass bei der Präsidentenwahl 2020 üble Dinge über die Geschäfte der Biden-Familie in der Ukraine, in China und zahlreichen anderen Ländern publik würden. Die FBI-Leute argumentierten – wie kurz darauf auch US-Geheimdienstler – es handle sich nicht um Fakten, sondern um «russische Desinformation». Nachdem Biden die Wahlen gewonnen hatte, stellte sich heraus, dass die Fakten über die Biden-Deals kein russisches Fake, sondern Fakten waren. Die grossen US-Medien von New York Times bis CNN hatten mit dieser Erkenntnis zugewartet bis nach den Wahlen. 

Lektion: Mit Warnungen vor feindlichen Angriffen auf die nationale «Cybersicherheit» kann man grosse Medien zum Schweigen bringen. Und eine weitere Lektion: Nichts ist so effizient in der Politik wie diszipliniertes Schweigen im taktisch rechten Moment. Biden hätte möglicherweise die Wahlen verloren.

Whistleblower: Google interveniert mit politischen Zielen

2019 schickte der Software-Ingenieur Zachary Vorhiess, der acht Jahre bei Google gearbeitet hatte, 950 Seiten interner Google-Dokumente an das US-Justizministerium. Vorhiess sagte, die Dokumente würden beweisen, dass Google keine unabhängige, objektive Plattform mehr sei, sondern eine politische Agenda verfolge: Google sei «eine höchst parteiische politische Maschine», welche zum Beispiel seit 2016 beschlossen habe, nicht zuzulassen, dass jemand wie Trump noch einmal an die Macht käme. Der Whistleblower: «Sie versuchen, die Informations-Landschaft so zu beschneiden, dass sie ihre eigene Version von objektiver Wahrheit verbreiten können.»

Verfechter der Meinungsfreiheit wehren sich allzu häufig nicht gegen Zensur von privaten IT-Giganten oder auch von Regierungen, wenn die Zensur ungeliebte oder feindliche Quellen betrifft wie Donald Tump, Baschar al-Assad oder russische und chinesische Staatsmedien. Man findet es plötzlich verständlich, dass man Bürgerinnen und Bürgern nicht zutraut, selber zwischen Propaganda und Tatsachen zu unterscheiden.

Auch als Twitter die Accounts von Trump und einigen seiner Freunde aus dem Verkehr zog und Amazon und Google die konservative Plattform Parler aus ihrem Web-Angebot nahmen, zeigten sich viele – auch liberale Kreise – äusserst befriedigt. Sie gleichen Lemmingen, die den Abgrund nicht sehen können, auf den sie zulaufen. Denn wenn eine politische Elite es schafft, mit den Internet-Konzernen zu vereinbaren, was wir erfahren und wissen dürfen und was nicht, dann wird aus Demokratie eine Simulation von Demokratie. 

Am Ende dieser Entwicklung verwandeln wir uns in eine ideologisch homogene Gesellschaft, grob gesagt: in eine Herde von ferngesteuerten Zombies, die ihre Freiheit und Selbstverantwortung an ein «Wahrheitsministerium» abgegeben haben, wie es George Orwell schildert. Da nützt es wenig zu argumentieren, anderswo sei alles noch schlimmer, in Russland sässe Nawalny hinter Gittern, wer Putins Krieg kritisiere, werde eingelocht, und in China würden die Uiguren verfolgt. Das trifft sicher zu, nur hilft es uns nicht über die Schizophrenie hinweg, dass unsere westlichen Medien täglich emsig über Zensur in Russland, China oder Iran berichten, aber nichts Besonderes dabei finden, dass im Westen tagtäglich Millionen Interneteinträge gelöscht werden, weil verhindert werden soll, dass unsere eigene Sicht der Weltpolitik in Frage gestellt und diskutiert wird.

Weitere Beispiele

Im August 2019 gab Twitter bekannt, man habe mal eben 200 000 Konten gelöscht, die mit den Demonstrationen in Hongkong zu tun hatten. Als Grund wurde Verdacht auf chinesische Desinformation angegeben. Prominente Beispiele der zensurierten Einträge waren unter anderem Video-Szenen, in denen vermummte gewalttätige Demonstranten erschienen. Nun war aber in TV-Kanälen rund um die Welt damals zu sehen, dass es unter den studentischen Demonstranten in Hongkong nicht nur friedliche, sondern auch gewaltbereite gab. Da fühlte sich Twitter offensichtlich veranlasst zu löschen, was nicht ins holzschnittartige Framing von der chinesischen Diktatur passte.

US-Aussenministerin Hillary Clinton löschte kurzerhand dreissigtausend E-Mails auf dem Server, den sie im Keller ihrer Privatwohnung betrieb. Das US-Justizministerium befand, dies sei rechtens. Regierungsmitglieder dürften selber entscheiden, was in Regierungsdokumenten von öffentlichem Belang sei und was nicht. 

Wenn das so ist, könnte auch ein Donald Trump dieses Recht in Anspruch nehmen. Er hatte Unterlagen auf sein Anwesen in Florida mitgenommen. Das FBI liess daraufhin den Wohnsitz des ehemaligen Präsidenten durchsuchen. Als das FBI von einem Richter gezwungen wurde, die Begründung für den Durchsuchungsbeschluss zu veröffentlichen, bekam die Öffentlichkeit 38 Seiten präsentiert, die weitgehend schwarz waren. Das macht den Eindruck: Quod licet Jovi Hillary non licet bovi Donald.

Wir sind die Guten und kennen die Wahrheit

Zensur und Geheimniskrämerei werden mit einer Selbstverständlichkeit und Routine betrieben, die schockieren müsste. Tut es aber nicht. Russische TV-Sender werden von der Europäischen Union und auch vom Schweizer Bundesrat verboten. Twitter und YouTube haben die russischen Staatsmedien gesperrt. Auch chinesische TV-Nachrichten sind über Satellit nicht mehr zu empfangen. Als Begründung heisst es, dass sie vom Kreml oder von der chinesischen KP abhängig seien und Propaganda verbreiteten. 

Der Bevölkerung wird zugetraut, dass sie Lügen und Irreführungen der Werbung für Produkte und Dienstleistungen durchschaut und einordnen kann. Der Bevölkerung wird ebenfalls zugetraut, dass sie bei Volksabstimmungen mit Unwahrheiten und Irreführungen beider Seiten umgehen kann. Doch wenn es um ausländische Fernsehstationen geht, muss man die Menschen vor allfälligen Lügen und Irreführungen angeblich schützen.

Auch in unseren Redaktionsstuben sitzen journalistische Alphatiere, von denen viele Mitglieder transatlantischer Stiftungen und Think Tanks sind (siehe «Immer einer Meinung» von Uwe Krüger¹ und diese Szene aus «Die Anstalt» , die nach Ausstrahlung zensiert wurde.²) oder an geheimen Regierungsprogrammen beteiligt sind, die «den Einfluss Russlands» bekämpfen. Mit einem Stefan Kornelius in der «Süddeutschen» und im Zürcher «Tagesanzeiger» beispielsweise sind Mediensprecher der Nato überflüssig. 

Unsere westliche Medienwelt funktioniert nach dem Motto: Wir sind die Guten und kennen die Wahrheit. Alles andere sind Hybridwaffen des Feindes. Diese gilt es zu unterdrücken, zu löschen, auszuschalten.

Unterdessen breitet sich die Zensur-Mentalität aus. In den USA würden gemäss Umfragen vier von fünf Doktoranden konservative Akademiker von Beruf und Campus ausschliessen, wenn sie könnten («NZZ» vom 18. Nov. 2021). 

Die Gründerin des Allensbach-Instituts, Elisabeth Noelle-Neumann, zeigte in den siebziger Jahren in ihrem Standardwerk «Die Schweigespirale», wie Menschen aus Angst vor sozialer Isolierung und Konflikten nicht mehr wagen, zu ihrer Meinung zu stehen. Laut einer neuen Umfrage des Instituts hat fast jede zweite Person in Deutschland das Gefühl, ihre politische Meinung nicht mehr frei äussern zu können. 

Was wurde im Westen über die «Listen verbotener Wörter» gelacht, die in der untergegangenen DDR für die Staatsmedien galten! Damals konnte sich niemand vorstellen, dass drei Jahrzehnte später ein neues Zeitalter der Zensur anbrechen würde. 

¹ www.blaetter.de/ausgabe/2016/august/immer-einer-meinung

² www.youtube.com/watch?v=p2UC3Eo4FSo

Zuerst erschienen bei:

www.infosperber.ch/politik/welt/__trashed-525/

Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.

 

Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz

von Reinhard Koradi

Vor Kurzem haben zwei Mitglieder des Bundesrates ihren Rücktritt aus der Landesregierung erklärt. Kaum waren die Rücktritte veröffentlicht, drehte sich bereits das Kandidaten-Karussell. Bei der Ausmarchung möglicher Anwärter standen einmal mehr die Geschlechterfrage und die Kantonszugehörigkeit im Zentrum der Diskussionen. Kaum ein Wort über das Anforderungsprofil der Kandidaten für einen Sitz im Bundesrat. Weder Eignung, Persönlichkeit, Unbestechlichkeit, politische Positionen noch allfällige Netzwerke und Leistungsausweise wurden in der veröffentlichten Meinung ans Tageslicht gebracht. Geschlecht und etwas im Hintergrund die Kantonszugehörigkeit beherrschen die Schlagzeilen, die an die Öffentlichkeit gelangen. Eine etwas dürftige Diskussionsgrundlage, geht es doch um eine für die Zukunft der Schweiz richtungsweisende Frage, wer, wie und mit welcher politischen Agenda die Schweiz nach innen und aussen vertritt. 

Im Artikel 2 der Bundesverfassung wird unter «Zweck» festgehalten: «Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes.» 

Weiter unten wird im Artikel 185 festgehalten: «Der Bundesrat trifft Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz.» Der Auftrag an den Bundesrat ist also klar vorgegeben. Die Rekrutierung möglicher Mitglieder des Bundesrates müsste sich grundsätzlich auf das Anforderungsprofil ausrichten, das durch den Zweckartikel zwingend vorgegeben wird.

Ein Assessment für amtierende und angehende Bundesräte

Es geht um Sicherheit, Freiheit, Unabhängigkeit, Neutralität und die Rechte des Volkes. Mit Blick auf die Vergangenheit wurde dieser Auftrag durch die aktuellen und auch früheren Bundesräte doch zu oft arg strapaziert. In den ver­gangenen Jahren hat sich ein erheblicher Graben zwischen der durch den Zweckartikel vorgegebenen ­Aufgabe und der innen- und aussenpolitischen Realität geöffnet. Verfassungstreue und Glaubwürdigkeit gehen immer mehr verloren. Eine Entwicklung, die unser Land und damit die Bevölkerung in unnötige Konflikte und Abhängigkeiten manövriert hat. Neben dem Verlust von Souveränität, Identität und Respekt vor unseren inneren Angelegenheiten durch ausländische Organisationen und Staaten beobachtet man einen schleichenden Abbau der direkten Demokratie und der Bürgerrechte. Jüngstes Beispiel sind die hoheitlich angeordneten Pandemie-Restriktionen. Der fahrlässige Umgang mit der Glaubwürdigkeit, die Vernebelung und Unterschlagung verschiedener Vorgänge in Bundesbern fügt in diesem Zusammenhang der Eidgenossenschaft insgesamt schweren Schaden zu. Mit Bezug auf die fatalen Folgen des Wirkens unserer Exekutive müssten diese und allfällige Amtsanwärter im Rahmen eines Assessments vor dem Volk geprüft, bewertet und wenn notwendig, ausgemustert werden. Inhalte des Assessments wären: Verfassungstreue, Ehrlichkeit, Standfestigkeit, Absage an das «global Gouvernement», Vaterlandsliebe, Respekt vor der Aufgabe, Korrektheit gegenüber dem Volk, Unabhängigkeit im Sinne freier Entscheidungsbildung und -findung. Und last but not least Verzicht auf den Anspruch, das Volk regieren zu wollen. Dagegen ein klares Verständnis, dass man als Mitglied der Exekutive nicht regiert, sondern den Volkswillen erfüllt. 

Noch bestimmen die Parteien, wer im Bundesrat bleibt oder neu hinzukommt

Vermutlich wird es noch lange so sein, dass das Volk nimmt, was ihm geboten wird. Aber ist dies noch zeitgemäss? Müssten Bundesräte nicht längst durch die höchste Ebene in unserem Staat, das Volk, gewählt werden können? 

Ich denke, dass es vorläufig primär um die Glaubwürdigkeit der Legislative, Exekutive und Judikative geht. Alle drei Ebenen haben immer wieder versagt, wenn es um die Interessen und Rechte des Volkes ging. 

Die Herstellung des Vertrauens hat heute oberste Priorität. Dies wird nur möglich werden, wenn das Parlament die Verantwortung wahrnimmt, Persönlichkeiten in den Bundesrat zu wählen, die integer, verfassungstreu und wirklich vertrauenswürdig sind. Offenheit, transparente Vorgänge, keine Manipulationsversuche und Ehrlichkeit sind die Voraussetzungen für die Zurückgewinnung des Vertrauens. Daher die Aufforderung an die Parlamentarier: Wählen Sie nur Bundesräte, die das oben aufgeführte Assessment vor dem Volk bestehen können! 

Zurück