Venezuela – «eine künstliche Krise ‹made in the USA›»

von Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Hat Ihr offener Brief an den Uno Generalsekretär und die Hochkommissarin für Menschenrechte Wirkung gezeigt?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Mein offener Brief, den ich auch auf meinem Blog veröffentlicht habe, der doch immerhin von 17 000 Personen besucht wird, fand eine relativ grosse Verbreitung und wurde von verschiedenen Medien aufgenommen und wieder publiziert. Seit einigen Tagen bereitet ein Team des Büros der Hochkommissarin für Menschenrechte in Venezuela den Besuch von Michelle Bachelet vor. Ich habe einiges für diesen Besuch getan, bzw. stets bei den Venezolanern und im Büro der Hochkommissarin dafür plädiert, dass dieser Besuch sobald wie möglich stattfindet. Im Dezember kam dann die Einladung der venezolanischen Regierung, aber bis Februar hatte Frau Bachelet nicht geantwortet. Jetzt hat sie sich entschlossen, in das Land zu reisen.

Was kann man sich von der Reise versprechen?

Wenn Bachelet mit offenen Augen und Ohren dorthin reist, wird sie merken, dass das, was wir in unseren Mainstream Medien lesen, hören und sehen, erheblich manipuliert ist. Sie ist eine intelligente Frau und wird merken, dass die Regierungen, die Nichtregierungsorganisationen wie z. B. Human Rights Watch oder Amnesty International entweder lügen oder ganz wesentliche Facetten der Ursachen für die Krise im Land ausblenden, so dass Beweise, die für eine balancierte Auswertung der Situation unerlässlich sind, unterdrückt und natürlich von der Mainstreampresse ebenfalls ignoriert werden. Gott sei Dank gibt es Alternativmedien wie Democracy Now (Amy Goodman), the Empire files (Abby Martin), the Real News Network (Paul Jay, Aaron Maté) oder theGreyzone.com (Max Blumenthal), die in Venezuela gewesen sind und Wahres berichtet haben.

An welche «Facetten» denken Sie da?

Ich denke da insbesondere an die Hyperbel der sogenannten «humanitären Krise», die eigentlich eine künstliche Krise «made in the USA» ist. Ich denke auch an die Geschichte des internen Wirtschaftskrieges. Man vergisst, dass Chávez und Maduro praktisch nichts an der kapitalistischen Wirtschaftsstruktur Venezuelas geändert haben. Die Wirtschaft ist nach wie vor in den Händen einer kleinen Oligarchie, das sind die grossen Konzerne mit Ausnahme der Ölindustrie.

Warum hat man die Ölindustrie unter staatliche Aufsicht genommen?

Nachdem 2002 der Privatsektor einen Wirtschaftscoup gegen die Regierung durchgeführt hatte und die Produktion von Öl mehr als zwei Monate eingestellt worden war, wurde die PDVSA (staatliche Erdölgesellschaft Venezuelas)verstaatlicht. Die grossen Geschäfte, die Supermärkte, Apotheken, die Presse und Kinos blieben aber weitestgehend privat. Diese Oli­garchen, in deren Händen sich sehr viele Betriebe befinden, haben die Strategie gewählt, eine künstliche Krise hervorzurufen, indem vorhandene Lebens- und Arzneimittel in grossen Warenlagern zurückbehalten und nicht direkt an die Supermärkte oder Apotheken ausgeliefert werden. Sie werden auf dem schwarzen Markt gehandelt. Das ist natürlich illegal, und die betreffenden Leute, die erwischt wurden, sind verhaftet und angeklagt worden. Ein weiteres Phänomen ist, dass subventionierte Waren, Lebensmittel und Medikamente mit Lastwagen nach Kolumbien oder Brasilien gekarrt und dort für das Zwanzigfache verkauft werden. Ich gehe davon aus, dass das Büro der Hochkommissarin das nicht weiss.

Sie waren 2017 selbst in Venezuela und konnten sich ein Bild von der Lage im Land machen. Hatte das Hochkommissariat Sie auf Ihrer Reise unterstützt?

Als ich meine Mission nach Venezuela vorbereitet habe, gab mir das Uno-Menschenrechtsbüro in keiner Weise Unterstützung. Sie gaben mir natürlich logistische Unterstützung, kauften meine Flugtickets und machten die Hotelreservierungen. Auch wollten sie nicht einmal sehen, was ich in Venezuela von glaubwürdigen Quellen, z. B. über die Sabotage oder die Angriffe auf die Installationen wie jetzt auf die Elektrizität, bekommen habe. Langsam werden diese Zusammenhänge mehr oder weniger publik. Die Arbeitsgruppe, die nach Venezuela gereist ist, muss darüber einen Bericht erstellen. Diesmal wird es auch nicht so einfach sein, meinen Venezuela-Bericht an den Menschenrechtsrat zu ignorieren.

Warum, was hat sich verändert?

Die NGOs aus Venezuela haben den Vorgänger von Frau Bachelet, Zeid Raad el Hussein, dokumentiert und mit viel Material über die Situation im Land versorgt. Sie sind nach Genf gekommen und haben sich immer wieder zu Wort gemeldet. Sie haben dem Hochkommissar die Unterlagen persönlich übergeben, aber er hat sie ignoriert und zwei mangelhafte, wenig objektive Berichte verfasst, die alle diese Informationen ausgeblendet haben. Die Berichte stützten sich fast ausschliesslich auf die Informationen, die ihm die Opposition zur Verfügung stellte. Damit ist nur die eine Seite der Geschichte dargestellt. Die andere Seite unter Verletzung des Prinzips «audiatur et altera pars» [man höre auch die andere Seite an] wurde nicht gehört. Ich denke, dass die NGOs sich lauthals wehren werden, wenn sie auch von Frau Bachelet ignoriert würden. Aber für Bachelet wird es eine Gratwanderung werden.

Warum?

Sie wird sich schwertun, die Berichte von Zeid Raad el Hussein klar zu widerlegen. Es gibt eine gewisse Solidarität unter den Hochkommissaren, nach dem Motto, eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Sie wird wahrscheinlich ihren eigenen Bericht vorlegen, ohne gross auf den Bericht von el Hussein einzugehen.  Also, ich hoffe, dass die Hochkommissarin in zwei, drei Wochen dorthin reisen wird, um sich ein objektives Bild zu machen, wenn nicht die USA die militärische Karte spielen werden. Es erinnert mich sehr an die Situation 2003, als die Uno-Inspektoren el Baradei und Hans Blix in Bagdad waren und im ganzen Staatsgebiet nach Massenvernichtungswaffen suchten, die sie natürlich nicht fanden, weil es keine gab. Sie wurden abberufen, weil die USA trotzdem einen Angriff gegen den Irak durchführen wollten.

Gibt es Anzeichen für eine militärische Aktion?

Ja, die USA haben sich entschlossen, die gesamte diplomatische Vertretung in Venezuela abzuziehen, obwohl sie sich zunächst geweigert hatten. Seit Jahren ist ein Angriffsplan des US-Southern Command fertig. Sie warten bloss auf Trumps Befehl. 

Das wäre von den USA ein Bruch des Völkerrechts

… es wäre total illegal, ein Verbrechen der Aggression gegen einen anderen Staat. Danach würden mit Sicherheit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit folgen. Wer kann die Vereinigten Staaten davon abbringen, wenn Trump fest entschlossen ist, Maduro zu stürzen?

Was ist mit Russland und China?

Ich glaube kaum, dass sie einen dritten Weltkrieg riskieren wollen. Aber beide Staaten haben deutlich die Einmischung der USA in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates immer verurteilt und würden möglicherweise nichtmilitärische Gegenmassnahmen ergreifen. Man muss öffentlichen Druck gegen die USA erzeugen, z. B. über die Hochkommissarin und natürlich über den Uno-Generalsekretär António Guterres.

Wie beurteilen Sie den Vorfall mit dem deutschen Botschafter, den Venezuela des Landes verwiesen hat?

Es ist absolut richtig und korrekt, dass sie den Botschafter hinausgeworfen haben. Er hat es verdient, genauso wie der französische Botschafter oder der spanische Botschafter, weil sie sich in die Politik des Landes einmischen und sogar mit ihrer Anwesenheit den zurückkehrenden Guaidó schützten. Das ist eine Verletzung der Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen. Es verletzt alte diplomatische Bräuche. Ein Botschafter ist da, um die Interessen seines Landes zu vertreten, und nicht, um sich in die inneren Angelegenheiten eines Staates einzumischen. Allerdings hat die venezolanische Regierung eine freundliche Geste gegenüber Deutschland gemacht.

In welcher Beziehung?

Seit November war der deutsche Journalist Billy Six inhaftiert – ihm wurde das Fotografieren von Militäranlagen vorgeworfen. Seit Anfang Januar habe ich mich für seine Freilassung eingesetzt, und zwar bei zwei venezolanischen Botschaftern und direkt bei der Regierung in Caracas. Vor mehr als drei Wochen habe ich mit dem venezolanischen Aussenminister Jorge Arreaza persönlich gesprochen – und zwar lange – als er für den Menschenrechtsrat in Genf weilte. Erfreulicherweise wurde Billy Six am 16. März freigelassen. Auch 2017 kooperierte die venezolanische Regierung mit der Uno. In meinem vertraulichen Memorandum vom 5. Dezember 2017 an Aussenminister Arreaza habe ich um die Freilassung von 23 Personen gebeten. Kurz vor Weihnachten wurden 80 Inhaftierte freigelassen. Dies beweist, dass die Regierung durchaus ansprechbar ist, wenn man gute Gründe respektvoll vorlegt.

Was könnte Frau Bachelet in Venezuela erreichen?

Sie sollte unbedingt die Gründe der Krise erforschen und nicht wiederholen, dass die Krise ihre Ursache im Sozialismus habe, der als Modell nicht funktioniere. Die Krise ist nicht dadurch verursacht, dass Maduro inkompetent oder korrupt ist. Die Korruption in den 80er und 90er Jahren, also vor der Zeit Hugo Chávez', war astronomisch, und er hat sie immer angeprangert. Er wurde gewählt, weil er gegen die Korruption vorgehen wollte. Es sind auch etliche Leute wegen Korruption verurteilt worden. Der jetzige Staatsanwalt William Tarek Saab, ein Libanese, hat ein ganz starkes Antikorruptionsprogramm etabliert, und es sind bereits etliche Schuldige verurteilt worden.

Korruption gibt es nicht nur in Venezuela.

Nein, das hat quasi eine Tradition in Mexiko, in Guatemala, in Honduras, in El Salvador, in Brasilien etc. Denken Sie nur an Odebrecht.¹

Was erwarten Sie noch vom Besuch der Hochkommissarin?

Sie darf nicht nur bei der Analyse der Situation stehenbleiben, und hier darf sie sich auch nicht auf Darstellungen in den Mainstream Medien verlassen. Sie muss vor allem auch über mögliche Lösungen nachdenken. Und es gibt Lösungen.

Woran denken Sie?

Als erstes müssen die einseitigen Sanktionen aufgehoben werden, damit dem Wirtschaftskrieg ein Ende bereitet wird. Vor allem die finanzielle Blockade muss beendet werden. Das hat im Land grosse Probleme verursacht. Wenn die Regierung keine Produkte mehr einkaufen kann wie z. B. Medikamente, weil US-Banken das Geld nicht transferieren, dann ist das für die Versorgung des Landes eine Katastrophe.

Die Sanktionen und das ganze Verhalten des Westens werden immer damit begründet, dass die Wahl von Maduro nicht rechtmässig gewesen sei …

… das stimmt nicht, die Präsidentschaftswahlen im Mai 2018 waren völlig legitim und entsprechend der venezolanischen Verfassung. Venezuela ist einer der wenigen Staaten in Lateinamerika, in dem das Volk regelmässig konsultiert wird. Seit dem Beginn der Amtszeit von Hugo Chávez vor 20 Jahren hat man 26 Wahlen oder Abstimmungen durchgeführt. Das Wahlsystem ist nahezu fehlerlos.

Wie kam es zu den Wahlen im Mai letzten Jahres?

Eigentlich sollten die Wahlen im April 2018 stattfinden, aber die Opposition wollte die Wahlen verschieben, damit sie mehr Zeit zur Vorbereitung habe. Das war von der Regierung eine Konzession an die Opposition, so dass die Wahlen erst im Mai stattfanden. Die Regierung Maduro zeigte sich hier absolut kompromissbereit. Aber weil die Opposition wusste, dass sie nicht gewinnen kann, hat sie zum Mittel des Boykotts gegriffen. Es gibt nichts Undemokratischeres, als eine demokratische Wahl zu boykottieren. Die Oligarchen, die immer die Macht in Venezuela gehabt hatten, zogen ihre Kandidaten zurück. Jeder hätte wählen können, niemandem wurde das Wahlrecht verweigert. Letztlich haben ca. 10 Millionen Venezolaner ihr Wahlrecht genutzt, beinahe 47 % der Wahlberechtigten. Der Oppositionelle, Henry Falcon, hat 21 %, Javier Bertucci hat 11 % und Maduro die restlichen 68 % Stimmen bekommen. Es wäre natürlich besser gewesen, wenn mehr Menschen zur Urne gegangen wären, aber das ist die Folge des Boykotts. Wahlen zu boykottieren und nachher das Resultat nicht anerkennen zu wollen, ist inkonsequent.

Wie war damals die internationale Berichterstattung?

Die New York Times und die Washington Post berichteten nur selektiv, genauso wie der deutsche Aussenminister Heiko Maas und andere, die behaupteten, die Wahlen seien nicht legitim gewesen.

Gab es keine Wahlbeobachtung?

Doch, es waren internationale Wahlbeobachter vor Ort. Die älteste und grösste Wahlbeobachtungsorganisation in Lateinamerika, namens Ceela (Consejo de Expertos Electorales de Latinoamérica) hatte einen sehr positiven Bericht geschrieben. Diese Ceela ist unabhängig, sie setzt sich aus den ehemaligen Präsidenten der Wahlkommissionen mehrerer lateinamerikanischer Staaten zusammen. Wenn diese Kommission feststellt, dass die Wahlen korrekt durchgeführt worden sind, dann kann man sich darauf verlassen. In unseren Mainstream Medien wird der Bericht der Ceela nicht erwähnt. Ich habe damals den Bericht an viele Leute geschickt, damit er zur Kenntnis gebracht wird. Ihm erging es wie meinem Bericht, den man nicht zur Kenntnis nehmen will, weil darin etwas steht, was man nicht wissen und hören will.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Thomas Kaiser, Genf

¹ Odebrecht ist ein lateinamerikanischer Baukonzern, der sich mit Bestechungsgeldern in der Höhe von ca. 750 Millionen Dollar in mehreren lateinamerikanischen Staaten Bauaufträge gesichert hat.

Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates ist ein Bruch der Uno-Charta

zif. Was mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Serbien, wohl bemerkt ohne Uno-Mandat, im Jahre 1999, also genau vor 20 Jahren, seinen Anfang genommen hatte, setzte sich nach der Amtszeit Bill Clintons unter der Präsidentschaft von George W. Bush in verstärktem Masse fort. Die Ereignisse des 11. Septembers boten den USA den willkommenen Anlass, im Nahen Osten und in Asien geostrategische Interessen ohne Rücksicht auf internationale Normen auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Die Uno-Charta und das humanitäre Völkerrecht wurden wie im Krieg gegen Serbien mit Füssen getreten. Bill Clintons Devise lautete: Wenn möglich mit der Uno, wenn nötig ohne sie. Das war der Auftakt für weitere Kriege.

Im Jahre 2003 warnten internationale Völkerrechtsexperten, dass ein Angriffskrieg gegen den Irak zu einer Erodierung des internationalen Rechts führen würde, mit katastrophalen Auswirkungen auf das Zusammenleben der Völker. Auch wollte Bush das humanitäre Völkerrecht, die Genfer Konventionen, ändern, um sie den von den USA geschaffenen «neuen Gegebenheiten» anzupassen. Er wollte sich beim Umgang mit «feindlichen Kombattanten» an keine internationalen Übereinkünfte mehr halten. 

Unter der Präsidentschaft Barak Obamas setzte sich im Grunde genommen diese Politik trotz Friedensnobelpreis fort. Vielleicht nicht ganz so offensichtlich, aber in der Wirkung nicht weniger verheerend. So führte die US-dominierte Allianz mit über 20 000 Luftschlägen einen Krieg gegen Libyen. Das entsprach in keiner Weise dem Uno-Mandat, das in bezug auf Libyen nur das Errichten einer Flugverbotszone erlaubte, um die Zivilbevölkerung vor Luftangriffen des libyschen Militärs zu schützen. Doch das eigentliche Ziel der Kriegsallianz war der Sturz Gaddafis. 

Was in Libyen durchexerziert wurde – das Land ist bis heute zerrüttet, verschiedene Machthaber bekämpfen sich und Gesellschaft und Politik sind in einem desolaten Zustand –, sollte nun auch in Syrien durchgeführt werden. Doch diesmal misstrauten Russland und China den Absichten der USA und ihrer Verbündeten und verhinderten eine militärische Intervention.

Donald Trump, von manchem bei seinem Amtsantritt als «Friedenspräsident» bezeichnet, führt diese Linie in der US-Aussenpolitik offensichtlich weiter. Mit militärischen Strafaktionen gegen Syrien, mit der Aufkündigung des Atom-Abkommens mit Iran, mit Verhängen von völkerrechtswidrigen einseitigen Zwangsmassnahmen gegen verschiedene Staaten wie den Iran, Russland oder Venezuela, hier sogar mit der Drohung einer militärischen Intervention, weitet er das Repertoire der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates aus. So drohte Trumps Sicherheitsberater, John Bolton, mit ernsten Konsequenzen, sollte Venezuela den Büroleiter von Juan Guaidó, dem selbsternannten Präsidenten, nicht unverzüglich freilassen.

Seit Jahren, in den letzten Monaten verstärkt, versuchen die USA, den gewählten venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro zu stürzen. Dabei greifen sie für jeden ersichtlich unter Verletzung der Uno-Charta und internationaler Normen in die inneren Angelegenheiten des Staates ein. 

Der Völkerrechtler und ehemalige Uno-Mandatsträger Alfred de Zayas hat in einem offenen Brief (vgl. Zeitgeschehen im Fokus Nr. 3) dieses völkerrechtswidrige Vorgehen der USA und weiterer Staaten kritisiert. Darin forderte er die Hochkommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet auf, nach Venezuela zu reisen. Bleibt zu hoffen, dass ihr Besuch zu einer Entspannung der Situation beiträgt. 

«Nein zum Krieg – Nein zur Nato»

Am 24. März 1999 begann der illegale Krieg gegen Jugoslawien

Zwanzig Jahre nach Beginn des illegalen Krieges gegen Jugoslawien erinnert das internationale Netzwerk «Nein zum Krieg – Nein zur Nato» an diesen bewussten Angriff auf einen souveränen Staat. Eine Büchse der Pandora war geöffnet worden, der mehrere illegale Kriege folgen sollten: gegen Afghanistan, Libyen, Irak und Syrien, mit einer blutigen Spur von Zerstörung, Zwangsräumung, Trauer und Tod.

Der Krieg gegen Jugoslawien war die Blaupause für die Verschärfung ethnischer und nationalistischer Konflikte und die Militarisierung von Gesellschaften bis hin zum Krieg. Diejenigen, die aus Kriegsgebieten fliehen, sind immer noch von militärische Aktionen bedroht, unabhängig davon, ob es sich bei dem Täter um die EU/Frontex und/oder die Nato handelt.

Die vermeintliche Legitimation für diese Kriege war ein Netz von Lügen, die eingesetzt wurden um Dominanz, Einfluss und Hegemonie zu erlangen und an Ressourcen heranzukommen.

Während dieser Zeit hat die Nato eine globale Reichweite entwickelt und wurde zu dem internationalen Militärbündnis. Dies wird durch den gemeinsam gefassten Beschluss seiner Mitglieder unterstrichen, bis 2024 Verteidigungsausgaben von mindestens 2 % des BIP zu erreichen. Diese Steigerung wird den Einfluss Chinas und Russlands verringern und Ressourcen für die kapitalistische Hegemonie sichern.

Widersprüche zwischen den Nato-Staaten können dieses gemeinsame Ziel nicht verschleiern, und die permanente territoriale Erweiterung der Nato dient diesen Zwecken. Die Vorbereitungen auf den Krieg, zuletzt gegen Venezuela, unterstreichen seine aggressive Haltung. Der Verzicht auf Atomwaffen wurde nie ernsthaft als Option in Betracht gezogen. Durch die umfassende Modernisierung und den beabsichtigten Einsatz neuer Atomwaffen durch die USA nach der Auflösung des INF-Vertrags wird das atomare Wettrüsten auf ein Niveau angeheizt, wie man es seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatte. Darüber hinaus ist die Nato-Strategie für einen Erstschlag eine Bedrohung für den gesamten Planeten.

Seit seiner Gründung im Jahr 2009 ist es dem internationalen Netzwerk «Nein zum Krieg – Nein zur Nato» gelungen, durch verschiedene Massnahmen die Unterstützung der Nato durch die Bevölkerung in Schlüsselstaaten zu reduzieren und sogar die Nato zu delegitimieren. Unser Ziel bleibt dasselbe – zwanzig Jahre nach dem illegalen Angriff auf Jugoslawien und 70 Jahre nach der Gründung der Nato: den Dinosaurier namens Nato zu überwinden und durch eine internationale Organisation für kollektive Sicherheit und Abrüstung zu ersetzen. 

Quelle: www.beoforum.rs, Presseerklärung vom 17.03.2019

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

«Wir müssen aufrecht in den Verhandlungen bleiben»

Nein zum Rahmenvertrag mit der EU

Interview mit Nationalrätin Yvette Estermann

Nationalrätin Yvette Estermannr (Bild thk)
Nationalrätin Yvette Estermannr (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Im Rahmenabkommen werden verschiedene Punkte geregelt. Welchen sehen Sie als den schwerwiegendsten an?

Nationalrätin Yvette Estermann Ich spreche jetzt generell. Für mich ist der Vertrag ein völlig ungleicher Vertrag. Wenn man das liest, dann merkt man, dass die EU sich als der Überlegene sieht und die Schweiz das zu erfüllen hat, was ihr von oben vorgeschrieben wird. Die EU befiehlt der Schweiz, was sie zu tun hat. Es ist kein Vertrag, bei dem sich beide Seiten gleichwertig gegenüberstehen. 

Was Sie jetzt gesagt haben, ist etwas, das man schon längere Zeit beobachten kann. Die EU versuchte auch in der Vergangenheit, die Schweiz immer wieder unter Druck zu setzen. Wie müsste sich die Schweiz gegenüber diesen Druckversuchen verhalten? 

Vielleicht ist es etwas frech, wenn ich das sage, aber wir bräuchten einen Bundesrat und ein Parlament, die sich nicht immer im vorauseilenden Gehorsam allem, was aus Brüssel kommt, beugen, sondern eine Position vertreten und Stärke zeigen. Aber der Bundesrat geht schon im voraus auf alles ein, was die Gegenseite wünscht, und bringt zu wenig ein, was für unser Land und die Menschen in der Schweiz wichtig ist. Wir sind doch der EU nicht ausgeliefert. Wir haben ein paar Trümpfe im Ärmel, die wir jederzeit ausspielen könnten.

An welche Trümpfe denken Sie da?

Zum Beispiel beim Verkehr: Die EU ist auf die Durchfahrt durch die Schweiz angewiesen.  Man könnte hier signalisieren, wenn die EU kein Entgegenkommen zeigt, dass die Durchfahrten nicht immer garantiert sind. Auch in anderen Bereichen wie bei den Grenzgängern oder den Schweizer Investitionen in EU-Staaten könnte unser Land einiges in die Waagschale werfen. Aber bei uns ist dann die Angst, dass die EU verärgert werden könnte und uns noch mehr unter Druck setzen würde. Man hat Angst, Stärke zu zeigen. Das ist auch für mich das Schwierigste im Parlament. Man kuscht sofort, wenn man Druck verspürt. Man ist sofort bereit, auf alles einzugehen, nur damit der Verhandlungspartner nicht unzufrieden wird. Das ist unser grösstes Problem.

Was bedeutet der Rahmenvertrag für die Schweiz?

Stellen Sie sich vor, eine Frau schliesst einen Ehevertrag, in dem festgehalten ist, dass der Ehemann alle Rechte hat. Er bestimmt über alles: wieviel Geld die Frau bekommt, wer im Haus wohnen darf usw. Die Frau kann sich wehren, sie kann zu einer Stelle gehen und sich beschweren, aber die Stelle wird vom Ehemann bestimmt. Wenn die Ehefrau auf ihren Rechten besteht, dann kann der Mann gegen sie vorgehen. So einen Vertrag würde doch kein vernünftiger Mensch unterschreiben. Das ist ein Sklavenvertrag.

Mit diesem Rahmenvertrag wird die Schweiz, wenn sie ihn unterzeichnet, in einigen Bereichen einen grossen Teil der Souveränität verlieren. In der aktuellen Diskussion wird diese Tatsache nicht erwähnt. Wie kann man das erklären?

Die Frage der Souveränität ist etwas Schwieriges. Wenn man sie verliert, tut das nirgendwo direkt weh. Aber diese Einschränkungen können grosse Auswirkungen haben. 

Wo kann man das feststellen?

Aktuell in Bezug auf den Schengen-Vertrag. Die EU erwartet, dass wir alle Änderungen des Vertrags übernehmen und droht, uns aus dem Vertrag auszuschliessen, wenn wir das nicht tun würden. Deutlich wurde der Verlust der Souveränität bei der Personenfreizügigkeit. Auch hier haben wir uns dem EU-Diktat gebeugt.

Was müsste in dieser Beziehung geschehen?

Für die Zukunft gibt es nur eins: versuchen, die Souveränität, wie wir sie noch vor 20 Jahren hatten, zurückzugewinnen. Aber die grosse Gefahr besteht: Wenn man einmal Freiheiten aufgegeben hat, ist es schwer, diese zurückzuholen. Das macht mir grosse Sorgen. Der Verlust an Souveränität ist nicht sofort spürbar, er hat nicht sofort finanzielle Auswirkungen. Es ist tragisch, für kurzfristige finanzielle und politische Erfolge gibt man Freiheiten auf, gibt Souveränität ab und verliert demokratische Mitsprache, aber man hofft, dass es nicht so schlimm wird. Das ist mir zu wenig, um hinter so einem Vertrag zu stehen.   

Um das Verhältnis Schweiz – EU geht es auch bei der erneuten Zahlung der Kohäsionsmilliarde. Hier hat man den Eindruck, der Bundesrat würde am liebsten das Geld ohne grosses Aufheben der EU bezahlen. Wie sehen Sie das?  

Dass wir uns mit diesem Vertrag mehr oder weniger verpflichten, regelmässige Zahlungen an die EU auszurichten, konnte auch der Bundesrat nicht entkräften. Er argumentiert damit, es sei politischer Druck, aber es sei nicht rechtlich verankert. Wir haben an so vielen Orten politischen Druck. Wenn uns dieser schon zur Zahlung von über einer Milliarde veranlasst, wieviel politischen Druck vertragen wir, wenn es um das Rahmenabkommen geht?

So, wie der Vertrag jetzt aussieht, hätte der Bundesrat ihn eigentlich ablehnen müssen. Er hat ihn aber in die Konsultation gegeben. Ist hier eine Strategie dahinter?

Der Bundesrat wollte zeigen, dass man die Experten und die Parlamentarier zu Wort kommen lässt. Das ist einmalig in der Geschichte des Bundesparlaments, dass so etwas stattgefunden hat. Ich vermute, die ganze Show sollte dazu dienen, dass man vom Bundesrat etwas Druck nimmt und nun insbesondere die Befürworter zu Wort kommen lässt. Die richtige Haltung wäre gewesen, dass man so einen Vertrag erst gar nicht aushandelt. Unsere Rechte werden zu wenig berücksichtigt und die Souveränität zu sehr eingeschränkt. Es ist jedoch möglich, einen Vertrag zwischen zwei Ländern abzuschliessen, der gleichwertig ist. In der Folge des Brexits haben wir jetzt mit England einen guten Vertrag ausgehandelt.

Was ist bei diesem Vertrag anders?

Beide Länder behalten ihre Souveränität und arbeiten dennoch wirtschaftlich gut zusammen. Es gibt Verträge, bei denen zwei souveräne Staaten sich gegenseitig verpflichten, aber ohne Verlust an Souveränität und ohne einseitige rechtliche Vorgaben. Das wäre also möglich. Dieser Vertrag ist in kurzer Zeit zustande gekommen. Wenn das ein guter Vertrag ist, dann ist das kein Problem. Auf dieser Basis sollte auch der Vertrag mit der EU aufgebaut sein. Es sind zwei gleichberechtigte Partner, die sich zu etwas verpflichten. Das ist etwas anderes als einer, der befiehlt, und der andere muss gehorchen. 

Was wäre jetzt zu tun?

Dem Bundesrat ist klar zu sagen: So geht es nicht! Wir wissen das aus anderen Verhandlungen, dass die EU immer dort, wo sie spürt, dass ein Land nachgibt, ihre Stärke voll ausspielt. Wir müssen aufrecht in den Verhandlungen bleiben und unsere Vorstellungen deutlich vertreten. Nur so kann ein gleichwertiger und brauchbarer Vertrag entstehen. Dieses Kriterium erfüllt der Rahmenvertrag jedoch in keiner Weise.

Frau Nationalrätin Estermann, vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Thomas Kaiser, Bern

«Wir brauchen kein EU-Diktat!»

Nein zur EU-Waffenrichtlinie!

Interview mit Nationalrätin Andrea Geissbühler

Nationalrätin Andrea Geissbühler (Bild thk)
Nationalrätin Andrea Geissbühler (Bild thk)

Am 19. Mai soll über die neue EU-Waffenrichtlinie abgestimmt werden. Verschiedene Organisationen ergriffen gegen die Übernahme des EU-Rechts das Referendum, nachdem beide Kammern den neuen Richtlinien zugestimmt hatten. Das Referendum kam mit ca. 125 000 Unterschriften zustande, nötig wären 50 000 gewesen. Seit die Schweiz dem Schengen-Abkommen beigetreten ist, muss sie sämtliche Rechtsänderungen, die von der EU kommen, übernehmen, andernfalls droht die EU mit dem Ausschluss der Schweiz aus dem Vertrag. Die von der EU vorangetriebene Verschärfung des Waffenrechts greift unmittelbar in die Schweizer Gesetzgebung und in die Tradition unseres Landes ein. Im folgenden Interview erklärt Nationalrätin Andrea Geissbühler, was dies für unser Land bedeutet, insbesondere unter dem Aspekt der Sicherheit.

Zeitgeschehen im Fokus Gibt uns die neue EU-Waffenrichtlinie mehr Sicherheit?

Nationalrätin Andrea Geissbühler Nein! Als ehemalige Polizistin habe ich gesehen, dass wir vor allem Probleme mit den illegalen Schusswaffen haben. Diese wird es weiterhin geben. Das lässt sich auch über die neue EU-Richtlinie nicht verhindern.

Drogenhandel, Menschenhandel und Waffenhandel sind die lukrativsten Geschäfte. Diese zu eliminieren ist besonders schwierig. 

Man könnte natürlich ein generelles Waffenverbot erlassen und dann in alle Häuser gehen und Razzien durchführen. Das ist in unserem freiheitlichen Staat aber ausgeschlossen. Grundsätzlich haben wir wenig Delikte mit Schusswaffen. Wenn wir mit Waffen Probleme haben, dann ist es mit Messern im Ausgang. Das ist vor allem bei Ausländern der Fall. Wenn es zu Massenschlägereien kommt, kommen häufig Stichwaffen zum Einsatz. 

Was bringt es dann?

Mehr Bürokratie, mehr Kosten, aber unter dem Strich nicht mehr Sicherheit. Mit dem Eintragen der Waffe ist noch keine Straftat verhindert.

Ist die Argumentation berechtigt, dass die Schweiz mitmachen muss, weil die EU das verlangt?

Wir haben Parteien, die in die EU wollen und jede Anbindung an die EU als positiv bewerten. 

Die EU will alle 5 Jahre prüfen, wie sich die neue Gesetzesverschärfung auf die Terrorabwehr auswirkt und als Konsequenz neue Massnahmen beschliessen. Ein unhaltbarer Zustand, dass sich die EU so direkt und automatisch in schweizerische Angelegenheiten einmischt und damit direkt in die Staatshoheit eingreift. 

Eine weitere Verschärfung des Waffenrechts liegt auf der Hand, weil die vorgeschlagenen Massnahmen im neuen Gesetz keine Terroranschläge verhindern.

Ein vielgehörtes Argument heisst, wenn die Schweiz die neue Waffenrichtlinie nicht übernimmt, wird sie vom Schengen-Vertrag ausgeschlossen.

Der Bundesrat droht bei einer Nichtannahme der Vorlage durch das Volk, dass die Schweiz aus dem Schengen- und Dublinabkommen geworfen werde. Das ist eine reine Angstmacherei. Die Schengenstaaten hätten kaum ein Interesse daran, aus der Schweiz einen weissen Fleck ohne kriminaltechnischen Datenaustausch mitten im Schengenraum zu machen. Die EU hat auch absolut kein Interesse, dass die 300 000 Grenzgänger plötzlich an der Grenze wieder kontrolliert und dass auf die über 100  Millionen Franken aus der Schweiz verzichtet würden. Wir brauchen ein Nein also nicht zu fürchten! Wir wollen in unserem Land weiterhin selbständig entscheiden, was gut für uns ist und was nicht, wir brauchen kein EU-Diktat! Darum brauchen wir ein klares Nein zur EU-Waffenrichtlinie.

Frau Nationalrätin Geissbühler, vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Thomas Kaiser, Bern

Palästina Flüchtlinge in Syrien: eine Geschichte von Verwüstung und Mut

von UNRWA-Generalkommissar Pierre Krähenbühl

Bei meinem letzten Besuch des Flüchtlingslagers Yarmouk war ich mit einem Ausmass von Verwüstung konfrontiert, das ich in drei Jahrzehnten meiner Arbeit in Kriegsgebieten in aller Welt nicht gesehen habe.

Überall in diesen Ruinenfeldern sah ich Anzeichen entsetzlichen menschlichen Leidens dieses unbarmherzigen Konfliktes, der die Leben von Millionen von Syriern zerrüttet hat. Ich wurde auch daran erinnert, was die Tragödie der Palästina Flüchtlinge in Syrien so ausserordentlich macht.

Pierre Krähenbühl mit einer Schülerin in einer Schule im Camp Steine in der Nähe von Damaskus. (Bild zvg)

Junge Palästinenser, die vor dem Krieg in Yarmouk aufwuchsen, verbrachten die ersten Jahre ihres Lebens mit dem Versuch, die Geschichten ihrer Familien und die Erzählungen vom Auszug aus Städten, deren Namen sie kannten, doch deren Bauwerke und Wahrzeichen sie nie sehen durften, zu verstehen. Sie lauschten den Erinnerungen ihrer Eltern und Grosseltern und sehnten sich nach einer gerechten Erlösung aus ihrer prekären Lage.

Das Trauma von Vertreibung und Enteignung

Auch war ihnen schmerzlich bewusst, dass ihre Eltern im Vorkriegssyrien die Würde genossen, eine Anstellung oder ein eigenes Geschäft zu haben, also ihren Lebensunterhalt grösstenteils selbst bestreiten konnten. Sie schickten zwar ihre Kinder auf UNRWA-Schulen und nutzten unsere Gesundheitszentren, benötigten darüber hinaus aber keinerlei weitere Unterstützung.

Als der Krieg begann und sich auf Gegenden ausweitete, in denen palästinensische Flüchtlinge seit Jahrzehnten gelebt hatten, wurden sie zur x-ten Generation von Palästinensern, die das Trauma von Vertreibung und Enteignung zu erdulden hatten. An die Reihe der Erzählungen ihrer Familien über die Jahre 1948 und 1967 knüpfen sie nunmehr ihre eigenen dramatischen Berichte über den Verlust von Verwandten, Freunden, Nachbarn, Häusern und Existenzgrundlagen an.

Von den 160 000 Palästina Flüchtlingen, die im Jahre 2011 in Yarmouk lebten, waren in den letzten Monaten vor dem Kampf um dessen Vorherrschaft im Jahre 2018 nur noch 8 000 übrig. So stolz waren sie auf ihre Errungenschaft und so gekennzeichnet von dem nicht mehr Vorhandenen, dass Palästina Flüchtlinge Yarmouk «unser kleines Palästina» nannten.

Dauerhafte humanitäre Unterstützung ist nötig

Der syrische Konflikt wirkt sich auch auf Palästina Flüchtlinge andernorts in Syrien aus. Im ganzen Land gab es einst 560 000, hauptsächlich in Aleppo, Homs, Hama, Latakia, Damaskus und Dera’a. Heute gibt es noch rund 440 000 Palästina Flüchtlinge, von denen mehr als die Hälfte intern vertrieben sind, und fast alle benötigen jetzt dauerhafte humanitäre Unterstützung. Seit 2011 flohen rund 120 000 Palästina Flüchtlinge aus Syrien in den Libanon, Jordanien, in die Türkei und weiter. Das UNRWA hat seine Leistungen in Syrien aufrechterhalten, sofern dies inmitten der Scheusslichkeiten des Krieges möglich war, und passte sich an den sich ständig wandelden Konflikt an. Der Mut und die Hingabe unserer Mitarbeiter, die Schulen und Kliniken auch in den schlimmsten Phasen des Krieges geöffnet zu halten, hatte einen hohen Preis: 18 UNRWA-Kollegen verloren ihr Leben und 28 sind seit Beginn des Konflikts verschollen.

Bemerkenswerterweise gibt es inmitten der Verwüstung ausserordentliche Beispiele für Überleben und Errungenschaften. Im Jahr 2018 erzielte Aya Abbas aus der neunten Klasse einer UNRWA-Schule das beste Zeugnis aller syrischen Schüler. Aya ist in Yarmouk geboren und war in jungen Jahren mit ihrer Familie in das Flüchtlingslager geflohen. Sie trotzte den ungeheuren Widrigkeiten und lernte so gut, dass sie Landesbeste wurde.

Ihre Geschichte ähnelt in vielerlei dem Schicksal der Palästina Flüchtlinge: oft konfrontiert mit persönlichem und kollektivem Leid gaben sie doch nie auf. Typisch ist Aya auch in ihrem Verhältnis zur Bildung – ein Bereich, in dem die Palästinenser Grossartiges vollbringen und eine Quelle der Inspiration sind.

Während des Konflikts in Syrien zeigte das UNRWA seine eigene Standhaftigkeit: Auch in Zeiten grosser Not halten wir an unserer Verpflichtung fest, Bildungsmöglichkeiten offenzuhalten. Waren Schulen unerreichbar, verteilten wir Materialien für das Selbststudium oder sandten von einem Fernsehsender in Gaza Bildungsprogramme aus.

Kein palästinensisches Flüchtlingskind im Stich lassen

Selbst als das UNRWA im letzten Jahr mit der ärgsten finanziellen Krise seiner stolzen Geschichte konfrontiert war, änderte sich nichts an unserer Entschlossenheit, kein palästinensisches Flüchtlingskind im Stich zu lassen. Als wir dank der vorzüglichen Unterstützung unserer Partner und Spender im September 2018 rechtzeitig das Schuljahr für die rund 50 000 Schulkinder eröffneten, war dies ein Grund grosser Freude.

Heute sehnen sich Palästina Flüchtlinge in Yarmouk und anderen Lagern in Syrien danach, allmählich in ein Zuhause zurückzukehren, wie sie es einst kannten. Inmitten der Diskussionen über die sichere und freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien erwägt das UNRWA, Schulen, Krankenhäuser und andere Einrichtungen in Yarmouk wieder aufzubauen, da alle entweder komplett zerstört oder stark beschädigt sind. Wir haben dies in anderen Lagern schon erfolgreich durchgeführt und werden alle Möglichkeiten berücksichtigen, um das Leben der von diesem Konflikt so stark betroffenen Gemeinschaft zu verbessern.

Wir schulden es Aya und so vielen anderen. Wir können schlichtweg nicht aufgeben.

Spenden: https://donate.unrwa.org

 

Kommentar zur Syrien-Konferenz in Brüssel

von Pierre Krähenbühl

Der Krieg in Syrien verursachte in den vergangenen acht Jahren immenses körperliches und seelisches Leid. Sprechen wir über dessen Auswirkungen auf die Menschen, dann sollten wir nie das Schicksal und die Verzweiflung der Palästina Flüchtlinge in Syrien aus dem Auge verlieren.

Sie sind eine weitere Generation von Palästinensern, welche das Trauma von Vertreibung und Verlust zu erdulden hat. Dieser Verlust von Verwandten, Freunden, Nachbarn, Eigentum und Existenzgrundlagen kennzeichnet diese Gemeinschaft auf höchst einschneidende Weise.

Die 560 000 palästinensischen Flüchtlinge in Syrien waren vor dem Krieg grösstenteils autark. Seit den 1950ern schickten sie ihre Kinder an UNRWA-Schulen und nutzten  medizinische Leistungen des UNRWA, doch davon abgesehen genossen sie den Stolz, die Bedürfnisse ihrer Familien zu gewährleisten. Nur sehr wenige bedurften humanitärer Soforthilfe.

Heute sind über 95 % der rund 440 000 Palästinenser in Syrien vollständig von humanitärer Hilfe abhängig, um überleben zu können. Auch die Lage der in den Libanon (ca. 28 000) und nach Jordanien (ca. 17 000) Geflohenen ist verheerend. Dies wissen wir, weil auch sie die Dienste von UNRWA, einschliesslich der Schulen, in Anspruch nehmen, welche ihre Kapazitätsgrenzen längst erreicht haben.

Ich bitte alle Spender und Teilnehmer der Dritten Brüsseler Syrien-Konferenz eindringlich, die Schutzbedürftigkeit der beinahe einer halben Million Palästina Flüchtlinge aus Syrien in ihre Diskussionen und Entscheidungen mit einzubeziehen. Sie sind ein integraler Bestandteil der von Konflikt und Vertreibung betroffenen Bevölkerung.

Wir von der UNRWA werden mit grosser Entschlossenheit und Zielstrebigkeit unsere Arbeit in den ­Bereichen Bildung, Gesundheit, Schutz, Mikrofinanzierung und ­Soforthilfe fortsetzen, welche den Palästina Flüchtlingen in Syrien, Jordanien und im Libanon zugutekommt.

Südsudan: Urbaner Gartenbau gegen den Hunger

von Zélie Schaller

Seit mehreren Jahren verursacht der Bürgerkrieg im Südsudan eine schwere humanitäre Krise. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hungert. Nun bekämpfen viele Familien in der Hauptstadt Juba Fehlernährung und Geldknappheit mit Familiengärten.

«Dieser Garten ist meine einzige Nahrungsquelle. Ich habe keine Arbeit, mein Mann hat mich verlassen, muss mich zu Hause aber um zehn Personen kümmern; das ist sehr schwierig. Hierhin gekommen bin ich wegen der Kämpfe in Yei.» Aus dieser seit Herbst 2016 belagerten südsudanesischen Stadt ist die 41-jährige Jane Opan mit ihrer Familie in die Hauptstadt Juba geflüchtet – während die Regierungstruppen Yei hielten, wurde die Stadt von Rebellen umzingelt.

(Bild adobe.stock)

 

Der seit 2011 unabhängige Südsudan ist Ende 2013 in einen Bürgerkrieg geschlittert, der zehntausende Todesopfer gefordert und Millionen zu Vertriebenen gemacht hat. In der Folge ist die Bevölkerung Jubas explodiert: Aus der halb ländlichen Grosssiedlung ist eine Stadt mit 900 000 Einwohnern geworden; die Binnenflüchtlinge haben keinen Zugang zu ihren Feldern mehr und können sich das Gemüse auf dem Markt nicht leisten. Die Nahrungsmittelpreise sind in die Höhe geschnellt, vor allem wegen Währungsschwankungen und einer hohen Inflationsrate. Den Familien fehlt es an allem. Im Februar haben die Behörden für bestimmte Landesgegenden offiziell eine Hungersnot ausgerufen.

Gestärkte Existenzgrundlage

Zur Bekämpfung des Hungers und zur Erhöhung der Widerstandskraft in der krisengeschüttelten Bevölkerung hat die Welternährungsorganisation (FAO) mit Unterstützung der DEZA 2015 in Juba und Umgebung ein Urban-Gardening-Projekt lanciert. Jane Opan erhielt eine Gemüsebau-Ausbildung, um die Existenzgrundlage ihrer Familie zu stärken. «Ich habe viel gelernt. Der Dozent hat uns gezeigt, wie man vorgehen muss. Meine Tomaten gedeihen bestens, sie werden richtig gross», freut sie sich.

Elisabeth Paulino ihrerseits hat gelernt, mehr zu produzieren, um auf dem Markt zu verkaufen, was sie von ihrer Ernte nicht selbst verwerten kann. «Mit dem verdienten Geld kaufe ich Sorghum, komme nach Hause und koche meiner Familie eine Mahlzeit. Das Essen reicht nie: Ich habe zuhause neun Kinder und meine Grossmutter», erzählt die junge Frau aus Malakal. Ausser Okra und Augenbohnen will sie künftig das lokale Gemüse Kudra anbauen, das sie auf dem Markt zu einem guten Preis verkaufen kann.

Saatgut und Bienenstöcke

Rund 6500 Familien profitieren vom bis Ende Jahr laufenden Projekt. Sie erhalten eine Auswahl einheimischer Gemüsesamen, Werkzeug (Giesskannen, Kessel, Schaufeln, Rechen) sowie eine Imker-Grundausrüstung mit modernen Bienenstöcken, Honiggläsern und Smokern. In Kursen lernen sie, ihren Ertrag zu steigern und die Wasserressourcen effizient einzusetzen.

Martin Rari Mosori ist stolz, seine pedalbetriebene Wasserpumpe richtig einzusetzen. Der 57-jährige ehemalige Soldat ist Bauer geworden, um seine zehn Kinder zu ernähren. Er baut Zwiebeln, Tomaten, Amarant und Wassermelonen an. «In jeder Saison experimentiere ich mit verschiedenen Anbautechniken und probiere, wie die Pflanzen am besten wachsen.» Durch Zufall hat er ausserhalb von Juba noch mehr Land gefunden und kann so mehr produzieren: «Dank der zusätzlichen Fläche läuft alles bestens.»

 

Arbeitsplätze schaffen

Andere Haushalte sind verletzlicher. Jene mit schwangeren oder stillenden Frauen, unterernährten Kindern unter fünf Jahren oder Alten haben während dreier Monate Anrecht auf elektronische Gutscheine. Sie können dort, wo die am Projekt beteiligten Bauern ihren Überschuss absetzen, mit Chipkarten Gemüse, Früchte, Fisch, Honig und Milch kaufen. 

Um die Lebensmittelproduktion wieder anzukurbeln und Perspektiven zu schaffen, wurden kleine urbane Unternehmen gegründet. Rund 200 Frauen und junge Produzenten verarbeiten und vermarkten damit ihre Nahrungsmittel. Zur Ausbildung gehörten sowohl Marketing als auch das Erarbeiten von Businessplänen, aber auch Aspekte wie Konservierung und Verpackung – gearbeitet wird mit Solartrocknern und -kühlern. Sie nahmen zudem an Fisch-Workshops teil, und eigneten sich dadurch wertvolles Wissen über Nährwert und Wirtschaftlichkeit dieses Nahrungsmittels an. Ausserdem lernten sie verschiedene Fischarten sowie Trocken- und Räuchermethoden kennen. Nun sollen auch noch Verträge mit Supermärkten und Hotels für den Vertrieb der Erzeugnisse folgen.

«Dieses Urban-Gardening-Programm beweist, dass landwirtschaftliche Projekte in schwierigen, instabilen Verhältnissen wie im Südsudan die Versorgung armer Familien verbessern und Arbeitsplätze schaffen können», freut sich Vuciri Isaac, der im Kooperationsbüro der Schweizer Botschaft in Juba für die nationalen Projekte zuständig ist.

Quelle: Eine Welt 4/2018

 

Akut fehlernährt, schwer unterernährt

Rund 7,1 Millionen Menschen im Südsudan benötigen laut Uno notfallmässige Unterstützung in den Bereichen Lebensmittelversorgung und Landwirtschaft. Geschätzte 1,1 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind von akuter Fehlernährung bedroht, mehr als 260 000 sind bereits schwer unterernährt. Die Dauerkonflikte sind für die landwirtschaftliche Produktion verheerend. Überdies bringen die galoppierende Inflation und der Zusammenbruch der Märkte jene Regionen in Bedrängnis, die zur Befriedigung ihrer Ernährungsbedürfnisse davon abhingen. Der eingeschränkte Zugang zu Gesundheitsdiensten sowie fehlende sanitäre Anlagen verschlimmern die Situation. Dazu kommen die Bevölkerungsbewegungen: Das Land zählt 1,84 Millionen intern Vertriebene sowie 2,5 Millionen in die Nachbarländer Äthiopien, Kenia, Uganda, Sudan, DR Kongo und Zentralafrikanische Republik Geflüchtete.

 

Wenn es im Klassenzimmer knistert

von Carl Bossard*

Unterricht lebt von humaner Energie. Das Digitale hat darum in Schulen seine Grenzen, so wichtig die neuen Medien sind. Pädagogik sollte vor Technik stehen. 

(Bild dw)

 

Wer in Biografien blättert und bei Schriftstellern schmökert, wer von seiner Schulzeit schwärmt, spürt sie immer wieder: die pädagogische Leidenschaft von Lehrerinnen und Lehrern. Diese Energie kann Kinder beflügeln und das Schulzimmer zum Schwingen bringen. Für viele war sie die entscheidende Gelingensbedingung ihres Lernens. Eine Berufsfrau erinnert sich an ihre Primarlehrerin Dora L. und erzählt: «Wenn sie von Formen und Zahlen sprach, glühten ihr die Wangen und funkelten ihr die Augen, wie wenn Kinder von Schokolade-Glace reden.»¹ Noch Jahre später sieht sie ihre Augen, fühlt die Atmosphäre und spürt die Freude am Lernen. In diesem Klassenzimmer floss Energie. Und wie! Energie erzeugt Resonanz, und Resonanz macht das Lernen regelrecht hörbar: Es knistert.

«In dir muss brennen, was du in andern entzünden willst!»

Wer an solche Momente denkt, weiss sofort: Was zwischen Menschen läuft, passiert nicht zuerst von Hirn zu Hirn, sondern von Auge zu Auge, von Ohr zu Ohr, von Sinn zu Sinn. Also körperlich und seelisch. Ich muss emotional berührt sein. Dann springt der berühmte Energiefunken auf mich über; ich lasse mich vom Unterrichtsstoff entzünden.

Wem dies zu esoterisch klingt, frage bei Dichtern nach. Auch bei ihnen taucht es immer wieder auf, dieses Zauberwort: begeistern, entflammen. «Er war ein wunderbarer Lehrer; er brannte für die Musik und steckte mit seinem Feuer uns Knaben an», sagt der Zuger Schriftsteller Thomas Hürlimann von seinem Musikpädagogen Pater Daniel in der Klosterschule Einsiedeln.²

Pädagogische Leidenschaft als Triebfeder und Energietank

Das Geheimnis dieses Erfolgs lässt sich wahrscheinlich auch neurologisch erklären – mit den Spiegelneuronen. Der Hirnforscher und Mediziner Joachim Bauer schreibt, die Motivationssysteme des menschlichen Gehirns würden in erster Linie durch «Beachtung, Interesse, Zuwendung und Sympathie anderer Menschen aktiviert. Die stärkste Motivationsdroge für den Menschen ist der andere Mensch.»³ Unterricht als Vorgang von Angesicht zu Angesicht, als interaktiver Prozess zwischen Subjekten; die Lehrerin als Brückenbauerin ins Neue und lebensfrohe Anstifterin zum Lernen, der Lehrer als Expeditionsleiter, als zuversichtlicher Chauffeur ins Leben. Ohne energetisches Feu sacré geht das nicht.

Ich muss die Musik sein

Die Primarlehrerin Dora L. und Hürlimanns Musiklehrer würden ihren lernwirksamen und schülergerechten Unterricht ganz ohne spiegelneuronalen Überbau erklären, sonst aber ziemlich das Gleiche sagen wie der Neuro-Wissenschaftler Joachim Bauer: Entscheidend für ihr Wirken seien Energie und Empathie, Leidenschaft und Liebe gewesen sowie fachlicher Anspruch und charmante Autorität, eben: spürbare Passion für den Beruf und wertschätzender Respekt den Schülerinnen und Schülern gegenüber sowie der unbedingte Wille, sie zu fördern. Ihrem Unterricht gaben beide eine heitere Note. Beseelt seien sie gewesen und darum bildend, mit Hingabe an die Aufgabe. Dieser Leidenschaft für die Welt entsprang ihr vitales Engagement für den pädagogischen Auftrag. Das ist die alte Idee der Pädagogik. Oder, um es mit dem Dirigenten David Zinman zu sagen: «Ich selber muss die Musik sein, die ich von meinem Orchester hören will.»

Lehren und Lernen brauchen Energie

Nicht jede Unterrichtssequenz hat konzertanten Charakter. Und nicht jede Lektion kann eine Sternstunde sein. Sie sind, wie das Aufleuchten von Sternschnuppen, nicht Alltag und nicht von langer Dauer. Das weiss jede gute Lehrerin, das ist jedem engagierten Lehrer bewusst. Lernen ist anspruchsvoll und Üben anstrengend. Sie brauchen Zucker und Sauerstoff und damit Energie, was das Gehirn zu vermeiden versucht. Das kennen alle.

Der schulische Alltag ist hoch energieaufwendig. Nicht nur für die Kinder. Spannkraft und Vitalität braucht auch die Lehrperson. In der Regel hat sie es – im Unterschied zum Arzt oder Psychotherapeuten – nicht mit einem individuellen Gegenüber zu tun, sondern mit einem Kollektiv. Schulklassen sind ein äusserst komplexes Gebilde und in ihrer Dynamik nur schwer vorhersehbar. Zu vieles entzieht sich der direkten Steuerung, zu vielschichtig ist das soziale Gefüge des Unterrichts, zu sehr unterscheidet sich das pädagogische Geschehen von einem industriellen Output-Verfahren oder technischen Vorgang, als dass es ethischen Ansprüchen und Entscheiden ausweichen könnte.

Dem Ich ein Gegenüber sein

Lehrerinnen und Lehrer müssen darum im persönlichen Kontakt führen. Wie eine Chorleiterin, wie ein Dirigent. «Pädagoge» entspringt dem griechischen paid-agogein, «Kinder führen». Führen, nicht nur betreuen und begleiten. Erziehung und Unterricht lassen sich nicht auf Empathie allein reduzieren. Dazu gehören – als zweites Standbein – Gegenhalten, Intervenieren, Konfrontieren. Lernen erfolgt auch am Widerstand.

Gute Lehrerinnen, pflichtbewusste Lehrer wissen: Dissenserfahrungen sind existenziell. Junge Menschen wollen nicht einfach bestätigt werden in dem, was sie schon sind und haben. Sie wollen herausgefordert werden und auf Widerspruch stossen. Aber auf eine Art von Widersprechen, das sie ergreift, bewegt und ernst nimmt. Mit humaner Energie das Andere aufzeigen und so Resonanzen auslösen.

Widerstand aushalten kostet Energie

Am Widerstand wachsen wir, nicht an Watte und Wolle. Das ist für Lehrpersonen anspruchsvoll, kostet Energie und erzeugt Gegendruck. Auch von Seiten der Eltern. Ihre Ansprüche steigen. Nicht wenige sehen Schule gerne als niedere Serviceleistung des Staats, berappt aus ihren Steuergeldern. Gemäss dieser Kioskmentalität haben Lehrer den Nachwuchs fit zu trimmen für den globalen Wettbewerb. Das Gymnasium muss es sein. Notfalls hilft der Anwalt.

Das zehrt und verbraucht Energie. Empathie und Widerstand gleichzeitig; verstehen und nicht mit allem einverstanden sein. Achtsam sein und gleichzeitig Disziplin verlangen, das Kollektiv im Auge behalten und jeden Einzelnen im Blick haben. Die Lehrerin arbeitet im widersprüchlichen Feld von Freiheit und Ordnung; das Wirken des Lehrers bewegt sich zwischen Sozialisation und Individuation, zwischen kultureller Integration und Vermitteln von Lerninhalten sowie Einüben von Können – und natürlich zwischen den Momenten des Gelingens und des Scheiterns.

Spannkraft und Energie fürs Mögliche finden

Diese Dilemmata lassen sich nicht auflösen. Lehrpersonen müssen sie aushalten, reflexiv handhaben und daraus die pädagogische Spannkraft und Energie fürs Mögliche und Alltägliche gewinnen. Das ist nicht immer leicht, der Idealfall nie Realität, aber er bleibt als Aufgabe. Darum wohl hätten Lehrerinnen und Lehrer den «schönsten, schwierigsten und schwersten Beruf der Welt», schreibt Thomas Hürlimann in seinem heiter-klugen Essay «Die pädagogische Provinz». ⁴

Dieser Beruf führt junge Menschen ins Leben. Er muss darum Leben ermöglichen. Denn ohne Leben ist Lernen nicht möglich. Leben aber lebt von Resonanzen. Leben braucht Beziehungen. Es ist die Qualität dieser Beziehungen, die dem pädagogischen Alltag die humane Energie und so das Lernwirksame vermittelt. Darum gilt wohl weiterhin die Kernbotschaft: Pädagogik vor Technik.⁵ 

* Carl Bossard, Dr. phil., dipl. Gymnasial­lehrer, war Rektor des Nidwaldner Gymnasiums in Stans, Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Heute leitet er Weiterbildungen und berät Schulen. Sein Hauptinteresse gilt bildungspolitischen und gesellschaftlich-historischen Fragen. Publikationen unter www.carlbossard.ch.

 

¹ Stephan Ellinger, Johannes Brunner: Alp-Traumlehrer. Von flüchtigen Fledermäusen und multikulturellen Frohnaturen. Studierende erinnern sich. Teilheim: Gemma-Verlag, 2015, S. 75. Der Name ist fiktiv.

² Thomas Hürlimann: Bringen wir den Ton zum Klingen!, in: NZZaS, 25.10.205, S. 71.

³ Ludger Kowal-Summek, Neurowissenschaften und Musikpädagogik. Klärungsversuche und Praxisbezüge. Köln: Springer, 2016, p. 141.

⁴ In: Thomas Hürlimann: Der Sprung in den Papierkorb. Geschichten, Gedanken und Notizen am Rand. Zürich: Ammann Verlag, 2008, p. 108f.

⁵ Klaus Zierer: Lernen 4.0. Pädagogik vor Technik. Möglichkeiten und Grenzen einer Digitalisierung im Bildungsbereich. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 2018, S. 114.

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