Griechenland muss seine Unabhängigkeit zurückgewinnen

Ein Land im Zangengriff der europäischen Troika* und der Nato

von Susanne Lienhard

Noch vor diesem Sommer soll Griechenland sieben Milliarden Euro an seine Gläubiger zurückzahlen. Doch wie seit dem Jahr 2011 wird Griechenland diese Schulden nicht begleichen können, ohne vorher die letzte vom IWF und den Mitgliedern der Euro-Zone 2015 versprochene Tranche von 86 Milliarden zu beziehen, ohne sich also weiter zu verschulden. Die Geldgeber fordern weitere Massnahmen, derweil die griechische Bevölkerung schon völlig am Boden ist.

«Jedes Jahr verschlechtert sich die Situation in den Schulen, ich habe keine Hoffnung mehr auf eine Verbesserung!», sagt Dimitris Panogiotakopoulos, Schulleiter einer Primarschule in Elefsina, rund 20 km von Athen entfernt. «Zwischen 2009 und heute hat sich mein Budget um 70% reduziert. Wir können nicht einmal mehr Kreide kaufen. Wir mussten auf dem Hauptplatz der Stadt eine Kollekte organisieren, um den Schulbedarf einigermassen decken zu können.» Angesichts dieser Notlage – es gibt Kinder, die im kalten Winter nicht einmal eine Jacke zum Überziehen haben – hat er zusammen mit einem Gymnasiallehrer ein Solidaritätsnetz ins Leben gerufen.

Für Dimitris Panogiotakopoulos kann nur ein Austritt aus dem Euro den Problemen ein Ende setzen. Vor der Krise seien in Elefsina, einer Arbeitervorstadt am Meer, die Raffinerien und Schiffswerften auf Hochtouren gelaufen, zwei Zementfabriken und zwei Metallindustriebetriebe hätten die Nationalstrasse gesäumt, und der Handel habe geblüht. Aber mit der Krise würden drastische Reformen gefordert. Die drei Memoranden, die die griechische Regierung mit den Geldgebern unterzeichnet habe, diktierten ein erbarmungsloses Programm: Senkungen der Löhne und Renten, Auflösung der Gesamtarbeitsverträge, die durch individuelle Verträge ersetzt werden, Erhöhung der Steuern und Abgaben, Privatisierungen, Kürzungen im öffentlichen Haushalt etc. «Heute ist die Industrie ruiniert, alle Unternehmen entlang der Nationalstrasse sind geschlossen, an zahlreichen Läden hängen Schilder mit der Aufschrift ‹zu verkaufen› oder ‹zu vermieten› und ein Drittel der 30 000 Einwohner von Elefsina ist arbeitslos.» Giorgia Fratzeskaki, die einen kleinen Coiffeursalon führt, sagt, ihr Umsatz sei um 60% eingebrochen und ihr Neffe, der an der Universität in Athen in der Krebsforschung tätig gewesen sei, habe Ende 2015 Griechenland verlassen und sei nach Saudiarabien gegangen, da es am Nötigsten gefehlt habe. Man ist sich einig, dass Griechenland mit dem Euro und den Memoranden nicht wird überleben können.¹

Griechenland – Musterknabe der Nato und Goldgrube für die Rüstungsindustrie

Angesichts dieser Notlage erstaunt es doch sehr, dass das hochverschuldete Griechenland die Vorgabe der Nato, mindestens 2 % des Bruttoinlandsproduktes für die Verteidigung auszugeben, mit 2,38 % mehr als erfüllt, während 24 Nato-Staaten das Ziel nicht erreichen (u. a. Frankreich 1,78 %, Türkei 1,56 %, Deutschland 1,19 % etc.).2 Die griechische Regierung leistet sich eine Armee und einen Militärapparat einer mittleren Grossmacht, um nach eigenen Angaben für die Zwistigkeiten mit dem türkischen Nachbarn gewappnet zu sein. Interessanterweise werden in den Übereinkommen und den von der europäischen Troika diktierten Sparplänen die Sparmassnahmen im sozialen Bereich als Voraussetzung für die Freigabe weiterer Hilfen dezidiert aufgelistet, entsprechende Vorgaben für das Militär fehlen jedoch gänzlich. Ein Teil der EU-Kredite wird sogar für die Schuldentilgung vorheriger Rüstungseinkäufe und den Ankauf von neuen Waffensystemen benutzt. Im vergangenen Jahrzehnt hat Griechenland Rüstungsgüter im Wert von mehr als 11 Milliarden US-Dollar importiert. In den Jahren 2005 bis 2009 lag Griechenland auf Platz 5 der Liste der grössten Rüstungsimporteure der Welt.
Davon profitieren insbesondere deutsche Konzerne. Zusammen mit den USA und mit einigem Abstand vor Frankreich ist Deutschland der Hauptlieferant. Griechenland bezieht 31 % seiner Rüstungsgüter von deutschen Unternehmen wie ThyssenKrupp oder Krauss-Maffei Wegmann (KMW) und ist zweitgrösster Abnehmer deutscher Waffen aus Beständen der Bundeswehr. Indem dieselben Unternehmen auch die Türkei mit Waffen beliefern, funktioniert ihr Geschäft wie ein Perpetuum mobile.3

Doch nicht nur die Rüstungsindustrie, sondern auch die Nato hat ein strategisches Interesse an einer hochgerüsteten Türkei und einem militärisch starken Griechenland als stationäre Flugzeugträger gegen mögliche Entwicklungen im Mittleren Osten und dem südlichen Rand Russlands.

Griechenland ist Spielball des militärisch-industriellen Komplexes und der Hochfinanz geworden. Die «Hilfsgelder» aus der Eurozone fliessen in den Finanz- und den Rüstungssektor, und der griechischen Bevölkerung wird ein gewaltiges Verarmungsprogramm auferlegt. Griechenland befindet sich heute in einer humanitären Krise.

Widerstand und Solidaritätsinitiativen

Seit Beginn des Kreditprogramms ist der Widerstand in der griechischen Bevölkerung gross. Kürzungspolitik, Korruption und Klientelismus wird kritisiert und echte Demokratie gefordert. Heute gibt es in ganz Griechenland Tausende lokaler Projekte: politische Netzwerke, Kooperativen und insbesondere Solidaritätsinitiativen. In selbstverwalteten Krankenhäusern und Apotheken werden Menschen kostenlos medizinisch behandelt, denn ein Drittel der Griechen und Griechinnen ist nicht mehr krankenversichert. Über Lebensmittel­kooperativen und Märkte «ohne Mittelsmann» organisieren Menschen ihre Versorgung und umgehen dabei die hohen Preise im Einzelhandel. In sozialen Zentren werden, für alle zugänglich, Griechischkurse, Nachhilfe, Kinderbetreuung und Kulturprogramme ­organisiert. Und Dutzende selbstorganisierter Initiativen versorgen ganz direkt Menschen in Armut mit den nötigsten Lebensmitteln. Die riesige Solidaritätsbewegung zeichnet sich auch dadurch aus, dass die konkrete Arbeit immer mit politischen Forderungen kombiniert wird – denn eigentlich ist es die Aufgabe des Staates, diese Versorgung bereitzustellen.4

In der Pflicht sind aber vor allem auch die Länder der Euro-Zone. Wenn man wirklich will, dass Griechenland wieder auf die Beine kommt, muss man einen Schuldenschnitt gewähren, die Rückkehr zu einer eigenen Währung ermöglichen und dem Land seine volle Souveränität zurückgeben. ■

*bestehend aus Europäischer Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank

¹ cf. Fabien Perrier: L‘austérité pousse les Grecs vers la dépression collective. In: Le Temps vom 20. Februar 2017.
² www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/pdf_2016_07/20160705_160704-pr2016-116-fr.pdf
³ www.welt.de/wirtschaft/article139643645/Griechen-leisten-sich-die-groesste-Armee-Europas.html
www.attac.at/kampagnen/solidaritaet-mit-griechenland/situation.html

EU als Vertragspartner für die Schweiz noch glaubwürdig?

von Reinhard Koradi

Politische, wirtschaftliche und militärische Spannungen prägen das mittelbare und unmittelbare Umfeld der Schweiz. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese unser Land direkt oder indirekt in Konflikte verwickeln werden, die wir nicht auf die leichte Schulter nehmen dürfen. Vielmehr sind wir gefordert, Vorkehrungen zu treffen, die eine solide Grundlage für eine erfolgsversprechende Konflikt- und Krisenbewältigung aus eigener Kraft ermöglichen. Entscheidend dabei wird sein, dass wir unsere Unabhängigkeit bewahren und uns an der schweizerischen Tradition orientieren, die Probleme dort zu lösen, wo sie entstanden sind und am effektivsten gelöst werden können (Subsidiarität). Dazu gehört auch, dass wir von den ausländischen Staaten abverlangen, die Souveränität der Schweiz zu respektieren. Was wiederum Eigenverantwortung und Eigenleistung der schweizerischen Bevölkerung voraussetzt. Eine Selbstverständlichkeit ist das heute aber nicht mehr. Wie viele andere Staaten hat auch die Schweiz ihre Fähigkeiten, als souveräner Staat eigenverantwortlich zu handeln, zumindest teilweise durch internationale Bündnisse oder durch Abkommen und Verträge an transnationale Institutionen abgetreten. Eigenverantwortliches Handeln bedingt, dass wir die Eingriffe in unsere inneren Angelegenheiten konsequent zurückweisen. Dies gilt vor allem auch gegenüber der EU, die mit Drohungen und Säbelrasseln gegenüber der Schweiz ein Machtgehabe an den Tag legt, das nichts mehr mit «guter Nachbarschaft» zu tun hat.

Die schweizerische Verhandlungsdelegation, die für die Beziehungen der Schweiz zur EU zuständig ist, wird gemäss Bundesrat ab 1. April 2017 neu durch Pascale Baeriswyl, Staatssekretärin und politische Direktorin des Eidg. Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), geleitet. Mit Bezug auf die gegenwärtigen Unstimmigkeiten wird die Schweizer Vertretung gut beraten sein, wenn sie gegenüber Brüssel sehr kühl mit einer distanzierten Grundhaltung auftritt und durchsickern lässt, dass die bestehenden Abkommen keineswegs sakrosankt sind.

Pascale Baeriswyl übernimmt die Nachfolge von Staatssekretär Jacques de Watteville, der in Pension geht. Als EU-Chefunterhändler kritisierte de Watteville vor kurzem die einseitige Gesprächsblockade der EU. Als Reaktion auf das Ja des Schweizer Volkes zur Zuwanderungsinitiative setzt die EU die Schweiz durch Gesprächsverweigerung unter Druck und stellt sie vor ein Ultimatum: Rahmenabkommen oder nichts. Diese Position ist für eine souveräne Schweiz nicht akzeptabel und verlangt geradezu nach Gegenreaktionen.

Eine angemessene Reaktion ist, die Beziehungen der Schweiz zur EU einer gründlichen Standortbestimmung zu unterziehen. Bei der gegenwärtigen und wohl auch noch länger anhaltenden Suche nach Stabilität und Sicherheit ist es dann auch unabdingbar, die Frage nach dem Nutzen der «bilateralen Abkommen» zu stellen und sich im aktuellen Spannungsfeld der bilateralen Beziehungen zur Europäischen Union neu zu positionieren. Die Glaubwürdigkeit der Vertragspartner ist zu hinterfragen, aber auch die Unterhöhlung der Souveränität und Neutralität der Schweiz durch internationale Abkommen und Verträge muss auf den Prüfstand kommen. Es geht nicht um Isolation oder Abschottung, sondern um die Wahrung und den Ausbau der eigenen Handlungsfähigkeit im Innern, aber auch gegenüber dem Ausland. Die «freundschaftlichen» Beziehungen mit unseren europäischen Nachbarn haben wir mit den «bilateralen Abkommen» schon fast in Stein gemeisselt, dennoch sind sie wie alle anderen Verträge kündbar. Durch die fortlaufende und angestrebte EU-Erweiterung wird diese «Nachbarschaft» inzwischen geographisch sehr grossräumig interpretiert, was schon Grund genug für eine Neupositionierung der Schweiz ist. Alle diese Überlegungen unterstreichen die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen der EU und der Schweiz unter die Lupe zu nehmen.

Die EU als Vertragspartner

Die Risse innerhalb der Europäischen Union sind unübersehbar und lassen durchaus berechtigte Zweifel an deren Beständigkeit zu. An der Vertrauenswürdigkeit der EU als Vertragspartner nagt aber nicht nur das Schwächeln der gesamten Organisation, sondern vor allem auch das Verhalten Brüssels gegenüber der Schweiz. Beide Feststellungen belasten die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit der EU als ernstzunehmenden Vertragspartner schwer. Das gegenüber der Schweizer Bevölkerung zerrüttete Vertrauensverhältnis und die weitgehende Handlungsblockade der EU fordern die Schweiz heraus, ihre Beziehung zur EU neu zu überdenken und eine Verhandlungsposition aufzubauen, die sich vom vorauseilenden Gehorsam mit aller Deutlichkeit distanziert, keine Anbiederung mit der Macht zulässt und erlaubt, auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln. Ziel muss es sein, Verhandlungsergebnisse zu erzielen, die den schweizerischen Bedürfnissen und Interessen gerecht werden. Ohne diese Korrektur sind Gespräche mit der EU aus staatspolitischen Gründen nicht opportun.

Die Schweiz hat kaum etwas zu verlieren

Bevor die EU die Gesprächsblockade nicht aufhebt, gibt es keinen Grund zu irgendwelchen Zugeständnissen gegenüber Brüssel. Angebracht ist schon eher seitens der helvetischen Delegation, mit etwas gröberem Geschütz aufzufahren. Die andauernden Erpressungsversuche der EU und die Missachtung des Volksentscheides zur Zuwanderungsinitiative beweisen, dass die Europäische Union weit davon entfernt ist, die Souveränität der Schweiz zu respektieren und die Grundregeln fairer Vertragsverhandlungen einzuhalten. Unter gleichberechtigten Verhandlungspartnern führt ein solches Verhalten in der Regel zur Vertragsauflösung und zum Verhandlungsabbruch. Wenn die EU dem Schweizer Volk einen Rahmenvertrag aufbürden will, der unser politisches Selbstverständnis und System vollständig umkrempelt, dann gibt es keine Verhandlungen mehr mit dieser Institution. Verlieren wir auch die Tatsache nicht aus den Augen, dass die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU zusätzlich schwer belastet. Die durch die «EU-Zentralbank» ausgelöste Euro-Schwemme dient zwar den hochverschuldeten (südlichen) EU-Mitgliedländern, kostet die Schweiz aber mehrere Milliarden Franken und wohl auch Tausende Arbeitsplätze. Dabei sind die unabsehbaren Folgeschäden der durch diese Geldpolitik begünstigte Staatsverschuldung noch gar nicht einkalkuliert (Inflation, Bankenrettung usw.). Es sind enorme Risiken, die rund um unser Land aufgebaut werden, deren Folgen wir mitzutragen haben, sollte das gesamte Kartenhaus einmal in sich zusammenfallen. Niemand spricht es aus, aber die künstliche Abwertung des Euros hat die Dimension eines Wirtschaftskrieges. Sie benachteiligt unter anderem die Schweiz auf den internationalen Exportmärkten und verschafft den Euroländern nicht legitime Wettbewerbsvorteile, die grundsätzlich als Wettbewerbsverzerrung geahndet werden müssten. Vergessen wir auch nicht die desaströse Vermögensvernichtung bei den Ersparnissen und Rentenguthaben der Privathaushaltungen durch die unverantwortliche Geldpolitik der EZB (Negativzinsen usw.). Wenn die Schweiz über internationale Organisationen gezwungen wird, ihre Hoheitsrechte zu Gunsten von Harmonisierungsbestrebungen aufzulösen (Bankgeheimnis, Unter­nehmensbesteuerung usw.), dann wäre bei dieser Wettbewerbs­verfälsch­ung wohl auch Handlungsbedarf angesagt. Bei einer ehrlichen Bilanz über den Nutzen der bilateralen Verträge würde die Schweiz tendenziell mehr Gründe für die Auflösung der «Bilateralen» als für deren Aufrechterhaltung finden. Mag sein, dass der Zugang zu den Märkten der EU-Mitgliedsländer für die Schweiz bei einer Vertragsauflösung etwas schwieriger werden dürfte – die wirklichen Verlierer sind aber die in die EU eingebundenen Völker. Daher müsste es im Interesse der EU-Mitgliedsländer liegen, die berechtigten Anliegen der Schweiz in Bezug auf das Verhältnis zu Brüssel tatkräftig zu unterstützen. Der Zentralismus innerhalb der EU, das Übergehen der länderspezifischen Ursachen der nationalen Probleme und sämtlicher Differenzen im Nord-Südgefälle hat die Europäische Union in die Handlungsunfähigkeit getrieben. Reale Probleme lassen sich mit einer solchen Ignoranz nicht lösen, sondern werden nur vor sich hergeschoben (siehe Flüchtlings-, Finanz- und Eurokrise).

Die politischen Konsequenzen wiegen schwerer als wirtschaftliche Nachteile

Für die Schweiz geht es um weit mehr als den Marktzugang. Es geht letztlich um die Existenz unserer nationalen Unabhängigkeit, unserer Selbstbestimmung und unserer staatspolitischen Institutionen. Eine Schweiz, die ihre Souveränität, Stabilität und den inneren Zusammenhalt einem wenig vertrauenswürdigen Vertragspartner auf den Verhandlungstisch legt, gibt sich selbst auf. Was Nationalrat Jürg Stahl (Swiss Olympic), bezüglich der Kandidatur für die olympischen Winterspiele sagte, «wir können nicht alles mit monetären Argumenten in Frage stellen»,¹ hat eine noch viel umfassendere Berechtigung, wenn es um Freiheit, direkte Demokratie und Selbstbestimmung geht.

Gerade das jüngste Ereignis beweist den Verlust an Eigenständigkeit durch internationale Verpflichtungen. Zur Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen wird das Waffenrecht in der EU verschärft. Eine entsprechende Richtlinie wurde letzte Woche in Strassburg vom EU-Parlament verabschiedet. Die Schweiz als Schengen-Land muss die neue Regelung übernehmen. Gemäss Catherine Maret vom Bundesamt für Polizei (Fedpol) gibt es künftig einige Einschränkungen wie die Limitierung auf zehn Patronen pro Magazin oder die Pflicht zur Mitgliedschaft in einem Verein. Die Schweiz müsse zudem ein neues Waffenregister erstellen. Die Schweiz werde diese Bestimmungen übernehmen, vorbehältlich der Zustimmung des Parlamentes, erklärt die Fedpol-Sprecherin.

Die Blase vom Nutzen der Bilateralen ist geplatzt

So oder so hat die Schweiz allen Grund, aus einer Verhandlungsposition der Stärke aufzutreten, dies auch mit Blick auf eine neue Studie der HSG (Hochschule St. Gallen), deren Schlussfolgerung in einem eklatanten Widerspruch zu den bisher veröffentlichten Lobliedern auf die Bilateralen Abkommen stehen.

«Die bilateralen Verträge Schweiz-EU sind überholt und bringen der Schweizer Wirtschaft mehr Schaden als Nutzen. Schädliche Massnahmen der EU (Subventionen, etc.) kosten die Schweiz pro Jahr 17 Milliarden Franken. Das wurde von Wirtschaftswissenschafter Evenett, Universität St. Gallen, berechnet. Zum Beispiel kostet die Subvention des Strommarktes durch Deutschland die Schweiz Millionen. Die EU ist ein sich abschottender Block, der auf Protektionismus und Machtpolitik setzt. Die Bilateralen, insbesondere die Personenfreizügigkeit, sollten gekündigt und neu verhandelt werden.»²

Die Blase über den materiellen Nutzen der «Bilateralen» ist geplatzt. Die bis anhin angeführten materiellen Gründe für das Festhalten an den Bilateralen haben sich gemäss den Berechnungen von Professor Evenett in Luft aufgelöst. Damit dürfte auch klar sein, dass die staatspolitischen Argumente, die alle gegen den «bilateralen Weg» sprechen, absolute Priorität haben. Mit anderen Worten, als souveräner Staat hat die Schweiz die Pflicht, sich eine Position aufzubauen, die die Einmischung von aussen unterbindet, und ihr den Weg wieder öffnet, die Interessen des Landes und seiner Bevölkerung zu schützen, und wenn notwendig auch zu verteidigen. Ein absolutes Muss kann die Schweiz doch nur aus der Position der Stärke ihre humanitären Verpflichtungen erfüllen und nur als bündnisfreier Staat die notwendige Neutralität garantieren, um in einer tief gespaltenen Welt, die immer dringender werdende Vermittlerrolle zu übernehmen. ■

¹ SRF News, 08.03.2017
² www.srf.ch/news/schweiz/so-schaden-eu-staaten-der-schweizer-wirtschaft

Warum lud die offizielle Schweiz Jens Stoltenberg ein?

Die Nato und die Schweiz

von Thomas Kaiser

Der Besuch des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg in der Schweiz wirft Fragen auf, die von der Politik beantwortet werden müssen. Warum hat die offizielle Schweiz Jens Stoltenberg eingeladen? Warum versucht sie nicht, in dieser zugespitzten Situation zwischen den USA, der EU und Russ­land deeskalierend zu wirken, indem sie Vermittlungsgespräche anbietet, wie sie es bereits in der Ukraine-Krise getan hat, ohne sich dabei auf die eine oder andere Seite zu stellen?
Neutralität ist kein Wunschkonzert, sondern muss sich am konkreten Verhalten besonders in der Aussenpolitik manifestieren, sonst verspielt man diese staatspolitische Maxime auf dem internationalen Parkett. Eine konsequente neutrale Haltung wäre in einer sich immer stärker polarisierenden Welt äusserst wichtig. Während neutrale Länder wie Schweden und Finnland sich der Nato annähern wollen und diese auch kräftig um die beiden Staaten wirbt, bleiben am Ende kaum noch Länder übrig, die als neutrale Nationen ehrliche Friedensvermittlung anbieten können. Das dürfen wir in Hinblick auf unsere Sicherheit, aber auch in Hinblick auf unsere Friedens- und Entwicklungshilfearbeit nicht aufs Spiel setzen.

Die Neutralität muss konsequent und glaubhaft umgesetzt werden, und hier lassen sich bei unserer Landesregierung grosse Defizite erkennen. Das begann bereits nach dem Ende des Kalten Krieges mit dem Beitritt der Schweiz zur Nato-Unterorganisation «Partnerschaft für den Frieden» (PfP) und führte zum Einsatz bewaffneter Schweizer Soldaten, unter der Führung der Nato, im Kosovo und zur Entsendung Schweizer Offiziere nach Afghanistan, die aber aufgrund politischen Drucks vom damaligen Chef des VBS, Samuel Schmid, nach einigen Jahren wieder zurückgezogen werden mussten.

Trotz wiederholter Lippenbekenntnisse unserer Landesregierung, die Neutralität wahren zu wollen, sind Bestrebungen zu beobachten, die mit der Neutralität nicht vereinbar sind. Die Beteiligung der Schweiz am neuen Nato-Gefäss der «Interoperablitätsplattform» und die Erklärung am Ende des Besuchs von Jens Stoltenberg, enger mit der Nato zusammenarbeiten zu wollen, senden andere Signale aus.

Wenn die Schweiz in Konflikten als Vermittler segensreiche Friedensarbeit leisten und mit ihren «Guten Diensten» den Kontakt zwischen verfeindeten Staaten aufrechterhalten will, wie es Bundesrat Didier Burkhalter treffend am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz zum Ausdruck gebracht hat, dann sind bevorzugte Kontakte zur Nato mehr als kontraproduktiv und stehen diametral zu seinen Aussagen. Wer die Neutralität nur zur Beruhigung der Bevölkerung im Munde führt, aber durch die Hintertür einen Anschluss an die Nato plant, setzt seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel.
Bis heute ist die überwiegende Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer ganz klar für die Beibehaltung der Neutralität unseres Landes. Auch spricht sich gemäss der Sicherheitsstudie der ETH im Mai letzten Jahres eine klare Mehrheit gegen einen Anschluss der Schweiz zur Nato aus: 78% der Befragten wollen von der Nato nichts wissen und lehnen einen Beitritt ab. Wenn der Bundesrat jetzt auf Schleichwegen, wie seinerzeit Adolf Ogi und Flavio Cotti den Beitritt der Schweiz zur PfP einfädelten, die Schweiz über neue Nato-Plattformen sukzessive in das US-amerikanische Kriegsbündnis führen will, dann ist das unredlich, undemokratisch und wird unserem Land international grossen Schaden zufügen, denn auf der Welt gibt es 194 anerkannte Staaten, aber in der Nato sind deren gerade einmal 28.

Bewahren wir unsere Neutralität, und übernehmen wir die Rolle in der Welt, die unserem Staatswesen und unserer Einstellung am besten entspricht, neutral zu bleiben und in Konflikten Verhandlungen anzubieten.
Im Folgenden kommen zwei Persönlichkeiten zu Wort, deren politische Positionen in vielen Fragen wohl unterschiedlicher nicht sein können, dennoch lässt sich eine Übereinstimmung feststellen, die Hoffnung gibt. ■

«Eine neutrale und friedenspolitisch aktive Schweiz ist also nötig, mehr als je zuvor!»

Interview mit alt Nationalrat Dr. med. Franco Cavalli, SP

Dr. med. Franco Cavalli (Bild: zvg)
Dr. med. Franco Cavalli (Bild: zvg)

Zeitgeschehen im Fokus: Die Nato zeichnet sich in den letzten Jahren immer mehr als Durchsetzungsins­trument wirtschaftlicher und geostrategischer Interessen westlicher Industrienationen aus. Wie ist das zu beurteilen, wenn die Schweiz eine engere Zusammenarbeit mit der Nato anstrebt, wie in der Pressemitteilung des VBS nach dem Besuch von Jens Stoltenberg kommuniziert?

Dr. med. Franco Cavalli: Die Nato ist nun definitiv ein reines Machtinstrument der westlichen Industrienationen geworden, und die Tatsache, dass ihr Generalsekretär ein früherer sozialdemokratischer Ministerpräsident war, zeigt, wie tief die Sozialistische Internationale gefallen ist … und dann wundert man sich, wenn die «einfachen Leute» zunehmend zu den Rechtspopulisten laufen!

Was für ein Interesse könnte die Schweiz haben, in dieses Fahrwasser zu kommen?

Absolut keines, wenn man nicht will, dass man zusehends zu den imperialistischen Zirkeln gezählt wird, was auch gewisse Konsequenzen für unsere interne Sicherheit haben könnte.

Die Nato ist eine militärische Organisation aus der Zeit des Kalten Kriegs. Welche Bedeutung hat sie heute noch und müsste sich die Schweiz aus Neutralitätsgründen nicht ganz von ihr zurückziehen?

Nach dem Fall der Berliner Mauer hatte die Nato überhaupt keine Existenzberechtigung mehr, da der Wahrschauer Pakt verschwunden war. So hat man sich «Beschäftigungen» gesucht, damit die Militärkreise nicht arbeitslos bleiben. Dazu hat die Nato dann bei jedem noch so abenteuerlichen Krieg der USA (angefangen bei den Bombardierungen von Belgrad!) mitgemacht. Heute ist die Nato dabei, Russland militärisch wieder zu umzingeln und hilft den USA, das Gleiche auch mit China vorzunehmen. Schon aus Neutralitätsgründen dürfte die Schweiz dieses gefährliche Spiel nicht mitmachen.

Welchen Weg sollte die Schweiz in Hinblick auf die internationale Friedenspolitik gehen und welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Neutralität?

Die Schweiz kann eine bedeutende Rolle in der Friedenspolitik nur dann spielen, wenn sie neutral bleibt: Das haben wir noch und noch aus der Geschichte lernen können. Je näher wir zur Nato rücken, desto unglaubwürdiger werden wir bezüglich unserer Friedenspolitik. Wie Papst Franziskus gesagt hat, befinden wir uns schon im oder gerade kurz vor einem Dritten Weltkrieg: Eine neutrale und friedenspolitisch aktive Schweiz ist also nötig, mehr als je zuvor!

Herr Dr. Cavalli, vielen Dank für das Interview.

Interview Thomas Kaiser

«Unser Kleinstaat ist stark, weil er unabhängig ist, weil er neutral ist»

Interview mit Nationalrat Adrian Amstutz, Fraktionschef der SVP

Nationalrat Adrian Amstutz (Bild: www.parlament.ch)
Nationalrat Adrian Amstutz (Bild: www.parlament.ch)

Zeitgeschehen im Fokus: Wie beurteilen Sie den Besuch des Nato-Generalsekretärs in der Schweiz. Ist hier nicht die Neutralität tangiert?

Nationalrat Adrian Amstutz: Ein neutrales Land hat die Aufgabe, mit allen Personen Kontakte zu pflegen und Informationen auszutauschen, aber immer unter der Prämisse, dass es neutral bleibt.

Es gibt gewisse Ausnahmebereiche wie beim Kampfflugzeug-Training, wo das diskutierbar ist, aber im Grundsatz gibt es keine Zusammenarbeit mit der Nato. Eine Annäherung an die Nato kommt für uns sicher nicht in Frage.

Eine nähere Zusammenarbeit der Schweiz mit der Nato im Cyberkrieg wurde beim Besuch des Nato-Generalsekretärs thematisiert. Das ist für viele nicht Krieg, da gibt es keine Kämpfe und keine Schlachten, das läuft auf einer anderen Ebene ab. Ist hier nicht die Gefahr, dass man so enger in die Nato eingebunden wird, ohne dass das offensichtlich wird?

Doch, die Gefahr ist sehr gross. Wenn man entscheiden würde, ein gemeinsames System zu bewirtschaften, ist man in den Klauen der Nato. Sie könnte in das System eingreifen, es unter Umständen auch blockieren. Wir müssen auch in diesem Bereich unsere Neutralität, unsere Unabhängigkeit bewahren. Für mich ist alles andere ein Ding der Unmöglichkeit.

Wie kann man die Bedeutung der Neutralität in der Politik verstärken?

Der Bundesrat müsste sich des Verfassungsauftrags bewusst sein, der andauernd verletzt wird. Herr Burkhalter verurteilt offenbar ohne Rücksprache mit dem Gesamtbundesrat links und rechts Staaten auf der Welt. Das ist nicht zielführend und entspricht nicht unseren Guten Diensten, die wir anbieten wollen, wenn er einzelne Staaten für ihre Politik verurteilt. Das ist nicht die Politik, die ein neutrales Land zu praktizieren hat. Das ist in meinen Augen grössenwahnsinnig. Unser Kleinstaat ist stark, weil er unabhängig ist, weil er neutral ist. Aber das muss man leben, man kann das nicht nur auf dem Papier schreiben.

Es ist eigentlich erstaunlich, vor allem weil Herr Burkhalter gerade die Möglichkeit der Schweiz, Verhandlungen anzubieten, als eine Aufgabe im Bereich der Aussenpolitik sieht.

Ich teile diese Auffassung. Man kann aber die Aufgabe nur dann übernehmen, wenn man neutral ist und nicht einseitig Stellung nimmt. Mit dem erhobenen Zeigefinger Neutralität zu bewirtschaften, das funktioniert nicht. Neutral heisst eben unparteiisch zu sein.

Die Neutralität wahren kann man nur, wenn man sie auch verteidigen kann, und hier ist ein grosses Manko festzustellen. Kann man so überhaupt die Neutralität ausfüllen?

Das ist der Verfassungsauftrag, die immerwährende bewaffnete Neutralität. Das steht in der Verfassung und ist grundsätzlich unbestritten, aber wird gerade von unserem Aussenminister nicht gelebt. Dass man zudem eine Armeereform nach der anderen beschliesst, aber die notwendigen Mittel nicht zur Verfügung stellt, damit man den Verfassungsauftrag überhaupt erfüllen kann, ist schlicht unverantwortlich und gefährdet die Sicherheit von Land und Leuten. Das geschieht aktuell zum dritten Mal. Man macht dann die SVP-Bundesräte verantwortlich für das Scheitern der Reformen, was vom Gesamtbundesrat zu verantworten ist und von der Mehrheit im Parlament oft noch gestützt wird.

Man hat den Eindruck, dass die Armee zu Tode reformiert wird.

Es ist nicht alles falsch gewesen, aber man hat zu grosse Schritte gemacht und vor allem bewährte Sachen zerstört, was die Kampfkraft in einem Ernstfall geschwächt hat. Ich denke da vor allem an die Entfremdung der Armee von ihrer Bevölkerung und den Rückzug in die Kaserne. Ich denke an die Kantonsformationen, die man zerschlagen hat. Es macht für mich als Soldat einen Unterschied, ob ich im Kampf links und rechts einen Kollegen habe, den ich kenne, dessen Familie und dessen Umfeld, oder ob das ein Mr. X ist, den ich vorher noch nie gesehen habe. Das sind alles Schwächen, die man installiert hat, die man mit den sogenannten Reformen in Kauf genommen hat, was sicher nicht gut ist.

Was wäre der sinnvolle Weg?

Wir haben eine beschlossene Armeereform, hier hat man zumindest die Gelder gesprochen und den Bestand wenigstens nicht auf 80 000 Armeeangehörige herabgesetzt, sondern 100 000 ist die Untergrenze mit einem effektiven Bestand von 140 000. Das ist für die SVP die absolute Talsohle, auf der man jetzt wieder aufbauen muss. Die 140 000 Armeeangehörigen müssen so ausgebildet und ausgerüstet sein, dass sie ihre Aufgabe auch erfüllen können. Es nützen auch 400 000 Armeeangehörige nichts, wenn sie keine Ausrüstung haben.

Herr Nationalrat Amstutz, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Agent Orange

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

1964 begann der amerikanische Angriffskrieg gegen Nordvietnam. Begründet wurde er mit der bewussten Lüge¹, das amerikanische Kriegsschiff Maddox sei im Golf von Tonking von Nordvietnam angegriffen worden. Verdeckt waren die USA jedoch bereits seit 1950 aktiv mit der Absicht, die Unabhängigkeit Vietnams von der französischen Kolonialmacht zu verhindern. Später unterstützten die USA – ebenfalls verdeckt – die südvietnamesischen Regimes gegen den Aufstand in ihrer Bevölkerung.

Kriegsmuseum von Ho Chi Minh Ville: Bui Thi Lam (43) hält ihre blinde Tochter Hién. (Bild hhg)

Kriegsmuseum von Ho Chi Minh Ville: Bui Thi Lam (43) hält ihre blinde Tochter Hién. (Bild hhg)

 
Präsident Kennedy veranlasste Ende 1961 in Südvietnam² den Einsatz von chemischen Waffen in Form von Herbiziden, die oft mit Dioxin kontaminiert waren. Diese entlaubten Wälder und Mangroven, die den Aufständischen Schutz geboten hatten. Auch die Felder der Bauern wurden besprüht, um die Ernten zu vernichten. Das sollte dem Widerstand die Nahrungsgrundlage entziehen und die Bauern in Wehrdörfer zwingen, die vom südvietnamesischen Regime kontrolliert wurden.

Schon zu Beginn der 60er Jahre wurde die Toxizität von Dioxin nachgewiesen. 1967 verlangten 5 000 Wissenschaftler und 17 Nobelpreisträger von der US-Regierung, die Gifteinsätze einzustellen. Die Regierung jedoch bestritt die Schädlichkeit von Dioxin. Erst als die «Association for Advancement of Science» in Vietnam vor Ort die Folgen der militärischen Herbizide untersuchte und veröffentlichte, wurden die Gifteinsätze eingestellt.³ Bis heute bestreiten die amerikanische Regierung sowie die Herstellerfirmen⁴ jeden Zusammenhang zwischen militärischen Herbiziden und Gesundheitsschäden. Eine Wiedergutmachung steht bis heute aus.

Die Böden im Süden, die noch heute mit Dioxin belastet sind, müssten dringend dekontaminiert werden. Neuere Forschungen haben ergeben, dass dabei Mikroorganismen erfolgreich eingesetzt werden könnten. Für die vietnamesische Bevölkerung wäre dies ein Segen.

Über 40 Jahre nach dem Krieg bleibe ich vor der Photographie einer Mutter mit ihrem blinden Kind im Kriegsmuseum von Ho Chi Minh Ville stehen und lese: «Bui Thi Lam (43) hält ihre blinde Tochter Hién (8). Ihre beiden Kinder, geboren, nachdem der – Agent Orange ausgesetzte – Vater aus dem Krieg zurückkehrte, leiden beide an angeborener Blindheit (Ha Noi, 1981).» Man sieht es im Gesicht der Mutter – Kriege sind nicht zu Ende, wenn keine Bomben mehr fallen.⁵ Bis zum heutigen Tag wirken die chemischen Waffen nach, die die USA zwischen 1961 und 1971 in ihrem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bevölkerung Vietnams und der angrenzenden Gebiete von Laos und Kambodscha eingesetzt haben.

Bei einem Essen lerne ich die Frauenärztin Nguyen Thi Ngoc Phuong kennen, die ehemalige Leiterin der gynäkologischen Abteilung der Tu Du Klinik in Ho Chi Minh Ville. Als eine der ersten hatte sie eine ungewöhnliche Häufung von missgebildeten Neugeborenen festgestellt, und diese dann mit der chemischen Kriegsführung in Verbindung gebracht.⁶ Bis heute setzt sie sich ein für die Opfer von Agent Orange. So im Mai 2008 in einer Anhörung vor dem Unterausschuss «Subcommittee of Asia, Pacific and the Global Environment» des amerikanischen Repräsentantenhauses. Bis heute würden die USA einen Zusammenhang von Agent Orange und den schwerwiegenden Schäden in der vietnamesischen Bevölkerung leugnen. Eine Entschuldigung und eine Wiedergutmachung dieser Kriegsverbrechen fehle bis heute, so ihr bitteres Fazit. Dann machte Dr. Thi Ngoc Phuong noch auf die Untersuchungen von Jeanne Mager Stellman et al.⁷ zur chemischen Kriegsführung in Vietnam aufmerksam. Ursprünglich initiiert vom amerikanischen Verteidigungsministerium untersuchten Stellman et al. inwieweit Kombattanten und Bevölkerung in Vietnam militärischen Herbiziden ausgesetzt waren. Versprüht wurden 72 Millionen Liter militärische Herbizide, die um 400 Kilogramm hochtoxisches Dioxin⁸ beinhalteten. «Wahrscheinlich sind Millionen von Vietnamesen direkt besprüht worden», so Stellman et.al.⁹

2002 schätzte das Rote Kreuz, dass in Vietnam eine Million Menschen von den Spätfolgen von Agent Orange betroffen sind, dazu gehören rund 100 000 Kinder mit Missbildungen.¹⁰

Spätfolgen chemischer Waffen in Vietnam, Laos und Kambodscha …

Die dioxinkontaminierten Herbizide in Südvietnam, Laos und Kambodscha verseuchten die Böden bis heute. Sie gelangen noch immer in die Nahrungsketten von Menschen und Tieren. Kinder kommen – heute in der dritten Generation – mit schwerwiegenden Missbildungen zur Welt. Peter Jaeggi und Roland Schmid haben diese menschliche Tragödie im Jahr 2000 dokumentiert.¹¹ Die Fotografien von Schmid sind verstörend und treiben dem Betrachter Tränen in die Augen. Schwerst missgebildete Kinder, «die täglich mehr werden»¹² im Tu-Du-Frauenspital in Ho-Chi-Minh-Ville, wo die Kinder – so gut die heutigen Möglichkeiten im vietnamesischen Gesundheitssystem sind – behandelt werden. Fehlende oder missgebildete Gliedmassen, oft verbunden mit geistigen Behinderungen, verunmöglichen es diesen Kindern, später ein normales Leben zu führen, ihren Unterhalt zu verdienen, eine Familie zu gründen und später für ihre betagten Eltern zu sorgen, wie es in Vietnam Tradition ist. In Vietnam gibt es weder eine Invalidenversicherung noch eine Alters- und Hinterbliebenenversicherung.

Betreut und aufgezogen werden diese Kinder von ihren Eltern oder Grosseltern. Was das bedeutet, zeigen die Worte von Nguyen Thi Gai: «Als mein Kind geboren wurde, war ich sehr traurig, weil ich mich fragte: Was geschieht mit meiner Tochter, wenn ich einst nicht mehr lebe? – Bis zum heutigen Tag ist das meine Sorge geblieben, und sie wird es bis zu meinem Tode bleiben. Ich hoffe nur, dass die Wissenschaft Fortschritte machen wird und dass die Gesellschaft meine Familie unterstützt.»¹³

Auch vietnamesische Wissenschaftler befassten sich mit den Folgen der chemischen Waffen, so auch die Ärztin Phan Thi Phi Phi¹⁴ von der Immunologischen Abteilung der «Hanoi Medical School». Bei Menschen, die sich länger in den besprühten Gebieten aufhielten, findet sich ein stark geschwächtes Immunsystem mit entsprechender Anfälligkeit für Infektionen und Krebserkrankungen. «Zwar fehlt uns das Geld für exaktere wissenschaftliche Untersuchungen. Aber ich sehe es doch mit meinen eigenen Augen: Menschen, die in belasteten Gebieten lebten, haben mehr Krebs, ihre Kinder haben mehr Geburtsschäden, die Frauen haben mehr Gebärmutterkrebs», so die vietnamesische Ärztin.¹⁵

… in den USA, Kanada, Südkorea, Australien und Neuseeland

Auch Soldaten im Solde der USA im Krieg gegen Vietnam hatten direkten Kontakt mit dioxinkontaminierten Herbiziden. Sie wurden krank und haben missgebildete Kinder und Enkel. Bis heute leugnet die US-Administration diesen Zusammenhang. Zwar anerkennt das US-Department for Veterans Affairs eine Reihe von Geburtsschäden bei Kindern von Frauen, die im Vietnamkrieg eingesetzt waren.¹⁶ Ein Zusammenhang mit Herbiziden wird jedoch bestritten.¹⁷

Soziale Verbundenheit hilft die Folgen zu lindern

Weltweit gibt es immer wieder Persönlichkeiten, die sich für die Opfer von militärischen Waffen in Vietnam einsetzen. Stellvertretend für viele ist der ehemalige amerikanische Soldat George Mizo.¹⁸ Er gründete 1998 in Xuang Phuong, nahe von Hanoi, das «Dorf der Freundschaft», wo geschädigte Kinder und Veteranen in Grossfamilien mit einer Hausmutter zusammenleben. Sie bekommen medizinische und physiotherapeutische Unterstützung. In Werkstätten, einer Schneiderei und einem Computerkabinett erhalten die jungen Menschen eine Berufsausbildung.¹⁹

Mikroorganismen, eine neue Möglichkeit zur Dekontaminierung verseuchter Böden

Bis heute sind in Vietnam viele Böden immer noch mit Dioxin belastet, massiv kontaminiert werden sie als Hotspots bezeichnet. Die «Vietnam Academy of Science and Technology» in Hanoi forscht, wie mit Mikroorganismen Dioxin abgebaut werden könnte. Dazu Professorin Dang Thi Cam Ha: «Diese Mikroben sind an den Hotspots bereits vorhanden. Zunächst sind das ganz normale Bodenbakterien. Wenn man sie dem Dioxin aussetzt, mutieren einige und können das Gift dann aufnehmen. Am Anfang gibt es nur sehr wenige dieser spezifischen Mikroben, aber dann vermehren sie sich in grosser Vielfalt.»²⁰

Auch die Mikrobiologin Dr. Ute Lechner, Universität Halle, ist mit diesen Forschungen befasst: «Dioxine sind eine ganz besondere Stoffgruppe. Die bestehen aus bis zu 210 Einzelverbindungen, haben ein bis acht Chloratome an ihrem Ringsystem, und sie sind toxisch, sie sind schlecht wasserlöslich, also auch schlecht bioverfügbar, und deshalb hat man lange nicht geglaubt, dass da biologisch was passiert. Bis dann Anfang der 90er Jahre das erste aerobe Bakterium isoliert wurde, was Dioxine, einzelne Verbindungen vollständig abbauen konnte. Das war schon ein Durchbruch.»²¹

In Hue befasst sich Dr. Tran Hoa Duan vom Industrial College mit anaeroben Bakterien: «Das Problem ist, dass das Dioxin im Boden absinkt bis ins Grundwasser oder bis zur ersten Lehmschicht, wo es keinen Sauerstoff mehr gibt. Dort können aerobe Organismen nichts ausrichten, weil sie Sauerstoff brauchen. Das ist der Grund, warum ich mich auf die anaeroben Bakterien konzentriere.»²² Diese könnten dann das Dioxin unter Luftabschluss neutralisieren.

 

«In Vietnam haben wir den Rechtsstaat vollkommen ausser Kraft gesetzt, und wir haben die Charta der Vereinten Nationen ausser Kraft gesetzt. Seit unseren ersten Verletzungen der Genfer Abkommen*, beginnend mit dem Einsetzen unserer ersten Marionettenregierung in Südvietnam, dem Diem-Regime, haben wir unaufhörlich einen Grundsatz des Völkerechtes nach dem anderen und eine Vertragsverpflichtung nach der anderen verletzt, und die Welt weiss das. Mehr als 10 Jahre lang haben wir Geschichte geschrieben mit der unauslöschbaren Tinte der amerikanischen Verletzung der Genfer Abkommen* von 1954, zahlloser Artikel der Charta der Vereinten Nationen und auch des Artikels 1, Absatz 8 der Verfassung der Vereinigten Staaten, eine traurige und schockierende Chronik der Missachtung des Rechtsstaatsprinzips in unserer Aussenpolitik.»

Der amerikanische Senator Wayne Morse im US-Senat am 23. 9. 1965

* Als Ergebnis der Indochina-Konferenz

Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass mit einem solchen Verfahren kontaminierte Böden innerhalb von drei Jahren gereinigt werden könnten. Damit würde die Langzeitwirkung der Dioxine endgültig gestoppt. Für die Gesundheit und das Leben der Menschen in Vietnam, Laos und Kambodscha wäre dies ein Segen! Sowohl die USA wie auch die Konzerne, die damals die militärischen Herbizide produzierten, sind in der Pflicht, keine Kosten zu scheuen, um das angerichtete Desaster zu beseitigen. Damit wäre ein erster Beitrag zur längst fälligen Wiedergutmachung geleistet, die seit mehr als 40 Jahren ansteht. ■

¹ 2005 gab die National Security Agency (NSA) mehr als 140 geheime Dokumente frei. In einem von diesen bestätigte Robert Hanyok, Historiker der NSA, «dass es keinen Angriff gab». Robert Hanyok, zit. in: Daniele Ganser. «Illegale Kriege Wie die Nato-Länder die UNO sabotieren Eine Chronik von Kuba bis Syrien», Zürich 2016, S.137.
² Die «Operation Ranch Hand» der USA dauerte vom 10.08.1961 bis zum 07.01.1971.
³ Peter Jaeggi, Hrsg., «Als mein Kind geboren wurde, war ich sehr traurig Spätfolgen des Chemiwaffen-Einsatzes im Vietnamkrieg», Niederwil 2000, ISBN 3 85787 298 5, S. 20.
⁴ Dow Chemical, Monsanto und Uniroyal sowie das deutsche Chemieunternehmen Boehringer.
⁵ Titel einer Ausstellung zu den Folgen des Einsatzes von Agent Orange von 2012 im Salone Associazione Cultura Populare, Balerna, Tessin.
⁶ Thi Ngoc Phuong, 2008, zit. in: Stefan Kühner, «Lange nach dem Krieg... Agent Orange und die späten Leiden der Opfer», Zeitschrift Behinderung und Dritte Welt, 2/2009.
⁷ Jeanne Mager Stellmann, Steven D. Stellman, Richard Christian, Tracy Weber, Carrie Tomasallo, «The Extent and patterns of usage of Agent Orange and other herbicides in Vietnam», Departments of Health Policy and Management and Epidemiology, Mailman School of Public Health, Columbia University, New York, Institute for Cancer Prevention, New York, in: NATURE, VOL 422, April 2003, S. 681 – 687.
⁸ William Blum schreibt, dass 85 Milligramm Dioxin im Trinkwasser für eine Bevölkerung in der Grösse der Stadt New York tödlich wären. Vgl. William Blum, «Killing Hope, Zerstörung der Hoffnung», Globale Operationen der CIA seit dem 2. Weltkrieg, Frankfurt am Main 2016, S.257.
⁹ Eine ausführliche Zusammenfassung der Studie von Stellman et al. findet sich auf der homepage unserer Zeitung.
¹⁰ Red Cross, Vietnam Red Cross urges more aid for Agent Orange casualities, 14. März 2002.
¹¹ Vgl. Peter Jaeggi. 2016 hat Peter Jaeggi ein weiteres Buch zu Agent Orange herausgegeben mit dem Titel «Krieg ohne Ende».
¹² Jaeggi, S. 16.
¹³ Jaeggi, S. 54.
¹⁴ Während dem Vietnamkrieg war sie im Widerstand und hatte als Ärztin die Verantwortung für ein Lazarett. Sie erlebte den Einsatz der Chemiewaffen: «Es stank und trieb uns die Tränen in die Augen. Als Ärztin wusste ich, dass diese Chemikalien giftig sind. Aber wie giftig, wussten wir nicht. (…) Viele meiner Freunde wurden steril, oder sie starben an Leberkrebs. Viele meiner Studenten bekamen missgebildete Kinder (…) Was mich betrifft, so ist es wohl nichts Aussergewöhnliches. Nach jeweils anderthalb, zweieinhalb Monaten Schwangerschaft verlor ich mein Kind – vier Mal hab ich meinen Fötus verloren.» Jaeggi, S.24.
¹⁵ Jaeggi, S. 24.
¹⁶ 6000 bis 8500 Frauen waren am Vietnamkrieg beteiligt.
¹⁷ «VA (US-Departement of Veterans Affairs) anerkennt ein breites Spektrum von Geburtsschäden als assoziiert mit dem Dienst von weiblichen Veteranen in Vietnam. Diese Erkrankungen hängen nicht mit Herbiziden zusammen, Agent-Orange- oder Dioxin-Exposition eingeschlossen, sondern vielmehr mit dem Dienst der leiblichen Mutter in Vietnam.»
www.publichealth.va.gov/exposures/agentorange/conditions/birth_defects.asp. Zit. in: HOA BINH, Hrsg. Vereinigung Schweiz-Vietnam, Zürich, 27/2012, S.16.
¹⁸ Mizo kam als amerikanischer Soldat nach Vietnam. Verwundet wurde er in die USA zurückgeschickt. Dort protestierte er mit einem Hungerstreik vor dem Capitol in Washington gegen den Vietnamkrieg. Er weigerte sich, erneut nach Vietnam zu gehen und kam daher für zwei Jahre ins Gefängnis. Auch er erkrankte an den Folgen des Einsatzes von Agent Orange. Vgl. HOA BINH, 30/2014, S.19.
¹⁹ Hoa Binh, 30/2014, S. 19.
²⁰ Dang Thi Cam Ha, zitiert in: Gabi Schlag, «Mit Bakterien gegen Dioxin», Deutschlandfunk, Wissenschaftsmagazin vom 28.Dezember 2016.
²¹ Ute Lechner, zitiert in: Gabi Schlag. Lechner verfasste eine Habilitationsschrift zum Thema. Dr.rer.nat.habil. Ute Lechner, Der mikrobielle Abbau von Chloraromaten als Bestandteil des globalen Chlorzyklus, Halle (Saale), 14. Juni 2007.  
²² Tran Hoa Duan, zit. in: Gabi Schlag. Tran Hoa Duan promovierte am 14. November 2014 an der Technischen Universität Berlin zum Thema «Bio-transformation of chlorobenzenes by anaerobic mixed cultures and a pure bacterial strain».

 

«Interreligiöse Zusammenarbeit zum Wohl der Menschen»

Interview mit Professor S. J. Emmanuel, katholischer Priester und Präsident des «Global Tamil Forum»

Professor S. J. Emmanuel hat sich sein Leben lang für den Frieden in Sri Lanka eingesetzt. Vor 20 Jahren musste er aufgrund des gewalttätigen Bürgerkriegs aus seiner Heimat fliehen und lebt seit dieser Zeit in Deutschland im Exil. Im Jahr 2014 konnte er dort seinen 80. Geburtstag feiern und letztes Jahr seine 50jährige Priesterweihe. Seit dem Regierungswechsel in Sri Lanka herrscht eine andere Stimmung im Land und die neue Regierung hat Professor Emmanuel eingeladen, nach Sri Lanka zu kommen und beim Versöhnungsprozess mitzuhelfen. Lange war die Sicherheitslage sehr prekär, so dass eine Reise in seine Heimat zu gefährlich gewesen wäre. Dieses Jahr hat die Regierung erneut Professor Emmanuel eingeladen, nach Sri Lanka zu kommen. Wie er auf die erneute Einladung reagiert hat, erzählt er uns in folgendem Interview.

Zeitgeschehen im Fokus: Das letzte Mal, als wir uns sprachen, bestand eine Einladung der Regierung von Sri Lanka, Ihre Heimat zu besuchen. Sie sind damals aufgrund der schwierigen Sicherheitslage nicht nach Colombo gereist. Wie ist die heutige Situation?

Professor S. J. Emmanuel: Man hat mich erneut eingeladen, und ich habe diese Einladung ernst genommen. Eine zentrale Frage ist natürlich meine Sicherheit. Ich kann nicht irgendwo in Sri Lanka nur in einem Zimmer sitzen. Die Sicherheit muss gewährleistet sein, damit ich mich in Sri Lanka bewegen kann, nicht nur in Colombo, sondern auch in meiner Heimat in der Diözese Jaffna.

Sie sind sicher an ganz vielen Orten bekannt?

Ja, auch an anderen Orten, z. B. in Kandy, Nuwara Eliya, Trico, Vavuniya oder Mannar. Man kennt mich dort, und ich muss Freunde und Bekannte besuchen. Auch habe ich dort zwei Hilfs-Projekte. Ich muss mit einem Auto dorthin fahren können, begleitet von einer Person, die für meine Sicherheit zuständig ist. Ich will nicht von der Regierung beschützt werden, sondern ich möchte mich als Pater Emmanuel überall hinbewegen können, an alle Orte, aber immer in Begleitung eines befreundeten Priesters, der singhalesisch spricht und mir dadurch etwas Schutz gewähren kann.

Was ist Ihre Mission, wenn Sie nach Sri Lanka gehen?

Ich bin kein Politiker, aber zur Versöhnung unter den Völkern könnte ich etwas von der religiösen Seite her beitragen. Ich denke in diese Richtung. Ich habe damals 1986 in Jaffna ein Zentrum gegründet, ein Zentrum, das sich für eine bessere Gesellschaft einsetzt, für eine Zusammenarbeit mit allen religiösen Führern. Damals habe ich mit vier Vertretern, einem katholischen, einem evangelischen, einem Hindu und einem Moslem, als Patrons zehn Jahre ein «Center for Better Society» geleitet.

Was war das Ziel dieser Organisation?

Das ist eine interreligiöse Kollaboration zum Wohl der Menschen, denn ich bin überzeugt, dass alle Religionen zum Wohl der Menschen eingerichtet sind. Wenn möglich möchte ich wieder nach Jaffna gehen und dieses Zentrum wiederbeleben. Ich bin sicher, meine europäischen Freunde werden mir auch mit finanzieller Unterstützung helfen. Das Zentrum könnte mit anderen Organisationen im Süden, die das gleiche Anliegen haben, Kontakt aufnehmen. So könnte man mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Die katholische Kirche, sie hat sehr gut ausgebildete Priester und Nonnen, hat Kontakte im Norden und im Süden des Landes und Verbindungen in die ganze Welt. Aber sie unternehmen wenig oder gar nichts in Richtung Zusammenarbeit für die Versöhnung.

Woran liegt die Passivität der Religionen?

Das hängt immer noch mit dem 2009 beendeten Bürgerkrieg zusammen. Früher sprach die Kirche immer von Terrorismus und Terroristen und hielt sich zurück, aber das ist jetzt vorbei. Sie müssten das realisieren. Ich habe mit Papst Franziskus gesprochen, ihm gedankt für seinen Besuch des Marienschreins in Madu, wo er viele Kriegsopfer gesehen hat, und ihn gebeten, die Kirche in Sri Lanka zur Versöhnungsarbeit zu ermutigen. Die katholische Kirche ist die einzige, die das tun kann. Ich habe schon einige Priester und Studenten mit dieser Theologie in Verbindung gebracht, und mit dem Zentrum im Rücken könnte man etwas tun.

Papst Franziskus gratuliert Professor S. J. Emmanuel zu seiner 50jährigen Priesterweihe. (Bild zvg)

Papst Franziskus gratuliert Professor S. J. Emmanuel zu seiner 50jährigen Priesterweihe. (Bild zvg)


Wo sehen Sie eine Möglichkeit?

Meine Vorstellung ist, alle Religionen zum Wohle der Menschen zusammenzubringen. Wir müssen etwas für den Friedentun. Ich versuche gerade ein universales Credo zu schreiben. Ich nehme die Wahrheiten aus allen Religionen, damit wir alle zusammen an Gott und die Menschen glauben, zum Wohl der Menschheit, für die Menschenwürde, die Menschenrechte, die Gleichwertigkeit. Das Gebet «Vater Unser», das Jesus uns gelehrt hat, ist mehr als ein Gebet, es ist das Mysterium Gottes, damit wir als Kinder Gottes so leben können. Mein Kommentar zum «Vater Unser», den ich jetzt schreibe, soll helfen, meine Leute in Sri Lanka auf eine interreligiöse Zusammenarbeit zum Wohl der Menschen, der Tamilen und aller in Sri Lanka Lebenden vorzubereiten. Das ist mein kleiner Beitrag als Priester für den Frieden.

Wie haben die Regierungsvertreter hier in Genf auf Ihre Pläne und Ihr Projekt reagiert?

Sie waren positiv und haben meine Initiative willkommen geheissen. Sie wollen den Dialog, das offene Gespräch fördern. Man muss miteinander sprechen, nur das bringt die Klärung.

In dem Fall ist Ihr Plan konkret, wieder nach Sri Lanka zu reisen?

Ja, sehr konkret, ich stecke in den Vorbereitungen. Ich bin seit 50 Jahren Priester. 30 Jahre war ich in Sri Lanka und 20 Jahre in Deutschland. Ich habe alles getan, auf der internationalen Ebene, was mir möglich war.
Vor kurzer Zeit habe ich ein Gebet geschrieben, das ich jeden Abend in der Kirche singe (vgl. Kasten).

Bewegend, wie Sie Ihr Leben lang dem Glauben, dem Frieden und den Menschen gewidmet haben.

Danke.

Dann steht Ihrer Reise nichts mehr im Wege?

Nein, natürlich, in meinem Alter kann ich nicht mehr länger warten. Hoffentlich führt Gott mich weiter. Ich möchte diese Aufgabe übernehmen. Aber Gott ist mein Pilot, ich bin nur der Co-Pilot. Im Sturm (in Galiläa/Sri Lanka) will Er mir den Weg zeigen.

Professor Emmanuel, viel Glück bei Ihrer grossen Aufgabe und Gottes Segen. Vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Gebet von Professor S. J. Emmanuel

Gott, Du hast mich zum Menschen gemacht;
Du hast mich Tamile werden lassen;
Du hast mich als junger Christ gerufen, um Dir und Deinem Volk zu dienen.
Ich danke Dir.

Du hast mir als Einzelner viele Talente gegeben;
Ich konnte gut lernen und studieren
Ich war ein guter Schüler und Student.
Ich danke Dir.

Nach der Universität wollte ich einen säkularen Beruf ausüben,
aber Du hast mich gerufen, hierher auf deinen Weg zu kommen,
um Menschen zu dienen in Deinem Namen.
Ich danke Dir!

Gott, ich bin arrogant gewesen mit meinen Begabungen
Du hast mich gelehrt,
den anderen Menschen die Füsse zu waschen.
Ich danke Dir.

Ich komme zu Dir,
ich begebe mich zu Dir,
vergib mir meine Schuld und gib mir das ewige Leben.
Ich danke Dir.

Sri Lanka – «Vom Schweizer Modell lernen»

Interview mit Dr. Jehan Perera*

Dr. Jehan Perera (Bild thk)
Dr. Jehan Perera (Bild thk)

Jehan Perera ist Singhalese und wohnt in Colombo. Er reiste mit der Regierungsdelegation zur Frühjahrssession des Uno-Menschenrechtsrats nach Genf. Er engagiert sich seit Jahren für die Versöhnung zwischen Tamilen und Singhalesen. Im folgenden Interview berichtet er über seine segensreiche Arbeit in Sri Lanka.

Zeitgeschehen im Fokus: Was sind die Wurzeln dieses andauernden Misstrauens zwischen den Tamilen und den Singhalesen?

Dr. Jehan Perera: Die Hauptursache ist für mich die Asymmetrie der Macht zwischen den beiden wichtigsten ethnischen Gemeinschaften oder Nationen, die in unserem Land leben. Die Singhalesen machen 75% der Bevölkerung und die Sri Lanka Tamilen etwa 11% der Bevölkerung aus. In einem demokratischen System werden die Tamilen eine ständige Minderheit sein und die Singhalesen eine ständige Mehrheit. Infolgedessen ist die tamilische Vorstellung dessen, was gut und richtig ist, sehr schwer zu verwirklichen, denn die singhalesische Mehrheit kann immer ein Veto einlegen gegen das, was die Tamilen wollen. In gleicher Weise kann das, was die Singhalesen tun wollen, auch im Angesicht der Opposition seitens der Tamilen umgesetzt werden. Die Tamilen können das nicht aufhalten, denn die Singhalesen haben die ständige Mehrheit im Parlament.

Was könnte eine mögliche Lösung dieses grundsätzlichen Problems sein?

Wir müssen ein System der gemeinsamen Entscheidungsfindung und der Machtbeteiligung entwickeln. Das System, das die Tamilen vorgeschlagen haben, ist eine Art Föderalismus, in dem die Tamilen, die die Mehrheit im Norden stellen und die grösste Gemeinschaft im Osten des Landes sind, ihre eigene Regierung, ihre eigene Landesregierung bilden und ein gutes Mass an Selbstbestimmung geniessen können.

Glauben Sie, es ist realistisch, dass die Veränderung auf diese Weise stattfinden kann, nach all den Greueltaten der letzten 30 Jahre Krieg?

Im Jahr 1987 intervenierte die indische Regierung in den sri-lankischen Konflikt, um die sri-lankische Regierung unter Druck zu setzen, ein System in Richtung Föderalismus einzuführen. Das nennt man das «Provinzialratssystem». Ich denke, dass auf diesem System, das den Provinzen bereits eine gewisse Autonomie gibt, aufgebaut werden kann. Wir haben bereits die Umrisse des Systems der Machtteilung, und jetzt muss es entwickelt und gestärkt werden. Ich denke, das ist möglich.
Das Schweizer Modell ist eines, von dem man lernen kann. Dies ist ein grossartiges Modell mit starkem Föderalismus und sehr viel Souveränität der Kantone. So können die Menschen zusammen leben, obwohl sie verschiedene Sprachen sprechen. Gegenwärtig tendiert das sri-lankische System sehr stark in Richtung Zentralregierung. So hat die Landesregierung sehr wenig politische Macht, und sie haben auch sehr wenige Ressourcen. Das sollte geändert werden.

Sie engagieren sich für diese Veränderung?

Meine Organisation hat versucht, den Leuten zu erklären, was das Problem ist. Die meisten Singhalesen verstehen nicht, warum die Tamilen ein System des Föderalismus brauchen. Unsere Organisationen führen Workshops für Bildungsprogramme durch. Mit Gemeindeführern, mit Menschen, die einflussreich sind, kann man den Geist der Gemeinschaft ändern, um ihnen zu zeigen, dass andere Länder ähnliche Probleme haben und dass andere Länder Lösungen finden wie zum Beispiel die Schweiz, Indien oder Kanada. Es gibt einen Ausweg mit gerechten Lösungen.

Wird Ihre Stimme von der Regierung gehört, wenigstens von einem Teil der Regierung?

Ich glaube, unsere Stimme wird von der Regierung gehört. Deshalb hat mich die Regierung diesmal eingeladen, mich als Teil der Regierungsdelegation nach Genf zu begeben. Es ist das erste Mal, dass ich eine solche Einladung angenommen oder eine solche Gelegenheit angeboten bekommen habe, und ich habe sie akzeptiert, weil ich glaube, dass diese Regierung ehrlich ist, bei dem, was sie zu tun hoffen. Die Richtung der Veränderung in unserem Land in den letzten zwei Jahren, seit die Regierung an die Macht kam, ist die richtige Richtung, nur die Geschwindigkeit ist zu langsam. Wie der Minister heute in seiner Rede vor dem Menschenrechtsrat sagte, denken einige Leute, dass es zu wenig ist und zu langsam. Aber es gibt Leute, die denken, es ist zu viel, und es geht zu schnell.

Was sind die Ziele Ihrer Organisation?

Wir versuchen, Brücken zwischen den Menschen zu bauen, die anders denken. Ich bin hierhergekommen, weil ich durch diesen Besuch die Gelegenheit habe, die Bemühungen derjenigen zu unterstützen, die sich für die Lösung des Konflikts durch politische Reformen eingesetzt haben. Das ist der Versuch, etwas Gutes zu tun, von dem ich glaube, dass es aufrichtig ist, bei allem, was getan wird, und ich bin froh, dass ich als Mitglied der Zivilgesellschaft die Regierung von innen her beeinflussen kann.

Haben Sie positive Reaktionen der Singhalesen in Ihrem Land, sehen Sie Fortschritte?

Wir haben unsere Organisation vor etwa 20 Jahren gegründet. In der frühen Periode wollten wir eine Antikriegsbewegung sein. Anstelle des Krieges drängten wir auf Verhandlungen für eine politische Lösung. In den letzten 20 Jahren habe ich eine Veränderung im Land und in den Köpfen der Menschen miterlebt. Man weiss jetzt mehr über die Probleme der anderen Gemeinschaft, und man hat ein grösseres Wissen über das System der Machtteilung. Ich sehe auch, wenn wir unsere Workshops in den Bildungsprogrammen durchführen, dass die Leute akzeptieren, was wir gesagt haben. Das Problem ist, dass Gruppen wie die unsere auf einer Mikroebene arbeiten. Wir erreichen nur eine relativ geringe Anzahl von Menschen, aber wir erreichen wichtige Menschen. Was wir in den letzten zwanzig Jahren getan haben, war, dass wir die öffentliche Meinung in verschiedenen Teilen des Landes am Leben erhalten haben. Wir haben Raum für die liberalen Ansichten geschaffen, die wir vertreten.

Was muss der nächste Schritt sein, um mit Ihrem ehrlichen Anliegen erfolgreich zu sein?

Was wir brauchen, ist eine Regierung und die politischen Parteien, die auf der von uns geleisteten Arbeit aufbauen, und sie auf politischer Ebene weiterentwickeln. Auch die jetzige Regierung – und wir denken, dass es eine gute Regierung ist – hat das bisher nicht getan. Sie nimmt diese Herausforderung immer noch nicht an, unsere Botschaft auf breiter Basis zu den Menschen zu bringen. Über die Interessen der anderen Gemeinschaft und nicht nur über die eigenen zu sprechen ist für Politiker schwierig. Die meisten Politiker finden es einfach, über ihre eigene Gemeinschaft zu sprechen, und sie finden es schwieriger, über die Rechte der anderen Gemeinschaft zu sprechen. Wir stehen also genau vor dieser Herausforderung in unserem Land.

Herr Perera, ich danke Ihnen für das Gespräch

Interview Thomas Kaiser

*Jehan Perara ist Gründungsmitglied und seit kurzem Direktor des National Peace Council of Sri Lanka. Es ist eine Nichtregierungsorganisation mit dem Ziel, sich auf die Unterstützung der Öffentlichkeit für die Lösung des ethnischen Konflikts zu sensibilisieren. Perera ist Träger verschiedener internationaler Auszeichnungen. Er selbst hat den Bachelor of Arts am Harvard Collage absolviert und in Jura an der Harvard School of Law doktoriert.

«Menschenwürdige Lösungen finden»

www.extempore.ch
www.extempore.ch

thk. «Ex Tempore» heisst die literarische Zeitschrift der «United Nations Society of Writers», die einmal im Jahr in Genf erscheint. Im Jahre 1989 wurde der literarische Verein von Sergio Chaves, einem Uno-Dolmetscher aus Argentinien, Leonor Sampaio aus Brasilien und Alfred de Zayas ins Leben gerufen. Im Dezember 2016 erschien die 27. Ausgabe der Schrift. Ehemaliger Präsident des Vereins und Chefredakteur seit der Gründung ist Alfred de Zayas, der zur Zeit an der Uno das Amt des «Unabhängigen Experten für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung» bekleidet. Der Verein veranstaltet mehrmals im Jahr literarische Salons mit Dichterlesungen, Kurztheatern, gelegentlich mit musikalischer Begleitung. Die Reichhaltigkeit dieser Abende spielgelt sich in Presseartikeln in der Tribune de Genève, Le Courrier und jeweils in dem Staff-Magazin UN Special* wider. So finden sich in der Zeitschrift Beiträge in französischer, spanischer und englischer Sprache, Kurzgeschichten auf russisch, chinesisch, arabisch oder gar albanisch oder Gedichte ebenfalls in verschiedenen Sprachen. Wer an internationaler Literatur interessiert ist und eine Affinität zu Themen hat, die das friedliche Zusammenleben der Menschen repräsentieren, wird bei einem Streifzug durch das literarische Schaffen, gesammelt in der Schrift «Ex Tempore», voll und ganz auf seine Rechnung kommen. Im folgenden veröffentlichen wir einen (übersetzten) Auszug aus einem Epigramm, verfasst von Alfred de Zayas. ■

* www.unspecial.org/2017/03/past-present-and-future/

 

Wir sollten uns hüten, vor denjenigen, die die Menschenrechte dazu benutzen, Karriere zu machen und eine andere Agenda vorantreiben. Es gibt viele, die nicht an die Würde des Menschen glauben, und dennoch völlig selektiv die Menschenrechte bemühen und opportunistisch politische Ziele rechtfertigen, wobei sie die humanitäre Krise der Flüchtlinge und Migranten als eine Gelegenheit zur Beschaffung billiger Arbeitskräfte instrumentalisieren, die «Responsibility to protect» (Schutzverantwortung der Staaten) zur Förderung von Regimewechseln umgestalten – allerdings nur in jenen Ländern, in denen ein Geschäftsgewinn erwirtschaftet werden kann. Einige befürworten nur solche zivilen und politischen Rechte, die gut fürs Geschäft sind, und widersetzen sich kompromisslos den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Die «Menschenrechtsindustrie» folgt der Mode, nicht der Menschenwürde. Es ist klug, sich vor diesen Söldnern der Menschenrechte zu hüten. Wer von der Idee der Menschenwürde beseelt ist, missbraucht die Menschenrechte nicht als Waffen gegen andere Staaten und Völker, sondern ist geduldig und bemüht, menschenwürdige Lösungen zu finden.  Die Menschenrechtsindustrie lebt aber von vielen Heuchlern, die sich anmassen, «Gutmenschen» zu sein.
Alfred de Zayas
Quelle: Ex Tempore, Volume XXVII, S. 107f www.extempore.ch

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