Rahmenvertrag mit der EU: Würden Sie einen Blankocheck unterschreiben?

von Reinhard Koradi

Auf diese Frage werden die meisten von uns mit Empörung reagieren. Doch in der Politik scheint es Usanz zu sein, Verträge nur vage mit vielen Schlupflöchern und Unklarheiten abzuschliessen. Selbst bei der Interessenwahrung nimmt man es nicht so genau. Das Endergebnis von Verhandlungen drückt wohl eher die Machtverhältnisse der Verhandlungsparteien aus, als eine ausgewogene Übereinkunft von gleichwertigen Vertragsparteien. Dieses Eindrucks kann man sich jedenfalls nicht erwehren, wenn man sich in das Rahmenabkommen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz vertieft. Zusätzlich verschärft wird diese Wahrnehmung noch durch den Zeitdruck und die den Entscheidungsprozess begleitenden Erpressungsversuche seitens der EU.

Warum der Rahmenvertrag einem Blankocheck ähnlich ist

Es sind fünf Punkte, die uns Bürgerinnen und Bürger einer (noch) souveränen Schweiz widerspenstig machen müssen. Einerseits geht es um die dynamische Übernahme von EU-Recht und das damit zusammenhängende Streitschlichtungsverfahren durch ein sogenanntes Schiedsgericht, andrerseits um die Androhung von «angemessenen Massnahmen», wenn wir uns dem EU-Diktat nicht beugen und die vielen offenen Punkte wie die Unionsbürgerschaft und die vorprogrammierte Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten (flankierende Massnahmen und staatliche Beihilfen). Letztlich hängt dann noch die Guillotinenklausel über dem gesamten Vertragswerk, was nichts anderes bedeutet, als die Umsetzung der Drohung «Vogel friss oder stirb». Die zahlreichen Lücken in diesem «institutionellen Abkommen» laden die EU geradezu ein, der Schweiz gemäss dem längst angewandten Muster (Verweigerung und Erpressung) EU-Standards aufzuzwingen. 

Vergessen wir nicht, mit wem wir es zu tun haben. Seit dem Vertrag von Lissabon ist die Europäische Union auf dem direkten Weg zur politischen Union mit äusserst undemokratischen und zentralistischen Zügen. Wer sich heute mit der EU in ein Boot setzt, wird daher mehrheitlich ihren politischen Weichenstellungen unterworfen sein. Den Abschluss eines Rahmenabkommens mit wirtschaftlichen Argumenten zu begründen (Marktzugang und Sicherung des Wohlstandes) ist wirklichkeitsfremd. Was heute beim institutionellen Abkommen zählt, ist nicht der Marktzugang, denn wir haben bereits seit 1972 ein Freihandelsabkommen mit der EU, sondern die politische Willenskundgebung, dass wir unsere Souveränität mit allen Mitteln verteidigen werden.

Dynamische Übernahme von EU-Recht

Allein die Wortklauberei um die Übernahme von EU-Recht zeugt von einem Verwirrspiel. Anfangs war die Rede von automatischer Rechtsübernahme. Um die ganze Angelegenheit für die Schweizer Bevölkerung schmackhafter zu machen, versuchte man den staatspolitisch unerträglichen Souveränitätsverlust schönzureden. Jedoch geändert hat sich am Sachverhalt nichts. Die Schweiz muss EU-Recht zwingend übernehmen und sollte sie sich weigern, wird ein Schiedsgericht einberufen, um die Streitigkeiten zu schlichten. Selbst wenn das Schiedsgericht Entscheidungsbefugnisse hätte, drohten der Schweiz Sanktionen (angemessene Massnahmen), wenn sie die Rechtsübernahme abweist. Dem Schiedsgericht sind die Hände gebunden, wird doch der Europäische Gerichtshof im Hintergrund amten, und dessen Urteile werden sich immer am EU-Recht orientieren. Das Schiedsgericht, sagte Carl Baudenbacher, sei ein Feigenblatt. Es sei kein Entgegenkommen der EU und sei nicht massgeschneidert. Es werde eine einseitige Abhängigkeit vom EU-Gerichtshof geschaffen.¹

Mit der zwingenden Übernahme von EU-Recht sieht sich die Schweiz mit erheblichen staatspolitischen Fragen konfrontiert. Wie steht es mit unserer Unabhängigkeit und Selbstbestimmung? In welchem Ausmass wird die ­direkte Demokratie Schaden nehmen? Gehen wir einmal davon aus, das Referendum gegen ein EU-Gesetz oder eine Volksinitiative, die gegen EU-Gesetze verstösst, komme zustande. Was passiert dann bei einer Annahme, und was geschieht wohl im Vorfeld der Abstimmungen? Die Einflussnahme von aussen durch die EU dürfte dann wohl einiges an Schärfe zulegen und auch im Inland werden die «Anhänger» des Bilateralen Weges und EU-Beitrittsbefürworter den Schweizer Stimmberechtigten tüchtig einheizen. Von einer freien Entscheidung werden wir dann sehr weit entfernt sein.

Angemessene Massnahmen

Mit der Drohung, «angemessene Massnahmen» (sprich Sanktionen) ergreifen zu können, geben wir das Heft für die Gestaltung unserer Politik weitgehend in die Hand von Brüssel. Dieser Freipass, der Schweiz Schaden zuzuführen, ist schlichtweg unverantwortlich. Wir erleben doch bereits heute, dass wir seitens der EU keine Freundschaftsdienste erwarten dürfen. Vielmehr wird Brüssel gleich einer Spinne alles unternehmen, um die Schweiz fest zu umgarnen. Das Recht auf Sanktionen, einem fremden Staat oder einer Union zuzugestehen, ist gelinde gesagt unakzeptabel.

Unionsbürgerschaft

Die Unionsbürgerschaftsrichtlinien regeln seit 2004 den freien Personenverkehr von Unionsbürgern innerhalb der EU und gehen in gewissen Punkten wie der Sozialhilfe, dem Wahl- und dem Niederlassungsrecht weiter als die bilaterale Regelung im Personenfreizügigkeitsabkommen mit der Schweiz. Die EU verlangt von der Schweiz seit Jahren die Übernahme dieser Richtlinie. Im Rahmenabkommen ist die Unionsbürgerschaft noch ausgeklammert. Was allerdings nicht bedeutet, dass die EU sehr bald nach der Unterzeichnung des institutionellen Abkommens das Thema nicht aufgreifen wird.

Käme es bezüglich der Richtlinie dereinst zu einer Meinungsverschiedenheit, würde wiederum der Streitbeilegungsmechanismus (siehe zwingende Rechtsübernahme) zur Anwendung kommen. Sollte die EU-Unionsbürgerschaft dereinst kommen, dann hätten die Unionsbürger ein Recht auf unsere Sozialhilfe ohne hier gearbeitet zu haben, das Wahlrecht in der Schweiz auf kommunaler Ebene und einen nahezu freien Zugang zur Schweiz.

Staatliche Beihilfen und flankierende Massnahmen

Die Schweiz hat über Generationen hinweg ein ausgewogenes Förderungs- und Schutzkonzept für die Wirtschaftsbereiche entwickelt, die für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des Gemeinwohls existenziell sind. Dazu gehört auch der Arbeitnehmerschutz. Das Friedensabkommen zwischen den Sozialpartnern drückt das Verantwortungsbewusstsein von Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus. Die flankierenden Massnahmen, die Staatsgarantie bei Kantonalbanken, die Subventionen für den Wohnungsbau und die Landwirtschaft sind die politische Antwort der Schweiz auf ihre besonderen geographischen, strukturellen und staatspolitischen Herausforderungen. Die EU wird diese Politik als Behinderung des Wettbewerbs einstufen und entsprechende Verfügungen erlassen. Damit greift das Rahmenabkommen erheblich in die inneren Angelegenheiten der Schweiz ein und wird im Endeffekt dazu führen, dass die Schweiz nicht mehr in der Lage sein wird, auf die spezifischen Bedürfnisse der Schweizer Bevölkerung abgestimmte gesellschafts-, wirtschafts-, versorgungs-, sozial-, und sicherheitspolitische Lösungen zu entwickeln und umzusetzen. Sollten die flankierenden Massnahmen bei der Personenfreizügigkeit durch das Rahmenabkommen fallen, dann dürfte auch in der Schweiz früher oder später der Lohnschutz und die Beschäftigungs- und Sozialpolitik dem neoliberalen Geist weichen müssen. 

Neue Wege suchen

Das vorliegende Rahmenabkommen bestätigt, dass der «bilaterale Weg» keine Option mehr für die Schweiz sein kann. Das Fuhrwerk steckt zu tief im Sumpf. Dies drückt sich auch in der Aussage aus: «das Rahmenabkommen ist das Trainingscamp für einen späteren EU-Beitritt.» 

Es braucht neue Wege und Ideen. Die Schweiz ist gemäss einer entsprechenden Studie das am weitesten globalisierte Land. Wir verfügen offensichtlich über ein tragfähiges globales Netzwerk. Es wird grundsätzlich darum gehen, Möglichkeiten zu entwickeln, die es uns erlauben, im internationalen Wettbewerb bestehen zu können ohne unsere Unabhängigkeit aufs Spiel zu setzen. Das ist insofern gar nicht so schwierig, da unsere Unabhängigkeit die Grundlage für eine eigenständige, auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Schweiz abgestimmte Wirtschaftspolitik ist. Die Zeit ist reif für eine Wirtschaft, die wieder soziale Verantwortung wahrnimmt und den politischen Sonderfall der Schweiz respektiert und stützt. Der erste wichtige Schritt dazu ist ein Nein zum Rahmenabkommen und die Verweigerung der Unterschrift unter einen Blankocheck «Souveränitätsverlust». 

¹ Öffentliche Anhörung der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates am 15.01.2019

«Vorschläge für Mediation und Frieden im Zusammenhang mit der venezolanischen Krise unterbreiten»

Offener Brief an den Generalsekretär der Vereinten Nationen António Guterres und an die Hochkommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet

von Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Sehr verehrte Frau Hochkommissarin Michelle Bachelet,

sehr geehrter Herr Generalsekretär António Guterres

Als ehemaliger unabhängiger UN-Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung (2012 – 2018) möchte ich Sie dringend bitten, erneut Stellung zu nehmen und konkrete Vorschläge für Mediation und Frieden im Zusammenhang mit der venezolanischen Krise zu unterbreiten.

Die vornehmste Aufgabe der Vereinten Nationen besteht darin, die Voraussetzungen für den lokalen, regionalen und internationalen Frieden zu schaffen, präventiv und unermüdlich daran zu arbeiten, bewaffnete Konflikte zu vermeiden, zu vermitteln und zu verhandeln, um friedliche Lösungen zu finden, damit alle Menschen in Menschenwürde leben und in den Genuss des Menschenrechts auf Frieden und aller anderen bürgerlichen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rechte kommen können. Ich bin besonders besorgt über die orwellsche Korruption der Sprache, die Instrumentalisierung und Bewaffnung der Menschenrechte und jetzt sogar der humanitären Hilfe.

Ich blicke zurück auf meine UN-Mission in Venezuela im November/Dezember 2017 als einen bescheidenen Beitrag, um die Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen und der venezolanischen Regierung zu erleichtern und den Besuchen anderer Berichterstatter die Tür zu öffnen. Lesen Sie dazu meinen Bericht an den UN-Menschenrechtsrat¹ und die entsprechenden Empfehlungen.

Ich glaube, dass es für Sie beide an der Zeit und notwendig wäre, eine Erklärung abzugeben, in der die Resolutionen 2625 und 3314 der Generalversammlung und die 23 Grundsätze der internationalen Ordnung bekräftigt werden, die ich in meinem Bericht 2018 an den Menschenrechtsrat formuliert habe.² Es wäre unter anderem angebracht, die Tatsache anzuerkennen, dass die Regierung Venezuelas einige der in meinem Bericht  und in meinem sechsseitigen vertraulichen Memo, das ich persönlich Aussenminister Jorge Arreaza bei meiner Abreise aus Venezuala gegeben habe, enthaltenen Empfehlungen umgesetzt hat.³ 

Tatsächlich liess die venezolanische Regierung zunächst 80 Häftlinge frei – darunter Roberto Picón und 23 andere, deren Freilassung ich ausdrücklich beantragt hatte – das war am 23. Dezember 2017, und im Laufe des Jahres 2018 folgten weitere Freilassungen. Leider fanden sich darüber in den Mainstream-Medien praktisch keine Informationen, obwohl sie im Internet leicht zugänglich sind. Siehe auch die Kommentare Venezuelas zu meinem Bericht⁴, insbesondere Absatz 46:

«(xvi) Infolgedessen wurden am 23. Dezember 2017 80 Personen, die während der Proteste im Land aufgrund von Gewalttaten verhaftet wurden, freigelassen, und am 1. Juni 2018 wurden 39 weitere Personen freigelassen.»

und Absatz 46:

«(xviii) In diesem Zusammenhang schätzt die venezolanische Regierung die Bereitschaft des Unabhängigen Experten, der die zuständigen Behörden über die Anträge informiert hat, die er von einigen Verwandten der Personen, denen ihre Freiheit entzogen wurde, erhalten hat. Seine Empfehlungen wurden angenommen.»

Kurz nach meinem Besuch trafen sich die venezolanischen Behörden mit den UN-Organisationen und schlossen, dank der wertvollen Bemühungen von Peter Grohmann, dem UNDP-Vertreter in Caracas, zusätzliche Kooperationsabkommen ab.

Jetzt hat die Regierung Venezuelas die Vereinten Nationen offiziell um humanitäre Hilfe im Zusammenhang mit der aktuellen Krise gebeten. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen.

Meiner Meinung nach sollten die USA die gesamte humanitäre Hilfe und die medizinischen Hilfsgüter, die sie nach Kolumbien geflogen haben, übergeben und mit Hilfe der Vereinten Nationen und anderer neutraler Organisationen, einschliesslich des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, so bald wie möglich verteilen lassen.

Eine weitere Information, die man in den Mainstream-Medien schwer vermisst, ist die Lieferung von 933 Tonnen Lebensmitteln und Medikamenten in der vergangenen Woche im Hafen La Guaira – aus China, Kuba, Indien, der Türkei usw.⁵

Darüber hinaus kamen weitere 300 Tonnen Medikamente und medizinische Versorgung aus Russland per Flugzeug an.⁶ 

Wie ich aus meinen Gesprächen mit venezolanischen Ministern während meines Besuchs im Jahr 2017 und den jüngsten Gesprächen mit dem venezolanischen Botschafter bei den Vereinten Nationen in Genf, Jorge Valero, weiss, hat Venezuela stets die Unterstützung neutraler und freundlich gesinnter Regierungen begrüsst und wiederholt um Unterstützung gebeten, damit es die negativen Auswirkungen der Finanzblockade und der Sanktionen auf die Menschenrechte überwinden kann. Eine solche Hilfe sollte in gutem Glauben und ohne Auflagen angeboten werden.

Ich glaube, dies ist der Moment für Frau Hochkommissarin Michelle Bachelet, der im Dezember 2018 übermittelten Einladung der Regierung Venezuelas zu folgen, persönlich nach Venezuela zu kommen. Ihre Anwesenheit in Venezuela sollte die wachsende Gefahr einer militärischen Intervention durch ausländische Stellen unterbinden. Sie sollte die Bemühungen Mexikos und Uruguays um eine Mediation im Rahmen der Konferenz von Montevideo unterstützen.

Es gibt bedrohliche Parallelen zur Vorbereitung der Irak-Invasion im Jahr 2003 – ein illegaler Krieg, wie Kofi Annan bei wiederholten Gelegenheiten sagte.⁷

Es ist für jeden Jurastudenten des ersten Studienjahres offensichtlich, dass die ständigen Drohungen gegen Venezuela gegen Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta verstossen. Was viele nicht wissen, ist, dass die Bedrohungen, der Wirtschaftskrieg, die Finanzblockade und die Sanktionen gegen die in Kapitel II, Artikel 3 der OAS-Charta enthaltenen Grundsätze verstossen:

«e. Jeder Staat hat das Recht, sein politisches, wirtschaftliches und soziales System ohne externe Einmischung zu wählen und sich so zu organisieren, wie es ihm am besten entspricht, und ist verpflichtet, sich der Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates zu enthalten. Vorbehaltlich des Vorstehenden arbeiten die amerikanischen Staaten uneingeschränkt zusammen, unabhängig von der Art ihrer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme; […]

g. Die amerikanischen Staaten verurteilen den Angriffskrieg: Ein Sieg verleiht keine Rechte; 

h. Ein Angriff auf einen amerikanischen Staat ist ein Angriff auf alle anderen amerikanischen Staaten; 

i. Kontroversen mit internationalem Charakter, die zwischen zwei oder mehr amerikanischen Staaten entstehen, werden durch friedliche Verfahren geregelt; 

j. Soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit sind Grundlagen für dauerhaften Frieden; […]».

Darüber hinaus verstossen sie gegen zahlreiche Artikel in Kapitel 4 der OAS-Charta:

«Artikel 17

Jeder Staat hat das Recht, sein kulturelles, politisches und wirtschaftliches Leben frei und natürlich zu gestalten. In dieser freien Entwicklung achtet der Staat die Rechte des Einzelnen und die Grundsätze der universellen Moral.

Artikel 18

Die Achtung und die gewissenhafte Einhaltung der Verträge stellen Standards für die Entwicklung friedlicher Beziehungen zwischen den Staaten dar. Internationale Verträge und Vereinbarungen sollten öffentlich sein.

Artikel 19

Kein Staat oder keine Staatengruppe hat das Recht, aus irgendeinem Grund direkt oder indirekt in die inneren oder äusseren Angelegenheiten eines anderen Staates einzugreifen. Der vorstehende Grundsatz verbietet nicht nur Waffengewalt, sondern auch jede andere Form der Einmischung oder versuchten Bedrohung der Persönlichkeit des Staates oder seiner politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elemente.

Artikel 20

Kein Staat darf Zwangsmassnahmen wirtschaftlicher oder politischer Art anwenden oder fördern, um den souveränen Willen eines anderen Staates zu erzwingen und daraus Vorteile jeglicher Art zu ziehen».

Sehr verehrte Frau Hochkommissarin, sehr geehrter Herr Generalsekretär: Die Welt schaut auf zu Ihnen in der Hoffnung, dass Sie den Menschen in Venezuela noch mehr Leid ersparen können. Diese brauchen internationale Solidarität, wie sie im Bericht von Virginia Dandan, der damaligen unabhängigen Expertin für Menschenrechte und internationale Solidarität, zum Ausdruck kommt.⁸

Ich verbleibe mit vorzüglicher Hochachtung.

Professor Dr. Alfred de Zayas, Geneva School of Diplomacy and International Relations, 23. Februar 2019

¹ https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G18/239/31/PDF/G1823931.pdf?OpenElement

² Vgl. Absatz 14 in https://documents-dds.ny.un.org/UNDOC/GEN/G18/018/46/PDF/G1801846.pdf?OpenElement

³ http://vtv.go-7b.ve/venezuela-onu-medicamentos-alimentos/

https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G18/262/97/PDF/G1826297.pdf?OpenElement

https://www.ghm.com.ve/llegaron-al-pais-933-toneladas-de-medicinas/ ;

https://www.uniradioinforma.com/noticias/internacional/556699/venezuela-recibe-933-toneladas-de-medicinas-y-materiales-medicos.html

https://www.dw.com/es/maduro-anuncia-arribo-de-300-toneladas-de-ayuda-humanitaria-de-rusia/a-47576323

https://www.nytimes.com/2004/09/16/international/annan-says-iraq-war-was-illegal.html

https://www.ohchr.org/Documents/Issues/Solidarity/DraftDeclarationRightInternationalSolidarity.pdf

Übersetzung aus dem Englischen «Zeitgeschehen im Fokus»

 

Venezuela bietet den USA Hand zum Dialog und schlägt Gipfel in der neutralen Schweiz vor

sl. Der Aussenminister Venezuelas Jorge Arreaza hat am 27. Februar vor dem Uno-Menschenrechtsrat in Genf zur Lösung des Konflikts ein Gipfeltreffen zwischen Donald Trump und Präsident Nicolás Maduro in der neutralen Schweiz vorgeschlagen: «Wir sind offen für einen Dialog mit den USA, […] Warum nicht zwischen den Präsidenten Maduro und Trump? Warum sollten sie sich nicht treffen, um eine gemeinsame Basis zu finden und ihre Differenzen zu besprechen?» Der Gipfel könnte «in einem neutralen Staat wie der Schweiz» stattfinden, sagte Arreaza. 

Maduro selbst hatte bereits im Herbst 2018 am Rande der Uno-Vollversammlung in New York so ein Treffen vorgeschlagen. Trump hatte das nach eigenen Angaben abgelehnt. 

Auf die erneute Einladung zum Dialog erklärte der US-Gesandte beim Menschenrechtsrat in Genf, Robert Wood, umgehend, Präsident Trump sei «bereit, den legitimen Präsidenten Venezuelas zu treffen, und das ist Juan Guaidó». 

Tatsache ist, dass Nicolás Maduro der demokratisch gewählte, d.h. einzig legitime Präsident Venezuelas ist. Indem Trump dessen Angebot zum Dialog ausschlägt und nur den selbsternannten Putschisten Guaidó als Gesprächspartner anerkennt, wird nur allzu deutlich, dass es ihm nicht um Demokratie, Menschenrechte und um eine friedliche Lösung des Konflikts geht, sondern um einen Regime-Change in diesem Land, das bisher einen eigenständigen, von den USA unabhängigen Weg gegangen ist und über reiche Bodenschätze verfügt. 

Quelle: Bote der Urschweiz, 28.02.2019

 

Ist die Welt bereit, der Gefahr eines Atomkriegs zu trotzen? Nein. Dann lasst uns die Bombe verbieten! 

Pressemitteilung des IKRK vom 11. Februar 2019

Genf (IKRK/Internationale Föderation) – Vor 74 Jahren wurden die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki mittels Atomwaffen von der Landkarte getilgt. Dennoch steigt das Risiko, dass solche Waffen wieder eingesetzt werden.

Heute unternehmen die Atommächte keine Schritte mehr, um ihren langjährigen Verpflichtungen zur nuklearen Abrüstung nachzukommen, sondern modernisieren ihre Arsenale, entwickeln neue Arten von Waffen und erleichtern deren Anwendung. Ausserdem ist die Häufigkeit militärischer Vorfälle mit Atommächte und ihren Verbündeten alarmierend.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ist zutiefst besorgt über die Erosion des Rahmens für Abrüstung und atomare Rüstungskontrolle. Mehrere in letzter Zeit getroffene Entscheidungen haben den besorgniserregenden Trend zu einem neuen nuklearen Wettrüsten genährt und damit das Risiko verstärkt, dass Atomwaffen eingesetzt werden. Das IKRK fordert alle betroffenen Staaten sowie diejenigen, die in der Lage sind, sie zu beeinflussen, auf, diesen Trend umzukehren.

Um diesem Anstieg des nuklearen Risikos auf internationaler politischer Ebene Einhalt zu gebieten, starten das IKRK, die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (Internationale Föderation) und die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung als Ganzes heute eine weltweite Kampagne. Ziel dieser Videokampagne ist es, die Öffentlichkeit für die katastrophalen humanitären Folgen eines Atomkriegs zu sensibilisieren und die Menschen zu ermutigen, von ihren jeweiligen Regierungen zu verlangen, dass sie den Vertrag über das Verbot von Kernwaffen unterzeichnen und ratifizieren.

«Jedes Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen ist inakzeptabel. Der Vertrag ist ein Hoffnungsschimmer und ein wesentlicher Schritt, um das Risiko einer Atomkatastrophe zu verringern», sagte Peter Maurer, Präsident des IKRK.

Bislang haben 70 Länder den Vertrag über das Verbot von Kernwaffen unterzeichnet, 21 Länder haben ihn ratifiziert oder sind ihm auf andere Art und Weise beigetreten.

«In vielen Ländern arbeiten die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften mit den Regierungen, den nationalen Parlamenten und der Zivilgesellschaft zusammen, um einen baldigen Beitritt zum Vertrag zu erleichtern. Mit der Unterstützung unseres Netzwerks werden wir uns weiterhin für eine Welt ohne Atomwaffen einsetzen. Nichts kann den Planeten auf die Schrecken eines Atomkriegs vorbereiten. 74 Jahre später haben wir immer noch keine Lehren gezogen aus dem Leid, der Zerstörung und dem Tod in Hiroshima und Nagasaki», sagte Francesco Rocca, Präsidentin der Internationalen Föderation.

«Bürger, Parlamente und die Zivilgesellschaft spielen eine wesentliche Rolle bei der Verringerung des Risikos des Einsatzes von Kernwaffen. In dieser Zeit zunehmender internationaler Spannungen fordere ich alle auf, dringend und entschlossen zu handeln, um die Ära der Atomwaffen zu beenden», fügte Peter Maurer hinzu.

Atomwaffen sind die tödlichsten und zerstörerischsten Waffen, die je erfunden wurden. Die japanische Rotkreuzgesellschaft und das IKRK erlebten dies 1945 in Hiroshima und Nagasaki aus erster Hand, als sie versuchten, den Sterbenden und Verwundeten zu helfen. Die Atomexplosionen haben zehntausende Menschen getötet, medizinische Einrichtungen zerstört und Überlebende unter schrecklichen Bedingungen zurückgelassen. Die Krankenhäuser des Japanischen Roten Kreuzes behandeln heute immer noch Patienten, die aufgrund der Strahlung der Atombomben von 1945 an Krebs und insbesondere an Leukämie leiden.

Der unbestreitbare Beweis für die katastrophalen humanitären Folgen von Atomwaffen wirft ernsthafte Zweifel auf an der Möglichkeit, dass diese Waffen eines Tages in einer Weise eingesetzt werden können, die mit dem humanitären Völkerrecht vereinbar ist. Deshalb wird die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung nicht müde immer wieder zu empfehlen, Atomwaffen nie wieder zu verwenden, und deren absolutes Verbot und deren Beseitigung zu fordern.

Zusätzliche Informationen:

Marie-Servane Desjonquères, IKRK Amman, Tel.: +962 7 7843 7401 oder mdesjonqueres@icrc.org

Quelle: www.icrc.org/fr/document/cicr-le-monde-est-il-pret-affronter-une-guerre-nucleaire-non-alors-interdisons-la-bombe

Übersetzung aus dem Französischen «Zeitgeschehen im Fokus»

«Die Schweiz  ist  ein  sehr  willkommener,  kompetenter technischer und diplomatischer Ratgeber»

Jahrespressekonferenz der Deza

von Thomas Kaiser

Die Jahrespressekonferenz der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) versprach eine interessante Veranstaltung zu werden, denn mit dem Thema Wasser tangierte sie einen Bereich, der lebenswichtiger nicht sein könnte. Doch bevor der Direktor der Deza, Manuel Sager, auf das zentrale Thema einging, hatte er den grösseren Rahmen, in dem sich die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz bewegt, dargelegt.

Deza | Bild thk

Nach seinen Worten sei es der Menschheit trotz ständiger Konflikte und Katastrophenmeldungen noch nie so gut gegangen wie heute. Das erstaunt, aber statistisch gesehen hätten die Menschen noch nie «gesünder und sicherer gelebt». Er führte aus, mehr Menschen stürben an Übergewicht denn an Unterernährung. Während 1990 noch 50 % in Entwicklungsländern unter der Armutsgrenze lebten, das heisst mit weniger als 1,25 Dollar am Tag auskommen mussten, waren es 2015 noch 14 Prozent. Zahlen, die natürlich das Schicksal des Einzelnen nicht erfassen.

Massgeblicher Beitrag der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit

Welche Rolle die Schweiz in diesem Entwicklungsprozess spielt, erläuterte Manuel Sager, indem er interessante Zahlen präsentierte. So haben dank der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit 8 Millionen Menschen besseren Zugang zu sauberem Trinkwasser und zu effizienteren Bewässerungssystemen, insbesondere in der Landwirtschaft, erhalten. Auch in der Bildungsarbeit hat sich die Schweiz stark engagiert, indem sie «9 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte davon sind Frauen, den Zugang zu Grund- und Berufsbildung» ermöglicht hat. Auch konnte man mit Schweizer Projekten 3 Millionen Frauen und Kindern bei der Geburt fachliche Betreuung zukommen lassen. Das Fazit von Manuel Sager war eindeutig: «Die Geschichte der Menschheit ist eine Erfolgsgeschichte, zu der die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit massgeblich beigetragen hat.»

Entwicklungszusammenarbeit so wichtig wie eh und je

Doch trotz aller Fortschritte darf man vor dem Elend auf dieser Welt die Augen nicht verschliessen. So leben immer noch «700 Millionen Menschen in extremer Armut und 70 Millionen Menschen sind auf der Flucht». Dabei handelt es sich sowohl um intern Vertriebene als auch um solche, die ihr Land verlassen mussten. Auch für Kinder und Jugendliche in der Region der Subsahara wird es in ein paar Jahren mehrere Millionen Jobs brauchen, die es bis jetzt noch nicht gibt. Dazu kommt die Wasserknappheit und der Klimawandel, was wiederum Migrationsströme auslösen könne. Für Sager ist die Entwicklungszusammenarbeit trotz der eingangs erwähnten Zahlen so wichtig wie eh und je

Wasservorkommen unterschiedlich verteilt

Das eigentliche Thema dieser Konferenz ist der Wasserfrage gewidmet. Dass diese Thematik von zentraler Bedeutung ist, zeigt eine Studie der Uno, nach der bis 2025 1,8  Milliarden Menschen an Wasserknappheit leiden werden. Bereits «heute haben 844  Millionen Menschen keinen Zugang zu einer elementaren Trinkwasserversorgung.»

Da die Süsswasserreserven beschränkt seien, so Manuel Sager, berge dies ein grosses Konfliktpotential, zumal zwei Drittel der Süsswasserreserven grenzüberschreitend seien. Im weiteren führte er aus, dass es nicht weniger Wasser auf dieser Erde gebe, aber diese Vorkommen unterschiedlich verteilt seien. Als Gründe für die Wasserknappheit nannte Sager den Klimawandel, die Wasserverschmutzung, das Bevölkerungswachstum sowie Veränderungen in der Sozialstruktur anderer Länder, was zu wasserintensiveren Ernährungsgewohnheiten führe. Welchen Beitrag kann hier die Schweiz als wasserreiches Land leisten? Man müsse sich bewusst sein, dass 80 % des Schweizer Wasserfussabdrucks ausserhalb der Schweiz stattfinde, nämlich bei der Produktion von Gütern, die in die Schweiz importiert würden. So braucht die Herstellung eines Computers z. B. 20 000 Liter Wasser.

Schweiz als «politische Brückenbauerin»

Um einen konstruktiven Beitrag zur Lösung dieser Menschheitsprobleme zu leisten, betätigt sich die Schweiz als «politische Brückenbauerin» und als «technische Wissensvermittlerin». Konkret hat die Schweiz zwei «Blue Peace Initiativen» lanciert: in Zentralasien und im Nahen Osten (vgl. Interview mit Danilo Türk). Die Initiative im Nahen Osten ist aufgrund der Konfliktträchtigkeit der Region eine Herausforderung und hat neben der Lösung der Wasserfrage auch einen zumindest genauso wichtigen Friedensaspekt. Der Deza ist es gelungen, den Iran, den Irak, Jordanien, die Türkei und den Libanon an einen Tisch zu bekommen, um gemeinsame Lösungen für das Wasserproblem zu entwickeln. Dabei geht es «um Stabilität und Friedensförderung.» Wenn man zusammen am Tisch sitzt, um technische Lösungen zu finden, «spricht man auch über andere Spannungen in der Region.» In dem Sinne sei das Ganze auch «ein Friedensprojekt und nicht nur ein technisches Projekt zur Lösung von Wasserknappheit.» Die beiden folgenden Interviews mit Professor Danilo Türk und Mohamad Fakhreddine, die beide an der Pressekonferenz anwesend waren, zeigen deutlich, wie wertvoll und unverzichtbar die Aktivitäten der Schweiz auf diesem Gebiet sind.

Blue Peace-Initiative für grenzüberschreitende Wasserzusammenarbeit

Interview mit Professor Dr. Danilo Türk

Prof. Dr. Danilo Türk (Bild thk)
Prof. Dr. Danilo Türk (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Was ist die Absicht von «Blue Peace»?

Prof. Dr. Danilo Türk Es geht darum, alle Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu fördern. Diese Zusammenarbeit ist notwendig, allerdings gibt es sie noch nicht überall. Gleichzeitig gibt es Erfolge, die ermutigend sind. So verfügen wir beispielsweise über Erfahrungen in bestimmten Teilen der Welt, darunter Europa, aber vor allem in Westafrika. Dort hat die grenzüberschreitende Wasserzusammenarbeit zur Entwicklung und Stabilisierung zwischen Senegal, Guinea, Mali und Mauretanien zum Beispiel, beigetragen. Die Senegal River Organisation (Organisation de la Mise en Œuvre du Fleuve Senegal) ist ein regionales Arrangement, das sehr gut funktioniert.

Gibt es im Nahen Osten solch eine Kooperation?

Im Nahen Osten haben wir so etwas nicht. Wir haben keine Regelung für die mesopotamische Region, die traditionell eine landwirtschaftliche, an einem Fluss gelegene Region ist, die heute aber grosse Wasserprobleme hat. Und diese Probleme werden nicht richtig angegangen. Das Verhältnis zwischen der Wasserkooperation und dem Fehlen bewaffneter Konflikte ist sozusagen indirekt; man sieht es nicht sofort. Aber es ist sehr real, denn wenn Wasser verschwindet, beginnen die Menschen weiter zu ziehen, und dann gibt es soziale Spannungen und politisch brisante Situationen und alles, was zu bewaffneten Konflikten führen kann. Um eine solche Entwicklung zu verhindern, muss man also die grenzüberschreitende Wasserkooperation stärken. 

Sie haben die Situation in Syrien in Bezug auf Migration und Wassermangel angesprochen. Könnten Sie das näher erläutern, denn das ist ein weitgehend unbekannter Aspekt dieses Konflikts?

Diejenigen, die die Entwicklungen der letzten fünfzehn Jahre oder so verfolgt haben, haben festgestellt, dass es eine ganze Reihe von Jahren eine anhaltende Dürre gegeben hat. Und diese Dürre hat die Menschen aus ihren ursprünglichen Gebieten hin zu den traditionell wohlhabenderen Küstengebieten getrieben. Diese Bevölkerungsbewegung führte zu Spannungen. Und als ein politischer Funke als Ergebnis des arabischen Frühlings übersprang, waren die Bedingungen für Spannungen bereits da. Und das hatte Demonstrationen zur Folge.

Was änderte sich dadurch?

Diese Demonstrationen führten nun zu einer Reaktion der Regierung. Diese Reaktion war hart, und diese harte, gewalttätige Reaktion führte zu einer militärischen Konfrontation. In der Folge breitete sich der militärische Konflikt im ganzen Land aus, kostete Opfer und brachte Flüchtlingsströme hervor. Man kann den Ablauf nachvollziehen und sich die Frage stellen: «Warum wurde nicht schon früher etwas unternommen?» Gut, man kann sagen, dass man früher nichts tun konnte, denn das war eine interne Situation in Syrien selbst. Aber das ist keine gute Antwort. Diese Antwort ist einfach nicht gut genug. Wir hätten zumindest die Art des Problems besser verstehen und die politischen Aspekte besser handhaben sollen. Dies erforderte ein Verständnis für die Konfliktursachen. So eine Vorgehensweise macht natürlich eine sehr viel umfassendere und differenziertere Diplomatie notwendig. Dies ist etwas, was wir in Zukunft in verschiedenen Teilen der Welt brauchen werden.

Man müsste also mehr Gespräche führen und…

…ein besseres Verständnis haben. Bevor man eine politische oder gar militärische Entscheidung trifft, muss man die Dinge besser verstehen. Wenn Sie also heute beispielsweise in die Vereinigten Staaten reisen und mit Menschen aus dem Pentagon, dem Militär, sprechen, werden sie Ihnen sehr schnell sagen, dass Wasserprobleme sehr ernst sind und dass sie nicht mit militärischen Mitteln behandelt werden müssen. Denken wir nur einmal an die Region um den Tschadsee in Afrika und die daraus resultierenden bewaffneten Konflikte. Solche Angelegenheiten sollten nicht in bewaffnete Konflikte ausarten dürfen, in denen man die Streitkräfte braucht. Das habe ich von vielen amerikanischen Generälen gehört, die die Situation sehr gut verstehen und nicht wollen, dass die Streitkräfte in Situationen verwickelt werden, die vermeidbar sind. So hat jeder ein Interesse daran, solche Situationen von Wasserknappheit, die in bewaffnete Konflikte abgleiten könnten, in Zukunft zu verhindern.

Sie haben die Gespräche mit dem Iran, dem Irak und dem Libanon erwähnt. Können Sie erklären, worum es dabei geht?

Sie beziehen sich auf die Blue Peace-Initiative, die seit einigen Jahren auf Schweizer Initiative hin entwickelt wird. Die meiste Zeit gab es die unterschiedlichsten bilateralen Gespräche, sehr subtile und nicht sehr sichtbare Dinge, nicht sehr attraktiv für die Medien. Diese Gespräche fanden unter Diplomaten oder unter Experten statt. Im vergangenen Jahr wurde vereinbart, dass die Regionalität gestärkt werden sollte und es ein internationales Sekretariat mit Sitz in der Türkei geben wird, die ein Nachbarland der Region ist und auch über sehr wichtige Erfahrungen in der Wasserwirtschaft verfügt.

Inwiefern?

Sie haben ein sehr gutes Wasserinstitut (SUEN) in Istanbul, und die Türkei insgesamt hat im Bereich Wasser viel Arbeit geleistet, weil sie auch das ernste Problem der Wasserknappheit hat. So befindet sich das Sekretariat nun in Istanbul beim Wasserinstitut der Türkei, was einen multilateraleren Ansatz fördert. Natürlich ist es sehr sensibel, und man darf nie vergessen, dass viele dieser Dinge am besten auf bilateraler Ebene angegangen werden können, zum Beispiel mit der Türkei als Herkunftsland des Flusses Tigris und dem Irak als dem Land, das am Unterlauf des Flusses liegt.

Was ist Inhalt der Gespräche?

Viele Dinge müssen direkter diskutiert werden: wie viel Wasser von der Türkei in den Irak fliesst, und wie der Wasserverbrauch im Irak gesteuert werden kann, um ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den beiden Ländern zu erreichen. Das sind also bilaterale Fragen, die bilateral diskutiert werden müssen. In ähnlicher Weise werden bilaterale Angelegenheiten der Region am Euphrat zwischen der Türkei und Syrien diskutiert werden. Aber darüber hinaus ist ein regionaler Zugang notwendig, um die Länder auf die verschiedenen Probleme aufmerksam zu machen und Projekte zu bestimmen, die der grösseren Region gemeinsam sind. Mesopotamien ist eine Region, in der die Wasserressourcen geteilt werden und dies schliesst den Libanon und den Iran mit ein. All dies ist ein Prozess in Entwicklung. Nächsten Monat werden wir Treffen in Jordanien und in der Türkei abhalten, und wir werden sehen, wie weit die Fortschritte gediehen sind. Das Wichtigste ist das Bewusstsein, dass eine bessere Zusammenarbeit notwendig ist. Jahrelang hat jeder um das Problem gewusst, aber das Bewusstsein, dass etwas gemeinsam getan werden muss, war noch nicht da. Jetzt kommt es.

Welche Länder kommen bei dem Treffen zusammen?

Die Länder sind die Türkei, Jordanien, Iran, Irak und Libanon; sie sind daran beteiligt, aber ich meine, diese Zahl kann sich vergrössern. Früher oder später wird Syrien auch Teil dieses Prozesses sein. Darüber hinaus gibt es Fragen, die nicht alle betreffen, und die bilaterale Zusammenarbeit wird auch notwendig werden. Die Schweiz kann bei all dieser Dynamik eine sehr nützliche Rolle spielen, da sie über technische und politische Erfahrungen verfügt, die genutzt werden können. Es gibt viele Gründe, warum die Schweiz als Partner sehr willkommen ist. Und die Schweiz bringt keine politische Agenda mit, weil sie keine Grossmacht mit eigenen geostrategischen Interessen ist. Und die Schweiz ist ein sehr willkommener, kompetenter, technischer und diplomatischer Ratgeber und konstruktiver Partner.

Was mich anspricht, ist, dass dies ein Weg ist, um Frieden in dieser Region zu schaffen, wenn sie gemeinsam diskutieren und versuchen, Lösungen zu finden.

Sicher. Man kann Lösungen für diese grundlegenden Probleme finden. Auf jeden Fall. Und man kann dabei behilflich sein.

Herr Professor Türk, vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Thomas Kaiser, Bern

Übersetzung aus dem Englischen «Zeitgeschehen im Fokus»

* Danilo Türk ist ein slowenischer Jurist, Diplomat und Politiker. Von 2007 bis 2012 war er Staatspräsident Sloweniens.

«Flüchtlinge mit sauberem Wasser versorgen»

Interview mit Mohamad Fakhreddine, Mitbegründer der Firma Clean20

Mohamad Fakhreddine (Bild thk)
Mohamad Fakhreddine (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie ist Ihre Initiative, einen Wasserfilter zu entwickeln, zustande gekommen?

Mohamad Fakhreddine Ich lebte in Kuwait, es war ein sehr luxuriöser Ort, später zog ich in den Libanon und sah viel Leid. Ich erkannte, dass ich als privilegierte und glückliche Person etwas dagegen tun muss. So wurde mir klar, dass ich mit meiner technischen Expertise als Chemieingenieur und mit Hilfe von Programmen wie «cewas» oder «Blue Peace» (siehe Kasten) etwas schaffen und den Menschen in Not helfen kann. So haben wir beschlossen, diese Initiative zu entwickeln. Wir haben hart dafür gearbeitet. Es lief wirklich grossartig. Hoffentlich werden wir demnächst unsere erste Charge an eine NGO im Libanon verkaufen können, um die Flüchtlinge mit sauberem Wasser zu versorgen.

Können Sie mir erklären, wie die Wasserreinigung funktioniert?

Das System kombiniert sowohl physikalische als auch chemische Filtration. Es gibt vier Schichten. Die erste Schicht verwendet einen normalen Sandfilter, der Sand und Schmutz entfernt. Die zweite Schicht ist Chlor, eine sehr geringe Menge an Chlor, um die Bakterien abzutöten. Die dritte Schicht ist Aktivkohle, die die Schadstoffe, d.h. Toxizität, aus dem Wasser entfernt. Und die letzte Schicht ist ein Mikronfilter, der verhindert, dass die Bakterien passieren.

Wasserfilter (Bild zvg)

Wasserfilter (Bild zvg)

 

Und wie viele Liter Wasser können gefiltert werden?

Für rund 8 Schweizer Franken kann man rund 500 Liter Wasser filtern. 

Für die Menschen dort ist es sicher eine grosse Erleichterung.

Bevor ich in die Schweiz kam, war ich in einem Flüchtlingslager im Norden des Libanon, und wir hatten das Produkt mit den Flüchtlingen dort getestet. Die Flüchtlinge wollen eine Lösung, also suchen sie nach irgendeinem Mittel, um Wasser zu bekommen. Das Wasser, das sie trinken, ist schrecklich. Ich habe es getestet – es ist sehr schlecht. Deshalb sind die Reaktionen immer positiv, einfach, weil die Menschen verzweifelt sind. Sie wollen dieses Wasser, sie wollen sauberes Wasser trinken. Unreines Wasser verursacht ihnen eine Menge gesundheitlicher Probleme und eine Menge sonstiger Probleme. Deshalb suchen sie nach einer Lösung für das Problem.

Gibt es Unterstützung durch die Beamten aus dem Libanon oder durch die Uno und andere Organisationen?

Wir arbeiten derzeit mit der University of Balamand im Libanon zusammen. Die Universität ist der wichtigste Unterstützer dieser Initiative. Was Regierungsbeamte oder andere Organisationen betrifft, so gibt es leider keine Unterstützung. Was wir normalerweise tun, ist, uns an Wettbewerben zu beteiligen oder uns um Zuschüsse zu bemühen, um Unterstützung zu erhalten. Das ist also die Art von Unterstützung, die wir bekommen. 

Wie ist die Verbindung zur Schweiz? Gibt es Unterstützung aus der Schweiz?

Wir befinden uns im Rahmen des Programms der cewas, einer Schweizer NGO gleichen Namens. Wir nehmen an diesem Programm teil, und sie haben uns geholfen, unsere Idee zu entwickeln. Sie konzentrieren sich nur auf die Bereiche Wasser, Abwasser und Abfallwirtschaft. Nachdem wir an dem Programm teilgenommen hatten, konnten wir ihre Unterstützung erhalten, und da die Deza und das cewas-Programm Partner sind, ist dies die Art von Unterstützung, die wir von der Schweiz durch dieses Programm erhalten. 

Was war der Grund für Sie, in den Libanon zu gehen?

Ich kam in den Libanon, um meine Ausbildung an der Universität abzuschliessen.

Haben Sie sich entschieden, dort eine längere Zeit zu bleiben?

Ja. Ich habe mich entschieden, dort für immer zu leben. Ich lebe seit sechs Jahren im Libanon und glaube, dass ich die Möglichkeit und das Potenzial habe, Menschen zu helfen. Es gibt Menschen, die im Libanon viel Hilfe brauchen. Warum sollte ich also nicht helfen, warum sollte ich nichts dagegen tun? 

Herr Mohamad Fakhreddine, vielen Dank für das Gespräch. 

Interview: Thomas Kaiser, Bern

Übersetzung aus dem Englischen «Zeitgeschehen im Fokus»

 

Die Deza fördert Wasserprojekte

Um allen Menschen Zugang zu sauberem Wasser zu gewährleisten, müssen Regierungen, Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft zusammenarbeiten: Die Deza stellt auf politischer Ebene Kontakte her und fördert den Austausch von Fachwissen. Gemäss den Zielen der Agenda 2030 müssen sich alle Verbraucher (Industrie, Landwirtschaft, Haushalte) zu einer besseren Nutzung der Wasserressourcen verpflichten. Die Deza sucht daher auch mit dem Privatsektor nach Lösungen. 

Ein Beispiel dafür ist das von der Deza geförderte Schweizer Projekt cewas (internationales Wassermanagement-Zentrum), das Start-ups im Wasser- und Abwasserbereich unterstützt. In Palästina, Jordanien und im Libanon haben in den letzten 3 Jahren insgesamt 65 Start-ups und Unternehmen mit Hilfe von cewas Middle East innovative Lösungen für den Wasser-, Abwasser-, und Abfallsektor initiiert. Diese Start-ups haben bis heute mehr als 200 Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen. Die jungen Gründer der Firma Clean2O nahmen am cewas-Ausbildungsprogramm teil und entwickelten einen Wasserfilter, der einen einfachen Zugang zu Trinkwasser ermöglicht, zum Beispiel bei einer humanitären Krise. 

Quelle: www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen/rss-feeds/nach-themen/medienmitteilungen-und-reden.msg-id-73887.html

 

«Es kommt auf die Lehrerprofessionalität an!»

Gedanken zum neuen Buch von John Hattie und Klaus Zierer¹

von Judith Schlenker

«So ein alter Hut! Das haben wir doch schon immer gesagt!» – das könnten Kommentare über das obige Zitat aus dem neuen Buch des australischen Bildungsforschers John Hattie sein, das er zusammen mit dem Augsburger Schulpädagogik-Professor Klaus Zierer zehn Jahre nach seinem ersten Erfolg mit «Visible Learning»  (Lernen sichtbar machen) herausgebracht hat. Das Fazit ist und bleibt, dass es im Unterricht auf die Professionalität des Lehrers und seine Haltung gegenüber den Lernenden ankommt.

Dazu sagt Hattie: «Eine gute Lehrperson setzt hohe Erwartungen. Sie schafft ein fehlerfreundliches Klima in der Klasse, stellt auch ihr Handeln immer wieder infrage, evaluiert ihren eigenen Unterricht fortlaufend […]. Dabei hat sie nicht nur die dafür notwendigen Kompetenzen. Viel wichtiger sind die Haltungen, die sie mitbringt und in ihrem Denken und Handeln trägt.»¹ Und genau das ist es, was jeder erfahrene Lehrer bestätigen kann. Und dennoch wird in der Schulpolitik alle Jahre wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben, politisch korrekt, sogenannt innovativ und meist zu nicht viel nutze. So wird heute von «digitaler Bildung» gesprochen, was ein Widerspruch in sich ist, denn Bildung ist etwas, was die Seele berührt und genau diese fehlt den digitalen Maschinen. Statt den Kindern eine gute, solide Grundbildung mitzugeben, die sie befähigt, in unserer komplexen Welt ihren Platz zu finden, wird herumexperimentiert und auf dem Rücken der Schwächsten ideologische Grabenkämpfe ausgefochten.

Worauf es im Klassenzimmer ankommt

In dieser Situation tut es not, innezuhalten und sich zu überlegen, was denn nun wirklich zählt im Klassenzimmer. Schauen wir uns an, was Hattie/Zierer zu einigen Aspekten sagen:

Da ist zum einen die Klassengrösse. Es ist eine «alte» Forderung vieler Lehrer und Lehrerverbände, die Klassen kleiner zu machen, um den Lehrer zu entlasten. Dieser Faktor wirkt aber nur dann, wenn kleinere Klassen auch heissen, dass der Lehrer den Lernenden mehr Zeit für ihre Tätigkeiten einräumt. Er muss seine Lehrmethoden so ändern, dass er die Lernenden stärker in den Unterricht einbindet, seinen Unterricht immer wieder hinterfragt und verbessert, und sich verantwortlich fühlt für die ihm anvertrauten Lernenden. Die Klassengrösse spielt daher nur eine untergeordnete Rolle; wichtig ist die innere Haltung des Lehrers.

Schüler fordern und an ihre Grenzen bringen

Um Lehrerstellen einzusparen, vielleicht auch um letztlich den Lehrer als Person ganz abzuschaffen, beginnt man damit, den Lehrer zum Moderator von Lernprozessen zu machen. Es gibt wenig Evidenz, dass allein das Zur-Verfügung-Stellen von Material und Gelegenheiten zum Lernen ausreichen, damit die Schülerinnen und Schüler sich natürlicherweise entwickeln. Ein Lehrer muss den Unterricht so planen, dass er die Lernenden herausfordert, sie an ihre Grenzen bringt, sie so verändert und ihnen verdeutlicht, dass sie der Macher ihres Erfolges sind. Wenn Schüler sich selber Ziele setzen, sind dies zumeist eher bescheidene Ziele, unterhalb ihres Normalniveaus. Erfolg stellt sich aber nicht ein, wenn die Ziele zu bescheiden sind. Der Lehrer sollte sich eher als Regisseur denn als Moderator verstehen.

Klima des Vertrauens und Möglichkeit, Fehler machen zu können

Jeder Lehrer überlegt sich am Ende seines Unterrichts, ob und was die Schüler gelernt haben und sieht spätestens in der nächsten Klassenarbeit, wie viel von allem Bemühen hängen geblieben ist. Neudeutsch heisst das jetzt Feedback – und es ist eines der effektivsten Instrumente gelingenden Unterrichts, allerdings nur dann, wenn es dem Schüler eine Rückmeldung darüber gibt, wo er richtige und wo er falsche Wege gegangen ist, und wenn das Feedback so formuliert ist, dass der Lernende es versteht und nutzen kann. Dazu braucht es ein Klima des Vertrauens und die Möglichkeit, Fehler machen zu können. Der Lehrer muss seinen eigenen Unterricht mit den Augen der Lernenden sehen und ihn ständig hinterfragen und verbessern. 

Kooperation mit Schülern und Kollegen

Lehrer haben oft eine starke Vorstellung von dem, was sie im Unterricht als wirksam erachten. Leider übersehen sie dabei manchmal, dass sie völlig falsch liegen. Wichtig wäre, dass sie eine Haltung haben, bei der sie zugeben können, dass ihr Unterricht zu wenig erreicht, dass sie sich infrage stellen und Veränderungen wagen können. Das ist es, was man unter Professionalität versteht. Dabei ist es auch hilfreich, wenn Lehrer in der Lage sind zu kooperieren und sich nicht als Einzelkämpfer verstehen. Und es bedarf guter Fortbildungen, insbesondere in den ersten Berufsjahren, in denen die Weichen für die weiteren Jahre gestellt werden.

Klar strukturierter Unterricht

Junglehrer verlassen sich häufig auf das Schulbuch und das dazugehörige Begleitmaterial, das in Zeiten des PC, der Whiteboards, Tablets und Smartphones immer umfangreicher wird, weil sich dahinter ein riesiger Markt verbirgt. Wenn es gut strukturiert, verständlich und an die Anforderungen angepasst ist, kann dieses Material ebenso wie Erlebnispädagogik, Programme zur Förderung der Sozialkompetenz oder Programme zur Förderung der Rechtschreibung einen grossen Effekt auf die schulische Leistung der Lernenden haben. Curriculare Programme wirken allerdings nur dann, wenn sie im Hinblick auf Ziele, Inhalte und Methoden des Unterrichts strukturiert und klar sind und sich gut umsetzen lassen. Der Einfluss curricularer Programme ist abhängig davon, wie gut sie sich durch die Lehrpersonen umsetzen lassen. Ein Mathematik-Lehrbuch der Grundschule, das heute Mengenumrechnungen und morgen Divisionsaufgaben macht, ohne vorher die Zahlenreihen eingeführt und geübt zu haben, verfehlt sein Ziel und verwirrt die Kinder nur. Also muss es doch wieder der Lehrer strukturieren und ordnen.

Wer nicht weiss, wohin er will, muss sich nicht wundern, wenn er nicht ankommt. Früher formulierte der Bildungsplan noch Lernziele, heute ist es ein Wust von Kompetenzen, Teilkompetenzen und Unterkompetenzen. Mit viel Wohlwollen könnte man diese Kompetenzen als Zielvorgaben ansehen. Sie wirken allerdings nur dann gut, wenn nicht nur die Lehrpersonen Klarheit über die Ziele des Unterrichts haben, sondern diese Klarheit auch bei den Lernenden besteht und beide sich einig sind über das weitere Vorgehen. Der Lehrer führt auf didaktisch geschickte Weise durch den Unterricht und bezieht die Eigenaktivität der Lernenden mit ein. Wichtig ist immer, dass die Lernenden wissen, worum es geht, was sie zu tun haben und womit sie arbeiten sollen.

Und womit sollen sie arbeiten?

Auseinandersetzung
mit der realen Welt

Ja, endlich heraus aus der Steinzeit und hinein in die Neuzeit mit digitalen Medien wie Computer, Tablets, Internet, Whiteboards. Dabei ist uns nichts zu teuer. Aber allein die Tatsache, dass diese Dinge im Klassenzimmer vorhanden sind, heisst nicht, dass sie von sich aus positiv auf den Lernerfolg einwirken. Warum schicken wohl so viele Software-Nerds aus dem Silicon Valley ihre Kinder auf Smartphone-freie Waldorfschulen? Warum raten Hirnforscher vom allzu frühen Gebrauch von Tablets ab? Weil sie wissen, wie schädlich diese Dinge für die Entwicklung des Gehirns und des Gemüts von Kindern und Jugendlichen sind und weil sie wollen, dass ihre Kinder sich mit der realen Welt auseinandersetzen, nicht mit der virtuellen.

Fürsorge, Kontrolle und Klarheit

Worauf kommt es also wirklich an? Die Kernbotschaft lautet nach Hattie/Zierer: «Lehrpersonen müssen Experten für Unterricht sein, pädagogische Expertise wird sichtbar, indem das Handeln der Lehrpersonen durch Fürsorge, Kontrolle und Klarheit gekennzeichnet ist, der Unterricht Herausforderungen bietet, Faszination auslöst, dabei den Meinungen der Schülerinnen und Schüler Gehör verleiht und zu solidem Wissen führt. All das ist notwendig und muss weiterentwickelt werden.»² Der Lehrer muss also den Stoff beherrschen, ihn pädagogisch aufbereiten und didaktisch gut strukturieren. Daneben ist eine vertrauensvolle Lehrer-Schüler-Beziehung Garant für einen guten Einfluss auf die schulischen Leistungen der Lernenden. Aber auch die Kooperation mit den Kollegen und mit dem Elternhaus auf Augenhöhe zum Wohl des Kindes ist unerlässlich. Schliess­lich hat das Elternhaus einen massgeblichen Einfluss auf die schulischen Leistungen, die mit strukturellen Veränderungen von Schule nicht massgeblich beeinflusst werden können.

Erfolgreiches Lernen erfordert vom Lernenden, dass er sich einsetzt und anstrengt, dass er in der Lage ist, zu kooperieren und sich auszutauschen. Die Beziehungen im Klassenraum müssen positiv sein, Fehler dürfen gemacht werden. Der Lehrer als Person fordert die Schüler heraus, aber er unterfordert oder überfordert sie nicht und gibt ihnen Rückmeldung im Gespräch. Er ist seinen Schülern ein echtes Gegenüber, nimmt sie ernst und ist Vorbild im positiven Sinne. Wichtig für den Lehrer ist immer: Kenne deinen Einfluss! – und man möchte angesichts der gegenwärtigen Diskussion um den Lehrer als «Lernbegleiter» oder «Moderator von Lernprozessen» noch hinzufügen: Nutze ihn!

¹ John Hattie & Klaus Zierer: Visible Learning. Auf den Punkt gebracht, Schneider Verlag Hohengehren 2018, ISBN 978-3-8340-1880-9
² A.a.O., S. 13
³ A.a.O., S. 139

Die staatliche Souveränität höher gewichten als das Rahmenabkommen

von Thomas Kaiser

Die Diskussion um das Rahmenabkommen nimmt immer groteskere Züge an. Die Töne aus der EU sind haarsträubend und zeigen einmal mehr, dass es in den Ländern rund um die Schweiz wenig Kenntnis über unser Land und somit auch wenig Verständnis für die politischen Abläufe in der direkten Demokratie gibt. 

Von Exponenten der EU war zu vernehmen, dass der Bundesrat den Vertrag doch hätte unterschreiben und positiv in der Öffentlichkeit darstellen müssen, anstatt eine Konsultation durchzuführen. Dass das Volk in der Schweiz ein entscheidendes Wörtchen mitzureden hat, ist anscheinend für die Vertreter der EU keine Dimension. Auch folgen die Menschen nicht blindlings dem Bundesrat, sondern bilden sich ihre Meinung selbst. 

Keine demokratische Mitsprache mehr möglich

In der Schweiz werden aber Stimmen laut, die vor allem wirtschaftliche Argumente in die Waagschale werfen, die letztlich nur Kaffeesatzlesen bedeuten und nicht klar beurteilt werden können. Wenn man daran denkt, welches Szenario die Befürworter des EWR damals an die Wand malten, falls die Bevölkerung den Beitritt dazu ablehnen würde, kann man sich vorstellen, wie viel Aussagekraft die derzeitigen negativen Prognosen haben. 

Was aber offensichtlich ist und thematisiert werden muss, ist der Verlust an staatlicher Souveränität. Es ist ganz klar, durch den «autonomen» Nachvollzug, wie er von der EU gefordert und von den Befürwortern des Vertrags in seiner Auswirkung verharmlost wird, wäre in weiten Bereichen keine demokratische Mitsprache mehr möglich.

Es befremdet, dass in der Argumentation des Bundesrates die Einschränkung der staatlichen Souveränität kaum Beachtung findet.

Errichtung eines europäischen Überstaates 

In einer Stellungnahme des Bundesrates von 1960, also nach der Verabschiedung der Römischen Verträge, die den Grundstein der heutigen EU gelegt haben, wird deutlich, dass die Gründung der EWG damals eindeutig als «die Errichtung eines europäischen Überstaates»¹ wahrgenommen wurde und dass «die Autonomie der einzelnen Mitgliedstaaten auf wichtigen Wirtschaftsgebieten immer mehr durch die Tätigkeit von Organen, die den Einzelstaaten übergeordnet sind, eingeschränkt wird.»² 

Auch war dem Bundesrat damals völlig klar: Ein Beitritt zu dieser Organisation ist mit der direkten Demokratie und der Souveränität des Landes nicht vereinbar: «Jedenfalls wäre es mit der verfassungsmässig festgelegten demokratischen Willensbildung in unserem Lande unvereinbar, wenn die Wahrung der Interessen des Schweizervolkes in Bezug auf die Handels-, Sozial-, Arbeitsmarkt-, Agrar- und Fiskalpolitik an Organe, die ihm nicht verantwortlich sind, übertragen würde.»³ 

Will uns der Bundesrat an die EU verkaufen?

Erhalt der direkten Demokratie

Man reibt sich die Augen und fragt zu Recht: Warum spielt der Souveränitätsgedanke heute beinahe gar keine Rolle mehr oder nur noch eine untergeordnete? Will man uns tatsächlich glauben machen, dass das Rahmenabkommen unsere Souveränität entweder gar nicht oder nur rudimentär tangiert? 

Auch ist offensichtlich, damals, also 1960, wurde der Erhalt der direkten Demokratie und der Grundzüge unseres Staatswesens wesentlich höher gewichtet als mögliche wirtschaftliche Einbussen. Man war sich bewusst: Eine Annäherung an die EU – zu diesem Zeitpunkt noch EWG und weit weniger mächtig – ist unter keinen Umständen mit dem Schweizer System vereinbar. 

Die demokratische Ausgestaltung der Schweiz hat sich seit 1960 nicht verändert. Aber die Entwicklung der EWG hin zur EU war mit einem gewaltigen Souveränitäts- und Demokratieverlust der einzelnen, Mitgliedstaaten verbunden. In den EU-Staaten, davon geht man heute aus, werden etwa 80 Prozent der Gesetzgebung in Brüssel entschieden, und die Staaten übernehmen diese Gesetze im «autonomen» oder «dynamischen» Nachvollzug. Nicht anders würde es der Schweiz nach Abschluss des Rahmenabkommens ergehen. 

Die Schweiz durch einen staatspolitischen Willensakt zusammengeführt

Doch neben dem drohenden Verlust an Mitsprache und dem damit verbundenen Abbau an direkter Demokratie betont der Bundesrat 1960 auch die Besonderheit der Mehrsprachigkeit und die Bedeutung der Willensnation, die im aussenpolitischen Handeln grosse Sorgfalt verlangen. «Eine Nation, die nicht durch die Einheitlichkeit der Sprache, der Kultur und des Volkstums, sondern durch einen staatspolitischen Willensakt zusammengefügt ist, kann sich nicht auf eine allmähliche Aushöhlung ihrer staatlichen Selbstständigkeit einlassen [...].»⁴ 

Die Haltung des Bundesrats von 1960 würde unserem heutigen Bundesrat gut anstehen. Er muss diesen staatspolitischen Grundlagen mehr Gewicht geben und die Bevölkerung offen und ehrlich informieren, dass die Unterzeichnung des Rahmenabkommens eine grosse Einschränkung der staatlichen Souveränität bedeutet. ν

¹ Das Werden der modernen Schweiz, 2.Bd., Basel 1989, S. 139f.
² ebd.
³ ebd.
⁴ ebd.

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