Editorial: Stoppt den Krieg!

Die Welt befindet sich offensichtlich im Umbruch. Das lässt sich nicht nur in der Auseinandersetzung um die Ukraine, sondern insbesondere im arabischen Raum, in Asien, Afrika und Lateinamerika erkennen. Karin Leukefeld, eine anerkannte Expertin für den Nahen Osten, legt in ihrem Interview die Entwicklungen eindrücklich dar. Alte Feindschaften werden überwunden, neue Bündnisse geschlossen beziehungsweise bestehende ausgebaut, und das nicht zuletzt aufgrund russischer und chinesischer Vermittlung. Die monopolare Welt scheint sich langsam, aber unaufhaltsam zu verabschieden.

Was das neben anderen Bereichen auch sicherheitspolitisch bedeutet – nicht nur für Europa – erklärt General a. D., Harald Kujat, ein unbestrittener Spezialist, detailliert und umfassend. Die Verschiebung der Machtverhältnisse von einer monopolaren zu einer multipolaren Welt birgt nicht nur Positives, sondern auch Risiken, die im Auge zu behalten sind. Die Folgen der Verschiebung werden, wenn die USA ihre Vormachtstellung verlieren, wirtschaftlicher, politischer und militärischer Natur sein. Welche Auswirkungen der Umbruch haben könnte, wird in diesem Interview analysiert. In Anbetracht dieser Veränderungen ist es um so wichtiger, dass sich Europa von den USA emanzipiert und seinen eigenen Weg findet, um nicht in Konflikte hineingezogen zu werden, die zum Nachteil unseres Kontinents gereichen. Der einzige Ausweg sind Verhandlungen und nicht noch mehr Waffen.

Dass die Neutralität der Schweiz in einer neuen Weltordnung eine unschätzbare Bedeutung zukommt, ist evident. Um so absurder wirkt es, wenn alt Bundesrat Kaspar Villiger, der Schweiz eine «moderne Neutralität» verordnet, die vor allem den US-amerikanischen Interessen dient. Eine multipolare Welt wird verstärkt neutrale Vermittler benötigen, damit Konflikte friedlich beigelegt werden können, bevor sie eskalieren. Dafür sind Scheinneutrale unbrauchbar, die mithelfen, unter Verlust der eigenen Identität, die monopolare Welt zu stärken. 

Mit dem Ukrainekrieg soll die Hegemonie der USA aufrechterhalten werden. Das erklärt neben anderen Themen der ehemalige deutsche Bundeswehr Major Florian Pfaff. Das Elend des Krieges, der am Schluss unzählige Tote, erschöpfte und traumatisierte Menschen zurücklässt, muss beendet werden. Er verlangt von Deutschland eine Kehrtwende. Das Land wird von den USA missbraucht und mit den mitgetragenen Sanktionen wirtschaftlich zerstört. Die Gefahr besteht, dass sich Deutschland unter Druck der USA immer weiter in den Krieg hineinziehen lässt und am Ende zur Kriegspartei wird. Das muss verhindert werden!

Bei der Entstehung einer multipolaren Weltordnung kommt dem Völkerrecht eine immer grössere Bedeutung zu. Alfred de Zayas, Professor für Völkerrecht, ehemaliger Uno-Mandatsträger und Autor unzähliger Bücher, beleuchtet diesen Aspekt. Wenn das Völkerrecht nicht nur einseitig zugunsten des Westens ausgelegt wird und die Provokationen gegenüber anderen Staaten eingestellt werden, könnten alle Konflikte auf der Grundlage der Uno-Charta schon bei ihrer Entstehung friedlich gelöst werden. Bei Chinas Politik erkennt er eine positive und friedensfördernde Wirkung. Einen wichtigen Part in der internationalen Entwicklung spielen die Europäer. Sie könnten z. B. dem Krieg in der Ukraine sofort ein Ende bereiten, indem sie sich von der Kriegspolitik der USA abwendeten.

Der authentische Bericht über palästinensische Hilfsprojekte im Gaza-Streifen führt dem Leser vor Augen, wie Menschen trotz desolaten Zuständen oder gerade deswegen in der Lage sind, sich gegenseitig zu unterstützen und zu helfen, um das Leid der geplagten Mitmenschen zu lindern. Obwohl man seit der Blockade von 2014 von vielen, auch medizinischen Gütern abgeschnitten ist, und es für Ärzte immer schwieriger wird, die notwendigen Medikamente für eine erfolgreiche Behandlung zu bekommen, gibt dieses Engagement den Menschen Hoffnung, selbst in schwierigsten Situationen Mut und Zuversicht nicht zu verlieren.

Was Krieg bedeutet und dass er der menschlichen Natur zutiefst widerspricht, kommt in einer berührenden Leserzuschrift von Stefan Nold zum Ausdruck. Die Geschichte eines Vaters, der als junger Mensch in den Zweiten Weltkrieg ziehen musste, ist stellvertretend für eine ganze Generation.

Die Redaktion

Naher Osten: Russland und China versuchen, zwischen allen Seiten zu vermitteln

Interview mit der freien Journalistin und Nahost-Expertin Karin Leukefeld

Karin Leukefeld (Bild thk)
Karin Leukefeld (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Russland ist seit einigen Jahren in Syrien engagiert und hat auch eine ordnungspolitische Rolle übernommen. Hat der Konflikt in der Ukraine Auswirkungen auf das russische  Engagement in der Region bekommen?

Karin Leukefeld Die Lage in Syrien hat sich durch den Ukraine-Krieg nicht wesentlich geändert bzw. verschlechtert. Das hängt damit zusammen, dass die Lage in Syrien schon seit längerem sehr schlecht ist. Bei uns wird der Getreidemangel und die Inflation auf den Ukraine-Krieg zurückgeführt, aber dort leben die Syrer schon seit vielen Jahren damit. Sie haben zu wenig Getreide, sie dürfen keinen Dünger importieren, es gibt keine Ersatzteile und eine unglaubliche Inflation und Teuerung. Das ist Alltag in Syrien. Die Ursachen liegen im Bürgerkrieg und sind eine Folge der Sanktionen. Das ist also nicht erst, seit Russland in die Ukraine einmarschiert ist.

Russland unterstützt nach wie vor Assad. Das bestätigte sich vor kurzem nochmals, denn Assad war zwei Tage in Moskau und führte dort ausführliche Gespräche. Die militärische Unterstützung ist nach wie vor vorhanden. Die russischen Militärbasen haben langfristige Vereinbarungen mit Syrien in Tartus, Latakia und Palmyra. Auch die russische Militärpolizei patrouilliert in den nordöstlichen Gebieten, die von fremden Truppen aus der Türkei und den USA besetzt sind. Die Stabilisierung des Landes mit russischer militärischer Unterstützung wird fortgesetzt. Neben der militärischen erhält Syrien auch politische Unterstützung. Zusätzlich gibt es wirtschaftliche Vereinbarungen, doch hier halten sich beide Staaten sehr bedeckt.

Wie sieht denn die politische Unterstützung aus?

Es gibt das Astana-Format, das in der westlichen Presse kaum vorkommt. Was dort aktuell diskutiert wird, ist die Annäherung der Türkei und Syriens. In dem Zusammenhang finden Gespräche in Moskau statt. Kürzlich trafen sich die stellvertretenden Aussenminister Russlands, Irans, der Türkei und Syriens in Moskau, um ein Treffen der Aussenminister vorzubereiten. Auch ist geplant, ein Treffen zwischen Assad und Erdogan zu ermöglichen. Assad reagierte darauf, dass das nur möglich sei, wenn die türkischen Truppen tatsächlich das Land verlassen hätten. 

Es ist doch bemerkenswert, dass sich hier etwas zum Positiven entwickelt…

Ja, unbedingt, und es ist auch so, schaut man auf die Bevölkerung in der Region, dann haben sie genug vom Krieg und wollen nur noch Ruhe. Ich hatte die Möglichkeit, zwei telefonische Interviews mit zwei Vertretern der syrischen Opposition zu führen. Einer ist im Moment in der Türkei, der andere dient in der von der Türkei finanzierten Armee. Er hält sich im Nordwesten des Landes, in Afrin, auf. Die Telefongespräche wurden vermittelt von Angehörigen eines Versöhnungskomitees in Aleppo. Sie stehen mit diesen beiden Personen im Kontakt, um auszuloten, wie eine Wiederannäherung und eine Rückkehr der geflohenen Menschen erfolgen könnten. Der Gesprächspartner aus Afrin sagte nur: «Wir sind hier alle erschöpft. Wir wollen nur noch zurück in unsere Dörfer und Häuser sowie Garantien, dass wir nicht alle verhaftet werden und ohne Konsequenzen zurückgehen können.» Er sagte am Ende des Gesprächs: «Wir haben unser eigenes Haus zerstört.» Er gehörte zu den bewaffneten Kräften, die gegen die syrische Armee gekämpft hatten. Er sagte, es sei alles zerstört und sie seien daran beteiligt gewesen. Es gebe eine grosse Erschöpfung in der Bevölkerung. Daher denke ich, dass eine Lösung dringend geboten ist. 

Das zeugt doch von einer Selbstreflexion, wenn man erkennt, dass man sich so selbst bzw. die Lebensgrundlagen zerstört. Leider fehlt so eine Einsicht in anderen Konflikten, Leid und Elend werden nicht ­beendet. 

Ich würde gerne noch auf das Erdbeben zu sprechen kommen. Inwiefern hat sich die Situation in Syrien dadurch noch mehr verschlechtert? Worin liegen die Ursachen für die hohen Opferzahlen?

Das Erdbeben hat vor allem Aleppo-Stadt und das Umland getroffen sowie Idlib und die Küstenregion. Die Zerstörungen waren erheblich, weil die Menschen in nicht sicheren Häusern gelebt haben. In Aleppo-Stadt war vor allem der Ostteil betroffen. Es war bekannt, dass die Häuser, in denen die Menschen lebten, nicht sicher waren. Die Bewohner waren immer wieder aufgefordert worden, diese Häuser zu verlassen. Hilfsorganisationen hatten die Menschen in diesen unsicheren Häusern versorgt, so dass sie dortgeblieben waren, was auch auf den Krieg zurückzuführen ist. In der Region von Idlib und an der Küste gab es sehr viele illegal gebaute Häuser, die nicht den statischen Anforderungen entsprachen. Teilweise stockte man ein bestehendes Haus noch mit weiteren Etagen auf, die nicht richtig abgesichert waren, um Inlandvertriebene unterbringen zu können. Auch das ist eine Folge des Krieges und der Vertreibungen, dass so viele Menschen ums Leben gekommen sind. In der Türkei waren vor allem die Bauverhältnisse, zum Beispiel instabile Gebäude für die hohen Opferzahlen verantwortlich. 

Man las in unserer Presse über Schwierigkeiten, von aussen Hilfe leisten zu können, besonders in Syrien. Was haben Sie darüber erfahren?

Hilfe kam vor allem aus den arabischen Nachbarstaaten, Saudi-Arabien, dem Irak, dem Libanon, der als erstes noch am selben Tag Hilfstrupps über die Grenze geschickt hatte. Der Libanon hob die westlichen Sanktionen einseitig auf, damit Hilfe auf dem Flughafen in Beirut ankommen und die Hilfsgüter ohne bürokratisches Prozedere über die Grenze geliefert werden konnten. Es gab aber neben dem Erdbeben noch ein politisches Erdbeben. Die arabischen Staaten einschliesslich der Golfstaaten begannen etwas, was sie schon lange beabsichtigten. Sie gingen auf Damaskus zu und sagten: «Wir müssen helfen.» Dieses Beispringen hat viel mit der islamischen Kultur zu tun. Das ist auch ein Druck der Bevölkerung auf die Regierungen, Syrien jetzt zu helfen. Aber die Situation wurde auch politisch genutzt. Hochrangiges diplomatisches Personal flog aus Ägypten, Jordanien, den Emiraten nach Damaskus. Die Aussenminister führten Gespräche mit dem syrischen Präsidenten. Dabei wurden weitere Dinge vorbereitet. Die Emirate und Saudi-Arabien wollen mehr investieren und beim Wiederaufbau helfen. Auch Assad wurde in die Emirate und nach Oman eingeladen. Politisch hat sich sehr viel bewegt. Die Uno und das IKRK, die schon seit Jahren in Syrien vor Ort gewesen waren und geholfen hatten, zeigten grossen Einsatz. Aber es war schwierig, in die Gebiete der bewaffneten Gruppen zu kommen, vor allem in Idlib. Dort weigerte man sich, die Hilfe, die aus Aleppo und Damaskus kam, über die innersyrische Grenze zu lassen. 

Das ist sehr interessant, denn unsere Mainstream-Medien berichteten immer, Assad verhindere Hilfslieferungen für die Eingeschlossenen. 

Das war natürlich ein politisches Interesse, es so darzustellen. Wenn massenweise Hilfsgüter auf dem Flughafen von Aleppo oder Damaskus ankommen, werden sie zunächst zwischengelagert und anschliessend auf die verschiedenen betroffenen Gebiete aufgeteilt. Der Syrische Arabische Halbmond wies wiederholt darauf hin, dass sie an den innersyrischen Kontrollpunkten, zum Beispiel bei Idlib nicht durchgelassen werden. Auch ein Vertreter des WFP (Welternährungsprogramm), der heute nicht mehr im Amt ist, stellte auf der Münchner Sicherheitskonferenz klar, die Autoritäten in Idlib – so drückte er sich aus – hatten dazu aufgerufen, die Transporte innerhalb des Landes nicht durchzulassen. Die syrische Regierung stimmte zu, dass zwei weitere Grenzübergänge in die Türkei geöffnet werden dürfen. So wird Idlib auch aus der Türkei versorgt, im wesentlichen auch von Katar, das sehr, sehr viel dort einsetzt, aber auch für die syrischen Flüchtlinge auf der türkischen Seite.

Sie haben vorhin erwähnt, dass der Libanon die westlichen Sanktionen ausgesetzt habe. Hat er denn die Sanktionen mitgetragen?

Der Libanon ist angehalten, dass alles, was an Hilfsgütern oder an Produkten für Syrien im Hafen von Beirut oder auf dem Flughafen ankommt, bestimmte Dokumente aufweisen muss. Erhalten sie von der EU und den USA eine Freigabe, können die Waren für Syrien geliefert werden. Dazu hat der libanesische Transportminister gesagt, dieses Prozedere wird einseitig von Libanon ausgesetzt, weil jetzt Hilfe gebraucht wird. Diejenigen, die etwas bringen, müssen keine grossartigen Gebühren mehr zahlen und Papiere vorlegen, sondern sie dürfen direkt liefern. Das war eine einseitige Massnahme der libanesischen Regierung, die unter Druck des Westens steht, diese Sanktion einzuhalten. Zusätzlich hoben die USA und die EU Teile der Sanktionen gegen Syrien für sechs Monate befristet auf. Das betrifft insbesondere die finanzielle Unterstützung. 

Sie erwähnten den Nordosten Syriens. Wie präsentiert sich dort die Lage? Sind die USA immer noch unter der Verletzung der territorialen Integrität Syriens im Land oder haben sie sich zurückgezogen?

Es ist eine sehr «gemischte» Lage. Im Nordosten des Landes sind US-amerikanische Truppen stationiert, vornehmlich auf den Ölfeldern. Sie haben Militärbasen bei Al Hasaka und Rakka. Dort befinden sich auch Militärflughäfen. Der Oberbefehlshaber der US-Army landete vor zwei Monaten tatsächlich im Nordosten Syriens auf einer US-Militärbasis. Die syrische Regierung kritisierte das äusserst scharf. Er führte dort Gespräche und liess durchblicken, dass die USA dort bleiben werden, und zwar nicht nur im Nordosten. Es gibt noch eine US-Militärbasis beim Grenzübergang Al-Walid im Dreiländereck Syrien, Jordanien, Irak. Um diese haben die USA eine Pufferzone von 50 Kilometern gezogen. Sie liessen verlauten, sie würden dort bleiben. Es gibt zunehmend Angriffe auf die Stützpunkte von irakischen und syrischen Milizen, die in Syrien und im Irak aktiv sind. Die USA bombardieren diese, was die Gefahr einer Eskalation der Gewalt heraufbeschwört. Es ist offensichtlich, dass diese Milizen, unterstützt von ihren Herkunftsländern, den USA das Leben schwer machen wollen. Seit Jahren fordert Syrien, dass die USA abziehen, China fordert das im Uno-Sicherheitsrat, ebenso Russ­land. Das ist eine Situation, die von Syrien nicht akzeptiert wird. Russland vermied es jedoch bis jetzt, in eine direkte Konfrontation mit den USA zu kommen, damit es keine offene militärische Auseinandersetzung gibt. Die russische Militärpolizei patrouilliert auch dort, zum Teil mit türkischem Militär. Russland versucht jetzt, zwischen allen Seiten zu vermitteln: zwischen den Kurden und der türkischen Regierung, zwischen der türkischen Regierung und der syrischen, zwischen den Kurden und der syrischen Regierung. Diesen Beitrag können die Russen nur leisten, wenn sie auch dort präsent sind. Die Russen halten sich sonst sehr zurück. Das habe ich erlebt, als ich selbst in diesem Gebiet war.

Was Sie jetzt berichtet haben, ist unglaublich. Die USA errichten ohne Zustimmung des syrischen Staates Militärbasen und weigern sich, das Land zu verlassen. Das ist doch eine völlige Ignoranz gegenüber dem Völkerrecht. Die «regelbasierte Ordnung», mantramässig vom Westen bei jeder Gelegenheit beschworen, wird zur Farce, wenn die eigenen Interessen im Vordergrund stehen. Das ist nichts Neues, aber in der Beurteilung des Ukrainekriegs entlarvt es die westliche Haltung.

Dazu kommt noch, dass unter dem Schutz der USA aus den Ölfeldern – syrische nationale Ressourcen – Öl abgepumpt und in den Nordirak verschoben wird. Konvois von 50 bis zu 80 Tanklastzügen fahren mindestens einmal pro Woche über die von den USA kontrollierte Grenze in den Irak. Das Öl wird dann zum Teil an die Türkei verkauft und teilweise geht es auf die Militärbasen der USA im Irak. Ein Teil wird über den Norden nach Idlib und Afrin geschmuggelt. Die Kriegssituation oder besser gesagt das Chaos trägt natürlich dazu bei, dass so etwas überhaupt möglich ist. Wenn Syrien die Grenzen in Absprache mit dem Irak und der Türkei selbst kontrollieren könnte, könnte das gestoppt werden. 

Wie stellt sich denn für Sie die allgemeine Entwicklung für die syrische Bevölkerung dar?

Einmal grundsätzlich gesagt, leben die Menschen ihr Leben, natürlich auf einem niedrigen Niveau, unterstützt von Familienangehörigen, die im Ausland leben. Was die Syrer am meisten bedauern, ist der Umstand, dass die meisten Jungen versuchen, das Land zu verlassen. Es gibt jetzt aber sehr viel Hoffnung auf die neuen regionalen Entwicklungen, insbesondere mit Iran und Saudi-Arabien. 

Die von Ihnen erwähnten regionalen Entwicklungen waren bei unserem letzten Interview noch in einem Anfangsstadium. Wie haben sie sich weiterentwickelt?

Was ich in unserem letzten Gespräch angedeutet hatte, offenbarte sich inzwischen als Kontinuum. Die Vereinbarung vom 10. März zwischen Iran und Saudi-Arabien, dass man aufeinander zugehen und nicht mehr in Stellvertreterkriegen gegeneinander kämpfen will, bestätigt das. Die Entwicklung hatte sich lange angebahnt. 

Das Ganze begann mit der Initiative Russlands zur Neuordnung der Persischen Golfregion, nämlich eine grenzübergreifende Institution zu schaffen, bei der alle Länder miteinander am Tisch sitzen. Diejenigen, die keine Grenze am Persischen Golf haben oder nicht direkt aus der Region kommen, können auch teilnehmen, aber höchstens beratend im Hintergrund. Das wären Russland, die EU, USA oder China. Diese Initiative wurde von der Uno, obwohl die Russen sie 2019 vorgeschlagen hatten, nicht aufgegriffen. Der Westen hatte kein Interesse daran. Aber die Gespräche zwischen dem Iran und den Persischen Golfstaaten vertiefen sich seitdem ständig, auch immer unter der Förderung – also nicht mit Druck – von Vermittlungs­angeboten durch Russland und China. Diese Gespräche waren zunächst regional, zum Beispiel, dass der Irak oder Oman zwischen Iran und Saudi-Arabien vermittelten. Sie boten dann die Möglichkeit an, sich dort für etliche Tage zu treffen und miteinander zu sprechen. 

In unseren Medien war darüber nichts zu erfahren.

Ja, das läuft wirklich alles jenseits der westlichen medialen Berichterstattung. Letztlich hat China diese Initiative ergriffen und die Staaten eingeladen. Vor kurzem waren die beiden Aussenminister in Peking. Das ist äusserst bemerkenswert. Auch Macron und von der Leyen waren in Peking. Es ist offensichtlich, dass sich hier internationale Diplomatie nach Peking bzw. nach Asien verschiebt. Saudi-Arabien und Iran werden wieder ihre Botschaften einrichten. Iran hat bereits einen Botschafter in die Emirate geschickt. Das wird sich sicher auf die einzelnen Konfliktherde wie Jemen, Libanon und Syrien auswirken. Erwartet wird, dass der saudische Aussenminister nach Damaskus kommt, um Syrien wieder ganz offiziell zum Treffen der Arabischen Liga einzuladen. (Der saudische Aussenminister Prinz Feisal Bin Farhan war am 18. April 2023 in Damaskus, wo er mit dem syrischen Präsidenten Bashar al Assad zusammentraf.)

Damit wäre eine wichtige Voraussetzung geschaffen, dass Syrien wieder in die Region integriert ist. 

Es ist doch sehr auffallend, wie sich gerade im Nahen Osten unter der Vermittlung Chinas und Russlands neue Perspektiven ergeben, die zu einer Befriedung der Situation führen können. Es erstaunt, mit welcher Arroganz der Westen den Chinesen begegnet, besonders wenn man den westlichen Leistungsausweis im Nahen Osten betrachtet. Wie reagieren die Chinesen darauf?

Frau von der Leyen hat zuvor Joe Biden in Washington getroffen. Dabei wird sicher die Linie festgelegt worden sein, mit der sie China begegnen soll. Man kann wohl auch davon ausgehen, dass sie eine Art Aufpasserfunktion in Bezug auf Macron einnehmen sollte. Macron hat sich zum Ukraine-Konflikt immer sehr zurückgehalten und mehrmals Gespräche mit Russland eingefordert. Da gibt es auch innerhalb der Europäischen Union unterschiedliche Auffassungen. Frankreich und Deutschland sind da nicht immer einer Meinung und haben unterschiedliche Ansatzpunkte. Interessant ist, wie China vorgegangen ist. Es hat beobachtet, wie sich die USA und Europa ihm nähern, um Russland in der Region zu isolieren, wie sie gegen China Taiwan umwerben. Peking nutzt die Abwesenheit der europäischen Diplomatie im Nahen Osten und tritt in diesen Raum und vermittelt. Peking nutzt auch das klassische Mittel der Diplomatie. Es wird Handel angeboten, es werden Gespräche angeboten. Man bietet an, miteinander verfeindete Kräfte ins Gespräch zu bringen. Das ist natürlich auch chinesischen Interessen in der Region des Mittleren Ostens geschuldet. Aber es ist ein völlig anderes Auftreten, als man es von den USA und Europa kennt. Das ist ein «diplomatischer Coup» und wird in der Region sehr wohl positiv wahrgenommen, ausser bei Israel. Auch in Ländern Afrikas und Lateinamerikas beobachtet man das ganz genau. Das bedeutet für den Mittleren Osten die Entstehung einer neuen multipolaren Weltordnung. 

Es ist doch sehr bemerkenswert, dass China hier eine ganz andere Politik betreibt als Europa im Schlepptau der USA, die vor allem mit Gewalt wie im Irak oder Libyen vorgegangen sind, um devote Regierungen einzusetzen, damit man «legal» die Ressourcen ausbeuten kann. 

Ja, unbedingt. Die militärische Eskalation in der Ukraine einerseits, der Wirtschaftskrieg andererseits, wie er vom Westen gegen Russland mit den ganzen Sanktionspaketen geführt wird, beschleunigten die Entwicklung einer neuen Ordnung. 

Die «Shanghai Cooperation» hat Zulauf. Iran ist als neuntes Mitglied aufgenommen worden. Saudi-Arabien hat sein Interesse bekundet. Die BRICS-Staaten schliessen sich neu zusammen, um jenseits von Blöcken eine neue Kraft aufzubauen und sich gegenseitig zu stärken. Das hat im vergangenen Jahr Geschwindigkeit aufgenommen, was möglicherweise ohne den Krieg in der Ukraine länger gedauert hätte. Durch diesen Krieg werden vom Westen alle unter Druck gesetzt. Dagegen wollen sie eine eigene Kraft setzen. Das ist eine sehr interessante und wichtige Entwicklung. 

Was Sie darlegen, steht der westlichen Berichterstattung diametral entgegen. Man versucht uns einzutrichtern, dass Russland isoliert sei. Wenn man Ihre Ausführungen hört, kann man doch sagen, dass all die Aussagen, wie «Russland wird in die Knie gezwungen» oder «Russ­land soll leiden» immer mehr ins Leere laufen. 

An vielen politischen Stellen wird das auch so wahrgenommen. Ich habe den ehemaligen deutschen Botschafter bei der Uno, Heusgen, – jetzt ist er Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz – auf einer Veranstaltung gehört, auf der er sagte, Russland werbe für seine Position mit dem Völkerrecht und das finde Zuspruch bei vielen Ländern. Das hat er als Problem dargestellt mit der Aufforderung, der Westen und die «freie» Welt müsse dazu eine Gegenposition entwickeln. Das sei das Gebot für die «wertebasierte Ordnung». Wichtig ist, dass sich die Menschen in Europa mehr Klarheit verschaffen und verlangen, dass die politischen Kräfte das auch mehr thematisieren. Wenn die Medien das schon nicht ausfüllen, dann müssen das politische Kräfte übernehmen. 

Die deutsche Aussenministerin ist bemüht bei jeder Gelegenheit, die «regelbasierte Ordnung» oder «die Werte des Westens» etc. zu propagieren. Auf dem Hintergrund dessen, was Sie gerade erklärt haben, bekommt das eine andere Bedeutung. Ist der Westen damit nicht auf dem Holzweg?

Einerseits ist es die Wiederholung, dass es sich um einen Angriffskrieg handelt, Putins Angriffskrieg, was wie ein Mantra wiederholt wird, damit es sich in den Köpfen der Menschen festsetzt. Eine Auseinandersetzung, wie es eigentlich dazu gekommen ist, wird so verhindert. Wenn man einen Konflikt lösen will, muss man in die Geschichte gehen: Wo hat der Konflikt angefangen? Wie konnte es dazu kommen?, um ihn dann zu lösen. Aber das scheint im Augenblick nicht Ziel zu sein. Deshalb wiederholen die Medien das auch immer und verschweigen dabei die wahren Ursachen sowie die Ziele des Westens. Das Gleiche betrifft diese «regelbasierte Ordnung». Etwa 2019/2020 gab es in den grossen deutschen Zeitungen ganzseitige Anzeigen unterschrieben von westlichen Politikern wie Merkel, Macron, Trudeau und weiteren, dass sie sich dieser Werteordnung verpflichtet fühlen. Den Begriff hatte ich vorher überhaupt noch nie gehört. Warum machen sie so etwas? Das ist vorbreitet worden, um es in die Köpfe der Menschen zu bringen.  

Alles hat seine Entwicklung, nichts geschieht über Nacht, vor allem nicht in der Politik geschweige denn in einer geostrategischen Auseinandersetzung. Wir haben die Entwicklung, dass sich auf der geostrategischen Ebene sehr viel verschiebt und einiges im Gange ist. Dann hat man die Situation der Bevölkerung, die mit den Folgen konfrontiert ist und die Zusammenhänge nicht wirklich verstehen kann. Wenn die Medien ausfallen, dann müssen andere gesellschaftliche Kräfte die Aufklärung übernehmen. 

Frau Leukefeld, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Gerade in heutiger Zeit ist ein neutraler Staat mehr gefragt denn je

von Thomas Kaiser

Seit dem Beginn der «militärischen Sonderoperation» Russlands gegen die Ukraine ist in unserem Land die Frage nach der Ausgestaltung der Neutralität entbrannt. Das ist nichts Neues, denn seit dem Ende des Kalten Krieges gibt es gewisse Politkreise, die gerne die Neutralität langsam einschlafen lassen würden. Das waren zum einen die sogenannten EU-Turbos, die die Schweiz lieber gestern als morgen in der EU gesehen hätten und zum anderen Teile des Militärs, die am liebsten die Schweiz in die Nato geführt hätten. Diese Kräfte sind auch heute wieder am Werke.

Im Jahre 1996 hat der damalige Bundesrat Adolf Ogi zusammen mit seinem Amtskollegen Flavio Cotti die Schweiz in die Nato-Unterorganisation «Partnership for Peace» geführt und damit ein erstes Tabu gebrochen: den Anschluss an eine Institution der «kollektiven Sicherheit». Unbemerkt von der Öffentlichkeit hat sich die Schweiz der Nato angenähert, noch ohne direkte institutionelle Anbindung. Dieses Gefäss wurde von der Nato geschaffen, um Mitgliedsländer, vor allem osteuropäische, langsam an die Organisation heranzuführen, was auch mit der Nato-Osterweiterung ohne Not gelungen ist. Noch zeigte sich die Schweiz dazu «nicht reif». Die Bevölkerung hätte dieses Ansinnen mit hundertprozentiger Sicherheit an der Urne versenkt. Bei dem Stellenwert der Neutralität in der Schweizer Bevölkerung mussten sich die Politstrategen, die am liebsten eine Nato-Mitgliedschaft erreicht hätten, auf einen langen Weg einstellen. 

Scheibchenweise, im Sinne der bewährten Salamitaktik, rückte man die Schweiz nun immer näher an die sich mehr und mehr als Kriegsbündnis entpuppende Nato heran – man denke an den Krieg gegen Serbien bis  hin zu den Kriegen im Nahen Osten, die allesamt völkerrechtswidrig waren. Trotz dem Wechsel vom Verteidigungs- zum Angriffsbündnis ging der Bundesrat immer weiter in Richtung Nato. Neben der «Partnership for Peace» gehört die Schweiz auch seit 2016 der sogenannten «Interoperabilitätsplattform» an, die eine noch engere Zusammenarbeit zwischen der Nato und Nicht-Nato-Ländern ermöglicht. 

Massiver Druck der USA

Seit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine ist die Neutralität zunächst völlig unter die Räder gekommen. Während der Bundesrat 2014 die Sanktionen der EU nach dem Anschluss der Krim an Russ­land nicht übernommen hatte, sondern «nur» Umgehungsgeschäfte verhinderte, war es 2022 anders. Bereits nach 5 Tagen hatte sich der Bundesrat entschieden, die EU-Sanktionen zu übernehmen – nach massivem Druck der USA. Dabei rühmte er sich selbst, so schnell entschieden zu haben, und das Ganze auch noch nach reiflicher Überlegung. Eine Fähigkeit, die scheinbar nur der Bundesrat besitzt, schnell zu sein und reiflich zu überlegen. Nach diesem Entscheid wurde für die Nato-Staaten offensichtlich, dass die Schweiz es nicht mehr so genau mit der Neutralität nahm. 

Keine Schweizer Waffen in Kriegsgebiete

Schon standen neue Forderungen im Raum, vor allem die Weitergabe von Schweizer Waffen oder Munition an Drittländer, konkret an die Ukraine. Hier hat das Parlament einen Riegel geschoben, um eine weitere Erosion der Neutralität zu verhindern. Der mehrmals von Deutschland geforderte Rückkauf von eingemotteten Leopard-Panzern, um die an die Ukraine weitergegebenen zu ersetzen, gehört ins gleiche Kapitel. Das ist ein offensichtlicher Betrug. Indem man eigenes militärisches Gerät weitergibt und dafür (altes) neu kauft, umgeht man das Waffenwiederausfuhrverbot und die Neutralität der Schweiz. 

Bisher äusserte das Militär Bedenken gegenüber dem Verkauf in Bezug auf die eigene Sicherheit. Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats (SiK-N) stimmte aber dem Antrag auf Weitergabe mit einer Mehrheit von 17 zu 8 Stimmen zu.¹ 

Mediale Walze zu erwarten

Damit wäre die Schweiz indirekt in den Ukrainekrieg verwickelt. Bis die Panzer geliefert werden können, muss sich Deutschland noch etwas gedulden. Denn zuerst müssen beide Kammern der Veränderung des Waffenausfuhrgesetzes zustimmen. Sollten beide Ja sagen, dann ist via Referendum das Volk gefragt. Man kann sich jetzt schon vorstellen, welche mediale Walze über die Schweiz rollen wird, bis auch der Letzte begriffen hat, dass die Neutralität antiquiert ist. 

Der deutsche Botschafter in der Schweiz, Michael Flügger, triumphierte über den Vorstoss der SiK-N im Interview mit dem Schweizer Fernsehen und verriet, worum es bei den Panzerlieferungen eigentlich geht, nämlich um einen Grundsatzentscheid: «Wenn es nicht zu dieser gesetzlichen Änderung kommt, heisst das in Zukunft für alle Nato-Partner, dass man sich nicht auf die Schweiz verlassen kann.» Das bedeutet, die Schweiz muss ihre Neutralität im wahrsten Sinne des Wortes verkaufen. Es geht also nicht darum, aus Sicherheitsgründen 25 Panzer aus der Schweiz zu kaufen als Ersatz für die an die Ukraine gelieferten und nicht um die 9000 Schuss Munition, die in zwei Tagen verschossen sind, sondern es geht darum, die Schweiz, ihrer Neutralität verlustig, in das Westbündnis einzugliedern. Die Drohung, die Flügger gegenüber der Schweiz äusserte, soll natürlich Angst schüren, von den übrigen Staaten als unzuverlässiger Partner wahrgenommen zu werden und alleine dazustehen.²

Dieser drohende Rohrstock hat alt Bundesrat Kaspar Villiger offensichtlich Eindruck gemacht, und als fleissiger Schüler hat er die Lektion schnell gelernt. In einem Gastbeitrag in der «NZZ» vom 11. April schreibt er: «Wenn man die Diskussionen in Bern verfolgt, bekommt man Zweifel, ob alle politischen Akteure des Landes den Ernst der Situation für unsere Reputation, für unsere Sicherheit und letztlich für unsere Wirtschaft wirklich erkannt haben.» Doch nicht genug der Schelte: «Wer legitime und mögliche Hilfe zur Linderung von Not verweigert, dem wird auch nicht geholfen, wenn er einmal der Hilfe bedarf.»

Der ehemalige Kanzlerkandidat der SPD und Finanzminister in der grossen Koalition, Peer Steinbrück, hat im Steuerstreit mit der Schweiz die Praktiken deutscher Politik gegenüber der Schweiz deutlich gemacht, indem er massiv drohte, «dass er nun nebst ‹Zuckerbrot auch die Peitsche› gegen sie einsetzen wolle.»³ Die Politiker haben gewechselt, die Methode ist die gleiche geblieben. Die Souveränität und die Gesetze eines (kleineren) Staates werden missachtet.    

Die Argumentation, bei einem Krieg, wie er in der Ukraine stattfindet, könne die Schweiz nicht mehr neutral sein, ist unhaltbar. Jeder Krieg, wie er in der Regel abläuft, wird einmal grundsätzlich aus einem Angreifer und einem Angegriffenen bestehen. In manchen Fällen ist es aber nicht nur schwarz oder weiss, sondern viel komplexer, wie es sich im Ukrainekrieg immer deutlicher zeigt und zeigen würde, wenn die Mainstream-Medien nicht von der ersten Minute an nur noch die «Opferposition» der Ukraine den Menschen serviert und Putin als brutalen, blutrünstigen und unmenschlichen Aggressor dargestellt hätten, der das alte Sowjetreich wieder installieren möchte. Es ist für uns nahezu unmöglich zu erkennen, was sich dort wirklich abspielt, umso mehr wäre grösste Zurückhaltung geboten. 

Als Mediator vermittelnd mithelfen

In der heutigen Zeit, in der die Dinge im Fluss sind, wie schon lange nicht mehr, und die Vormachtstellung der USA von China im Verbund mit Russland immer weiter zurückgedrängt wird sowie asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Staaten näher zusammenrücken, um die monopolare Welt in eine multipolare Welt zu verwandeln, ist es absolut unverständlich, dass Villiger davon spricht, «dass wir unser Neutralitätsverständnis nur ungenügend den neuen Realitäten angepasst haben.» Im genannten Artikel wird  deutlich, dass Villigers Verständnis von Neutralität ein Andienen an die Macht, in dem Fall an die Nato, bedeutet. Die neuen Realitäten, die sich auf anderen Kontinenten abspielen, fasst er nicht ins Auge, sonst müsste er ein Loblied auf die Neutralität singen und keinen Abgesang.

Gerade in den heutigen Zeiten ist ein neutraler Staat mehr gefragt denn je. Seine Aufgabe wäre es, die Zusammenhänge eines Konflikts in einer vertieften Auseinandersetzung genauestens zu analysieren, die historischen Ursachen zu verstehen, um dann als Mediator vermittelnd mitzuhelfen, den Konflikt am Verhandlungstisch friedlich zu lösen. Sich diese Option aus Kurzsichtigkeit und Unkenntnis der Weltlage unbedacht zu verbauen, wird sich langfristig rächen. Wenn Kaspar Villiger sich bemüht, den Ewiggestrigen mit einem «ultraorthodoxen Neutralitätsverständnis» ins Gewissen zu reden und sie indirekt beschuldigt, dass durch sie sich «das Bild des egoistischen Sonderlings erneut verfestigt», dann zeugt das von keiner eigenständigen Position. Als neutraler Staat wird man in Krisenzeiten wenig Freunde haben, weil weder der eine noch der andere die Gunst unseres Staates gewinnen wird. Wenn wir aber nach Anerkennung bei den Mächtigen lechzen, dann haben wird die Neutralität endgültig begraben. Damit wäre die Welt um einen erfahrenen und verlässlichen Vermittler in Kriegszeiten ärmer. Wollen wir das?

¹ www.srf.ch/news/schweiz/kriegsmaterial-fuer-die-ukraine-kehrtwende-deutschland-soll-25-panzer-kaufen-duerfen

² www.srf.ch/news/schweiz/druck-von-deutschem-diplomaten-wir-erwarten-dass-die-schweiz-ueber-ihren-schatten-springt

³ www.spiegel.de/politik/ausland/steueroasen-peitschen-peer-empoert-die-schwarzgeld-schweizer-a-587352.html

«Die unipolare Weltordnung, von den USA dominiert, könnte durch eine multipolare Welt abgelöst werden» 

Interview mit General a. D. Harald Kujat*

General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)
General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)

Zeitgeschehen im Fokus Als ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des Nato-Militärausschusses müssen sich Ihnen doch die Nackenhaare sträuben, wenn Sie Macrons Idee von der «strategischen Autonomie» Europas hören.

General a. D. Harald Kujat Nein, das ist eine überzeugende Schlussfolgerung aus der gegenwärtigen geopolitischen Lage. Ich spreche zwar nicht von «strategischer Autonomie», sondern von der «Selbstbehauptung Europas». Das bedeutet jedoch mit anderen Worten, was Präsident Macron meint: Die Fähigkeit Europas, sich in der neuen Weltordnung der rivalisierenden grossen Mächte, gegenüber China, Russland und den Vereinigten Staaten aus eigener Kraft zu behaupten. 

Europa ist in der geopolitischen Machtarithmetik der rivalisierenden grossen Mächte immer weiter ins Hintertreffen geraten. Der Ukrainekrieg führt uns täglich vor Augen, dass die europäische Politik weder bereit noch in der Lage ist, europäische Interessen durchzusetzen.  Das zeigen auch die gereizten Reaktionen deutscher Provinzpolitiker, die Macron aus Mangel an geopolitischer Urteilsfähigkeit vorwerfen, Europa zu spalten oder die Bedeutung des Bündnisses mit den Vereinigten Staaten für die europäische Sicherheit zu unterschätzen. 

Die Nordatlantische Allianz ist ein Bündnis kollektiver, gegenseitiger Sicherheit auf der Grundlage eines gemeinsamen sicherheitspolitischen Konzepts. Die Vereinigten Staaten leisten ihren Beitrag für die Sicherheit Europas allerdings nicht aus humanitären Gründen, sondern weil es in ihrem nationalen sicherheitspolitischen Interesse ist. Dass es Fälle gibt, in denen die europäischen und amerikanischen Interessen nicht übereinstimmen, ist evident. Deshalb wurde bereits vor Jahrzehnten vereinbart, dass die Nato Kräfte und Mittel für militärische Einsätze in strategischer Verantwortung der Europäischen Union zur Verfügung stellt, falls die Vereinigten Staaten sich nicht an diesen Einsätzen beteiligen. 

Gibt es Fälle, in denen die amerikanischen und europäischen Interessen überhaupt nicht übereinstimmen?

Ein Beispiel ist die einseitige Kündigung 2019 des für die europäische Sicherheit so wichtigen INF-Vertrages durch die amerikanische Regierung. Noch wenige Monate zuvor hatten die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten den Vertrag als «entscheidend für die euro-atlantische Sicherheit» gewürdigt und betont, «diesem wegweisenden Rüstungskontrollvertrag verpflichtet» zu bleiben. Als einziger europäischer Politiker kritisierte Präsident Macron, dass die Vertragskündigung erhebliche Auswirkungen auf die Sicherheit Europas hat. Denn damit wurde Russland eine Möglichkeit gegeben, ohne irgendwelche vertragliche Begrenzungen erneut ein eurostrategisches Nuklearpotential aufzubauen, das Europa, aber nicht die USA bedroht. Als Konsequenz der amerikanischen Entscheidung forderte Macron, Europa müsse sich selbst verteidigen können. Und er fügte hinzu, die amerikanische Entscheidung sollte Anlass sein, über eine europäische nukleare Abschreckung nachzudenken. Aber auch das Risiko eines neuen russisch-amerikanischen nuklearen Wettrüstens auf dem europäischen Kontinent ist durchaus real. Macrons Worte waren vor allem an Deutschland gerichtet. Denn die militärische Schwäche Europas ist vor allem eine Folge der Schwäche Deutschlands. Zumindest hat der Ukrainekrieg ein Umdenken eingeleitet. Hinsichtlich der Stärkung des konventionellen europäischen Pfeilers in der Nato besteht im Bündnis Einvernehmen. Und je länger der Ukrainekrieg dauert, umso klarer wird sich auch erweisen, dass es gravierende Interessensunterschiede zwischen den Vereinigten Staaten und Europa gibt. Schon im Vorfeld des Krieges, als sich Macron und Scholz in Moskau und Kiew darum bemühten, den Krieg zu verhindern, haben ihnen die Vereinigten Staaten die Unterstützung versagt.

Nur vordergründig beruht die Geschlossenheit des Westens darauf, die Ukraine im Kampf um ihre Sicherheit, Unabhängigkeit und territoriale Integrität zu unterstützen. Auch wenn die Europäer selbst noch keine Vorstellung davon entwickelt haben, muss am Ende des Krieges eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung entstehen, in der alle Staaten des europäischen Kontinents einschliesslich der Ukraine und Russ­lands ihren Platz haben. Dagegen verfolgen die Vereinigten Staaten das Ziel, Russland politisch, wirtschaftlich und militärisch so weit zu schwächen, dass sie sich dem geopolitischen Rivalen zuwenden können, der als einziger ihre Vormachtstellung als Weltmacht gefährden könnte, nämlich China. 

Macron hat das mangelnde europäische Abwehrpotential erwähnt. Ist denn ein Krieg Russlands gegen Europa denkbar?   

Ich sehe keinen Beleg für die Vorbereitung eines Angriffskrieges gegen Europa, was ja ein Krieg gegen die Nato wäre. Russ­land hat die Nato-Erweiterung von Anfang an unter strategischen Gesichtspunkten gesehen, bezogen auf die geostrategische Lage und das Verteidigungspotential eines Landes, oder anders ausgedrückt, in welchem Masse die Nato-­Mitgliedschaft das strategische Gleichgewicht zwischen Russland und der Nato verändern würde. Deshalb ist Russland bereit, einen hohen Preis zu zahlen, um eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhindern, die möglicherweise  auch die Stationierung amerikanischer Streitkräfte in der Ukraine zur Folge hätte. Im Kern geht es vor allem darum, strategische Vorteile des geopolitischen Rivalen USA zu verhindern, nicht zuletzt auch solche, die das nuklearstrategische Gleichgewicht der beiden nuklearen Supermächte gefährden könnten.

Es steht also für die beiden Hauptakteure im Ukrainekrieg, Russland und die Vereinigten Staaten, viel auf dem Spiel. Deshalb bleibt das Risiko bestehen, dass aus dem Krieg in der Ukraine ein Krieg um die Ukraine werden könnte, solange dieser Krieg andauert.

Das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und China hat sich in letzter Zeit deutlich verschlechtert. Droht ein Konflikt zwischen beiden Staaten?

Auch das Verhältnis der USA zu China wird von geopolitischen Aspekten bestimmt. China ist überzeugt, dass die globalen ­Risiken seit dem Ukrainekrieg gestiegen sind und die westlichen Länder – im wesentlichen die USA – dafür die Hauptverantwortung tragen. Die Folge ist eine engere Zusammenarbeit zwischen China und Russland, die beide das Ziel einer multipolaren Welt verfolgen. Aus amerikanischer Sicht hat China sowohl die Absicht als auch zunehmend die wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht, die führende Weltmacht zu werden. Mit der gleichen Geschlossenheit wie im Ukrainekrieg gegen Russland sollen deshalb die europäischen Staaten gemeinsam mit den regionalen Partnern Australien, Japan, Südkorea, Neuseeland und künftig auch den Philippinen in ein indo-pazifisches Netzwerk gegen China eingebunden werden. Für den Schulterschluss mit Europa in einem künftigen Konflikt mit China bildet die Nato eine wichtige Brücke. In ihrem  neuen strategischen Konzept heisst es, dass China die Interessen, die Sicherheit und die Werte der Mitgliedstaaten in Frage stelle.  Die systemischen Herausforderungen Chinas für die euro-atlantische Sicherheit will die Nato nun angehen. 

Deshalb ist Präsident Macrons Warnung berechtigt, dass der europäische Kontinent sich nicht in die Konflikte anderer hineinziehen lassen darf. Europa muss in der Lage sein, seine eigenen Interessen zu wahren und diese stärker zu vertreten, und zwar grundsätzlich gegenüber allen drei grossen Mächten. Das ist die eigentliche Botschaft, die Präsident Macron in China ausgesendet hat. Macron steht mit seiner Sorge nicht allein. Der amerikanische Stratege Harlan Ullman hat schon vor einiger Zeit besorgt gefragt, ob die USA einen vermeidbaren Fehler begangen haben, indem sie eine strategische militärische Zwei-Fronten-Konfrontation gegen China und Russland eröffnet haben, die er als tickende Zeitbombe bezeichnete. 

Bezieht sich Macrons Forderung, die eigenen Interessen zu wahren, ausser auf den militärischen Bereich auch auf die Wirtschaft oder andere Bereiche?

Macron hat diese Bemerkung im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Krisen und Konflikten gemacht. Aber der Ukrainekrieg und der Konflikt mit China sind ein Menetekel, dass wir unsere politischen, wirtschaftlichen, technologischen und nicht zuletzt die militärischen Fähigkeiten ausbauen müssen, wenn wir unabhängiger, handlungsfähiger und sicherer werden wollen. Erforderlich ist eine mehrdimensionale Politik, die durch eine synergetische Gesamtstrategie ein breites Handlungsspektrum eröffnet. Wir sehen das an dem Krieg in der Ukraine, der nicht nur ein militärischer Krieg ist, sondern auch ein Wirtschafts- und Informationskrieg. Europa muss in der Lage sein, sich in allen diesen Bereichen zu behaupten und unabhängig vom Einfluss anderer Mächte eigenständig nach der eigenen Interessenlage Entscheidungen zu treffen. Das ist kein Widerspruch zu einer engen Abstimmung mit Verbündeten und Partnern, wie dies beispielsweise in der Allianz geschieht, deren Stärke darin besteht, die verschiedenen nationalen Interessen zu einer gemeinsamen Sicherheitspolitik zu vereinen.

Die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und China sind doch entstanden, weil China die Vereinigung mit Taiwan anstrebt.

Richtig ist, dass sich die Spannungen in der letzten Zeit verschärft haben. Der chinesische Präsident hat auf dem letzten Pateikongress der KP-China die Absicht bekräftigt, die Vereinigung mit Taiwan auf friedlichem Wege anzustreben. Zugleich hat er jedoch jede Verpflichtung zum Gewaltverzicht verneint. Noch verfügt China nicht über militärische Fähigkeiten, um Taiwan einzunehmen. Aber in wenigen Jahren wird dies der Fall sein. Der Taiwan-Konflikt könnte zum Kulminationspunkt der amerikanisch-chinesischen geopolitischen Rivalität werden. Denn dies ist die eigentliche Ursache für einen möglichen Konflikt. 

Der Taiwan Relations Act von 1979 regelt die Beziehungen zwischen den USA und Taiwan, und zwar in der Weise, dass die USA die Unabhängigkeit und die Verteidigungsfähigkeit Taiwans durch Waffenlieferungen und andere Massnahmen unterstützen. Ein direktes militärisches Engagement zur Verteidigung Taiwans ist damit jedoch nicht verbunden. Bisher haben alle amerikanischen Präsidenten auch eine entsprechende Festlegung vermieden. Im Oktober 2021 hat jedoch Präsident Biden erstmals ausdrücklich erklärt, sollte Taiwan von China angegriffen werden, würden die USA militärischen Beistand leisten. Damit sind von beiden Seiten Weichenstellungen vorgenommen worden, damit ist das Risiko eines militärischen Konflikts erheblich gestiegen. Es ist offenbar die Gefahr einer direkten Verwicklung der Nato und damit Europas, die Macron zu seiner nachdrücklichen Warnung veranlasst hat.

Das Vertragsgebiet der Nordatlantischen Allianz ist allerdings im Washingtoner Vertrag präzise definiert. Ein militärisches Engagement im Westpazifik wird davon nicht abgedeckt. 

Bezieht sich Macron mit dem Begriff der strategischen Autonomie Europas nur auf das Verhältnis zu den USA?

Im Verhältnis zu den USA ist dies augenfällig, weil Europas Sicherheit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und sicherlich auch noch einige Zeit vom amerikanischen Engagement abhängt. So haben es Macrons Kritiker aufgefasst. Aber für Macron bedeutet dies sicherlich strategische Autonomie gegenüber allen grossen Mächten und eine eigenständige Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit der Fähigkeit, Probleme, die Europas Sicherheit gefährden, an der europäischen Peripherie zu bewältigen. Dort liefern sich die Grossmächte seit Jahren eine Auseinandersetzung um Einflusszonen, die Regionalmächte Stellvertreterkriege um regionale Dominanz und ethnische und religiöse Minderheiten um Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Übervölkerung, religiöse Gegensätze und die Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen bilden den Nährboden für islamistische und fundamentalistische Terrorgruppen und sind die Ursache für immer neue Migrationswellen.

Die Probleme an der Peripherie sind doch vor allem durch das Eingreifen der USA entstanden…

Ja, amerikanische militärische Interventionen, beispielsweise im Irak, in Libyen oder in Syrien, haben zu grossen regionalen Verwerfungen geführt und die Sicherheit des europäischen Kontinents negativ beeinflusst. 

Was Sie vorhin über das Verhältnis China-USA erklärt haben, kann  man als Kampf der USA um den Erhalt seiner Vormachtstellung verstehen.

Die Vereinigten Staaten sehen in China die umfassendste und ernsthafteste Herausforderung für ihre nationale Sicherheit. Der amerikanische Verteidigungsminister Austen bezeichnet China in der neuen amerikanischen Militärstrategie aber auch als den wichtigsten strategischen Konkurrenten der kommenden Jahrzehnte. Diese Konkurrenz geht allerdings über den militärisch-strategischen Aspekt hinaus und umfasst vor allem auch wirtschaftliche Aspekte, die Gefährdung des Dollars als Weltleitwährung und den politischen Einfluss in Südamerika, Afrika und Asien. In aller Kürze: Es geht darum, die globale Vormachtstellung der Vereinigten Staaten zu beenden und die unipolare durch eine multipolare Welt zu ersetzen. 

Man muss auch in diesem Zusammenhang konstatieren, dass der Ukrainekrieg Europa an eine Wegscheide geführt hat. Sowohl die USA als auch Europa haben die geostrategische Dynamik, die durch das Ukraine-Engagement auf beiden Seiten entstanden ist, unterschätzt. Der Ukrainekrieg ist ein Menetekel für Europa, entschlossen den Weg zu geopolitscher, wirtschaftlicher, technologischer und nicht zuletzt militärischer Selbstbehauptung einzuschlagen. 

Der Krieg hat zudem die Bildung geopolitischer Blöcke gefördert. Während die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und die Nato näher zusammenrücken, ist um China und Russland ein zweiter geopolitischer Block entstanden. Den Kern bilden die BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika sowie die Schanghai Kooperation (SCO) mit China, Indien, Iran, Kasachstan, Kirgistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan. Die BRICS-Staaten repräsentieren 40 Prozent, die westlichen G7-Staaten 12,5 Prozent der Weltbevölkerung. Inzwischen ist das Bruttoinlandsprodukt der BRICS-Staaten höher als jenes der westlichen G7-Staaten.  Dieser östliche Block hat in letzter Zeit eine enorme Attraktivität entwickelt.

Für welche Staaten, neben ihren Mitgliedsländern, spielt dieser Zusammenschluss eine Rolle?

China arbeitet mit Saudi-Arabien auf dem globalen Ölmarkt und der Nutzung der Kernenergie zusammen, unterstützt den Beitritt Saudi-Arabiens zur BRICS-Gruppe und treibt die Bildung einer rohstoffbasierten Reservewährung als Konkurrenz zum Petrodollar voran. Bereits heute wird teilweise in russischer oder chinesischer Währung bezahlt. Neben Saudi-Arabien haben Argentinien, Ägypten, Kasachstan, Nigeria, die Vereinigten Arabischen Emirate, Senegal und Thailand Interesse an einem BRICS-Beitritt bekundet. 

Es ist sehr interessant, wie Sie jetzt den Bogen gespannt haben. Das heisst doch eigentlich, dass diese immer wieder bemühte Argumentation, «Russland ist isoliert» nicht der Realität entspricht, denn tatsächlich sind es vielmehr Staaten, die mit Russland und China kooperieren wollen. Geht die Sichtweise des Westens, dass er der Mittelpunkt der Erde sei, nicht völlig an der Realität vorbei?

Das geht in der Tat an der Realität vorbei. Die Europäische Union hat im Wirtschaftskrieg mit Russ­land fortgesetzt umfangreiche Sanktionen erlassen. Obwohl diese mit dem Ziel begonnen wurden, Russland zur Einstellung des Angriffs auf die Ukraine zu zwingen und von der Voraussetzung ausgingen, dass die Sanktionen sich weder auf die Energiepreise auswirken noch Nachteile für die Wirtschaft der europäischen Staaten entstehen würden, trat genau das Gegenteil ein. Russland ist auch nicht in dem erwarteten Ausmass geschwächt worden. In den letzten Tagen haben wir Zahlen gesehen, nach denen die russische Wirtschaft wächst und die deutsche Wirtschaft schrumpft, was sich insgesamt auf Europa auswirken wird. Man muss in diesem Zusammenhang auch erwähnen, dass als Folge des Ukrainekrieges und insbesondere der damit verbundenen wirtschaftlichen Aspekte, die Aussicht gewachsen ist, die unipolare Weltordnung, die von den USA wirtschaftlich, militärisch und politisch dominiert wird, könnte durch eine multipolare Welt abgelöst werden.

Wie kann denn Europa in einer multipolaren Welt seinen Platz finden?

Die Nordatlantische Allianz verbindet Nordamerika und Europa zu einem Bündnis souveräner, demokratischer Staaten, von denen jeder einzelne zur gemeinsamen Sicherheit beiträgt. Das grosse Verdienst des Bündnisses besteht darin, die nationalen Interessen jedes einzelnen Mitgliedstaates in ein gemeinsames Konzept zu integrieren und trotz immer wieder auftretenden Gegensätzen und Problemen die Gemeinsamkeiten zu bewahren. 

Da die geostrategische Lage der beiden Kontinente sehr unterschiedlich ist, gelten auch unterschiedliche Bedingungen für die Bewahrung von Frieden und Sicherheit. Das müssen die Europäer künftig stärker berücksichtigen und dementsprechend auch grössere Verantwortung für ihren Kontinent übernehmen. Dadurch ­wären die europäischen Mitgliedstaaten in der Lage, ihren Einfluss auf die Sicherheitspolitik, die Strategie und Verteidigungsplanung der Nato zu vergrössern. Aber allein mehr in die Sicherheitsvorsorge und die Verteidigungsfähigkeit zu investieren, wäre zu kurz gedacht. Die eigentliche Herausforderung besteht in der Entwicklung einer neuen Sicherheitsarchitektur für den europäischen Kontinent und die Formulierung gemeinsamer Interessen im Rahmen der neuen geopolitischen Weltordnung. 

Was geschieht, wenn die Europäer den USA die Gefolgschaft verwehren, und sich für die multipolare Welt entscheiden, die vielleicht doch zu mehr Frieden führt als das ewige Streben nach Dominanz? Würde das die USA davon abhalten, diesen Kriegskurs weiterzuführen, wie sie ihn gegen China fahren? 

Ein Krieg zwischen zwei nuklearstrategischen Supermächten wird der Welt hoffentlich erspart bleiben. Die massive Aufrüstung der chinesischen Streitkräfte macht grosse Fortschritte. Nuklearstrategisch hat China zu den beiden nuklearen Supermächte ­Russland und USA weitgehend aufgeschlossen. Deshalb sagte Admiral Charles Richard, der damalige Befehlshaber des US-Strategic Command, 2022: «Diese Ukrainekrise, in der wir uns gerade befinden, ist nur das Aufwärmen. Die grosse Krise kommt noch. Wir werden auf eine Weise getestet werden, wie wir es schon lange nicht mehr erlebt haben. Wenn ich den Grad unserer Abschreckung gegenüber China einschätze, dann sinkt das Schiff langsam, aber es sinkt.» Damit beschreibt er das enorme Risiko, das die USA im Falle eines Konflikts mit China eingehen. Und eben nicht nur die USA, sondern möglicherweise auch die Europäer, wenn wir den von der Nato begonnenen Kurs fortsetzen.

Nach Ihren Ausführungen stellt sich mir die Frage, ist denn China interessiert, mit den USA eine militärische Auseinandersetzung zu provozieren? 

China hat gezeigt, dass es bereit ist, eine militärische Eskalation mit den Vereinigten Staaten aufzunehmen, wenn es um die Taiwanfrage geht. Zugleich setzt China seinen Kurs fort, politisch, wirtschaftlich und militärisch die Weltmachtspitze anzustreben. Das bedeutet jedoch nicht, dass China eine militärische Auseinandersetzung sucht. Letztlich entscheidet darüber die Frage, was beide Staaten bereit sind, für Taiwan in die Waagschale zu werfen. 

Worin sich die Politik der Chinesen und des Westens unterscheidet, ist doch, dass die Chinesen sich nicht in die europäische Politik einmischen und diese auch nicht beurteilen und bewerten. Während des Besuchs von Ursula von der Leyen oder Annalena Baerbock war deutlich, dass die Europäer das immer tun. 

Natürlich hat das grosse Projekt der Neuen Seidenstrasse nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Bedeutung. Aber es ist richtig, wie wir gerade in letzter Zeit gesehen haben, dass die Bereitschaft, sich zu innenpolitischen Problemen Chinas zu äussern, bei europäischen Politikern wesentlich stärker ausgeprägt ist als umgekehrt. 

Jede ideologisch eingefärbte Aussenpolitik führt nicht nur zu politischen Risiken, sondern verursacht im allgemeinen auch Schaden für die eigene Wirtschaft. Das deutsch-chinesische Handelsvolumen beträgt über 200 Milliarden Euro; der wirtschaftliche Verkehr muss grundsätzlich auf gleicher Augenhöhe erfolgen, deutsche Firmen in China also die gleichen Bedingungen erhalten wie chinesische Firmen in Deutschland. Die Globalisierung hatte für unsere Wirtschaft bisher grosse Vorteile, führt aber auch zu wechselseitiger Abhängigkeit.

Welche Rolle müsste denn Europa im Ukrainekonflikt spielen?

Ich würde das gern auf Deutschland beschränken. Die Bundesregierung hat bereits am 2. Mai 2022 einer von der Ukraine eingebrachten Uno-Resolution zugestimmt, in der die Generalversammlung nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel fordert. Im vergangenen Februar ist die Bundesregierung durch die Zustimmung zu einer weiteren Uno-Resolution mit gleichem Tenor die Verpflichtung eingegangen, zu einer friedlichen Beilegung des Krieges beizutragen. Ausserdem ist Deutschland durch das Friedensgebot des Grundgesetzes im besonderen Masse verpflichtet, sich für ein Ende des Krieges einzusetzen. Was soll man davon halten, wenn dies alles miss­achtet und selbst ein Waffenstillstand vom amerikanischen Aussenminister als «keine gute Idee» bezeichnet wird? Entsprechende Initiativen wie diejenige, die kürzlich von China lanciert worden ist, werden in den deutschen Medien reflexartig abgelehnt, obwohl gerade das chinesische Zwölf-Punkte-Papier sich auf die Uno-Resolution bezog und die Wiederaufnahme der im April letzten Jahres abgebrochenen Verhandlungen vorschlug. Zwei mächtige Politiker, wie der chinesische Präsident Xi Jinping und der brasilianische Präsident Lula da Silva sagen, sie seien sich einig, dass Verhandlungen der einzige mögliche Weg seien, um die Krise zu lösen. Ich finde diese Einstellung zur Lösung von Krisen und Konflikten höchst bemerkenswert und beispielhaft, zumal das zwei Politiker sagen, hinter denen Organisationen stehen, die 40 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren. Auch die Präsidenten Macron und Xi Jinping haben gemeinsam zu baldigen Friedensgesprächen aufgerufen. Macron sagte, Ziel sei die «Wiederaufnahme der Gespräche, so schnell wie möglich, für einen dauerhaften Frieden.»

Letztlich hat Putin vom Beginn des Ukrainekriegs weg diese Auf­fassung auch vertreten. 

Ja, aber es wurde von westlichen Politikern immer wieder behauptet: Putin wolle nicht verhandeln, dann hiess es, mit Putin könne man nicht verhandeln, dann hiess es, mit Putin dürfe man nicht verhandeln. Tatsache ist jedoch, dass beide Seiten verhandelt haben, und das durchaus erfolgreich. Übrigens hat auch Präsident Biden die Auffassung vertreten, dass der Krieg mit Verhandlungen beendet wird. Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird es jedoch, eine für beide Seiten akzeptable Lösung zu finden. Russ­land und die Ukraine haben in letzter Zeit die Bedingungen für einen Verhandlungsfrieden höhergeschraubt und sogar Vorbedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen gestellt. Ich habe den Eindruck, dass beide Kriegsgegner darauf setzen, die eigene Verhandlungsposition durch eine erfolgreiche militärische Offensive zu verbessern. Dies könnte sich jedoch sehr schnell als Trugschluss erweisen.

Herr General Kujat, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* General a.D. Harald Kujat, geboren am 1. März 1942, war unter anderem Generalinspekteur der Bundeswehr und als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses höchster Militär der Nato. Zugleich amtete er als Vorsitzender des Nato-Russland-Rates sowie des Euro-Atlantischen-Partnerschaftsrates der Generalstabschefs. Für seine Verdienste wurde Harald Kujat mit einer grossen Zahl von Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Kommandeurs­kreuz der Ehrenlegion der Republik Frankreich, dem Kommandeurskreuz des Verdienstordens Lettlands, Estlands und Polens, der Legion of Merit der Vereinigten Staaten, dem Grossen Band des Leopoldordens des Königreichs Belgien, dem Grossen Bundesverdienstkreuz, sowie mit weiteren hohen Auszeichnungen, unter anderem aus Malta, Ungarn und der Nato.

 

«Die USA führen Krieg gegen Deutschland»

«Russland hat im Gegensatz zu den USA Deutschland nicht in dieser Art geschadet»

Interview mit Florian Pfaff*, Major a. D. der Deutschen Bundeswehr

Florian Pfaff, Major a. D.  (Bild wikimedia.org)
Florian Pfaff, Major a. D. (Bild wikimedia.org)

Zeitgeschehen im Fokus Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine liest man in unseren Medien Sätze wie «Selenskij kämpft für unsere Werte», «Selenskij verteidigt unsere Freiheit» und Ähnliches. Teilen Sie diese Auffassung? 

Major a. D. Florian Pfaff Wenn ich jetzt gehässig sein möchte, dann würde ich sagen, er verteidigt exakt unsere Werte und unsere Freiheit. Denn die Werte des Westens bestehen darin, dass man Hegemonie betreibt, andere Länder bevormundet und heuchelt, das gar nicht zu tun. Selenskij hat die russische Bevölkerung in der Ukraine keineswegs befreit, sondern er und die Regierung haben sie unterdrückt und ihre Sprache und Kultur verboten. Das nennt man im Westen «die grosse Befreiung» – wie zum Beispiel im Irak, als die USA Bagdad «befreit» haben. 

Die Gesetze, die Selenskij verabschiedet hat, diskriminieren die russischsprachige Bevölkerung massiv. Wurde das irgendwo in den Medien thematisiert?

Was unsere grossen Medien betrifft, ist mir in der letzten Zeit nichts bekannt, dass dort die ukrainischen Massnahmen kritisiert worden wären. Vor einigen Jahren hat man das noch getan. Man berichtete darüber im Fernsehen, wo Neo-Nazis in der Ukraine gezeigt wurden, die man als Nazis bezeichnet hat, mit Hakenkreuzen, mit Runen, mit Waffen-SS-Symbolen und Ähnlichem. Das wird heute nicht mehr thematisiert, obwohl das Problem bis heute besteht.

Ich kann mir das nur damit erklären, dass der Druck der USA, die Nato auszudehnen und Deutschland zu schaden, so gross ist, dass sich das nur so durchsetzen lässt, wie man auch innerhalb der Nato die Bundeswehr zu Völkerrechtsbrüchen veranlasst hat, z. B. 1999 gegen Jugoslawien oder 2003 gegen den Irak. Der Druck der USA scheint so gross, dass die Menschen einknicken. Im Jahr 2003 habe ich den Druck selbst erlebt, als mir befohlen wurde, die Gesetze zu missachten und meinen Diensteid zu brechen. Das war in der Bundeswehr ein offenes Miss­achten des Gesetzes und anschliessend auch noch der Justiz.

Ist Deutschland also ein Vasallenstaat der USA?

Auf dem Papier hätte Deutschland sehr viel Souveränität zurückgewonnen durch den 2+4-Vertrag. De facto getraut sich keine Regierung, diese Souveränität in Anspruch zu nehmen. Sie tut es sogar dann nicht, wenn die USA die North Stream - Pipeline zerstören. Hier bräuchte es nicht einmal die eigene Souveränität, sondern es ist gegen das Völkerrecht, wenn man dem anderen den Gashahn zudreht oder die Luft abschneidet. Selbst hier hat sich von den Parteien, von den Politikern und von den Medien kaum einer etwas zu sagen getraut. Ein ehemaliger französischer Finanzminister hat gesagt, nicht nur Deutschland, auch Europa, wir sind nur noch die Vasallen der USA. 

Wie geht man in Deutschland mit der Zerstörung der Pipeline um, die von Joe Biden noch vor der Operation der Russen angekündigt wurde?

Es ist unglaublich, wie ohrenbetäubend das Schweigen auf diesen Angriff der USA ausgefallen ist. Man müsste eigentlich einen Volksaufstand erwarten – ich bin klar gegen einen Volksaufstand –, aber das wäre die normale Reaktion, wenn uns die USA de facto den Krieg erklären und unsere Regierung das billigt.

Man sprach von «Erkenntnissen», dass die Ukraine hinter diesem Anschlag stecke. Was halten Sie davon?

Es ist noch schlimmer, denn die behauptete Erkenntnis besteht doch darin, dass es nicht die Ukraine sei, sondern eine Privatfirma. Natürlich sind das keine «Erkenntnisse». Sondern das sind Versuche, die USA und die Ukraine aus der Schusslinie zu nehmen. So, wie diese «Erkenntnisse» jetzt vorgebracht werden, halte ich sie nicht für glaubwürdig.

Schweden hat eine Untersuchung durchgeführt. Weiss man in Deutschland etwas über die Ergebnisse dieser Untersuchung?

Es ist bekannt, dass diese Untersuchungsergebnisse geheim gehalten werden. Alleine daraus kann man ableiten, dass es stimmt, was die deutschen Medien sagen, dass es nicht die Russen waren. Wenn es aber nicht die Russen waren, was die schwedischen Erkenntnisse nahelegen und die Deutschen veröffentlicht haben, dann stellt sich die Frage, warum dürfen diejenigen, die es selbst trifft, nicht an den Ermittlungen teilnehmen? Warum dürfen sie nicht mituntersuchen? Daran sieht man ganz deutlich, dass nicht aufkommen soll, dass es die USA waren. 

Was ist das für ein Vorgehen? Das glaubt man kaum!

Ja, wir sind im Krieg mit den USA, aber das wird geheim gehalten. Alle sagen immer, wir befänden uns nicht im Krieg mit Russ­land. Nein, die USA führen Krieg gegen Deutschland.

Aber nach Baerbocks Rede in der letzten Session des Europarats ist Deutschland im Krieg mit Russland.

Ja, das hat sie gesagt, aber schnell dementiert. Russland hat im Gegensatz zu den USA Deutschland nicht in dieser Art geschadet. Die USA sind offensichtlich diejenigen, die Deutschland militärisch und wirtschaftlich einen Schaden zugefügt haben, nicht Russland. 

Was bedeutet das für die deutsche Wirtschaft?

Das wird sich erst noch herausstellen, aber die Vervierfachung der Energiepreise wird eine deutliche Auswirkung haben. Das heisst, dass ein grosser Teil der Industrie abwandern wird oder Deutschland wird auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig sein. Die ersten sind bereits nach China oder in die USA abgezogen. 

Ich möchte noch auf die Panzerlieferungen zu sprechen kommen. Bundeskanzler Scholz hat die Zurverfügungstellung deutscher Panzer immer von der Lieferung der US-amerikanischen Abrams Panzer abhängig gemacht. Am Schluss haben die USA zugesagt, aber die Lieferungen auf Jahre hinausgeschoben, und damit Scholz über den Tisch gezogen. 

Das beurteile ich als den Ritt auf der Rasierklinge, den der Bundeskanzler hier wagt. Auf der einen Seite möchte er den USA gefallen und auf alles eingehen, was irgendwie möglich ist, auf der anderen Seite sieht er, dass Russland sich nicht alles gefallen lässt. So versucht er, zwischen Skylla und Charybdis durchzukommen. Dabei wünsche ich ihm viel Erfolg. Auch könnte die Ausbildung von ukrainischen Soldaten durch Deutschland als Angriff auf Russ­land bewertet werden. Wenn dem so ist, tritt nicht der Bündnisfall ein, denn dann hätte Deutschland Russland angegriffen. Im Klartext heisst das, jeder Bundeswehrsoldat müsste in dieser Situation den Dienst verweigern. Die Uno-Charta verbietet jegliche militärische Gewalt. Eine Ausnahme ist entweder eine Resolution des Sicherheitsrats oder, wenn ein Land selbst angegriffen wurde. Das trifft auf Russ­land nicht zu, weil die Ukraine «nur» Ukrainer angegriffen hat. Das sind zwar ethnische Russen, aber es ist nicht Russland angegriffen worden. Das ist genauso, wenn jetzt Deutschland angreift, Deutschland ist nicht angegriffen worden. Weder Russland noch die Ukraine sind Mitglieder der Nato. Jedes dritte Land, das in dem Krieg mitmacht, würde den gleichen Völkerrechtsbruch begehen, wie ihn Russland mit dem Angriff auf die Ukraine und wie die Ukraine ihn im Krieg gegen ihre eigene Bevölkerung schon begangen haben. Rechtsbruch liegt immer vor, wenn die Gewalt eskaliert und nicht nur, wenn Russ­land angreift.

Es fällt auf, dass in diesem Konflikt ehemalige Militärs mehr Friedenswillen zeigen als manche Politiker. 

Das ist klar, weil die ehemaligen Soldaten, vor allem die hohen, wie die Generäle a. D. Dr. Erich Vad oder Harald Kujat, der seinerzeit der höchste Soldat gewesen ist, strategisch denken können. Auch General Marc Milley, der höchste US-amerikanische Soldat, liess verlauten, dass militärisch ein Sieg von beiden Seiten nicht erreicht werden kann. 

Sehen Sie im Moment irgendeine Möglichkeit für einen Verhandlungsfrieden?

Am Ende werden mit Sicherheit Verhandlungen stehen. Anders geht es gar nicht. Die Frage ist nur, ob die USA und ihr Anhang, insbesondere Grossbritannien, schon jetzt bereit sind für einen Frieden und das Ende des Kriegs akzeptieren. Präsident Selenskij hat schon vor über einem Jahr einer Verhandlungslösung zugestimmt, falls sich Russland auf das Gebiet vor dem Einmarsch zurückzieht. General Harald Kujat hat veröffentlicht, dass am 9. April 2022 der damalige britische Premier nach Kiew gereist ist, um diesen Frieden zu verhindern. Präsident Putin wäre im Gegenzug bereit gewesen, seine Truppen aus allen besetzten Gebieten zurückzuziehen. Aber die Briten haben damals gesagt, der Westen sei noch nicht so weit für Frieden. 

Ist er denn heute bereit?

Ich weiss nicht, ob die USA und Grossbritannien schon für einen Frieden zu haben sind. Vielleicht sind sie immer noch der Meinung, dass Russland nicht genug getrennt ist vom übrigen Europa und dem Land noch nicht genug Schaden zugefügt wurde. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Verhandlungsfriede möglich wäre. Aber nicht mehr wie früher, dass sich Putin aus allen Gebieten zurückzieht, die dann an die Ukraine fallen. Denn wenn er sich aus den Gebieten zurückzieht, braucht er international anerkannte Sicherheitsgarantien von China oder sonst einem neutralen Staat oder von der Uno, die während des Waffenstillstands diese Gebiete verwalten, damit nicht das Gleiche passiert wie während der Minsk II Verhandlungen und die Ukraine nicht wieder Russen tötet und deren Sprache und Kultur verbietet. Racheakte und Massendeportationen wären die Folge, wenn man diese Gebiete bedingungslos der Ukraine überlassen würde. 

Sehen Sie irgendwo einen Silberstreifen am Horizont?

Ich teile hier die Meinung des Generalstabchefs und höchsten Soldaten der USA, Marc Milley. Militärisch ist die Situation so verfahren, dass keine der beiden Seiten gewinnen kann. Die Russen haben nicht den Willen, die Ukraine zu erobern, denn sie würden sich so den rechten Sektor ins Land holen. Putin weiss, dass es keine Propaganda ist, weil es diesen rechten Sektor gibt. Er will ihn sicher nicht in seiner Armee oder seinem Land haben. Ausserdem hätte er keinen Puffer mehr. Putin ist ein Stratege, und strategisch ist es viel besser, einen Puffer zu haben, als sich selbst bis an die Grenzen des anderen auszudehnen. Putin will die Ukraine sicher nicht haben. Ich denke, dass es weder auf der russischen noch auf der ukrainischen Seite zu einem Sieg kommt, sondern wie Marc Milley gesagt hat, zu einem Abnutzungskrieg. Für die Ukraine wäre die Zeit jetzt günstig, das herauszuverhandeln, was es zu verhandeln gibt. In einem Abnutzungskrieg wird sie eindeutig den Kürzeren ziehen, denn Russland hat mehr Material und viel mehr Personal in der Hinterhand, so dass der Sieger am Ende niemals Ukraine heissen kann. Auch mit noch so vielen Nato-Waffen und US-amerikanischen Waffen wird die Ukraine Russland nicht zerstören können. 

Die Waffen sind das eine, aber es braucht auch noch Menschen dazu, die die Waffen bedienen können. 

Die Ukraine hat jetzt schon grosse Probleme, noch Leute zu finden, und sie greift sogar auf die ungarische Bevölkerung in der Ukraine zurück, also auf Leute, die keine Motivation und keine Kampfkraft haben, weil sie nicht für die Expansion der Nato eintreten. Sie werden also zwangsrekrutiert. Sowohl junge als auch alte Soldaten werden zwangsrekrutiert, woran man jetzt schon sehen kann, dass die Ukraine massive Probleme hat, Soldaten zu gewinnen. 

Am Anfang des Krieges wurde die Stimmung erzeugt, Putin holt sich die Ukraine, marschiert in Polen ein, besetzt das Baltikum und will die alte UdSSR wieder herstellen oder das zaristische Russland, womit er sowohl Generalsekretär der KPdSU als auch Zar in einer Person wäre. Was halten Sie von solchen Szenarien?

Dass das bar jeglicher Realität ist, kann man ganz einfach belegen. Wenn Putin die Absicht gehabt hätte, sich etwas zu holen, dann hätte er sicher nicht mit den Nato-Staaten angefangen, sondern mit der Ukraine, zu einem Zeitpunkt, als die Ukraine noch nicht so stark bewaffnet war. Hätte er die Ukraine oder zumindest weitgehend die Ukraine haben und nicht nur verhindern wollen, dass die Nato sich dorthin ausdehnt, dann hätte er lange vor 2022, etwa 2015 oder 2016 angegriffen, nachdem offensichtlich war, wohin die Entwicklung gehen wird. Zu dem Zeitpunkt war die Ukraine ein schwaches Land. Putin hat gesehen und gehört, dass die Nato dorthin Waffen liefern will und dass sie den Angriff schon für 2017 angekündigt hat. Er hätte also spätestens 2016, 2017 einen solchen Angriff durchführen müssen. Das hat er nicht getan. Wenn man Putin nur halbwegs strategisches Denkvermögen zutraut, ist klar, dass es nicht in seinem Sinne war, die Ukraine zu erobern. Noch viel weniger hat er ein Interesse, einen Nato-Staat zu erobern. Erstens, weil er weiss, dass das keinen Erfolg hätte, und zweitens, weil klar ist, dass die ganze Welt gegen ihn wäre. Er möchte nicht nur mit den BRICS-Staaten, sondern auch mit allen übrigen Staaten ein gutes Verhältnis und gute Beziehungen haben. Das hätte er natürlich nicht, wenn er der Angreifer ist. Jetzt kann er sagen, die Nato wollte sich rechtswidrig weiter nach Osten ausdehnen, was er verhindern will. Sie werden in den grossen Medien den Vertrag von Astana 2010 nicht finden. Dort wurde vereinbart, dass jedes Land jedem Bündnis beitreten kann, aber nur, wenn das nicht gegen die Interessen eines anderen Teilnehmerstaats geschieht. Das heisst im Klartext, dass die Ukraine nicht Nato-Mitglied werden kann. Diese verbindliche Vereinbarung hat auch Deutschland unterschrieben, das mit seiner Weigerung, dem Beitritt der Ukraine zuzustimmen, den Krieg hätte verhindern können, denn die Nato hat das Einstimmigkeitsprinzip. Das hätte Deutschland zur Einhaltung des Vertrags und zur Abwendung des Kriegs sogar laut sagen müssen. Putin kann die Nato-Ausdehnung nicht hinnehmen. An einem Angriff auf ein Nato-Land hat er dagegen sicher kein Interesse, denn das würde ihm nichts nützen, es würde nur den Bündnisfall der Nato auslösen und somit den dritten Weltkrieg. Die Behauptung, Putin sei auf Eroberungsfeldzug, ist eine klare, aber wohl sehr nützliche Propagandalüge.

Nach den verschiedenen Vorgängen in Deutschland, begonnen mit Frau Merkel bis zu dem Krieg mit den USA, wie Sie das vorher erklärt haben, muss man konstatieren, dass es um Deutschland nicht gut bestellt ist. Wie beurteilen Sie das?

Dass die Bundeswehr gesagt hat, wir ignorieren das Angriffsverbot, brechen die Verfassung und ignorieren die Justiz, beweist doch, dass es um die Demokratie sehr schlecht steht. Die Ukraine verteidigt alles andere, aber sicher nicht die Demokratie. Das geht bei uns in Deutschland doch schon so weit, dass ein russischer Dirigent entlassen wird, wenn er sagt, ich äussere mich nicht, ich bin Musiker. 

Ja, es ist leider kaum mehr möglich, eine andere Position zu haben als diejenige, die die Medien vorgeben. Welche Reaktionen bekommen Sie, wenn Sie sich öffentlich in Widerspruch zum Mainstream stellen?

Es ist katastrophal. Wer sich für den Frieden einsetzt, wird sofort als Holocaust-Leugner verdächtigt. Man hatte mir im «Südkurier» unterstellt, ich hätte Nähe zu einer Holocaust-Leugnerin. Man hat sogar in der Ankündigung meiner Rede bei der Friedensdemonstration in Überlingen schon behauptet, dass sich nach der vorangegangenen Veranstaltung in Oldenburg der Veranstalter von mir distanziert habe. Das ist natürlich alles Verleumdung. Weder habe ich Kontakte in die rechte Szene noch zu irgendwelchen Holocaust-Leugnern, geschweige denn, dass ich das in irgendeiner Weise befürworten würde. Das ist völlig absurd. Auch hat der Veranstalter sich damals nicht von mir distanziert. Im Gegenteil, er hat sich auf meine Seite gestellt und gesagt, dass man alle meine Ausführungen berücksichtigen müsse. Die «Nordwest-Zeitung» hatte das schon falsch geschrieben und auf Protest des Veranstalters korrigiert. Der «Südkurier» hat in Überlingen die gleiche Lüge wieder gebracht. Jeder wird diffamiert und abgekanzelt, der nur versucht, einen Weg aus der Bredouille zu finden. 

Man will nur die Eskalation haben, was illegal ist und zu viel mehr Toten führen wird. Nur ein Waffenstillstand und ein nachträglich ausgehandelter Friedensvertrag wird Menschenleben retten und eine Lösung des Konflikts bieten.

Herr Major Pfaff, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* Florian D. Pfaff diente von 1976 bis 2013 in der Bundeswehr, zuletzt im Rang eines Majors. Öffentlich bekannt wurde er im Jahr 2003 durch seine Weigerung, den rechtswidrigen Befehlen seiner Vorgesetzten zu gehorchen, die ihn aufforderten, die Gesetzeslage und sein Gewissen zu ignorieren und  indirekt am Irakkrieg mitzuwirken. Von der Bundeswehr wurde er für seine Weigerung, die Gesetze zu brechen und an dem Angriffskrieg mitzuwirken, in die Psychiatrie überwiesen, mit Gefängnis bedroht und vom Truppendienstgericht degradiert. Letztinstanzlich wurde er aber (vom Bundesverwaltungsgericht) freigesprochen und erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter die Carl-von Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte (Berlin) sowie den World Citizen Award (USA). Er ist seither aktiv in der Friedensbewegung tätig. Er ist Sprecher des Arbeitskreises «Darmstädter Signal», einem Zusammenschluss kritischer aktiver und ehemaliger Angehöriger der Bundeswehr. Ferner engagiert er sich seit 2021 auch politisch in der noch sehr jungen und wenig bekannten Partei die Basis im Bereich «Friede und Sicherheit».

 

«Die chinesische Friedensinitiative ist pragmatisch und vernünftig»

«Der Plan entspricht Geist und Buchstabe des Völkerrechts»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus China wird von den USA verbal immer mehr attackiert. Worin sehen Sie die Ursachen?

Professor de Zayas Manche Politiker in den Vereinigten Staaten dulden keine Konkurrenz. Sie wollen die Nummer 1 in der Welt sein und auf Ewigkeit dort bleiben. Sie glauben an die Fantasie des Professors Francis Fukuyama in seinem dummen Buch «The End of History». Sie schauen mit Argwohn und Entsetzen, wie China zur ersten Wirtschaftsmacht in der Welt aufgestiegen ist. Sie leiden an Neid, Hybris, Selbstüberschätzung, Selbstgerechtigkeit. Sie meinen, immer Recht zu haben, und dass die Vereinigten Staaten eine heilige Mission hätten, Regeln für die ganze Welt zu setzen. Diese arrogante Haltung rächt sich. Die Chinesen wollen keinen Krieg mit den Vereinigten Staaten. Sie wollen Handel und freundschaftliche Beziehungen haben. Dies ist aber nicht möglich, wenn die eine Partei auf ihrer «moralischen Überlegenheit» beharrt.

Hier wird schlicht und einfach von vielen Politikern wie Biden, Blinken, Senator Lindsay Graham, vulgäre Sinophobie zum Ausdruck gebracht. Man diffamiert den vermeintlichen Gegner und verwendet die Diffamierung noch als Grundlage, feindliche Politik und feindliche Massnahmen zu ergreifen. Diese US-Politiker säen Hass gegen andere Menschen und andere Völker und verletzen dabei Artikel 20 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte, der Anstiftung zum Hass verbietet. 

Die USA provozieren insbesondere im Fall Taiwans. Wie ist der völkerrechtliche Status von Taiwan?

Persönlich empfinde ich eine gewisse Sympathie für die Taiwan-Chinesen. Ich würde ihnen das Selbstbestimmungsrecht zuerkennen. Aber China sieht eine existentielle Gefahr, wenn Taiwan «unabhängig» würde, denn Taiwan würde nicht lange so bleiben können. Taiwan würde in eine Militärbasis der Vereinigten Staaten verwandelt werden. Die Situation ist ähnlich wie mit Tibet. Ich glaube auch an das Selbstbestimmungsrecht der Tibeter, aber – wie mir vor Jahren ein hoher chinesischer Diplomat offenbarte – in dem Augenblick, in dem sich China aus Tibet zurückzieht, werden die Amerikaner oder die Nato dort einziehen. (Ich nenne die Nato die «North Atlantic Terror Organization» – gewiss stellten die Drohnenangriffe auf Zivilisten in Afghanistan und im Irak Terror im völkerrechtlichen Sinn dar, auch die Verwendung von Waffen, die keinen Unterschied zwischen zivilen und militärischen Zielen machen können. Dies tun Nato-Staaten am laufendem Band.)

Seit Jahrzehnten führen die Vereinigten Staaten eine Politik der Einkreisung Chinas. Zwar wissen unsere Politiker nur wenig von der Geschichte und wissen nicht, was der Westen im 19. und 20. Jahrhundert angerichtet hat. Aber die Chinesen haben die Aggressionen des Westens im 19. und 20. Jahrhundert nicht vergessen – nicht die zwei Opiumkriege, den Raub Hongkongs durch Grossbritannien, die «Gunboat diplomacy» der Vereinigten Staaten, die Massaker an den Chinesen beim «Boxer-Aufstand», der Völkermord in Nanking durch die Japaner. Die Chinesen wissen, mit wem sie es zu tun haben. Sie wissen, dass den westlichen Staaten und ihren Verbündeten nicht zu trauen ist, dass sie regelmässig Verträge brechen und kein Wort halten. Deshalb wollen die Chinesen kein Risiko eingehen – weder in Taiwan noch in Tibet. Völkerrechtlich gesehen, gehören Taiwan und Tibet zu China, aber man muss auf alle Fälle jegliche Gewalt verhindern. Dies wird aber schwierig, wenn die Vereinigten Staaten ständig provozieren und versuchen, die Politiker Taiwans dazu zu bewegen, sich trotzig zu zeigen. Wenn es zu Gewalt kommen sollte – dies wird im Artikel 2(4) der Uno-Charta verboten – wären die Vereinigten Staaten die Hauptschuldigen. Bedenken wir auch, dass eine Provokation eine Bedrohung beinhaltet. Artikel 2(4) der Uno-Charta verbietet nicht nur die Gewaltanwendung, sondern auch die Drohung.

Hier sehen wir eine Parallele zur Ukraine-Krise, wo die Vereinigten Staaten und die Nato ständig provoziert und sich geweigert haben, eine friedliche Lösung wie jene, die Russland im Dezember 2021 vorschlug, zu diskutieren.

China hat eine Friedensinitiative für ein Ende des Krieges in der Ukraine lanciert. Der Westen hat diese als russische Propaganda zurückgewiesen. Welchen Wert messen Sie der Initiative bei?

Der 12-Punkte-Plan der Chinesen ist in der Uno-Charta und in Uno-Resolutionen wohl verankert. Der Plan entspricht Geist und Buchstabe des Völkerrechts, insbesondere der Verpflichtung, Differenzen durch friedliche Mittel zu lösen – eine Verpflichtung zu Dialog und Kompromiss, die Notwendigkeit eines «quid pro quo». China hat seine Hilfe als Mediator angeboten, und neulich hat es sich in der Mediation zwischen Iran und Saudi-Arabien bewiesen. China, Brasilien, Mexiko und andere Staaten wollen einen Waffenstillstand und baldige Verhandlungen ermöglichen.

Als Schweizer Bürger seit 2017 denke ich oft an die Relevanz des Friedensgedankens des schweizerischen Schutzpatrons Niklaus von Flüe (1417 – 1487). Bereits 2013 pilgerte ich nach Flüeli-Ranft im Kanton Obwalden, besuchte Stans und Sarnen, wo Bruder Klaus in der Pfarrkirche zu Sachseln begraben liegt. Ihm verdanken wir das Stanser Verkommnis von 1481, das den Zerfall der Eidgenossenschaft verhinderte. Im Dezember 1481 begab sich der Pfarrer von Stans zu Niklaus und kam mit einem Rat vom Einsiedler zur Verhandlung zurück. Die Ratsherren traten wieder zusammen und kamen nach nur zwei Stunden zu einer Lösung.

Die chinesische Friedensinitiative ist durchaus pragmatisch und vernünftig. Frieden machen bedeutet: keine Sieger, keine Besiegten, bedeutet ein «do, ut des», einen Kompromiss. Aber Biden, Blinken und Selenskij sprechen von «Victory». Diese Haltung verlängert den Krieg und verletzt dabei Artikel 2(3) der Uno-Charta. 

China wird vom Westen immer wieder wegen der Menschenrechtslage kritisiert. Ist die Kritik berechtigt?

Wir alle haben ein Interesse daran, die Realisierung der Uno-Menschenrechtspakte zu fördern. Dies geschieht aber nicht durch feindliche Kritik, sondern durch konstruktive Initiativen. Jedenfalls haben die Vereinigten Staaten keinerlei moralische Berechtigung, China zu kritisieren. Sie müssen zuerst vor der eigenen Haustür kehren. Die Geschichte der Vereinigten Staaten ist von Völkermord an den Autochtonen Crees, Cherokees, Dakotas, Mohawks, Navajos, Pueblos, Seminoles, Sioux, Squamish, von Sklavenhandel und Sklaverei, von Diskriminierung und Apartheidspolitik gegenüber der schwarzen Bevölkerung geprägt. Heute noch werden die Schwarzen in den Vereinigten Staaten benachteiligt. Nur die Schwarzen, die sich «anpassen», haben eine Hoffnung, Karriere zu machen.

Natürlich haben die Chinesen Menschenrechtsprobleme – wie auch Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Indien, Pakistan, Indonesien usw. China kooperiert mit dem Uno-Menschenrechtsrat, mit dem Büro des Hochkommissars für Menschenrechte und hat die Uno-Hochkommissarin Michelle Bachelet eingeladen, die im Mai 2022 China besuchte. Nun hat China Abermillionen Menschen aus der absoluten Armut geholt. China hat viele Verdienste, die man anerkennen muss.

Frau Bachelet hat doch einen Bericht über ihre Reise nach China publik gemacht. Was stand darin?

Bachelets Schlussbericht vom 28. Mai 2022 nach ihrer Mission in China war eigentlich ganz konstruktiv und ausgewogen. Meines Erachtens war ihre Mission ein grosser Erfolg. Sie war überall, auch in Xinjiang, hat mit etlichen Uiguren gesprochen, hat eine Arbeitsgruppe im Büro des Hochkommissars etabliert, um die Zusammenarbeit mit China besser zu koordinieren. Das Büro aber verfasste einen sogenannten Gegenbericht bzw. «Assessment», der genau das Gegenteil sagte, was Bachelet in Guanzhou deutlich und positiv festgestellt hatte. Ich habe sie seinerzeit dafür gelobt. Weil Bachelet das «Assessment» nicht verantworten wollte, hat sie es erst veröffentlicht, als sie am 31. August 2022 ihr Amt niederlegte. Bachelet war regelrecht von der Presse und von einigen westlichen Sonderberichterstattern gemobbt worden, denn man erwartete von ihr, dass sie China wegen des angeblichen Völkermords an den Uiguren verurteilen würde. Dies hat sie nicht getan, weil dort absolut kein Völkermord stattfindet oder stattgefunden hat. Sie hatte genug von der Hypokrisie der «Menschenrechtsindustrie» und ging nach Hause (Chile).  

Sie haben die Verdienste Chinas erwähnt, von denen in unseren Mainstream-Medien nie etwas zu lesen ist. Was sind das für Verdienste?

Im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte haben die Chinesen viel erreicht. Sie erfüllen die Verpflichtungen des Uno-Paktes über Wirtschaftliche Soziale und Kulturelle Rechte besser als die westlichen Staaten. Sie sorgen für das Recht auf Gesundheit und Pflege, das Recht auf Arbeit, das Recht auf freie Ausbildung. Sie bemühen sich um die «Sustainable Development Goals», sie helfen vielen Entwicklungsländer in Afrika und Asien – und vor allem – sie betreiben keine Kriegspolitik.

Ein Vorwurf, der immer wieder zu hören ist, lautet, dass China Grossmachtsambitionen hege und die Weltherrschaft übernehmen wolle. Stimmen Sie einem solchen Vorwurf zu?

China ist eine Grossmacht. Das ist ein Faktum. Aber China strebt keine Weltherrschaft an – anders als die Vereinigten Staaten. China hält sich an die Uno-Charta und sieht diese als eine Art Weltverfassung. Zunehmend nimmt China an den Debatten im Sicherheitsrat teil, in der Uno-Generalversammlung und im Uno-Menschenrechtsrat. Dies ist zu begrüssen. Ausserdem führt China eine konstruktive Politik in Asien und Afrika und Chinas «Belt and Road Initiative» hat einiges dazu beigetragen.

Inwieweit wurde im Uno-Menschenrechtsrat an China Kritik geübt?

Das tun die Vereinigten Staaten und die Europäer systematisch und seit langem. Keine Spur von Respekt, Ausgewogenheit oder irgendeinem konstruktiven Gedanken. Es geht um Konfrontation und Dämonisierung. Allerdings hat, wie man überall in der Welt beobachten kann – auch im Uno-Menschenrechtsrat – China zunehmend Freunde. Zum Beispiel scheiterte am 6. Oktober 2022 mit Pauken und Trompeten die zynische Resolution, die der Westen gegen China eingebracht hatte – wegen des sogenannten Genozids in Xinjiang. Zum Leidwesen der Amerikaner stimmten 19 Staaten dagegen und 11 enthielten sich der Stimme, trotz einer unglaublichen propagandistischen Aktion der Vereinigten Staaten und ihrer Vasallen – eingeschlossen einiger gekaufter NGOs. Dies zeigt, dass die «Global Majority» eher mit China als mit dem Westen ist. Die Zeiten ändern sich.

Aber nicht nur in der Uno scheitert der Westen, wenn es um China geht. Erstaunlicherweise haben die Politiker im Westen aus ihrer Erfolgslosigkeit nichts gelernt. Gerade in diesen Tagen mussten wir die Gehässigkeiten der G-7 in Nagano, Japan, hören. Der Westen ist auf dem besten Wege, sich selbst zu isolieren, denkt man nur an die Belt and Road Initiative, in welcher bereits 150 Staaten mitmachen. Wenn der Westen sich weiterhin so unfreundlich benimmt, entscheidet Xi Jinping vielleicht, bestimmte Exporte an den Westen zu stoppen, zum Beispiel die der  Seltenen Erden. In der Tat hat China bei Seltenen Erden ein Marktmonopol. Manche in Deutschland haben mit Sorge bemerkt, dass die deutsche Wirtschaft gewissermassen auf Lieferungen aus China angewiesen ist. 

Werden die Chinesen die Lieferungen stoppen? 

Vorerst nicht. Die Chinesen haben bisher dieses Marktmonopol nicht zur Erpressung missbraucht. Aber wenn wir im Westen weiterhin so gehässig sind, dann wird China früher oder später die logischen Konsequenzen ziehen.

Spielt der Westen nicht ständig mit dem Feuer in der arroganten Überzeugung, dass er der Mittelpunkt der Erde sei?

Die Politiker in Washington, Ottawa, London, Paris, Berlin repräsentieren nicht die Bevölkerung. Sie sind eine «Clique», die von der Realität der Welt kaum etwas versteht. Hybris und Willkür regieren. Der «Westen» ist eine Minderheit in der Welt und versucht, seine Machtposition durch Gewalt und Bedrohung aufrechtzuerhalten. Dies ist gefährlich. Wir sind lange nicht mehr der Mittelpunkt der Erde, und es ist höchste Zeit, dass unsere Politiker dies verstehen, um das Vernünftigste daraus zu machen. 

Was braucht es, damit der Westen unter der Führung der USA nicht auch noch China in einen Krieg treibt?

Leute wie Anthony Blinken und Victoria Nuland waren immer Kriegstreiber. Sie werden von den vielen Kriegs-Lobbyisten unterstützt. Und so bekommen wir immer grössere Kriegshaushalte. Das System ist durch und durch korrupt, und die Grossen und Kleinen der Kriegsindustrie verdienen Milliarden. Die Waffenlieferanten wie Lockheed Martin, Boeing, Raytheon und andere sind mit dabei. Es sind eben diese Herrschaften, die die amerikanische Politik bestimmen.

Um eine weitere Eskalation zu verhindern, müssen die Europäer einen Stopp setzen. Emmanuel Macron hat verlangt, von den USA unabhängiger zu werden. Das ist der richtige Ansatz. Wenn Europa – zumindest ein paar Staaten wie Frankreich, Deutschland und Italien – aus der Kriegspolitik ausstiegen, hätte das auf die anderen Staaten eine Auswirkung. Das Gleiche wäre im Ukraine-Krieg nötig gewesen. Es ist zu hoffen, dass endlich Vernunft einkehrt und die Europäer sich der US-amerikanischen und britischen Kriegstreiberei widersetzen. Dann hätte der Frieden eine echte Chance. Es sieht zwar nicht so aus, aber wenn Frankreich konsequent eine andere Position vertritt, könnte das Sig­nalwirkung haben. Die Hoffnung stirbt zuletzt. 

Herr Professor de Zayas, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Projektbesuche im Gazastreifen: Aufgeben kommt nicht in Frage!

Die unermüdliche Suche nach Möglichkeiten, die Lebenssituation der Menschen zu verbessern

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Seit mehr als 20 Jahren besteht zwischen dem Verein Kampagne Olivenöl aus Palästina1 und kleinbäuerlichen Genossenschaften in der palästinensischen West Bank ein fruchtbarer Austausch auf Augenhöhe. Die Bauern produzieren kaltgepresstes, biologisches Olivenöl und erhalten dafür einen fairen Preis. Die Kampagne Olivenöl organisiert den Export2 des Olivenöls in die Schweiz, das dort dank vieler Freiwilliger verkauft werden kann. Der Gewinn aus dem Verkauf fliesst zurück in verschiedene Projekte in der West Bank und im Gazastreifen. Gegründet wurde die Kampagne Olivenöl vom Nahostforum, einem politischen Zusammenschluss von Juden, Palästinensern und Anderen zur Zeit der 2. Intifada, dem Aufstand der Palästinenser gegen die völkerrechtswidrige israelische Militärbesetzung der West Bank und des Gazastreifens. Diesen Februar konnte eine Delegation der Kampagne Olivenöl ihre Projektpartner im Gazastreifen besuchen.

Die weitläufige Eingangshalle des israelischen Grenzüberganges in Erez, über den bis zur Blockade des Gazastreifens von 2007 täglich Tausende von Palästinensern nach Israel zur Arbeit gegangen sind³, ist verwaist, fast alle Grenzkontrollkabinen unbesetzt. Eine junge Grenzpolizistin kontrolliert die Pässe und gleicht sie mit der israelischen Sondergenehmigung für die Einreise ab. Über eiserne Drehkreuze und lange Gänge gelangt man auf die andere Seite, wo einige Männer das Gepäck der spärlichen Reisenden bis zum Grenzposten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) transportieren – ein magerer Verdienst für ihre Familien. Anschliessend geht es zum Grenzposten der Hamas, auch hier nach einem freundlichen «Welcome» ein Abgleich der Pässe mit der Einreisebewilligung des Ministry of Interior der Hamas. Nach kurzer Fahrt bis zum Tor, das den Grenzbereich vom Gazastreifen trennt, begrüsst uns der Fahrer unserer Partnerorganisation «National Society of Rehabilitation» (NSR) mit einem herzlichen «Welcome». Er bringt uns nach Gaza-Stadt. 

Quelle: https://de.wiktionary.org/wiki/Datei:Gazastreifen_Karte.png#/media/Datei:Gaza_Strip_map2.svg

Quelle: https://de.wiktionary.org/wiki/Datei:Gazastreifen_Karte.png#/media/Datei:Gaza_Strip_map2.svg

Wo immer wir im Gazastreifen hinkommen, ist ein freundliches «Welcome» zu hören. «Hier freut man sich über jeden Besucher», erklärt uns Jamal Rozi, der Präsident des NSR, «das gibt den Menschen das Gefühl, dass sie von der Welt nicht vergessen werden.» Seitdem der Gazastreifen 2014 unter Blockade gestellt wurde – die Einheimischen sprechen von Belagerung – können in der Regel nur Mitglieder internationaler Organisationen und von Hilfswerken in den Gazastreifen reisen.⁴

Im Hafen von Gaza-Stadt: ein Fischkutter unterwegs zum nächtlichen Fischfang (alle Bilder hhg)

Im Hafen von Gaza-Stadt: ein Fischkutter unterwegs zum nächtlichen Fischfang (alle Bilder hhg)

Gaza-Stadt

In Gaza-Stadt ist dichtester Verkehr: viele Autos, Motorräder und dazwischen Eselskarren, beladen mit dem, was das Land im Februar schon hergibt. Ohne dass sich die Fahrer sichtbar ärgern, wird unaufhörlich gehupt. Verkehrsregeln sind nicht auszumachen, und man ist froh, nicht am Steuer zu sitzen. Ein kleiner Laden neben dem anderen, ein geschäftiges Hin und Her von Frauen, Männern und vielen Kindern. 

Am alten Markt vorbei mit seinen unzähligen Ständen kommt man zum Souq Al-Thahab, dem Goldmarkt im Herzen der Altstadt von Gaza-Stadt, wo sich ein kleiner Laden an den anderen reiht – schönster Goldschmuck, Ringe, Halsketten, Armbänder. «Was immer man wünscht, man findet es hier für Hochzeiten, den Muttertag oder den Valentinstag», so einer der vielen Ladenbesitzer.

Über dem Gewirr unzähliger elektrischer Kabel ist von weitem das schöne Minarett der Al-Omari Moschee zu sehen vor einem wolkenlosen, blauen Frühlingshimmel. Im Sahn, dem grossen Innenhof der Moschee, eingerahmt von alten Arkadengängen, beten einige Männer, andere sind ins Gespräch vertieft. Kinder spielen und scharen sich schon bald neugierig um die seltenen Besucher und nehmen mit ihren Englischkenntnissen Kontakt auf. Während die Buben kecker sind, halten sich die Mädchen im Hintergrund oder verstecken sich kichernd hinter dem Rücken ihrer Freundinnen. 

Am Mittag sind viele in Gaza-Stadt unterwegs, und Kinder sind auf dem Heimweg von der Schule.

Am Mittag sind viele in Gaza-Stadt unterwegs, und Kinder sind auf dem Heimweg von der Schule.

Neues Hafengelände

Später fahren wir zu einem neuen Teil des Fischerhafens, der mit Trümmern der Bombardierungen aus den Gazakriegen ins Meer hinaus aufgeschüttet und erweitert worden ist, in den seitlichen Schutthügeln, eine Treppe, eine kleine Kuppel, vielleicht von einer Moschee? Familien spazieren der Mole entlang, junge Paare flanieren in der Abendsonne und Kinder spielen Fussball. Am Wasser sitzen viele Männer mit ihren Fischerruten. Kleine, rostige Fischkutter machen sich zur nächtlichen Ausfahrt bereit, ein nicht ungefährliches Unterfangen, bei Seemeile 6 blockiert die israelische Küstenwache. 

Bei der Palestinian Medical Relief Society Gaza (PMRS)

Am Abend sitzen wir mit Dr. Aed Yagi zusammen, dem Direktor der PMRS, die 1979 von palästinensischen Ärzten und Fachleuten aus dem Gesundheitswesen gegründet worden war. «Während die Palästinensische Befreiungsfront PLO im Exil in Tunis⁵ weilte, baute die PMRS im Besetzten Palästinensischen Gebiet (oPt) eine medizinische Grundversorgung auf», erklärt uns Dr. Yagi. Heute ist die PMRS in der West Bank und im Gazastreifen tätig, wo das Gesundheitsproblem eines der grössten Probleme ist. Im Gazastreifen unterhält die PMRS vier Kliniken⁶ und beschäftigt 140 Personen, 70 bis 80 von ihnen haben eine Vollzeitstelle. Im Hauptgebäude der PMRS in Gaza-Stadt befindet sich die Hauptapotheke, ein Physiotherapiecenter, eine Ausleihstelle für medizinische Hilfsmittel und ein Jugendzentrum. Verschiedene Dörfer oder auch alte Leute werden von der mobilen Klinik der PMRS versorgt. Grossen Wert legt die PMRS auf die Gesundheitserziehung. Mit diesem Programm erhält die Bevölkerung Grundwissen zur Prävention von Krankheiten, zu Erster Hilfe und gesunder Ernährung. Informiert wird auch über die Problematik von Früh­ehen, die nicht selten sind. Finanziert wird die PMRS von verschiedenen NGOs aus Europa und der arabischen Welt.

Auf die Frage nach den Problemen, die die Arbeit der PMRS behindern, weist Dr. Yagi auf die israelische Blockade hin, die seit 16 Jahren andauert. Medizinische Hilfslieferungen werden behindert und der Zugang von Patienten, deren Behandlung im Gazastreifen nicht möglich ist, zu Spitälern in der West Bank und Israel erschwert. Zudem gab es im August 2022 wieder massive Bombardierungen. «Auch vorgestern wurde eine militärische Einrichtung bombardiert, zum Glück gab es keine Verletzten», so Dr. Yagi. Auf die Frage, ob die Hamasregierung die Arbeit der PMRS behindere, antwortet Dr. Yagi: «Sie lässt uns arbeiten. PMRS is filling the gap.»

Mit einer Ärztin der PMRS unterhalten wir uns über Fragen der Sexualaufklärung. Unter anderem sagt sie: «Voreheliche Beziehungen gehen nicht. Ein Abbruch einer Schwangerschaft ist auch für verheiratete Frauen nur schwer möglich.»

An der Islamischen Universität Gaza-Stadt⁷ 

Auf dem Teil des Universitätsgeländes, das den Studentinnen vorbehalten ist⁸, sind an diesem Morgen schon viele unterwegs zu den Vorlesungen, andere sitzen ins Gespräch vertieft auf dem Rasen. Es ist schönster Frühling. Die hübsch gekleideten Studentinnen mit ihren Kopftüchern nehmen auf Englisch mit den Besuchern spontan Kontakt auf. 

Einer der Professoren führt uns durch die Universität und ­beantwortet unsere Fragen. Wir ­erfahren, dass an der Universität mit ihren 11 Fakultäten in 80 akademischen Fächern ein Bachelor-Abschluss, in 20 Fachgebieten ein Master Abschluss sowie ein PHD-Abschluss in einigen Fachgebieten⁹ gemacht werden kann.10 Eine spezielle Fakultät ist die Faculty of Sharia & Law, an der Sharia und Recht sowie die Islamische Sharia gelehrt werden. Neu gibt es jetzt auch die Studienrichtung Maschinenbau für Männer. In Gaza und in der West Bank ist dies die einzige Universität, an der Blinde dank Computern mit Brailleschrift studieren können. Zur Zeit sind rund 10 000 Studentinnen und 7000 Studenten immatrikuliert. 

Die finanzielle Situation der Universität ist miserabel. Sie erhält weder von der PA noch von der Hamas finanzielle Mittel. Bis 2013 wurde sie von der türkischen Regierung unterstützt und erhielt auch Zuwendungen aus Katar. Die Studiengebühren sind praktisch die einzigen Einnahmen der Universität. Entsprechend unsicher und schlecht sind die Löhne des Lehrpersonals. «In Gaza kann man nicht planen, unsere Wirtschaft ist katastrophal», so der Professor. 

Für die Palästinenser hat Bildung eine grosse Bedeutung. Pro Semester betragen die Studiengebühren 2400 Euro. Oft hilft die ganze Grossfamilie mit, die Studiengebühren zu finanzieren. Ihren Bacelor, Master oder PHD erhalten die Studierenden erst, wenn sämtliche Studiengebühren bezahlt worden sind. 

In einer Gesprächsrunde mit Studentinnen und Studente11 wird deutlich, dass ihre Berufswahl immer auch sozial motiviert ist, um später zu einer besseren Lebenssituation der ganzen Gesellschaft beitragen zu können, sei es als Mediziner, Lehrer oder in einem anderen Beruf. Real sind künftige Arbeitsstellen jedoch nur spärlich vorhanden, eine der Möglichkeiten wäre eine Lehrerstelle in den UNRWA Schulen in den Flüchtlingslagern.

Im Büro beim obligaten Kaffee im kleinen Pappbecher begrüsst uns der Rektor der Islamischen Universität: «Wir sind unter Belagerung und freuen uns über jeden Einzelnen, der Gaza besucht.» An der Universität, die seit 10 Jahren auch Mitglied der Mittelmeeruniversitäten ist, wird nach den Richtlinien des Instituts für Bildung in Ramallah unterrichtet. Neben den mangelnden Finanzen und den fehlenden Geräten für die Lehre ist auch die israelische Blockade12 ein Problem. «Sie verhindert die Austauschmöglichkeiten für die Studierenden. Wir haben keine ausländischen Studierenden und kaum jemand studiert in der West Bank oder im Ausland», so der Rektor, «über Zoom sind jetzt Kontakte und ein Gedankenaustausch möglich. In Ramallah wird jetzt daran gearbeitet, dass interaktives Lernen über das Internet möglich wird.» Die Universität hat auch Olivenhaine, dessen Öl an die Angestellten der Universität verkauft wird. 

National Society of Rehabilitation in Gaza Strip (NSR)

Die NSR ist eine gemeinnützige Organisation, die 1990 von Dr. med. Hedart Neshati gegründet wurde. Übergriffe der israelischen Armee im Gazastreifen, der damals noch unter israelischer militärischer Besatzung stand, führten zu teils schwerwiegenden Verletzungen, die eine Rehabilitation nötig machten. Die medizinischen Ressourcen für eine sehr grosse Bevölkerung waren sehr beschränkt, und es gab keine Rehabilitationsmöglichkeiten. Die NSR setzte sich daher zum Ziel, Menschen mit Behinderungen – geburts- oder verletzungsbedingt – behilflich zu sein, aktiv und eigenständig ihren Platz in der Gesellschaft auszufüllen. «Das bedingte auch eine Art Schulung für die Behinderten und ihre Familien, die für sie zu sorgen hatten», so Jamal Rozi, der Präsident der NSR. 

«Zu Beginn wurde in den Flüchtlingslagern eine Befragung durchgeführt zur Art der Behinderung. Wieviele und welche Altersgruppen sind betroffen? Was wird benötigt?», so der Präsident. 

1990 bewegte sich die NSR in einem sehr schwierigen Umfeld. Es gab noch keine palästinensische Regierung, die sich um die Belange der Behinderten kümmerte. Zudem wurde eine medizinische Sichtweise von Behinderung von der Bevölkerung nicht akzeptiert. «Das Thema Behinderung war ein Tabu. Die Leute wollten weder darüber reden noch etwas dazu wissen. Man glaubte, ein behindertes Kind sei eine Strafe Gottes», so Jamal Rozi, «die Familien schämten sich und hielten ihre behinderten Kinder versteckt, manchmal sogar vor der eigenen Familie.» Es brauchte viel Zeit und Arbeit, um diese Sichtweise zu verändern. «Auch die Intifada hat zur Veränderung beigetragen wegen der vielen verletzten Widerständler», so der Präsident, «am Tage zuvor von der Bevölkerung für ihre Aktionen bewundert, sitzen ihre Helden am nächsten Tag schwerbehindert in einem Rollstuhl.» Damit wurde auch deutlich, dass Hilfe nötig war, und die NSR begann Hilfsmittel und Physiotherapie zur Verfügung zu stellen. 

Die NSR befasste sich auch mit der Integration behinderter Kinder in die Schulen, wobei zuerst Schulleiter und Lehrer überzeugt werden mussten, dass auch behinderte Kinder ein Recht auf Bildung haben. Mit der Einsetzung der Nationalen Palästinensischen Autonomiebehörde 1994 wurden Gesetze zur Unterstützung von Behinderten erlassen, wie zum Beispiel das Recht auf Schulbesuch. 

Ganz allgemein hat sich die Einstellung gegenüber Behinderungen verändert. «Menschen mit Behinderungen können sich jetzt auf der Strasse bewegen, man findet sie in den Schulen, in den Kindergärten, es gibt für sie sogar vier oder fünf Sportvereine», so Jamal mit Genugtuung. Auch mit den zuständigen Regierungsstellen der Hamas ist die NSR im Gespräch. «Wir sprechen mit ihnen und haben Arbeitstreffen mit ihnen. Sie haben die Idee akzeptiert und sprechen mit uns: ‹Wir glauben an diese Sachen und werden überall Anpassungen vornehmen, aber wir brauchen etwas Geld.› Die Regierung wäre bereit, aber sie hat kein Budget, die finanziellen Mittel fehlen,» so der Präsident mit grossem Bedauern, «für Menschen mit einer Behinderung ist dies eine echte Herausforderung.»

«Die Lebensbedingungen bedürftiger Menschen mit Behinderungen im Gazastreifen verbessern»13, so heisst das Projekt der NSR im Gazastreifen, das Menschen mit Behinderungen bauliche Anpassungen, elektrisches Licht und sauberes Trinkwasser ermöglicht. Das Projekt wurde auf Antrag der Kampagne Olivenöl aus Palästina von den Genossenschaftern der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich ABZ mit einem Beitrag von 35 000 Franken unterstützt und zwischen dem 1. Mai 2022 und dem 30. November 2022 in die Tat umgesetzt. Damit konnten Menschen mit Behinderungen aus dem ärmsten und bedürftigsten Teil der Bevölkerung unterstützt werden, wie Besuche in ihren Familien zeigen. 

Auf Besuch
– eine Batterie…

Um Karam zu besuchen, steigt man in den siebten Stock. Es hat keinen Lift. Der zehn Jahre alte Karam sitzt mit einer zerebralen Lähmung im Rollstuhl. Das Sprechen bereitet ihm Mühe. Er wird von seiner Mutter zuhause unterrichtet. Auf die Frage, welche Fächer er gerne habe, antwortet er: «Arabisch, Mathematik und Technik. Später will ich Arzt werden.» Karam hat eine gute Intelligenz und lernt leicht. Er würde so gerne Sport machen. Der kleinere Bruder geht in die 1. Klasse. Auch er will Doktor werden, um den Kranken zu helfen. Die wirtschaftliche Lage der Familie ist prekär. Der Vater hat Krebs und ist zur Zeit im Spital. 

Die Familie hat eine Batterie erhalten, um die ständigen Strom­unterbrüche überbrücken zu können. Darüber ist die Mutter sehr froh. Jetzt wird sie beim Unterrichten nicht mehr unterbrochen, und Karam hat Licht, wenn er nachts ins Bad muss. Ein Lichtblick ist, dass man von der Wohnung auf die Dachterasse gelangt, wo der Himmel und die Stadt zu sehen sind.

– «He is managing himself»

Unser nächster Besuch gilt einem 60-jährigen Mann im Rollstuhl. Er ist geschieden und lebt alleine. Das ursprüngliche WC – ein Loch im Boden – wurde ersetzt durch eine WC-Schüssel mit Armstütze und einem Lavabo. Zudem erhielt der Mann eine Batterie zur Überbrückung der Stromunterbrüche sowie einen Trinkwassertank. Einige Treppenstufen wurden durch eine Rampe ersetzt. Auf die Frage, ob der Mann für sich selber schauen könne, antwortet Jamal Rozi mit sichtlicher Freude: «Ja, er kocht selber, er schaut sich selber – he is managing himself!» 

Eine Rampe ersetzt die Treppenstufen. Früher musste die Mutter ihre Tochter die Treppe hinuntertragen.

Eine Rampe ersetzt die Treppenstufen. Früher musste die Mutter ihre Tochter die Treppe hinuntertragen.

– Mit einer Rampe
das Problem lösen

Zu Fuss geht es weiter auf einer schmalen Strasse gesäumt von ein- bis dreistöckigen Häusern zu einem älteren Mann, der im Rollstuhl im Eingang seiner Wohnung auf uns wartet. «Hier hatte es eine etwa 20 Zentimeter hohe Stufe. Wenn er zur Toilette musste, kam der Nachbar, lud ihn auf seine Schultern und brachte ihn ins Bad», erklärt Jamal. «Auch hier wurde das Problem mit einer Rampe gelöst und im Bad hat man die nötigen Anpassungen vorgenommen.» Um vom Rollstuhl auf das WC zu wechseln, braucht er Hilfe. Seine verheiratete Tochter, die für die Besucher Kaffee gemacht hat, und die Nachbarn schauen für das Nötige. «Physiotherapie wäre für Behinderte wie ihn, sehr wichtig und würde seine Befindlichkeit sehr verbessern», so Jamal, «aber drei Mal wöchentlich Physiotherapie kostet 600 Schekel, das kann er sich nicht leisten.» Der NSR hat auch einen Trinkwassertank installiert. Filtriertes Trinkwasser wird von einer Firma verkauft, im Tankwagen geliefert und dann in den Trinkwassertank eingefüllt. Die schwarzen Tanks auf den Dächern, die überall zu sehen sind, enthalten nur Brauchwasser für den Abwasch, die Wäsche oder das WC.

– Eingangstüre verbreitert

Unser nächster Besuch führt uns zu einem jungen Mann. «Er tauchte ins Meer, aber es war nicht tief genug», so Jamal. Jetzt sitzt der Achtzehnjährige mit einer Paraplegie im Rollstuhl. Für einen besseren Zugang liess der NSR die Eingangstüre verbreitern und nahm auch Anpassungen im Bad vor. Einige Buben mustern neugierig die Besucher. «Die Familie hat neun Kinder», erklärt Jamal, «hier hat man gerne viele Kinder.» «So hat man immer jemanden zum Spielen», bemerke ich. «Oder jemanden zum Streiten», lacht Jamal. 

Wieder unterwegs geht es schon gegen Mittag. Die Wäsche an den Hauswänden trocknet in der Sonne neben den Matratzen, die gesonnt werden. Viele sind unterwegs, und Kinder sind auf dem Heimweg von der Schule. 

– Hühner, Schafe, Tabounbrote

Vor einer Tür, bemalt mit unzähligen goldfarbenen Herzen, bleiben wir stehen und klopfen. Eine alte Beduinin öffnet: «Willkommen, seid willkommen in unserem Haus.» Sie führt uns zu ihrem Mann, der mit einer Paraplegie im Rollstuhl sitzt. «Bei uns wurde das Bad gemacht und die Türe verbreitert», sagt sie, «das macht es einfacher für mich und für ihn.» Auch eine Batterie für die Stromunterbrüche wurde installiert. Im Hof ist ein «bäh, bäh» zu hören und einige Hühner sind unterwegs. Zwei Schafe strecken neugierig ihre Schnauzen durch die Gitterstäbe. Neben dem Holzofen im Hof sind frisch gebackene Tabounbrote aufgeschichtet von denen jeder beim Abschied eines mitbekommt. Sie schmecken köstlich.

Fadi kann allein die Treppe hinuntergehen zu den anderen Kindern.

Fadi kann allein die Treppe hinuntergehen zu den anderen Kindern.

– Geländer als Gehhilfe

Im 2. Stock erwartet uns die ­Familie im Wohnzimmer. An der einen Wand ist ein Geländer angebracht, an dem sich der siebenjährige Fadi, dessen Beine mit Schienen gestützt werden, festhält. «Komm zu mir», sagt der Vater auf der anderen Seite des Zimmers. Ganz unsicher und schwankend läuft der Bub hinüber zum Vater. Auch das Treppenhaus ist von der NSR mit einem Geländer versehen worden, an dem sich Fadi jetzt mit beiden Händen festhält und dann vorsichtig einen Fuss vor den anderen setzend nach unten und später auch wieder nach oben steigt. «Jetzt kann Fadi ganz alleine die Treppe hinuntergehen zu den anderen Kindern», sagt die Mutter. «Mein liebster Freund ist mein Cousin», meint Fadi. 

Als Fadi ein Jahr alt war, merkten die Eltern, dass er nicht wie die anderen Kinder zu laufen begann und seine Muskulatur sich nicht richtig entwickelte. Er hat noch zwei ältere Schwestern und eine jüngere. Auf unsere Fragen gibt der Bub gerne Auskunft. Er liebt Fussball und Barcelona ist sein Favorit. Zur Schule geht er sehr gerne. «Im Rahmen der Integrativen Bildung wird er vom Schulbus abgeholt», erklärt Jamal.

Die Mutter hatte die Tochter geschickt, um etwas zum Trinken zu holen, das die beiden jetzt an die Besucher verteilen. Gastfreundlich, wie es ihrer Kultur entspricht, lädt uns die Familie zum Mittagessen ein. Wir bedanken uns herzlich, aber wir müssen weiter.

– Vor allem Mütter und Frauen werden entlastet

Auf dem sandigen Karrenweg des Flüchtlingslagers, vorbei an einem leeren Beutel für Trockenmilch mit dem Signet der UNRWA, kommt man zur nächsten Familie. Da, wo früher Stufen waren, führt neu eine lange Rampe zum Hauseingang, der breiter gemacht wurde für einen besseren Durchgang des  Rollstuhls. Auch das Bad wurde behindertengerecht angepasst. Im Wohnzimmer liegt die 15 jährige Jugendliche warm zugedeckt auf dem Bett. Sie ist mit einem offenen Rücken (Spina bifida) zur Welt gekommen und leidet heute unter einer Paraplegie. «Aber sie kann die Schule besuchen. Früher musste sie die Mutter die Stufen hinunter tragen. Jetzt kann die Mutter sie hinunterfahren», erklärt Jamal. Die Jugendliche strahlt, sagt etwas und Jamal übersetzt: «Euer Besuch ist eine grosse Unterstützung für mich.» 

«Die Unterstützung, die die NSR leistet, hat eine doppelte Wirkung. Einerseits wird der Behinderte unterstützt, andrerseits wird das ihn umgebende soziale Netzwerk entlastet und gestärkt», so Jamal, «weil sie weniger Gewicht zu tragen haben. Vor allem Mütter und Frauen werden entlastet, da sie für Behinderte und Kranke zu sorgen haben. In dieser Familie fehlt auch der Vater. Vor vier oder fünf Jahren ist er an Krebs gestorben.»

– Batterie und Trinkwassertank

In der letzten Familie, die wir besuchen, leidet die 42-jährige Mutter unter einer körperlichen Behinderung. Hier wurde das Bad behindertengerecht angepasst. Eine Batterie überbrückt die Stromausfälle und in einem weissen Tank kann jetzt das Trinkwasser aufbewahrt werden. Über diese Unterstützung ist der Vater sehr froh, neben ihm seine 13-jährige Tochter sowie ein Mädchen im Kindergartenalter, aufmerksam mit wachen Augen. «Das Trinkwasser im Tank, das gekauft werden muss, reicht in der Regel für zwei Wochen», so der Vater. «Manchmal ist auch das Dach undicht, wenn es im Winter stark und lange regnet.»

Ein Leben im Gazastreifen ist ein Leben mit Schwierigkeiten ohne Ende, aber aufgeben? Kommt nicht in Frage! Unermüdlich sucht man nach Möglichkeiten, die aktuelle Situation zu verbessern, wie der Schlussbericht zum Einsatz des Projektgeldes der ABZ zeigt. 58 Männer und 46 Frauen konnten nachhaltig unterstützt werden. 

 

Genossenschafter der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ) unterstützen die Nationale Gesellschaft für Rehabilitation im Gazastreifen (NSR)

Als Genossenschafter der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich bezahlt man mit dem Mietzins monatlich einen Beitrag von fünf Franken in den ABZ-Solidaritätsfonds. Alljährlich entscheiden die Genossenschafter an einer Vergabekonferenz, welche sozialen, kulturellen oder ökologischen Projekte zum Thema Wohnen einen finanziellen Beitrag erhalten. An der Vergabekonferenz von 2021 wurde für das Projekt der NSR der Kampagne Olivenöl aus Palästina ein Beitrag von 35 000 Franken gesprochen.

 

 

¹ www.olivenoel-palaestina.ch

² Zusammen mit der «gebana ag», die im fairen Handel tätig ist, werden Olivenöl und Za’tar in der Schweiz vermarktet. 

³ Vor der 2. Intifada im Jahr 2000 gingen monatlich bis zu 500 000 Palästinenser aus Gaza zur Arbeit nach Israel, so die UNOCHA, Gaza Strip/ The humanitarian impact of 15 Years of the blockade – June 2022

⁴ «Palästinenser dürfen den Gazastreifen nicht über Israel verlassen, auch nicht um in die West Bank zu reisen, ausser wenn ihnen Israel eine Ausreisegenehmigung erteilt. Nur Angehörige bestimmter Kategorien, vor allem Händler (einschließlich de facto Tagelöhner), Patienten und ihre Begleiter sowie Mitarbeiter von Hilfsorganisationen können eine solche Genehmigung beantragen. Andere Personen haben keinen Anspruch auf eine Genehmigung, auch wenn sie gemäss den israelischen Behörden kein Sicherheitsrisiko sind. In den meisten Fällen führen die israelischen Behörden keine besonderen Gründe an für die Ablehnung eines Antrags. Wird ein Antrag genehmigt, kann der Genehmigungsinhaber über den von Israel kontrollierten Grenzübergang Erez reisen, der tagsüber von Sonntag bis Donnerstag und freitags nur für dringende Fälle und ausländische Staatsangehörige geöffnet ist.»

«Palästinenser, die über Ägypten den Gazastreifen verlassen wollen, müssen sich zwei bis vier Wochen vorher bei den palästinensischen Behörden anmelden. Sie können sich auch direkt an die ägyptischen Behörden wenden und die Dienste eines privaten Unternehmens in Anspruch nehmen. Verfahren und Entscheidungen der beiden Behörden sind nicht transparent. Wer eine Genehmigung erhält, reist über den von den ägyptischen Behörden kontrollierten Grenzübergang Rafah aus, der sonntags bis donnerstags geöffnet ist. Die Reise durch die Wüste Sinai ist oft langwierig und beinhaltet verschiedene Kontrollen durch ägyptische Sicherheitskräfte.» Quelle: UNOCHA Movement in and out of Gaza: update covering February 2023

⁵ 1982–1994.

⁶ Jabalia Clinic, Abu Tuameh clinic, Beit Hanoun Clinic, Um Al-Nasser clinic.

⁷ Die 1978 gegründete Islamische Universität ist die grösste Universität im Gazastreifen. 

⁸ An der Islamischen Universität studieren Studentinnen und Studenten getrennt voneinander.

⁹ Im College of Management, Economics, Engineering und Arts and Information Technology.

10 www.iugaza.edu.ps/en/about-iug/

11 Auch über die Folgen der Gazakriege wird berichtet. Eine Studentin erzählt, sie sei mit 8 Jahren bei einer Bombardierung an der Brust verletzt worden und habe hospitalisiert werden müssen. Eine andere berichtet, es gebe viele Krebserkrankungen im Gazastreifen, und einer der Studenten fügt an, der Einsatz von Phosphorbomben habe die Krebserkrankungen verstärkt. Auch die Universität sei zweimal bombardiert worden. 2015 habe die israelische Luftwaffe zwei Universitätsgebäude zerstört, die dank arabischer Geberländer wieder aufgebaut worden seien. Auch die israelische Blockade sei ein massives Problem. Eine Reise in die West Bank oder in andere Länder sei kaum möglich. Wenn sie auf Facebook oder anderen sozialen Medien aus dem Gazastreifen berichten wollten, würden sie sofort gelöscht. 

12 Hebron in der West Bank ist von Gaza-Stadt nur 40 km entfernt. «Um dorthin zu reisen, muss ich über Ägypten und Jordanien in die West Bank nach Hebron reisen», so der Rektor lachend.

13 Aus dem Projektbeschrieb der PSR: «Hintergrund: Die Menschen im dicht bevölkerten Gazastreifen sind sozial und wirtschaftlich schwierigen Lebensbedingungen ausgesetzt. Seit 15 Jahren leben sie in einer Art Belagerungszustand, und die Grenzen sind geschlossen. Sieben israelische Angriffe hatten massive Zerstörungen von Wasserleitungen, Strassen und elektrischer Infrastruktur zur Folge. Die finanziellen Mittel, diese Schäden nachhaltig zu beheben, fehlen. Die Lage der palästinensischen Bevölkerung ist prekär, insbesondere für Menschen mit Behinderungen. Das Projekt zielt in erster Linie darauf ab, die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen sowie ihrer Familien zu verbessern und zu erleichtern, um diesen eine möglichst grosse Unabhängigkeit zu ermöglichen. Bauliche Anpassungen, Licht, elektrischer Strom und sauberes Trinkwasser zuhause leisten dabei einen wichtigen Beitrag.»

Was heisst Krieg?

von Dr. Stefan Nold

Heute wird der Krieg in sterilen Fernsehstudios von piekfeinen Prominenten präsentiert. Vor einigen Jahren kamen wir am Frühstückstisch eines Hotels in Bad Sobernheim mit einem alten Mann ins Gespräch. Wir waren mit den Rädern von Bingen gekommen, er war zu einem Ehemaligentreffen verabredet. «Bingen» sagte er. «Als Kinder mussten wir dort nach einem schweren Bombenan­griff die Trümmer beseitigen. Wenn wir Leichen gefun­den hatten, haben wir die Erwachsenen gerufen; die haben sie dann ausgegraben. Es waren viele Leichen. Sehr viele. In der ganzen Stadt stand der süssliche Geruch nach Leichen, durchdringend, intensiv. Das ist meine Erinnerung an Bingen.» 

Mein Vater, Klaus Nold, im September 1944 als Rekrut in einer Kaserne in Köln. Zeichner: Ein unbekannter Soldat (Bild zvg)

Mein Vater, Klaus Nold, im September 1944 als Rekrut in einer Kaserne in Köln. Zeichner: Ein unbekannter Soldat (Bild zvg)

Mein Vater war Jahrgang 1926: Flakhelfer, Arbeitsdienst, Rekrut, Ausbildung zum Funker, Front. Beim Angriff der Alliierten auf Arnheim war er in einer Kaserne in Köln-Kalk in Bereitschaft. In dieser Anspannung nahm einer, der gut zeichnen konnte, Bleistift und Papier und porträtierte einige seiner Kameraden. In ähnlicher Weise warten auch heute junge Männer auf das kommende Gemetzel.

Im Februar 1945 kam mein Vater an die Ostfront. Er erzählt: «Bei einem der letzten Gefechte hatte ich grosse Angst, hätte mir beinahe in die Hose gemacht. Ich bin übers freie Feld gerannt, um in einem verlassenen Bauernhaus mein Geschäft zu verrichten. Drinnen lag ein toter Rotarmist, die Augen aufgerissen, den blonden Kopf nach hinten geworfen, ganz frisch, etwa so alt wie ich. Nach der Kapitulation kam ich bei Passau in amerikanische Gefangenschaft. Eines Tages hiess es: Es geht nach Hause. Wir setzten uns auf die Ladefläche eines Lasters. Der Konvoi fuhr los. Nach etwa zwei Stunden bogen die Laster nach Osten ab. Überall stan­den plötzlich Streckenposten, fliehen konnte man nicht. Es war klar, jetzt geht es nach Russland. Ei­ner der alten Soldaten sagte: ‹Für das, was wir denen angetan haben, behalten die uns zehn Jahre da›. Im Gefangenenlager in Saratow magerte ich ab und wurde schwer krank. Das Lazarett befand sich in einem ehemali­gen Gymnasium der früheren Wolgadeutschen. Die Bücher waren noch da. Neben mir lag ein Schnei­der, der Stalingrad in der Kleiderkammer überlebt hatte. Der wusste, wann es mit einem zu Ende war, und machte sich schon an meinem Brotbeutel zu schaffen. Zwei Ärzte kamen, ein Rumäne und eine Rus­sin. Die russische Ärztin sagte: ‹Wenn ich Penicillin hätte, könnte ich ihn ret­ten›. Der Rumäne antwortete: ‹Sie träumen. Wo wollen Sie denn hier Penicillin herbekommen?› Ich habe mich dann doch erholt. Beim Verladen von Zementsäcken auf Wolgaschiffe war ich später Bestarbeiter.» Sein Fazit: «Die Organisation war miserabel, aber man hat uns immer menschlich behandelt.»

Der Tenor der Berichte von Helmut Gollwitzer, Josef Bukin und anderen ist ähnlich. Sie hatten gelernt zu hassen und zu verachten – mit Herzen, gewärmt von der Solidarität der Machtlosen, kehrten sie heim. In seinen späten Erinnerungen «Spasibo Iwan. Danke Soldat» schreibt Werner Abel, er habe «ein Stück Seele in Russland zurückgelassen». 

Das Erleben meines Vaters hat über seinen Tod hinaus eine magische, suggestive Kraft auf mich. Wenn ich heute, in aufgeschreckter Zeit etwas davon an die Öffentlichkeit bringe, wäre das in seinem Sinne, da bin ich mir sicher. 

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