Bundesbern distanziert sich von Trumps Säbelrasseln gegen Putin

von Niklaus Ramseyer*

Eine Panzerdivision der US-Army marschierte, unterstützt von «Nato-Partnern», mitten in der Corona-Krise mit schwerem Kriegsgerät quer durch Europa in Richtung Russland. «Ohne uns!» hatte Bundesbern lange zuvor schon signalisiert. Jetzt hat das Corona-Virus das US-Grossmanöver jäh gestoppt.

«Das Virus stoppt den Panzer nicht!» So hatte man in Deutschland noch im Februar in Schlagzeilen lesen können. Gemeint war konkret der Kampfpanzer M1-Abrams der US-Army: Knapp 10 Meter lang, 3 Meter 70 breit, fast 3 Meter hoch und mit einer Glattrohrkanone des Kalibers 12 cm von Rheinmetall (Deutschland) bestückt, ist der eine eindrücklich protzige Erscheinung. Die Gasturbine, die den 60 Tonnen schweren amerikanischen MBT (Main Battle Tank) mit 1500 PS antreibt, heult zudem furchterregend. Seit Januar schon hatte die US-Army Dutzende dieser Kampfmaschinen mit Transportschiffen quer über den Nordatlantik zu EU-Häfen gebracht und sie dort aus- und auf Tiefgang-Bahnwagen verladen. Eine ganze US-Panzerdivision sollte quer durch Deutschland bis zur russ­ischen Westgrenze in Ost-Polen vorstossen. Ab Mai wollte diese US-Streitmacht dann mit Gefechtsübungen «deutliche Signale der Abschreckung» in Richtung Moskau aussenden. Der Name dieses Manövers: «Defender Europe 2020».

Corona-Virus schlägt US-Army in die Flucht

Aus und vorbei! Mitte März schon hat «das Virus den Panzer nun eben doch gestoppt». Um den Schein und das Gesicht zu wahren werden ein paar der M1 Tanks auf deutschen Waffenplätzen (Munster, Grafenwöhr) wohl noch ein paar Übungsgranaten in die Zielhänge verschiessen («gunnery and other combined training events with Allies», wie dies in der Medienmitteilung des US-Oberkommandos heisst).¹

Doch faktisch ist das Manöver «Defender Europa 2020», dem zuvor schon ein «Freeze» (Marschhalt) befohlen worden war, definitiv abgebrochen. Für jene rund 6000 US-Soldaten, die als Vorhut der geplanten Defender-Streitmacht von 37 000 Mann schon bis nach Deutschland und Polen in Bereitschaftsräume vorgerückt waren, gilt per sofort: «Halt, sichern, entladen, einrücken und retablieren – die Übung ist aus.» Diesen US-Truppenteilen hilft die Bundeswehr (Streitkräftebasis) derzeit nun beim Rückzug und Materialrückschub ebenso, wie sie deren Aufmarsch quer durch Deutschland und Polen als «Hostess» (Gastgeberin) willig und unter Millionenkosten unterstützt hatte. 

Der Hauptharst der US-Streitmacht, die in Polen (10 000 Kilometer entfernt von ihren Heimatbasen in Ohio, Idaho oder Kentucky) mit schwerem Kriegsgerät und 20 000 Mann stark «den Russen» hatte «abschrecken» wollen, macht derweil unverrichteter Dinge rechtsumkehrt.

US-Navy dampft zurück nach Amerika

All jene Transportschiffe der US-Navy, die ihre Fracht noch nicht in EU-Häfen gelöscht haben, müssen hart Ruder legen zur Kurskorrektur um 180°– und dampfen westwärts über den Nordatlantik zurück nach Amerika. Noch geplante Truppentransportflüge aus den USA nach Deutschland sind gecancelt. Gefechtsübungen mit scharfen Schuss mit abschreckenden Namen wie «Schwert-Hieb» oder «Schneller Gegenangriff» und «Dynamische Front» finden nicht statt. 

Kurzum: Das Virus hat mit «Defender-Europe 2020» die grösste Militärübung der USA in Europa seit Jahrzehnten vereitelt. Im direkt betroffenen Deutschland, überall als «Nato-Manöver» bezeichnet, wäre es genau genommen eine Übung der US-Streitkräfte unter US-Kommando gewesen. Unter «Beteiligung von 17 willigen Nato-Partnern» allerdings. Insgesamt 37 000 Soldaten wurden für die Übung aufgeboten und mobilisiert. Davon trafen schon seit Januar die ersten der 20 000 vorgesehenen Mann US-Truppen mit schweren Waffen und Ausrüstung auf Transportschiffen und mit Transportflugzeugen aus den USA in Europa ein. 

Dies zusätzlich zu jenen über 100 000 Mann US-Besatzungstruppen, die seit dem 2. Weltkrieg (seit nun über 70 Jahren also) als «The United States Army Europa» permanent auf Dutzenden von Stützpunkten in den meisten Ländern Europas (mit Ausnahme der Schweiz, Österreichs und Frankreichs etwa) stationiert geblieben sind – der grösste Teil davon in Deutschland. In jenem Land also, aus dem umgekehrt die russischen Truppen sofort nach der «Wende» abgezogen sind. 

Trumps «grosser Marsch in den Osten»

Deutschland und seine Militäreinrichtungen dienten für die US-Übung denn auch als «Drehscheibe» (wie die Bundeswehr selber sagte). Die «Süddeutsche Zeitung» nannte das Manöver mitunter den «Grossen Marsch in den Osten». Gefechtsübungen waren für Mai 2020 nicht nur in den militärisch unsicheren Oststaaten Polen, Litauen oder Lettland geplant gewesen, sondern sogar auch in Georgien.² 

Der kleine ehemalige Sowjet-Staat ist zwar (noch) nicht Nato-Mitglied aber «Partner» des Nordatlantik-Pakts im Rahmen der «Partnership for Peace (PfP)». 

Die neutrale Schweiz marschiert nicht mehr mit

Diese PfP ist ein Konstrukt, mit dem die US-Militärführung militärpolitisch weniger solide Staaten an «ihre» Nato anbinden und für den Beitritt vorbereiten will. Auch die doch sehr stabile, neutrale Schweiz macht da immer noch mit. 1996 haben die Bundesräte Adolf Ogi (SVP) und Flavio Cotti (CVP) im Zuge der damaligen Öffnungs-Euphorie unser Land unter Mithilfe der Landesregierung und der Räte – ohne jegliche Abstimmung jedoch und also am Volk vorbei – in diese militärische Partnerschaft mit dem Nordatlantik-Pakt hinein geritten. Im Nato-Hauptquartier in Brüssel/Mons pflegen seither ein Schweizer Botschafter und ein Einsterngeneral (Brigadier) permanent die «Partnerschaft» der neutralen Schweiz mit jener Nato, die inzwischen weniger Europa verteidigt als vielmehr weltweit (bis nach Afghanistan) den US-Truppen hilft, fragwürdige bis verheerende «Interventions-Kriege» zu führen. 

Schweizer Truppen oder einzelne Offiziere machten entgegen der Neutralität unseres Landes wegen dieser PfP in Europa auch immer wieder bei Nato-Planungen und Manövern mit. Besonders «partnerschaftlich» mit der Nato fühlt sich die Schweizer Luftwaffe. So flog sie etwa 2015 in einer ähnlichen Russland-Abschreck-Übung wie nun Defender 2020 namens «Arctic Challenge Exercise» mit acht ihrer Abfangjäger vom Typ F/A-18 im hohen Norden oben Nato-Bombern hinterher, der russischen Grenze entlang. 

Darauf angesprochen, musste der damalige Schweizer Wehrminister Ueli Maurer (SVP) dann im Bundesmedienzentrum in Bern während einer seiner Pressekonferenzen einräumen, für die Glaubwürdigkeit unserer Neutralität sei dieser «Ausflug» wohl eher «nicht sehr klug» gewesen. Zu einer weiteren grossen Nato-Übung gegen Russ­land in Norwegen delegierte Maurers Nachfolger im Schweizer Verteidigungsministerium (VBS), Guy Parmelin (SVP), im Oktober 2018 dann nur noch «Beobachter» ab.³

Dessen Nachfolgerin, CVP-Bundesrätin Viola Amherd, geht nun noch deutlicher auf Distanz zu den jüngsten US-Kriegsspielen unter Nato-Mithilfe. Die Absage aus dem Bundeshaus Ost war diesmal jedenfalls klar und deutlich: «An dieser Übung nimmt niemand aus der Schweiz teil», antwortete eine Sprecherin der ersten Schweizer Verteidigungsministerin auf Anfrage. Sie betonte: «Von der Schweizer Armee sind auch keine Beobachter oder Verbindungsoffiziere an der Übung beteiligt oder vor Ort.»

Für diesen politisch «geordneten Rückzug» hat man in Bern natürlich juristisch-diplomatische Erklärungen (die Übung geht von keinem Uno-Mandat aus, geprobt wird ein Nato-Verteidigungsfall, ist gar keine Nato-Übung etc.) schnell parat. Erfreulich ist die Rückbesinnung auf unsere Neutralität so oder so. Eventuell gäbe es im neuen grüneren Schweizer Parlament inzwischen gar vernünftige Mehrheiten, für einen raschen Rückzug der Schweiz aus der neutralitätspolitisch längst fragwürdigen bis schädlichen Nato-Partnerschaft (PfP). 

«Der Russ» schreckte Trump mehr, als das Virus

Auf Distanz zum massiven US-Militäraufmarsch «an der Ostfront», wie es in Deutschland mitunter nun (wieder) hiess, ging derweil auch die deutsche Bevölkerung schon Anfang Jahr. In den Hafenstädten, wo das schwere US-Kriegsgerät an Land gebracht wurde, kam es zu Demonstrationen. Der DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) publizierte einen Aufruf gegen das Manöver.⁴ 

Friedensbewegungen und «Die Linke» kritisierten die SPD scharf, welche als Teil der Grossen Koalition (Bundesregierung in Berlin) bei Trumps gefährlichen Kriegsspielen einmal mehr auch mitmachte. Die Linke hatte im Bundestag einen Vorstoss deponiert, der den sofortigen Abbruch der US-Übung und Rückzug der Panzer-Truppen in die USA forderte. Dies vor allem auch dem Corona-Virus wegen. Nach Trumps Einreiseverbot gegen alle EuropäerInnen im Schengen-Raum erst recht. 

Doch der US-Präsident fürchtete bis Mitte März immer noch eher «den Russ» als das Virus: Sogar Nato-Truppen aus dem Viren-verseuchten Italien sollten bei Defender 2020 in Osteuropa mitmarschieren. Und selbst nachdem auf einer US-Truppenbasis in Bayern ein Fall von Corona-Ansteckung festgestellt worden war, lief die Übung weiter. Trumps General Andrew «Andi» Rohling meinte auf eine Frage dazu vor der Presse, auch medizinisch und sanitarisch sei sein Manöver Defender 2020 ja doch «sehr robust». 

Mit Datum vom 12. März teilt er dann aber doch mit, des Virus' wegen werde die Zahl der an seinem Ostaufmarsch teilnehmenden Soldaten «reduziert» – und das Manöver «der Lage angepasst». Und nun also der totale Abbruch der Übung. 

US-Wüstenpanzer in Ostpreussen

Die Schweiz kann einmal mehr stolz sein, dass sie (trotz aller Nato-Partnerschaft) bei dem Unfug von Anfang an nicht mitgemacht hat. Dies umso mehr, als das Säbel- und Kettengerassel vor Russlands Grenze teils ohnehin eine Lachnummer war: Die Kampffahrzeuge der US-Army, die nach Osten rollen sollten, sind fast alle sandfarben. Sie passen eher in die Wüste Syriens (wo die US-Kriegsmacht gerade erst kläglich zum Rückzug hat blasen müssen), als ins dunkelgrüne Gelände Ostpreussens. Da gäbe ein sandbeiger US-Panzer M1-Abrams am Rande eines Tannenwaldes für den russischen «Tankist» in seinem T-14 (Armata) jedenfalls eine treffliche Zielscheibe ab. Und Russlands Generälen hätte die hellbeige «Tarnfarbe» die Beobachtung und Überwachung der US-Truppenbewegungen an ihrer Grenze enorm erleichtert. Diese Generäle stellen nun verwundert fest, dass diese angedrohten Bewegungen gar nicht statt finden: Das Corona-Virus hat die mächtigste Kriegsmacht der Welt gestoppt und in die Flucht geschlagen – und so sogar ein biss­chen den Frieden gefördert. ν

¹ www.eur.army.mil/Newsroom/Releases-Advisories/Press-Releases-Article-View/Article/2113178/exercise-defender-europe-20-update/
² www.bundeswehr.de/resource/blob/173942/0acfc530295f8f47a2111430627a93ab/informationspaket-data.pdf
³ www.infosperber.ch/Artikel/Politik/Schweiz-NATO-Manover-Teilnahme-Beobachtung
www.dgb.de/downloadcenter/++co++19454 efa-5936-11ea-a452-52540088cada

Quelle: https://www.infosperber.ch/Artikel/Politik/Corona-Virus-schlagt-US-Army-in-die-Flucht1

* Niklaus Ramseyer ist Journalist in Bern. Er schrieb u. a. für den Tages-Anzeiger, die SonntagsZeitung und die Basler Zeitung. 

 

«Wir sind einer massiven Attacke ausgesetzt, die von den USA geführt wird»

Zur Rede des venezolanischen Aussenministers, Jorge Arreaza, vor dem Uno-Menschenrechtsrat

von Thomas Kaiser

Der venezolanische Aussenminister, Jorge Arreaza, hielt in der ersten Woche der Frühjahrssession des Uno-Menschenrechtsrats in Genf eine Rede, in der er vor allem die Sanktionspolitik der USA als «Verbrechen gegen die Menschheit» kritisierte.

Der Aussenminister zeigte in aller Deutlichkeit auf, welche Auswirkungen diese Sanktionen auf sein Land und die dort lebende Bevölkerung haben. Besonders die wirtschaftlichen Auswirkungen sind immens. Nach Aussenminister Arreaza haben «die einseitigen Zwangsmassnahmen [...] zu einem Rückgang von 90 Prozent der Öleinnahmen geführt.» Dabei gehen die USA gegen alle Staaten und Firmen vor, die mit Venezuela weiter zusammenarbeiten wollen: «Die USA haben angekündigt, Schiffe zu belangen, die venezolanisches Öl transportieren, und Firmen, die mit Venezuela zusammenarbeiten, zu bestrafen.» Das Bestreben des venezolanischen Präsidenten, Nicolás Maduro, liege darin, «mit seiner Politik die Auswirkungen der Sanktionen zu brechen.» Doch die Situation hat verheerende menschliche Konsequenzen, denn als direkte Folge der Finanzblockade und der Sanktionen sind bereits zehntausende Menschen verstorben, wie von den Professoren Jeffrey Sachs und Mark Weisbrot festgestellt. Das Leiden der Bevölkerung ist gravierend. «Die Bolivarische Regierung versucht, die Hungersnot zu mildern, aber wir sind einer massiven Attacke ausgesetzt, die von den USA geführt wird im vollen Bewusstsein, welche Auswirkungen das hat. Die Bevölkerung leidet massiv. Das Vorgehen ist geplant und die USA verfolgen damit ihre politischen Ziele, die völkerrechtswidrig sind.» 

Jorge Arreaza (rechts) und der kubanische Aussenminister, Bruno Rodríguez, (Mitte) im Saal des Uno-Menschenrechtsrats in Genf. (Bild ZiF)

Jorge Arreaza (rechts) und der kubanische Aussenminister, Bruno Rodríguez, (Mitte) im Saal des Uno-Menschenrechtsrats in Genf. (Bild ZiF)

 

Der Aussenminister, der bei seiner Rede kein Blatt vor den Mund nahm, geisselte den Zynismus der USA, die via Aussenministerium verlauten liessen, dass der Druck auf Venezuela «erst die Stärke  von 50 Prozent erreicht habe und sie ihn noch auf 100 Prozent erhöhen könnten.»

Es sind die Bodenschätze

In dieser für sein Land und die Bevölkerung schwierigen Situation fordert er vom Uno-Menschenrechtsrat, sich für die Einhaltung der Menschenrechte und des Völ­kerrechts einzusetzen: «Der Menschenrechtsrat muss aufstehen und sich für die Rechte des venezolanischen Volkes, des iranischen Volkes, des kubanischen Volkes, der afrikanischen Völker einsetzen, damit sie ihre Bodenschätze für ihre Gesellschaft verwenden und ihr eigenes souveränes politisches System wählen können.»

Mit dieser Aussage hat er den Grund für die Politik der USA benannt. Es geht um den Reichtum an Bodenschätzen einiger Länder, an deren Ausbeutung die Industrienationen federführend sind. In Venezuela gibt es neben den grossen Erdölvorkommen noch weitere Bodenschätze, die ebenfalls ein Objekt der Begierde darstellen.

Um der offensichtlichen Willkür der USA zusammen mit ihren Verbündeten Einhalt zu gebieten, wandte sich Venezuela an den Internationalen Strafgerichtshof. Dabei machte der Aussenminister klar, dass Venezuela die USA «für diese Form des ökonomischen Terrors und einseitiger Zwangsmassnahmen verantwortlich machen». Die Regierung Venezuelas verlangt «eine internationale Strafuntersuchung mit dem Ziel, die Straftäter zur Verantwortung zu ziehen».

Tausende von Toten aufgrund der Sanktionen

In seiner Rede erwähnte er, dass sowohl die amtierende Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michele Bachelet, als auch der ehemalige Unabhängige Uno-Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationale Ordnung, Alfred de Zayas, auf die tödlichen Auswirkungen der Sanktionen hingewiesen hätten. Letzterer unterstütze als Völkerrechtler die Idee, die Sanktionen und deren Auswirkungen vor den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) zu bringen.¹ Aussenminister Arreaza erwähnte auch die Einreichung einer formellen Beschwerde bei der ICC-Chefanklägerin Fatou Bensouda am 13. Februar 2020 in Den Haag. Diese erstaunliche Ankündigung wurde jedoch von den Mainstream-Medien bisher ignoriert. Diejenigen, die im Saal waren, haben es gehört. Diejenigen, die alternative Medien lesen, wissen davon. Aber die «New York Times» und die «Washington Post» berichten nicht darüber.

Am Schluss betonte der Aussenminister, dass es um die Würde seines Landes und seines Volkes gehe, um das Prinzip der Volkssouveränität und um die Geltung der Uno-Charta. Auch nahm er die übrigen Nationen in die Pflicht, sich für die Einhaltung des Völkerrechts einzusetzen. Nur so könne das System des Multilateralismus bestehen bleiben.

¹ https://ap.ohchr.org/documents/dpage_e.aspx?si=A/HRC/39/47/Add.1, Absatz 36, 71, 72

«Sanktionen töten»

Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Professor Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Professor Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Der venezolanische Aussenminister, Jorge Arreaza, hat vor dem Menschenrechtsrat eine eindrückliche Rede gehalten und insbesondere die verheerenden Auswirkungen der Sanktionen angeklagt. Wie beurteilen Sie seine Sichtweise aus völkerrechtlicher Sicht?

Professor Alfred de Zayas Aus völkerrechtlicher Sicht ist es ganz klar: Kollektivstrafen sind illegal. Alle Strafen, die die gesamte Bevölkerung treffen, und wenn dazu noch viele Menschen als Folge dieser Massnahmen sterben, dann sind diese Sanktionen illegal. Im System der Uno gibt es den Sonderberichterstatter über einseitige Zwangsmassnahmen, die z. B. die USA oder die EU gegen Iran oder Syrien, gegen Russland, Kuba oder gegen Venezuela verhängt haben. Der Menschenrechtsrat selbst hat unilaterale Zwangsmassnahmen verurteilt, und die Uno-Generalversammlung hat siebenundzwanzigmal verlangt, dass die Sanktionen gegen Kuba aufgehoben werden. Die einzigen Sanktionen, die legal sind, sind solche, die vom Uno-Sicherheitsrat verhängt werden, nämlich unter Kapitel 7 der Uno-Charta.

Unter welchen Umständen ist das möglich?

Es muss festgestellt werden, dass eine gewisse Gefahr für den Weltfrieden besteht. Wenn gemäss Artikel 39 eine solche Feststellung getroffen worden ist, dann kann man gewisse Massnahmen unter Artikel 41 verabschieden. Das kann nur der Uno-Sicherheitsrat.

Aber auch dort müssen die Sanktionen die Menschenrechte der unschuldigen Völker berücksichtigen. Die drakonischen Sanktionen, die der Sicherheitsrat gegen den Irak 1991 bis 2003 verhängte, waren sicherlich inkompatibel mit Artikel 24 der Uno- Charta. Zwei Uno-Untergeneral-Sekretäre der Vereinten Nationen sind deswegen aus Protest gegen die Sanktionen zurückgetreten.

Dass einzelne Staaten Sanktionen verhängen, ist nicht erlaubt. Obwohl die US-Sanktionen eine grobe Verletzung des Völkerrechts darstellen, ist es schwierig, die USA dafür zu belangen.

Gibt es kein internationales Gericht, das die Kompetenz hätte, darüber zu befinden?

Die USA haben die Rechts­sprechung des Internationalen Gerichtshofs schon seit den 1980er Jahren abgelehnt. Und die wenigen Urteile, die trotz US-Drohungen und Pressionen ergangen sind, wurden von den USA ignoriert.

Dann gab es also Urteile gegen die USA. Welche waren das?

Das geschah z. B. im Fall der illegalen US-Intervention in Nicaragua, als die USA die «Contras» mit Waffen belieferten. Die Urteile gegen die USA ergingen 1985 und 1986. Dann kamen mehrere Fälle, bei denen die «Wiener Konvention über konsularische Beziehungen» durch die USA verletzt worden war, und zwar im Fall der deutschen LaGrand-Brüder in Texas, die ohne rechtmässiges Verfahren und ohne Benachrichtigung des deutschen Konsuls zum Tode verurteilt wurden. Eine einstweilige Verfügung des Internationalen Gerichtshofs gegen die Vollstreckung der Todesstrafe nützte nichts, und die beiden Brüder wurden hingerichtet. Dasselbe ist mit etlichen Mexikanern passiert. Im berühmten Fall Avena bestraften die USA 52 Personen. Auch hier haben die USA auf Ersuchen des Internationalen Gerichtshofs nicht eingelenkt. Im Grunde genommen besteht eine Kultur der Straflosigkeit, einer absoluten Impunität seitens der USA.

Welche Möglichkeiten bestehen im Fall von Venezuela, die USA zur Rechenschaft zu ziehen?

Was ganz neu ist – allerdings habe ich das bereits in meinem Bericht A/HRC/39/47Add.1 dem Menschenrechtsrat vorgeschlagen – ist, dass man, wenn Sanktionen töten und die Anzahl der Opfer so gewachsen ist, von einem Verbrechen gegen die Menschheit sprechen kann. Wenn wir uns die Nazi-Zeit und den Zweiten Weltkrieg in Erinnerung rufen, dann kommt einem unwillkürlich die Tragödie von Leningrad in den Sinn.

Die Stadt wurde über zwei Jahre von den Nazis belagert und ausgehungert…

872 Tage war die Stadt von den Nazis belagert. Man rechnete mit einer Zahl von 700 000 bis zu einer Million Toten, die dieser Blockade zum Opfer gefallen sind. Das ist als ein Verbrechen gegen die Menschheit vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal anerkannt worden.

Das war eine fürchterliche Tragödie…

Seit vielen Jahren bestehen alle möglichen amerikanischen Massnahmen gegen Venezuela, um die venezolanische Wirtschaft komplett lahmzulegen – es sind finanzielle Blockaden. Deshalb ist es für Banken unmöglich, mit Venezuela Geschäfte zu machen. Wegen der Globalisierung sind Banken in der ganzen Welt tätig. Wenn Banken also ein Geschäft mit Venezuela abwickeln und gleichzeitig Geschäfte mit den USA machen, dann kann diese Bank von den USA mit Strafen belegt werden. Die Strafen sind nicht «peccata minuta». Man spricht von grösseren Beträgen, 200 000 oder 500 000 oder eine Million Dollar.

Das gilt auch für alle Konzerne. Wenn ein multinationaler Konzern mit Venezuela Geschäfte macht, dann können die Vermögen des Konzerns in den USA beschlagnahmt werden. Das ist eine Situation, die ich als «Wilden Westen» bezeichne. Das ist völlige Illegalität mit absoluter Straflosigkeit.

Aber Venezuela versucht doch jetzt, etwas zu unternehmen?

Venezuela hat das klug gemacht. Ich hatte bereits im Absatz 36 meines Berichtes an den Menschenrechtsrat vorgeschlagen, das vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen, weil es sich hier wie damals in Leningrad um ein Verbrechen gegen die Menschheit handelt. Die Zahl der Toten ist weiter gestiegen. Die Schätzung von Professor Jeffrey Sachs und Marc Weisbrot besagt, dass allein im Jahr 2018 als direkte Konsequenz der Sanktionen 40 000 Menschen ums Leben gekommen sind. Es liegt doch auf der Hand. Wenn Sie Diabetiker sind, und Sie bekommen ihr Insulin nicht, oder Sie bekommen es zu spät, dann sterben Sie. Die Regierung tut das Maximum, um alle Arzneimittel zu besorgen. Aber sie können sie nicht bezahlen, weil die Banken das Geld nicht überweisen.

Gibt es hier konkrete Beispiele?

Ich weiss von einem persönlichen Kontakt, dass Novartis die Lieferungen eingestellt hat, weil sie ihr Geld nicht bekommen hat. Das ist das Resultat dieser finanziellen Blockade durch die USA.

Was kann Venezuela dagegen unternehmen?

Vor ungefähr einem Jahr hat die sogenannte Grupo de Lima – eine Gruppe neoliberaler Staaten, die nichts anderes sind als die Vasallen der USA – eine Klage vor dem Internationalen Strafgerichtshof gegen Maduro wegen Verbrechen gegen die Menschheit eingereicht.

Was kann sich daraus ergeben?

Zunächst muss man sagen: Diese sozialistische Regierung in Venezuela tut mehr als alle anderen Regierungen in Lateinamerika für die Ausbildung, Gesundheit und Ernährung ihrer Bevölkerung. Was in Brasilien, Kolumbien, Peru usw. nicht der Fall ist.

Auch wird mit absurden Zahlen operiert, wieviel Leute in Venezuela exekutiert worden seien. Das wird nicht belegt. Wenn schon, dann müsste man das mit konkreten Namen darlegen und beweisen, z. B. dass dies auf Befehl Maduros geschehen oder dass dieses Vorgehen Teil der Staatspolitik der Regierung Maduro sei, oder dass die Regierung es duldet und nichts dagegen unternimmt.

Sie waren in Venezuela. Fanden Sie so etwas bestätigt?

Ich habe selber Fälle von Polizeiexzessen in Venezuela untersucht und diese mit dem Staatsanwalt Tarek Saab diskutiert, der mir Beweise über die justizkonformen Untersuchungen und Strafprozesse gegen die angeklagten Beamten gab. Die Situation ist gewiss nicht schlimmer als die polizeilichen Exzesse gegen die schwarze Bevölkerung in den Vereinigten Staaten oder die ständigen Morde an Sozialarbeitern, Syndicalisten und Autochthonen durch die Polizei und paramilitärische Einheiten in Kolumbien, Honduras, El Salvador usw. In vielen Ländern Lateinamerikas gibt es Gewalt, es gibt auch Gewalt im Privaten.

Was ist in diesen Ländern anders?

In Kolumbien haben die paramilitärischen Einheiten sehr wohl eine enge Verbindung zur Regierung. Man kennt die Beziehungen zum ehemaligen Präsidenten Uribe. In Venezuela gibt es Gewalt von beiden Seiten. Die Opposition griff zum Mittel der Sabotage oder versuchte letztes Jahr am 30. April einen Putsch, der auf Juan Gaidó zurückgeht. Auf der Seite der Regierungsanhänger gibt es auch Radikale (Colectivos), die auch Verbrechen begehen, aber diese können der Regierung nicht angelastet werden. Das müsste von einem ordentlichen Gericht untersucht werden, um die Kriminalität auf beiden Seiten zu verfolgen.

Nach dem Bericht von Professor Jeffrey Sachs und Marc Weisbrot ist der Tod von schätzungweise 40 000 Venezolanern im Jahre 2018 direkt den USA anzulasten, aber auch der Tod von Zehntausenden im Jahr 2019 und sehr wahrscheinlich auch die, die im Jahr 2020 dazukommen werden.

Welche Uno-Organisationen könnten hier Hilfe leisten?

Was es bräuchte – und ich möchte das hier anregen – ist eine Untersuchung durch die Unicef über die Kindersterblichkeit, wie es sie im Irak gegeben hat, um die verheerenden Auswirkungen der Sanktionen zu untersuchen. Auch die UNDP (Entwicklungsprogramm der Uno), die FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Uno) und die WHO (Weltgesundheitsorganisation) sollten die Zahl der Unter- und Mangelernährten dokumentieren, die in Venezuela aufgrund der Sanktionen gestiegen sind, damit man gesicherte Daten für das Tribunal in Den Haag vorlegen kann. Ebenfalls gibt es eine Schätzung der zusätzlichen Toten aufgrund des durch die USA verursachten Mangels an Arzneimitteln wie Insulin, anti-retroviral Drugs, aber auch wegen des Mangels an Ersatzteilen für Dialysemaschinen, Scanner, Mikroskope und andere ärztliche Geräte.

Das sind die Folgen der illegalen Sanktionen?

Ja, die USA haben mit ihrer völkerrechtswidrigen Sicht diese zirka 100 000 verstorbenen Menschen auf dem Gewissen. Jetzt ist dem venezolanischen Aussenminister, Jorge Areazza, ein Schachzug gelungen. Am 13. Februar hat er sozusagen den Spiess umgedreht und in Den Haag gesagt: Machen Sie Ihre Untersuchungen gegen Herrn Maduro nur weiter, Sie werden keine Beweise dafür finden, dass er Verbrechen gegen die Menschheit begangen hat. Aber, da der Fall gegen ihn schon eröffnet ist, bringen wir Ihnen einen weiteren Fall, der unmittelbar damit in Verbindung steht, nämlich die Konsequenzen der Sanktionen. Es gibt sozusagen das Verfahren «Venezuela I» und das Verfahren «Venezuela II». Dies hat Arreaza am 25. Februar im Menschenrechtsrat bekannt gemacht und sich dabei auf meinen Bericht von 2018 bezogen.

Das heisst jetzt, Venezuela klagt die USA an?

Nein, nicht direkt, es klagt gegen die Konsequenzen der Sanktionen, und die Verantwortung liegt nicht nur bei den USA, sondern auch bei Kanada, der EU und der Grupo de Lima. Die Klage gegen Venezuela kam bekanntlich von der Grupo de Lima, denn die USA wollten ihr Gesicht nicht verlieren, und deshalb schickten sie bei der Klage gegen Venezuela lieber ihre Vasallen vor, als selbst den Schritt zu tun. Die Grupo de Lima ist mitverantwortlich für die Sanktionen und wird deshalb von Venezuela angezeigt. Es geht bei dem Ganzen noch nicht um ein gerichtliches Verfahren. Es geht erst um eine Untersuchung.

Wer führt die Untersuchungen?

Die Staatsanwältin Fatou Bensouda. Sie will das. Genau wie sie eine Untersuchung im Falle der Kriegsverbrechen – begangen in Afghanistan – sowohl von den Taliban als auch von den USA und ihren Verbündeten wiedereröffnet hat. Genau wie sie die Verbrechen durch Israel untersuchen will, was in Washington natürlich höchst unwillkommen ist. Die Staatsanwältin ist weniger erpressbar als seinerzeit der erste Staatsanwalt Luis Moreno Ocampo. Ich bin nicht allzu begeistert von Fatou Bensouda, aber sie ist auf jeden Fall besser als ihr Vorgänger. Meine Sorge bezieht sich mehr auf die Richter. Drei von ihnen haben voriges Jahr die Untersuchung über Afghanistan blockiert. Bensouda hat sich dagegen gewehrt, und die Situation in Afghanistan wird jetzt neu aufgerollt.

Warum haben sich die Richter dagegengestellt?

Es gab massiven Druck und Drohungen durch die USA. Ausserdem würde kein ICC-Richter oder Beamter ein Visum für die USA erhalten. Es ist jedoch die Aufgabe dieser Richter, alle Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit zu untersuchen – also nicht nur die Verbrechen der Afrikaner ! – und das heisst auch, die Verbrechen der USA oder der Nato aufzuarbeiten. Ihnen war das zu heiss. Sie wollten die Kartoffel nicht anfassen. Interessant wird es erst, wenn Anklage erhoben wird. Dann werden wir einiges dazu erfahren.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Genf

 

Venezuela hat Klage in Den Haag eingeleitet 

thk. Der Völkerrechtler, Professor Alfred de Zayas, war von 2012 bis 2018 Uno-Mandatsträger als Unabhängiger Uno-Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung. In seiner Funktion als Uno-Experte war er 2017 der erste Uno-Rapporteur, der seit 21 Jahren Venezuela besuchte, um die Situation im Lande zu beurteilen, u.a. auch, um die Auswirkungen der völkerrechtswidrigen Sanktionen gegen das Land zu untersuchen.¹ 

Während seiner Mission hat er sich mit Mitgliedern der Opposition undder Nationalversammlung sowie mit Vertretern von Konzernleitungen, der Kirche und der Zivilgesellschaft auseinandergesetzt und ihre Dokumentation gegen die Regierung ausgewertet und in seinem Schlussbericht berücksichtigt. 

Von der Regierung hat de Zayas Beweise erhalten, die die verheerenden Konsequenzen der Sanktionen dokumentierten. Dies hat er sine ira et studio ausgewertet und dabei eine neutrale Haltung, frei von jedwelcher Ideologie an den Tag gelegt. Er schlug damals der Regierung Venezuelas vor, an den Internationalen Strafgerichtshof zu gelangen und dort Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschheit im Falle der US-Sanktionen zu erheben. Vertrauend auf den Vorschlag von Alfred de Zayas, hat die Regierung am 13. Februar diese Klage in Den Haag eingereicht. 

¹ https://ap.ohchr.org/documents/dpage_e.aspx?si=A/HRC/39/47/Add.1

 

Warum wir einen hohen Selbstversorgungsgrad brauchen

von Reinhard Koradi

Was wäre die Schweiz ohne produzierende Landwirtschaft? Ein Staat ohne ausreichende Versorgung mit einheimischen Lebensmitteln und einer Versorgungssicherheit mit Nahrungsmitteln, die allein vom Goodwill der umliegenden Länder und einiger führender Agrarexporteure wie den USA, Argentinien, Peru, China und Kanada sowie der Kapazität allfälliger Vorratskammern im eigenen Land abhängt.

Selbstverständlich hätten wir gar keinen Einfluss mehr auf die Art und Weise der Produktion von pflanzlichen und tierischen Lebensmitteln und müssten auch hilflos den ökologischen Raubbau akzeptieren, der durch den Verschleiss der natürlichen Ressourcen und lange Transportwege verursacht wird. Die Schweiz hätte zwar auf den ersten Blick eine vermutlich ökologisch saubere Weste, die jedoch bei genauerem Hinsehen nicht einmal mehr mit «Persil» reingewaschen werden könnte.

Die politische Lage erlaubt keine Preisgabe der Selbstversorgung

Die seit Jahrzehnten praktizierte und auch zukünftige Agrarpolitik verfolgt einen Paradigmenwechsel weg von einer mehrheitlich durch bäuerliche Familienbetriebe gestützten dezentral und regional produzierenden Landwirtschaft hin zur Konzentration auf ein paar nach industriellen Prinzipien geführten Massenproduktionsbetrieben. Daneben gibt es dann noch die Nischenproduktion im Bio- und Qualitätsbereich. Hochwertige, handverlesene Nahrungsmittel für die Reichen. Ein weiteres Segment wird sich über staatliche Verordnungen, Handlungsanweisungen und Lenkungsabgaben (Direktzahlungen gegen Ökologie) zur Landschaftsgärtnerei entwickeln. Die Weichen sind über die Schaffung von Naturpärken und «Bio-Reservate» bereits gestellt. Diese Weichenstellung verleugnet allerdings das Recht der Schweizer Bevölkerung auf Ernährungssouveränität und Versorgungssicherheit mit gesunden, natürlichen Lebensmitteln. Sie gefährdet zudem die Unabhängigkeit der Schweiz und ihren Fortbestand als neutraler Staat auf der Grundlage der direkten Demokratie. Die politische Kraft des Volkes wird durch die vom Bundesrat verfolgte Lahmlegung der einheimischen Lebensmittelproduktion gebrochen, da mit einer ungenügenden durch einheimische Produkte gestützten Selbstversorgung eine existenzielle Abhängigkeit vom Goodwill aus dem Ausland geschaffen wird – ein Goodwill, der der Schweiz entgegengebracht wird, wenn sie sich dem Diktat fremder Mächte unterwirft und sich wohlgefällig gegenüber den Ansprüchen der tonangebenden Machtzentren verhält. 

Versorgungsketten können sehr schnell gekappt werden

Wie brüchig die Versorgung aus dem Ausland ist, bestätigt gerade jetzt der durch Deutschland ausgesprochene Lieferstopp von Gesichtsmasken im Zusammenhang mit der Corona-Virus-Krise. Der «Tages-Anzeiger» berichtete: «Der deutsche Zoll hat in Hamburg einen Schiffscontainer gestoppt, der aus China stammt und für die Schweiz bestimmt ist. In dem Container sollen sich Operationshandschuhe befinden, die ein Schweizer Importeur direkt in China bestellt haben soll. […] Vor einigen Tagen hat Deutschland ein Ausfuhrverbot für medizinische Schutzausrüstungen wie Schutzbrillen, Atemschutzmasken, Schutzkittel, Schutzanzüge erlassen. Auch hat die französische Regierung die Beschlagnahmung aller Schutzmasken angeordnet. Die Schweiz wird hart von diesen Mass­nahmen getroffen, weil das Land selber kaum medizinisches Verbrauchsmaterial produziert.»¹

Was hier vielleicht noch mehr oder weniger leicht weggesteckt werden kann, dürfte bei existenzbedrohenden Engpässen zu erheblichen Schwierigkeiten und Unruhen führen. Die aktuellen Vorfälle müssen uns endlich wachrütteln respektive die Verantwortlichen zum Umdenken zwingen. 

Wer in der aktuellen und zukünftigen politischen Lage eigenverantwortliches Denken und Handeln vernachlässigt, wird vereinnahmt. Die Zeit ist reif, ernsthaft über unsere Sicherheits- und Versorgungspolitik nachzudenken. Wir leben in einer sehr instabilen und gleichzeitig gewaltbereiten Welt. Wer auf «Freunde» und Freihandel baut, wird bei den ersten politischen Sturmböen geknickt. Es braucht grundlegende Korrekturen, die zum Ziel führen, unsere Sicherheit im Allgemeinen und bei der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern zu gewährleisten. Und zwar auch mit Blick auf die kommenden Generationen. Die wohl wichtigste Massnahme ist der Schutz der noch vorhandenen Produktionsressourcen. Dazu gehören Boden, Produktionsbetriebe und Know-how. Dabei geht es einmal um die Landwirtschaft, deren vor- und nachgelagerte Branchen (Landmaschinenbau, Tierärzte, gewerbliche Lebensmittelverarbeitung und Lebensmittelverkauf), aber auch um andere für unsere Existenz relevante Branchen. Ich denke hier an Impfstoffe, Spitäler (Vielfalt erhalten) und auch an den Schutz der Interessen des Schweizer Volkes (Landesverteidigung). Entscheidend auf dem Weg in die Eigenverantwortung und Eigenleistung wäre die Rückbesinnung auf eigene Werte und Erfahrungen. Wir müssen uns aus der Bevormundung von aussen lösen und unseren eigenen Weg gehen. 

Je rascher wir dieses «Vorwärts in die Eigenverantwortung» an die Hand nehmen, desto schneller gelingt es uns, die anstehenden Herausforderungen im Interesse der Schweizer Bevölkerung und nicht nach internationalen Standards oder Vorgaben zu meistern. Es geht um die Sicherstellung der Versorgung sowie den Schutz der Bevölkerung durch den Aufbau und die Förderung der Produktion von lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen.

Auf und im Boden ruht unser Wohlstand

Je mehr Kulturland wir der Landwirtschaft entziehen, desto grösser wird die Umweltbelastung. Zubetonierte Flächen verhindern einen natürlichen Kreislauf und lassen eine wiederkehrende Nutzung für die Nahrungsmittelproduktion nicht mehr zu. Die Bodenrente wird dem Volk entzogen und fliesst in das Portefeuille weniger Immobilienkonzerne. Mit anderen Worten, der Boden verliert seine ursprüngliche Rolle als Wohlstandsförderer für alle. Mit dem Verlust von produktivem Kulturland verlieren nicht nur die Bauern ihre Produktionsgrundlagen, auch das Volk muss aufgrund der Verstädterung erhebliche Einbussen akzeptieren. Daher liegt es im Interesse aller, sich für eine produzierende Landwirtschaft und für den Schutz unserer natürlichen Ressourcen einzusetzen. Damit wir uns richtig verstehen: Der beste Schutz der Natur liegt in einer angemessenen Nutzung der naturgegebenen Ressourcen. Da der Boden zudem nicht beliebig ausgeweitet werden kann, gehört zu dieser Nutzung vor allem Sorgfalt und Verhinderung von Erosion durch Raubbau und Ausdehnung von Siedlungsflächen. In der Schweiz wären die Voraussetzungen für eine zukunftsfähige Nutzung des Kulturlandes noch weitgehend intakt. Über die Raumplanung und den Strukturerhalt der bäuerlichen Familienbetriebe verfügen wir über ein effektives Instrumentarium, das es uns ermöglicht, die eingeleitete Fehlentwicklung zum City-State und Outsourcing der Lebensmittelproduktion noch rechtzeitig zu korrigieren. Selbstverständlich bedingt eine Rückbesinnung auf eine sinnvolle und zukunftsfähige Nutzung des begrenzten Bodens auch eine Revision der Bevölkerungspolitik. Enge Räume und die dichte Besiedelung in der Schweiz fordern eine restriktive Zuwanderung. Dies im Interesse eines Gleichgewichts zwischen Wohnraum und produktivem Kulturland, aber auch aus ökologischer Sicht. Was zubetoniert ist, strahlt Wärme ab, je mehr Menschen in einem Land leben, umso mehr werden Infrastruktur, Verkehr usw. ausgebaut respektive belastet. Es geht um ein gesundes, ökologisch vertretbares Gleichgewicht zwischen Allgemeinwohl, wirtschaftlichem Nutzen, Schutz der natürlichen Ressourcen und Versorgungssicherheit. In diesem Szenario haben die Bauern eine zentrale Aufgabe. Man kann sie nicht in die Landschaftsgärtnerei abschieben. Vielmehr brauchen wir sie als produktive Kräfte zur Sicherung eines möglichst hohen Selbstversorgungsgrades und für die Aufrechterhaltung des ökologischen Gleichgewichts. Die aktuelle Lage in und rund um die Schweiz wie auch auf dem internationalen Parkett lassen gar keine andere Perspektive offen, als auf den eigenen Kräften und Ressourcen aufzubauen.

¹ «Tages-Anzeiger» vom 10.3.2020

 

«Wochenmärkte leisten wichtigen Beitrag zur Grundversorgung»

sl. Laut Medienmitteilung des Bundesrates vom 17. März wird im Zuge der Corona-Virus-Krise die Versorgung mit Lebensmitteln alleine durch die Lebensmittelläden gewährleistet. Lebensmittel-Wochenmärkte sind hingegen bis am 19. April verboten. Warum?

Beim Einkauf im Grossverteiler kann ich zwar beim Eingang meine Hände desinfizieren, dann nehme ich einen Einkaufskorb oder Wagen, den bereits zahlreiche andere Menschen angefasst haben, zwischen den Gestellen kann ich je nach Tageszeit die 2-Meter-Abstand-Regel nicht immer einhalten, und die Lebensmittel, die in meinem Einkaufskorb landen, stammen aus China, Asien, Italien, Spanien etc., sind also über Meere und Kontinente hinweg verschifft, mit Lastwagen hergekarrt oder per Flugzeug importiert worden.

Auf dem Wochenmarkt bin ich hingegen an der frischen Luft, die angebotenen, von hiesigen Bauern produzierten Lebensmittel sind frisch und von guter Qualität, sie stammen aus der Region und sind nach den hier geltenden strengen Vorschriften produziert. Die geforderten Hygienemassnahmen liessen sich im Freien sogar problemloser durchsetzen, als in geschlossenen Räumen. Warum nicht 2 Mal pro Woche einen Markt machen, mit nur der Hälfte der Stände, damit zwischen den Ständen genügend Abstand ist, und dennoch alle Anbieter ihre Ware absetzen können? Falls die Barbezahlung ein Problem darstellen sollte, so liessen sich bei den heutigen technischen Möglichkeiten sicherlich auch andere Zahlungsmöglichkeiten finden, und auch die Gelegenheit zur Händedesinfektion liesse sich einrichten.

Martin Rufer, Leiter der Corona-Taskforce des Schweizer Bauernverbandes sagte in der Bauernzeitung vom 20. März zu Recht: «Das Risiko ist sicher nicht grösser als im Grossverteiler, wenn man es richtig durchführt. Man muss einfach schauen, dass die Hygienevorschriften des Bundes eingehalten werden können. Die Wochenmärkte leisten einen wichtigen Beitrag zur Grundversorgung. Wenn sie verboten werden, treibt man mehr Leute zu den Grossverteilern. Daher müssen wir klären, ob und unter welchen Bedingungen die Wochenmärkte möglich wären.»

Die Möglichkeit, qualitativ gute von Bauern aus der Region hergestellte Lebensmittel auf dem Wochenmarkt kaufen zu können, würde in der Tat viel zu einer gesunden Grundversorgung der Bevölkerung beitragen und gleichzeitig die landeseigene landwirtschaftliche Produktion fördern und unterstützen.

«Die Lüge der digitalen Bildung» – Warum unsere Kinder das Lernen verlernen

Zum Vortrag von Dipl. Volkswirt Ingo Leipner in der Stadtbibliothek Engen

von Judith Schlenker, Donaueschingen (D)

Gerade jetzt, wo die «Corona-Krise» die Schulen zwingt, die Schüler notbehelfsmässig auf digitalem Weg mit Lernstoff zu «füttern» und IT-Konzerne das grosse Geschäft mit Lernsoftware und digitalen Plattformen wittern, dürfen die folgenden entwicklungs- und lernpsychologischen Erkenntnisse auf keinen Fall ausser Acht gelassen werden.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Der Begriff «digitale Bildung» ist irreführend, denn es gibt sie nicht. Bildung ist nie digital, denn sie ist ein innerseelischer Vorgang, der in einer Beziehung zwischen Lehrendem und Lernendem geschieht, und daher sieht Ingo Leipner in einer Kindheit ohne Computer den besten Start ins digitale Zeitalter. In Abwandlung eines Sprichworts – «Was Hänschen nicht lernt, kann Hans später viel besser lernen» – plädiert er dafür, den kleinen Kindern die Zeit zu lassen, die Welt mit all ihren Sinnen zu erfahren und zu erobern, damit sie später in der Lage sind, mit den digitalen Medien so umzugehen, dass sie sinnvoll eingesetzt werden können. 

Dabei ist es wichtig, nicht alle über einen Kamm zu scheren, sondern genau zu differenzieren, mit welcher Altersgruppe man es zu tun hat (vor/nach der Pubertät) und wie die Nutzung der digitalen Medien geschieht, nämlich aktiv oder passiv. 

Viel Bewegung und reale Sinneseindrücke

Einer frühkindlichen, wie auch immer gearteten Informations-, Technik- oder Medienkompetenz bereits im Kindergarten oder in der Grundschule erteilt Leipner eine klare Absage und beruft sich dabei auf die Erkenntnisse des Schweizer Biologen und Pioniers der kognitiven Entwicklungspsychologie Jean Piaget. Dieser sagt, dass in einem Alter ab zwölf Jahren, d. h. mit Beginn der Pubertät, die Kinder in der Lage sind, ihre formal-operativen Fähigkeiten zu entwickeln, zu abstrahieren und das eigene Tun zu reflektieren. Zentraler Begriff ist dabei die «sensomotorische Integration», das heisst die Zusammenarbeit des Zentralnervensystems, das einen Reiz aus der Aussenwelt erhält, ihn verarbeitet und den Menschen zu einer motorischen Antwort befähigt. (Beispiel: Das Balancieren auf einem Schwebebalken). Dabei sind viele Sinne beteiligt, es braucht die Grob- und Feinmotorik, die Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Umwelt. Damit sich ein Kind gut entwickeln kann, braucht es einerseits eine gute Entwicklung des Sinnesapparates und andererseits eine gute Entwicklung seiner motorischen Fähigkeiten. Das Gehirn koordiniert diese beiden Fähigkeiten im Wechselspiel und integriert sie. Diese Integration ist Grundlage für die Reifung des Gehirns. Die kognitive Reifung, also die Denkfähigkeit, kombiniert mit der körperlichen Aktivität schlägt sich in der Entwicklung neuronaler Netze nieder, also der Entwicklung unseres Gehirns. Die Synapsen können reifen, wenn die Kinder viel Bewegung haben und gleichzeitig viele reale Sinneserfahrungen machen. Durch die digitalen Medien ist aber nur eine Zweidimensionalität vorhanden, die Reizumgebung verarmt, die sensorischen Reize und die Motorik sind eingeschränkt und das, was auf dem Bildschirm flimmert, ist oft nur ein Surrogat der Realität. Man kann hier von einer eigentlichen sensomotorischen Desintegration sprechen. Dafür bieten die Medien allerdings visuelle und akustische Reize im Überfluss, was nicht selten zu einer Überforderung des kindlichen Gehirns führt.

Ruhiges Innehalten und Nachdenken

Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Betrachtung des Einflusses digitaler Medien ist das Phänomen des Belohnungsaufschubs (Stanford Marshmallow-Experiment). Impulskontrolle und Bedürfnisaufschub werden durch den schnellen Click unterlaufen. Kinder werden so durch die digitalen Medien zur schnellen Reaktion auf die Reize gedrängt; was fehlt, sind die Wahlmöglichkeiten und das ruhige Innehalten. Der Freiburger Psychiater Dr. J. Bauer beschreibt dieses Phänomen damit, dass die digitalen Medien nur das «go!» trainieren, nicht aber das «no!», das ruhige Innehalten und Nachdenken. Dies lässt nur den Schluss zu, auf die digitalen Medien in Kindergärten und Grundschulen vollständig zu verzichten. Die BLIKK Medienstudie des deutschen Bundesministeriums für Gesundheit aus dem Jahr 2017 enthüllte die erschreckende Korrelation zwischen dem übermässigen Medienkonsum bei Eltern und Kindern und den daraus resultierenden gesundheitlichen Folgen für Kinder. «Diese reichen von Fütter- und Einschlafstörungen bei Babys über Sprachentwicklungsstörungen bei Kleinkindern bis zu Konzentrationsstörungen im Grundschulalter. Wenn der Medienkonsum bei Kindern oder Eltern auffallend hoch ist, stellen Kinder- und Jugendärzte weit überdurchschnittlich entsprechende Auffälligkeiten fest.» 

«Kleinkinder brauchen keine Smartphones»

All diese Faktoren verhindern auch, dass die Kinder später gute Lerner werden; sie sind in ihrer kogni­tiven Entwicklung gestört und leiden immer häufiger an psychischen Störungen. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler, drückte dies nach Bekanntgabe der Studie so aus: «Es ist dringend notwendig, Eltern beim Thema Mediennutzung Orientierung zu geben. Kleinkinder brauchen kein Smartphone. Sie müssen erst einmal lernen, mit beiden Beinen sicher im realen Leben zu stehen.» Wenn wir es aber schaffen, die Kinder so ins Leben einzuführen, dass sie mit beiden Beinen in der Realität stehen, legen wir die beste Grundlage dafür, dass sie später einen sinnvollen Umgang mit digitalen Medien pflegen können. Wenn die sensomotorische Integration gelungen ist, dann gelingt auch der Umgang mit den digitalen Medien. 

Bedeutung der Lehrer-Schüler-Beziehung

Auf den einen entscheidenden Faktor im Lernprozess wies Ingo Leipner in seinem Vortrag in aller Deutlichkeit hin: die Meta-Studie des australischen Bildungsforschers John Hattie (Visible Learning – Lernen sichtbar machen) habe als klares Ergebnis, dass es auf den Lehrer als Menschen ankomme. Daher brauche man gut ausgebildete und gebildete, engagierte Lehrer mit Freude an den Kindern. Und das Geld, das man in den sogenannten Digitalpakt steckt, könne man auch sehr gut für die Aus- und Weiterbildung der Lehrer oder für eine bessere Bezahlung der Erzieher investieren, um sie fit zu machen für die realweltliche Einführung der Kinder, die ihnen anvertraut werden. 

Was Jugendliche für einen sinnvollen Umgang mit digitalen Medien brauchen

Welche Kompetenzen muss nun aber ein Jugendlicher oder junger Erwachsener haben, um sinnvoll mit den digitalen Medien umzugehen? Da ist zum einen die Medienmündigkeit, die den Jugendlichen in die Lage versetzt, den Computer auch mal auszuschalten und sich aktiv der realen Welt zuzuwenden. Zum anderen gehört dazu auch das Herausbilden einer Kritikfähigkeit, indem man die Jugendlichen sensibilisiert für die Qualität der Informationen, die sie aus dem Internet beziehen. Sie müssen lernen, die Inhalte kritisch zu hinterfragen, sie «aktiv studieren» und selbst Fragen zu stellen. Die Aufgabe von Bildung ist dabei, dass die Heranwachsenden lernen, welchen Medien man vertrauen kann, und ihnen die Fähigkeit vermittelt wird, die Informationen zu bewerten und zu nutzen. Dazu bedarf es unter anderem auch der Fähigkeit des linearen Lesens eines längeren Textes, das immer Vorrang vor dem Lesen im Internet haben muss. Lineares Lesen ist eine Form geistiger Emanzipation, die heutigen Jugendlichen zunehmend schwer fällt. Die dritte wichtige Kompetenz ist die Produktionsfähigkeit, der aktive Umgang mit den digitalen Medien. Es ist ein Unterschied, ob man nur der Konsument eines Programms ist oder selbst in der Lage ist, ein Produkt mit Hilfe der digitalen Medien herzustellen. 

Bildung – ein gigantischer Markt

Ein Hinweis, der in diesem Zusammenhang nicht fehlen durfte, war der nach den ökonomischen Aspekten der Digitalisierung. Dass es sich hier um einen gigantischen Wachstumsmarkt handelt, ist offensichtlich. Hinter vielen gutmeinend daherkommenden Produkten, Lernprogrammen oder Software steckt ein prosperierender Bildungsmarkt. Viele Bildungsprodukte sind ein Einfallstor dafür, Bildung als Wirtschaftsgut zu etablieren. So liefert beispielsweise die Bertelsmann Stiftung mit ihren (völlig uneigennützigen!) Studienergebnissen die Argumente, die Bertelsmann AG hat dann die für die Lösung notwendige Hardware. Oder das Hasso-Plattner-Institut, Potsdam, des SAP Gründers Hasso Plattner will die Schulen mit einer Cloud entlasten – und sammelt dafür Daten in gigantischen Mengen. Ebenso mit dem Projekt der Learning Analytics, bei dem Programme individuell auf die Schüler zugeschnitten werden und dem Schüler nur so viel zugemutet wird, wie er leisten kann. Das Programm wird personalisiert und speichert jeden Click, jeden Abbruch des Programms, jede Bearbeitung, jede eingegebene Lösung. Selbst biometrische Daten werden erfasst: das ist individuelle Bildung im Tausch gegen Daten. Und dass Daten das neue Gold sind, ist hinlänglich bekannt. Learning Analytics steht im Widerspruch zu demokratischer Bildung. Sie erinnert eher an die Orwellsche Überwachung als an Bildung; der Lernprozess wird entpersonalisiert und die so entscheidende Vertrauensbeziehung zwischen Lehrendem und Lernendem wird eliminiert. 

Was aber ist zu tun? 

Leipner plädiert dafür, die Kinder erst einmal mit digitalen Medien in Ruhe zu lassen, sie viel malen, basteln und sich mit realweltlichen Erlebnissen auseinandersetzen zu lassen. Eltern sollten sich auch nicht dem Diktat der Angst beugen, möglichst früh ihre Kinder mit digitalen Medien zu konfrontieren, damit sie später nicht abgehängt werden. Über Angst kann man gut verkaufen, aber ein zu früher Umgang mit digitalen Medien geht an der kognitiven Entwicklung der Kinder vorbei. Vielfach entspringen die Forderungen nach früher Nutzung digitaler Medien einer Ideologie des puren Wettbewerbs in einer entsolidarisierten Gesellschaft. Das AADDA (Alle-Anderen-Dürfen-Das-Aber) Argument der Kinder greift bei vielen Eltern. Daher sollten sich Eltern zusammentun und gemeinsam mit den Kindern Regeln für die Nutzung digitaler Medien erstellen. So kann man alle Familen-Handys über Nacht im Handy-Hotel parken und keiner geht dran, der Esstisch kann zur handyfreien Zone erklärt werden, die Klassenfahrt kann handyfreie Zeiten vereinbaren usw. Wichtig für die Eltern und Lehrer ist, dass sie sich mit anderen vernetzen und zusammenschliessen. Und dass sie wissen, dass sie sich in bester Gesellschaft befinden. 

Warum wohl achten Manager aus dem Silicon Valley und Hollywoodgrössen schon sehr lange genau auf die Mediennutzung ihrer Kinder? Warum schicken die Manager der Internetkonzerne im Silicon Valley ihre Kinder bevorzugt auf Waldorfschulen, in denen digitale Medien verboten sind? Weil sie sich der Gefahren bewusst sind, und weil eine gute Bildung das Wichtigste ist, was man Kindern mitgeben kann. Nur der Mensch ist mit Phantasie begabt, die wiederum durch das Sammeln von Wissen und Erfahrungen im realen Leben trainiert wird. Und dazu ist die Grundlage das Lesen, Schreiben und Rechnen. Das haben Generationen vor uns gelernt, und das wird auch (hoffentlich) in Zukunft so bleiben.

Eifersucht – ein wichtiger Faktor bei der Entstehung von Unruhe und Konzentrationsstörungen bei Kindern

von Dr. phil. Alfred und Barbara Burger

 

Es ist noch nicht so lange her, da war das Thema «Eifersucht» aus der Kindererziehung kaum wegzudenken. Viele Publikationen befassten sich mit diesem Thema, es gab Ratgeber und Kurse für Eltern. Heute ist von Eifersucht unter Kindern kaum einmal die Rede. Die meisten Probleme, die in der Erziehung auftauchen wie motorische Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten, unkontrolliertes oder in sich gekehrtes Verhalten und Verweigerung werden nicht mehr als Erziehungsprobleme angesehen, sondern biologistisch erklärt, d. h. als hirnorganische Phänomene.

Diese Erscheinungen sind unter den Stichwörtern AD(H)S oder Aufmerksamkeitsdefizit (Hyperaktivität) Syndrom und «Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)» bekannt. Man behandelt hierzulande deswegen eine Vielzahl von ­Kindern mit Ritalin und ähnlichen Medikamenten. Im Februar 2015 kritisierte der Uno-Kinderrechtsausschuss die hohe Zahl an ADHS Diagnosen in der Schweiz und die entsprechende Abgabe an Ritalin (über 300 kg pro Jahr). Dabei kann Ritalin nicht heilen, es unterdrückt lediglich die Symptome, d. h., es stellt die Kinder ruhig. Diese Medikamente sind Psychopharmaka und haben ähnliche Nebenwirkungen wie gewisse Drogen. Der «Erfinder» der «AD(H)S Krankheit», Leon Eisenberg, hat auf seinem Sterbebett zugegeben, dass er diese «Krankheit» erfunden habe. Er war Mitglied der DSM Kommission (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). Von den 170 Mitgliedern der Kommission hatten 95 eine finanzielle Verbindung zur Pharmaindustrie, und alle hatten Verbindungen zu Arzneimittelherstellern.¹ 

Man kann also mit Fug und Recht sagen, dass heute Psychiatrie und Pharmaindustrie die seelischen Probleme der Kinder behandeln und nicht mehr die Pädagogen. Diese Wissenschaft hat sich leider ganz abgemeldet und sich in den Dienst der biologistischen Erklärungsansätze gestellt. Den Nachweis für die Ursachen für diese Phänomene um ADHS kann der biologistische Ansatz aber nicht erbringen, auch wenn das immer wieder behauptet wird. Diese Diagnosen werden nur auf Grund von diversen Fragebögen erstellt. Sie kommen vereinfacht gesagt lediglich zustande, wenn das Kind eine gewisse Anzahl von Symptomen auf verschiedenen Skalen aufweist. In diesem Zusammenhang von einer seriösen wissenschaftlichen Abklärung zu sprechen, ist Unsinn. Eine Diagnose nur auf Grund von Fragebögen und Symptomen zu fällen und die Ursachen nicht zu kennen, dem würde im organischen Bereich kein seriöser Arzt zustimmen.

Mögliche Gründe für auffällige Verhaltensweisen eines Kindes

Wenn wir verstehen wollen, wie es zu auffälligen Verhaltensweisen eines Kindes kommt, müssen wir den seelischen Haushalt des Kindes und sein häusliches Umfeld berücksichtigen. Das ist ein sehr komplexes Feld mit verschiedensten Ursachen, zu deren Klärung aber ein geschulter Pädagoge verhelfen könnte. 

Ganz ausgeblendet als eine Ursache für die zunehmende innere Unruhe vieler Kinder wird ihre unruhige Lebensumgebung, die oft geprägt ist von mangelnden, überschaubaren Strukturen. Nicht wenige Mütter sind vorwiegend mit ihrem Handy beschäftigt, wenn sie mit den Kindern zusammen sind. Man kann sogar beobachten, dass am Esstisch alle an ihren Geräten hantieren und kaum mehr ein Gespräch stattfindet. Insgesamt verbringen so Kinder im Schnitt vier Stunden und mehr täglich vor einem Bildschirm. So ist es nicht verwunderlich, dass die Heranwachsenden oft wenig in Beziehung und im persönlichen Austausch mit den Eltern und auch mit anderen Kindern sind. Das allein kann schon zu grosser Nervosität und Unruhe bei einzelnen Kindern führen. Aber auch innerfamiliäre Probleme, wie eben Eifersucht unter Geschwistern, können die zu Beginn beschriebenen Symptome hervorrufen, was in diesem Artikel etwas näher betrachtet werden soll. 

Eifersucht in Familie und Schule ist ein wichtiger, aber kaum beachteter Faktor bei der Entstehung von Nervosität, Unruhe, Konzentrations- und Lernschwierigkeiten. Es ist heute vielleicht vielen nicht mehr geläufig, dass Eifersucht unter Kindern ein ganz normales Phänomen ist, ja dass sie zeigt, dass Kinder untereinander in Beziehung sind, sich vergleichen und in Konkurrenz treten. Eifersucht zeigen übrigens auch Einzelkinder. Sie ist ein natürliches Gefühl, das immer entsteht, wenn Menschen miteinander zu tun haben. Es geht dabei um die Geltung, um das Ankommen bei den Eltern oder bei den Beziehungspersonen wie zum Beispiel bei der Lehrerin oder dem Lehrer. Jedes Kind will zur Geltung kommen, und jedes versucht das auf ganz unterschiedliche, individuelle Art und Weise.

Michael und seine kleine Schwester

Michael ist ein achtjähriger Bub, der gerne mitdenkt, sich für viele Belange interessiert, aktiv und kreativ ist. Seine jüngere Schwester schaute ihm schon über die Schulter, als sie noch gar nicht in der Schule war und versuchte, seine Schulaufgaben mit zu lösen. Seit sie in der Schule ist, hat sie sich zu einer guten Schülerin entwickelt, sie macht gute Noten und ist in einigen Schulfächern bereits weiter als der Bruder. 

Zudem ist sie sehr hübsch und alle Menschen schliessen sie schnell in ihr Herz. Seit ihrer Ankunft auf der Welt hat Michael keine guten Gefühle auf sie. Er plagt und ärgert sie und macht sich negativ bemerkbar, indem er schlechte Laune verbreitet, unruhig und fahrig wird, sich selber beschimpft und häufig Wutausbrüche bekommt, wenn ihm etwas nicht auf Anhieb gelingt. Michael sieht wenig Möglichkeiten, bei den Eltern und in der Schule auf positive Art zu gelten, schliesslich kann ja seine Schwester ohnehin alles besser, was er auch bei jeder Gelegenheit betont. Die Eltern versuchen die negativen Reaktionen zu verhindern, indem sie darauf achten, dass Michael sich ja nicht benachteiligt fühlt. So loben sie die Schwester nicht in seinem Beisein und ihn rühmen sie über den grünen Klee, wenn er auch nur die leiseste Anstrengung zeigt. Sie helfen ihm bei den Hausaufgaben und gleichzeitig macht die jüngere Schwester alles alleine. Die Eltern möchten mit ihrem Verhalten die Eifersuchtsgefühle Michaels mindern, tatsächlich bewirken sie ungewollt das Gegenteil. Man kann den Kuchen auf den Millimeter genau teilen, damit verstärkt man die Eifersucht nur. Michael merkt sofort, dass man ihn schonen will. Und wen will man schonen? Natürlich ihn, den Schwächeren. Mit dem Ritalin, das er verschrieben bekam, wurde er zwar etwas ruhiger, aber das Gefühl der Eifersucht war lediglich etwas gedämpft. Hier genau liegt das Problem der Medikamenteneinnahme: Die Gefühlsprobleme werden nicht gelöst, sie motten weiter und der Bub kann seine Eifersucht so nicht bearbeiten und zu einem erwachsenen Umgang mit seinen negativen wie positiven Gefühlen kommen. Michael lernt so nicht, die Schwierigkeiten des Lebens zu bewältigen. Eifersucht ist ein Schwächegefühl, man kann ihm nicht beikommen, indem man ein Kind vor diesem Gefühl verschonen will. In der Schule beispielsweise gibt Michael immer schnell auf, wenn ihm etwas nicht gelingt. Er ist die ganze Zeit damit beschäftigt, was die anderen Schüler gerade machen und kann sich gar nicht auf seine gestellten Aufgaben konzentrieren. Dahinter eine Aufmerksamkeits- und Konzentrations­störung zu sehen ist falsch, kann Michael sich doch in Bereichen, in denen er sich sicherer fühlt, wie etwa beim Basteln, sehr gut konzentrieren und bei der Sache bleiben. Die Unruhe ist vor allem da, wenn er sich im Vergleich mit anderen Kindern unterlegen fühlt, wenn diese mit ihrer Arbeit schon fertig sind oder sie etwas schneller verstanden haben. Er hat noch nicht gelernt, das auszuhalten und das als etwas Normales anzusehen, wenn andere in gewissen Bereichen besser sind. Er müsste positive, aktive Strategien dagegen entwickeln, statt mit wachsender Intensität, die Probleme mit Resignation oder mit seinen Wutanfällen zu lösen. 

Was ist nun die Aufgabe der Schule und der Lehrerin?

Es ist wichtig, dass die Lehrerin darauf besteht, dass Michael keine Wutanfälle mehr produzieren darf, denn mit den Anfällen übt er weiter an einem völlig untauglichen Mittel der Problembewältigung. Am besten ist es, wenn sie schon ahnt, in welchen Situationen er wütend wird und aufgeben will, und ihn gleich darauf hinweist, dass diese «Lösung» nicht in Frage komme. Dann muss er klar strukturierte Aufgaben bekommen, die er bewältigen kann: Texte abschreiben und schön darstellen, Diktate üben, Schönschreiben, usw., alles Dinge, die in der «modernen» Schule verpönt sind. Auch «Stöcklirechnen» bei denen die Rechnungen gut vom Leichten zum Schweren aufgebaut sind, ist eine sinnvolle Aufgabe für Michael. Er übt strukturiert, gewinnt so an Sicherheit und macht es zudem auch noch gerne. Die heutigen Lehrmittel, die von einem zum anderen Thema springen, ohne etwas zu vertiefen und zu repetieren, sind Gift für solche Kinder und übrigens auch für die anderen. Ein «Ämtli» in der Schule zu erfüllen ist auch wichtig, die Lehrerin muss sich aber für dessen Erledigung interessieren und darauf achten, dass er es gut macht. 

Schauen wir, was der Psychologe Wolfgang Bergmann in seinem Buch «Das Drama des modernen Kindes», beschreibt: In seinen Sitzungen mit Kindern, die sich nicht konzentrieren können oder hyperaktiv sind, schreibt er mit ihnen Diktate. Die Konzentration auf die Rechtschreibung und die Schrift gibt ihnen einen Halt, und er stellt fest, dass viele ruhiger und sicherer werden. Was da banal klingt, ist in Wirklichkeit ein höchst anspruchsvoller pädagogischer Vorgang. Die Lehrerin braucht eine absolute Sicherheit, dass Michael keinen Schaden hat, sie braucht eine absolute Sicherheit im Abverlangen von einfachen, gut strukturierten Aufgaben, die ihn Schritt für Schritt in schwierigere Bereiche führen. Dabei muss sie ihm das Gefühl vermitteln, «ich kann das, was man von mir verlangt, wenn ich dran bleibe». Sein Selbstwertgefühl wird vor allem gestärkt, wenn er Arbeiten bewältigt, die er sich vorher nicht zugetraut hätte. Irgendwelches hergesagtes Lob nützt da nichts. Wichtig ist auch, dass die Lehrerin ihm zu verstehen gibt, dass sie weiss, was ihn beschäftigt und mit ihm zum Beispiel Zeichen abmacht, um ihn daran zu erinnern, worum es geht, wenn er wieder unkonzentriert und fahrig wird. Er muss den richtigen Umgang mit der Eifersucht lernen, er muss lernen, aktiv zu bleiben und nicht in alte Verhaltensmuster zurückzufallen. In einem engen Arbeitsbündnis kann es gelingen, den Buben zu beruhigen und ihm ein sichereres Fundament für das Lernen zu geben und ihm die Gewissheit zu geben, dass er es genauso gut kann wie seine Schwester. Das ist ein Prozess, der einiges an Arbeit erfordert, nicht nur für Michael, sondern auch für die Lehrerin und die Klassengemeinschaft, die auch in diese Arbeit miteinbezogen werden kann. 

Eine gute Lehrerausbildung ist nötig

Leider werden die Lehrerinnen und Lehrer für eine solche Arbeit heute nicht mehr ausgebildet. Viele sind darum mit der Heterogenität und den unruhigen und verhaltensauffälligen Kindern in den Schulklassen überfordert. Wenn sie heute die Verschreibung von Ritalin wünschen, ist das auch verständlich. Es wären die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer an den Pädagogischen Hochschulen und die grundsätzliche Richtung zu überdenken, die heute die Schulen mit der flächendeckenden Integration und anderen Veränderungen eingeschlagen haben. Sie haben zu mehr Unruhe und weniger Strukturen in den Klassen geführt, was viele Kinder überfordert. 

¹ Cosgrove, Lisa et al, S. 154. Financial Ties between DSM-IV Panel Members and the Pharmaceutical Industrie. In: Psychother Psychosom 2006; 75, 154–160

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