Rücksichtnahme auf Natur und Umwelt ist auch bei einer produzierenden Landwirtschaft vorhanden

«Es wird nicht einfach Gift gespritzt»

Interview mit Bio-Landwirt Jakob Hug*

Jakob Hug (Bild zvg)
Jakob Hug (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Sie sind Mitglied des nationalen Komitees «2 x Nein zu den extremen Agrarinitiativen». Warum sind Sie gegen die beiden Initiativen, die im Juni zur Abstimmung kommen?

Jakob Hug Vor wenigen Jahren hat das Volk über die Initiative des Bauernverbands zur Ernährungs­sicherheit abgestimmt. Über 70 % der Bevölkerung haben dieser Vorlage zugestimmt. Verschiedene Organisationen und Parteien hatten an dem sehr ausgewogenen Text dieser Initiative mitgewirkt. Der Artikel war gut formuliert. Es ging darum, wie unsere Landwirtschaft in Zukunft aussehen soll: Eine nachhaltig produzierende Landwirtschaft, eine Landwirtschaft, die das produziert, was der Markt wünscht. Mit diesen Vorgaben könnte sich die Landwirtschaft in eine gute Richtung entwickeln: die Rücksichtnahme auf die Natur und die Umwelt, eine nachhaltig produzierende Landwirtschaft. Das ist alles, was es zu einer guten und ertragreichen Agrarwirtschaft braucht.

Die beiden Initiativen wollen das nicht?

Sie sind viel zu einseitig. Man greift einen Aspekt heraus: die Pestizide. Die will man nicht. Hier stellt sich schon einmal als erstes die Frage, wie man Pestizide definiert. Das sind grundsätzlich Mittel, die gegen Schadorganismen eingesetzt werden, ganz unabhängig von der Wirkungsweise. Bei der Trinkwasserinitiative geht es ganz allgemein gegen Pestizide, während es bei der zweiten Initiative um das Verbot synthetischer Pestizide geht. Bei der Trinkwasserinitiative ist alles Pestizid, was zum Schutz gegen einen Pilz, ein Insekt oder eine andere Pflanze eingesetzt wird. 

Braucht es denn diese Pestizide?

Ohne diese könnten wir auch nicht biologisch produzieren. Man hat in den letzten Jahren viele Mittel entwickelt, die verträglich und biologisch zugelassen sind und eine gute Wirkung haben. Damit konnte man eine ganze Anzahl anderer Mittel ersetzen, die heute nicht mehr angewendet werden. Wenn diese neuen Produkte – bei Annahme der Initiative – nicht mehr eingesetzt werden dürfen, dann weiss ich nicht, wovon wir nachher noch leben wollen. 

Die Trinkwasserinitiative verlangt einen vollständigen Verzicht auf Pestizide?

Ja, es sollen nur noch die Betriebe Direktzahlungen bekommen, die keine Pestizide einsetzen. Zusätzlich muss der Landwirt aber auch alle Futtermittel für sein Vieh selbst produzieren. Das heisst, mein Familienbetrieb müsste die Hühnerhaltung einstellen, denn im Berggebiet kann man kein Hühnerfutter produzieren. Die Tiere bekommen Weizen und Mais sowie zusätzlich Eiweisskomponenten. 

Bei der Rinderhaltung gäbe es auch Veränderungen?

Ja, ich müsste dort auf Robust-Rassen wie z. B. rätisches Grauvieh oder ähnliches umstellen, die ich praktisch nur mit Gras, Heu, Wasser und etwas Salz füttern müsste, ohne dass sie gesundheitliche Schäden bekommen. Wir haben jetzt über Jahrzehnte Tiere gezüchtet, die leistungsfähiger sind. Sie sind aber nur leistungsfähiger, weil man sie gezielt mit Futtermitteln zufüttert, die ein Kollege produziert. Etwa 5 bis 7 % der Futtermittel muss ich für meinen Betrieb zukaufen, das sind Mais und Nebenprodukte der Mehlherstellung wie z. B. Weizenkleie, aber auch Zuckerrübenschnitzel als Nebenprodukt der Lebensmittelindustrie und anderes. Das darf ich dann nicht mehr.

Das stellt einen massiven Eingriff in die Landwirtschaft dar?

Man versucht als Landwirt immer, einen Ausgleich zwischen Futtermittelproduktion und Tierhaltung zu schaffen. Dabei achtet man auf Umweltverträglichkeit. Stickstoff und Phosphor können ein Problem darstellen, aber man hat in den letzten dreissig Jahren ernsthaft daran gearbeitet und starke Verbesserungen erzielt. Bei der Fütterung gleicht man aus, damit es nicht zu einem Missverhältnis zwischen Stickstoff und Kohlenhydraten kommt. So erzielt man eine Ausgewogenheit, damit auch der Dünger nicht einseitig ist. Es geht also nicht nur um die Tiere, sondern auch um die Umwelt. An diesem ganzen Komplex hat man Jahrzehnte geforscht, bis man das erreicht hat. Man merkt die Erfolge. Es braucht  manchmal nur sehr wenig, was angepasst werden muss, man ist sozusagen in einem kosmetischen Bereich. 

Vieles, was heute gut funktioniert, beruht auf jahrelanger Erfahrung. Diesen Anstrengungen wird mit den Initiativen kaum Rechnung getragen.

Man sagt nicht umsonst «das Auge des Bauern füttert das Vieh». Wenn das Fell nicht stimmt oder der Mist Abweichungen zeigt, dann stimmt etwas nicht. Hat man vielleicht zu viel vom jungen Futter gegeben, vom zweiten Schnitt, und dafür zu wenig Heu? Es braucht eine genaue Abstimmung. Wenn der Mensch in seiner Ernährung so weit wäre, gäbe es keine übergewichtigen Menschen mehr. 

Was darf man noch tun, wenn Tiere erkranken?

Ja, das ist genau das Problem. Auch Tiere haben Schadorganismen. Sind die Medikamente dagegen bereits Pestizide? Es braucht nicht nur Penizillin oder Antibiotika. Tiere können Parasiten haben, dagegen muss man Medikamente verabreichen. Wo ist jetzt die Grenze? Darf man kranke Tiere auch nicht mehr medikamentös behandeln? Die präventive Verabreichung von Antibiotika wird ebenfalls verboten. Wenn man aber merkt – und der Bauer, der seine Tiere kennt, der merkt das sofort –, dass etwas nicht stimmt, bevor das Tier richtig krank ist – gilt das dann als vorbeugend oder bereits als Behandlung? Muss das Tier erst Fieber haben, bevor man es behandeln darf? Und eines ist ganz klar, je früher man mit der Behandlung beginnt, um so weniger Medikamente braucht man. Dadurch würde die Umwelt natürlich viel weniger belastet. 

Wenn ich das so höre, dann ist es doch am besten, wenn der Bauer alle seine Tiere kennt. Wie gross darf ein Hof dann sein?

Unser Betrieb hat 60 Stück Rindvieh, von halbjährigen bis zu ausgewachsenen, und 10 Geissen. Das ist überschaubar. Wenn es mehr sind, müsste man zu zweit sein. Und ich habe das Glück, dass drei Söhne sehr an der Landwirtschaft interessiert sind und auch ein Auge auf die Tiere haben. Erst vor ein paar Tagen hat einer meiner Söhne Blut am Boden entdeckt. Wir fanden heraus, dass ein Tier eine Warze abgedrückt hatte und es aus dieser Stelle herausblutete. So konnten wir die Blutung stillen und eine mögliche Infektion verhindern. Bei Betrieben in anderen Ländern mit viel grösseren Tierbeständen ist darum der Ausfall immens, oder man muss prophylaktisch mehr Antibiotika verabreichen. Das betrifft aber auch den pflanzlichen Bereich. Aber auch hier geht man in der Regel sehr behutsam mit dem Einsatz von Insektiziden um. Wenn Betriebe zu gross werden, dann leidet die Seriosität.

Wenn man hört, mit welcher Sorgfalt und Umsicht in der Viehhaltung vorgegangen wird, muss man sich schon die Frage stellen, wozu wir solch eine Initiative brauchen. Wie geht man in der Schädlingsbekämpfung in Ackerbaubetrieben vor?

In Betrieben mit pflanzlichem Anbau geht man, bevor Insektizide eingesetzt werden, aufs Feld und schaut vor Ort, welche Insekten dort sind und wie viele es hat. Man steckt eine Fläche ab und zählt. Man konsultiert eine Tabelle, die erst bei einer gewissen Anzahl von Insekten den Einsatz von Insektiziden empfiehlt. Das nennt man die Schadschwelle. Man zählt die Schädlinge ab, bevor irgendetwas eingesetzt wird. Ein Beispiel ist der Rapsglanzkäfer. Das ist ein kleiner Käfer, der die Blüten am Raps abfrisst. Wenn es pro Quadratmeter nur zwei Käfer hat, dann sind es zu wenig, um alle Blüten zu fressen. Das gibt keinen riesigen Schaden. Das wird ca. 5 bis 10 % der Erntemenge sein. Das toleriert man als Bauer. Man hat über Jahre erforscht, was es verträgt es und wie gross der Schaden ist. Es wird nicht einfach «Gift» gespritzt. 

Was wäre die Folge für einen Bauernbetrieb, wenn die Trinkwasser-Initiative angenommen würde?

Wir haben einen Biobetrieb im Bergebiet mit Grünland, und wir setzen keine Pestizide auf dem Feld ein. Aber im Stall brauchen wir natürlich auch Medikamente. Man kann ein noch so gutes Umfeld haben, es gibt immer Situationen, wo etwas nicht zusammenpasst und ein Tier krank werden kann wie wir Menschen auch. Man kann sich bemühen, sich nicht anzustecken, und doch kann es einen treffen, und dann ist es wichtig, die richtigen Mittel zur Hand zu haben.

Was geschieht mit den gemüseproduzierenden Betrieben? 

Es wird eine Zweiteilung der Landwirtschaft geben. Es wird Betriebe geben, die sagen: Wir verzichten auf die Direktzahlungen. Das sind vor allem Obst- und Gemüseproduzenten. Das sind diejenigen, die entweder Obst oder Gemüse haben. Für sie sind die Direktzahlungen so klein, sie machen vielleicht 5 % der Einnahmen aus. Sie verzichten darauf, werden aber auch keine ökologischen Ausgleichsflächen mehr führen. Sie werden nur noch das machen, was das Gesetz vorschreibt und der Markt verlangt. Die anderen Betriebe wie z. B. meiner müssten auf eine extensive Rinderrasse umsteigen, die das verträgt, aber auch viel weniger Leistung erbringt. Ich müsste noch etwas mehr auswärts arbeiten.   

Was hat das für Auswirkungen auf die Gemüse- oder Obstproduktion?

Das wird ein grosses Problem werden. Ich sage immer, die Initianten wollen, dass man mehr Schnaps und Fleisch produziert. Denn Obst, das nicht faul ist, aber der Marktqualität nicht genügt, wird der Mosterei oder der Schnapsbrennerei geliefert. Und ohne Pflanzenschutzmittel werden wir vermehrt solches Obst und Gemüse haben. Fleischproduktion mit extensiven Tieren wird auch noch möglich sein. 

Damit geht doch etwas Wesentliches unserer Landwirtschaft verloren?

Heute haben wir einen Trend zu mehr pflanzlicher Ernährung. Mehr Gemüse, mehr Früchte und davon eine grosse Vielfalt. Es gibt aber leider nur ein paar wenige Gemüsesorten, die mit wenig bis gar keinen Pflanzenschutzmitteln auskommen. Alle empfindlichen und etwas exotischeren Sorten, die man bei uns dank der Techniken von Pflanzenschutzmitteln anbauen kann, könnten nicht mehr produziert werden, dazu gehören Auberginen, Tomaten, Gurken und anderes. Natürlich unter der Bedingung, dass «pestizidfrei» angebaut werden muss. 

Welche Möglichkeiten der Produktion gäbe es noch?

Viele werden nur noch in Gewächshäusern produzieren. Das ist keine normale Landwirtschaft mehr…

…was einer Industrialisierung der Landwirtschaft gleichkommt.

Ja, das könnte man so sagen. Man braucht dann auch weniger Pflanzenschutzmittel. Beeren kann man am besten unter Glas produzieren. Die Produzenten machen ein Netz um das Gewächshaus und lassen nur noch die Insekten hinein, die es zur Bestäubung braucht. Es wird eine spezielle Hummelart gezüchtet, die besonders gut Tomaten bestäuben kann. 

Zurück zu den Auswirkungen für unsere Landwirtschaft. Wie wird sie sich entwickeln?

Wie gesagt, ein Teil, wahrscheinlich eher ein kleiner Teil, wird auf die Direktzahlungen verzichten. Die anderen werden sicher Einbussen bei den Erträgen haben, auch wird die Qualität schlechter werden. Es wird weniger marktfähige Ware geben. Das heisst, was man für die menschliche Ernährung nicht brauchen kann, muss sonst irgendwie verwertet werden. Es wird mehr Süssmost geben, obwohl der Markt jetzt schon übersättigt ist. Es wird sehr einschneidende Veränderungen geben. Auch der Getreideanbau wird stark verkompliziert. Grundsätzlich werden wir tiefere Erträge haben. 

Weniger Erträge führen doch dazu, dass die Versorgungslage im Land schlechter wird?

Ja, man wird mehr aus dem Ausland importieren, und bei uns wird das Wasser – wenn überhaupt – ein «Muckesäckeli» sauberer. 

Vor kurzem kam doch der Bund mit einer Studie heraus, in der er in wenigen Regionen die Qualität des Wassers bemängelt. Das ist doch kein Zufall?

Das ist auch so eine Geschichte. Man hat einfach den Grenzwert heruntergesetzt und auf einmal hat man diesen überschritten. Das ist nur, weil man den Grenzwert verschoben hat, die Qualität ist immer noch die gleiche.

Die zweite Initiative verbietet den Einsatz synthetischer Pestizide. Was wird das für Auswirkungen haben?

Grundsätzlich sind synthetische Pestizide im Biolandbau nicht zugelassen. Wir dürfen als Biobauern nur Pflanzenschutzmittel verwenden, die man aus natürlichen Materialien herstellt. Es gibt pflanzliche und tierische Gifte, aus denen man Insektizide machen kann, aber man darf sie nicht synthetisch verändern. 

Bild thk

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Das heisst, Biobauern setzen keine dieser Wirkstoffe ein, damit betrifft die Initiative alle konventionellen Bauernbetriebe.

Ja, die betrifft es direkt. Indirekt sind aber auch alle Biobetriebe betroffen. Denn Bio-Standard gilt dann für alle Betriebe in der Schweiz. Man kann nicht mehr unterscheiden, das heisst, für die Biobetriebe geht etwas Entscheidendes verloren. Gefahr ist, dass der Preis nach unten angepasst wird. Dann geht die Rechnung für einen Betrieb nicht mehr auf, weder für den konventionellen Bauernbetrieb, der dann nach neuen Methoden anbauen muss, noch für die bestehenden Bio-Betriebe. Den Mehrwert, den uns der Markt für biologisch produzierte Waren gibt, brauchen wir, um unseren finanziellen und arbeitsmässigen Mehraufwand zu decken. Der Ini­tiative darf nur derjenige zustimmen, der bereit ist, für 3000 Franken im Monat von Hand zu jäten. Der Lohn für die Arbeitskraft wird sinken. 

Wie muss die Qualität der Ware sein, die importiert wird?

Hier bin ich auf etwas ganz Spezielles gestossen. Alles, was gewerblich importiert wird, muss diesem Standard entsprechen, das, was privat ins Land gebracht wird, nicht. Das heisst, man kann als Privater im grenznahen Ausland alles einkaufen, was natürlich – weil der Schweizer Standard nicht erfüllt sein muss – wesentlich günstiger ist. Das Gewerbe darf das nicht. Grossverteiler, Zwischenhändler und Händler dürfen nur die biologischen Produkte importieren. 

Was wird das für Folgen haben?

Der Einkaufstourismus an der Grenze wird noch mehr zunehmen. Im Moment ist er als Folge von Corona etwas abgeflacht, das wird sich wieder ändern. Dazu kommt noch der Versandhandel. Das hat niemand im Griff. Von den Tiertransporten, die dann aus den umliegenden Ländern stattfinden, nur damit das Fleisch ein bisschen billiger ist, spricht auch niemand. Diese Initiative ist nicht ehrlich und wird unsere Versorgung mit Lebensmitteln im eigenen Land weiter schwächen. 

Herr Hug, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* Jakob Hug führt in Matt bei Oberwangen, Hinterthurgau, einen Bio-Landwirtschaftsbetrieb. Für die CVP sass er von 2003 bis 2007 im Thurgauer Grossen Rat und war 19 Jahre im Vorstand des Thurgauer Bauernverbands. Er ist Vizepräsident des Verbands WaldThurgau. Er ist verheiratet und hat vier erwachsene Kinder.

 

Agrarinitiativen fördern den Abbau der Selbstversorgung mit Landwirtschaftsgütern

Soll weltweiter Agrarhandel die Alternative sein?

von Thomas Kaiser

Am 13. Juni stimmt die Schweizer Bevölkerung über zwei Agrarvorlagen ab, die bei Annahme weitreichende Konsequenzen für unsere Landwirtschaft und insbesondere auch für uns Bürgerinnen und Bürger haben werden, denn letztlich sind wir auf genügend und gesunde Nahrung angewiesen. 

Die Vorschriften, die beide Initiativen unserer Landwirtschaft machen, sind so gravierend, dass mit einem weiteren Rückgang der landeseigenen Agrarproduktion zu rechnen ist. Das heisst, um die Ernährung der Bevölkerung zu gewährleisten, wird sich unser Land in weitere Abhängigkeit von Lebensmittelimporten aus dem Ausland begeben müssen, deren Qualität meist unter der der im eigenen Land hergestellten Produkte liegt. Die Schweiz besitzt heute mit 50 bis 60 % schon einen relativ tiefen Deckungsgrad an Agrargütern und wäre bei einem weiteren Rückgang der bäuerlichen Betriebe noch mehr auf Nahrungsmittelimporte angewiesen. Die industrialisierte Landwirtschaft, wie sie in den USA, Lateinamerika, aber auch in einzelnen afrikanischen Staaten existiert, die Quadratkilometer Land an internationale Agrokonzerne verhökert haben, wird den grossen Profit davontragen. Die Lebensqualität und Versorgungssicherheit in unserem Land wird jedoch grossen Schaden nehmen. Über Umweltbelastungen und Gefahren, die der weltweite Handel mit Gütern, die man eigentlich problemlos im eigenen Land herstellen könnte, nach sich zieht, schweigt man sich geflissentlich aus. Manch «unerwartete» Ereignisse zeigen jedoch, wie schnell das System aus den Fugen gerät.

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Tiertransporte von Suez-Blockade betroffen

Die Havarie des gigantischen Containerschiffs «Ever Given» dokumentiert deutlich die Anfälligkeit des weltweiten Handels. Sechs Tage hatte das Schiff mit einer Länge von knapp 400 Metern den Suez-Kanal vollständig blockiert und damit eine der wichtigsten Wasserstrassen auf unserer Erde unpassierbar gemacht. Unter den zum Warten verurteilten Schiffen befanden sich auch solche, die mit lebenden Tieren beladen waren. «Während der Blockade des Suezkanals […] warteten unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 10 und 20 Frachter mit lebenden Tieren an Bord im oder vor dem Kanal auf Weiterfahrt... .»¹ Millionen von Rindern, Schafen und Schweinen werden «jedes Jahr auf Frachtern rund um den Globus verschifft». Die angeführten Gründe für diese weltweiten Tiertransporte sind unterschiedlicher Natur. Auf jeden Fall geht es darum, ein grosses Geschäft zu machen – auf Kosten von Mensch und Tier. Tierschutzorganisationen beklagen denn auch, dass Vorschriften und Auflagen in der Regel missachtet werden und die Tiere auf dem Transport grossen Qualen ausgesetzt sind. 

Das grosse Geschäft mit Agrargütern

Welthandel mit Agrargütern rund um den Globus – ein einträgliches Geschäft. Wenn es sich nicht mehr lohnt, im eigenen Land zu produzieren, weil die Bestimmungen so extrem sind, dass eine für die hiesige Bevölkerung produzierende Landwirtschaft verunmöglicht wird, sind wir, wollen wir nicht den Hungertod sterben, auf noch mehr Importe angewiesen. Soll das unsere Zukunft sein? ν

¹ www.srf.ch/news/panorama/nutztier-exporte-auf-frachtern-suezkanal-blockade-lenkt-blick-auf-umstrittene-tiertransporte

Sanktionen gegen China: «EU spielt sich als Weltgericht auf»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie muss man die aktuelle Kritik an China durch die EU verstehen?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Es ist das erste Mal seit 30 Jahren, dass die EU Sanktionen gegen China verhängt. Begründet wird dies mit Menschenrechtsverletzungen Chinas gegenüber den Uiguren. Die Reaktion der EU ist, Sanktionen zu verhängen. Die Grundlage dafür bildet das Sanktionsregime, das sich die EU in den letzten Monaten selbst gegeben hat. Es handelt sich hierbei um unilaterale Sanktionen bzw. einseitige Zwangsmassnahmen. Es ist nicht so, dass die Uno oder der Internationale Gerichtshof Verstösse festgestellt und darauf reagiert hätten. Nein, hier ist ein geopolitischer Akteur am Werke, der sagt, die Menschenrechte würden dort verletzt. In manchen Fällen trifft es zu, in anderen nicht, das lässt sich nicht immer eindeutig klären, und es wird auch nicht in rechtsstaatlichen Verfahren erörtert, sondern politisch festgestellt. Tatsache ist, dass die EU sich als Weltgericht aufspielt.

Ist es ein Akt der Willkür?

Ja, in gewissem Sinne schon. Vielleicht verhängt China Sanktionen gegen bestimmte Leute in der EU wegen der vielen Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, oder gegen Deutschland, weil die NSU-Mordserie nie richtig aufgeklärt wurde. Wenn die Chinesen etwas stört an der Politik der EU, könnten sie auch zu diesem Mittel greifen. Wo kommen wir denn da hin, wenn Staaten sich gegenseitig mit Sanktionen überziehen? Unilaterale Sanktionen sind häufig nicht durch das Völkerrecht gedeckt. Wie willkürlich das ist, sieht man am Verhältnis der EU zur Türkei.

Inwiefern?

Während man gegen China wegen der Verletzung der Menschenrechte Sanktionen ergreift, trifft man sich zeitgleich mit der Türkei, bietet neue Gelder für den Flüchtlingsdeal an und verhandelt über eine Weiterentwicklung der Zollunion. 

Das ist nach den letzten Meldungen über das Vorgehen Erdogans gegen die politische Opposition im Land allerdings sehr bedenklich.

Ja, wir haben aktuell eine krasse Entwicklung in der Türkei. Zum einen das mögliche Verbot der linken Oppositionspartei HDP, zum andern die Nichtumsetzung der Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs. Hinzu kommt die türkische Interventionspolitik in den Nachbarländern. Hier macht man praktisch das Gegenteil von dem, was man mit China macht. Ich bin gegen Sanktionen, aber wenn ein Regierungschef sich so verhält wie Erdogan, dann sollte man ihm nicht noch den Rücken stärken, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht. In der Situation bekommt er noch einmal so richtig Unterstützung von der EU, aber auch von Frau Merkel, was ich ihr bei meiner Rede im Bundestag direkt gesagt habe. Das ist so ein grotesker Widerspruch zwischen den Sanktionen gegen China und Russland und der privilegierten Behandlung der Türkei mit Waffenlieferungen und einer Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen.

Die Sanktionen gegen China sind beschlossen?

Ja. Die Chinesen haben auch direkt reagiert. Sie haben im Gegenzug verschiedene EU-Politiker sanktioniert, darunter zwei deutsche Abgeordnete, Reinhard Bütikofer von den Grünen und Michael Gahler von der CDU. Da gab es eine riesen Empörung. Aber was denken sich die Menschen denn? Dass China das einfach auf sich sitzen lässt? Der ganze Ablauf ist natürlich nicht gut. Aber wie naiv muss man denn sein, wenn man meint, die Chinesen nähmen das einfach so hin? Manchmal komme ich mir vor wie im Kindergarten. 

Russland steht auch schon länger unter Sanktionen?

Ja, diese Wirtschaftssanktionen werden ständig verlängert, ohne sie auch nur einmal zu evaluieren. Ich habe öfters der Regierung diese Frage gestellt: Welchen Effekt haben die Sanktionen und wo hat man mit Sanktionen tatsächlich einen politischen Erfolg erreicht? Ich bekam daraufhin eine Antwort, in der man die Malediven erwähnte, wo Sanktionsdrohungen dazu beigetragen hätten, eine positive Verhaltensänderung zu bewirken. Ausserdem habe ein syrischer Geschäftsmann sein Verhalten geändert. Das soll also die Erfolgsbilanz der Sanktionspolitik sein? 

Ob das Verhalten des Westens, indem er Sanktionen gegen China verhängt, den Uiguren hilft, ist sehr ungewiss. China wird noch mehr den Eindruck erhalten, dass man hier etwas instrumentalisiert, um das Land international zu isolieren. Das wird die Situation sicher nicht entspannen, sondern den Konflikt eher anheizen. 

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Die zynische Besorgnis des Westens um Myanmar

von Finian Cunningham*

Die drei westlichen Mächte im Uno-Sicherheitsrat haben ihre Sorge um Menschenrechtsverletzungen in Myanmar betont. Aber ihre «Besorgnis» scheint zynisch und dient dazu, China in Schwierigkeiten zu bringen.

Letzte Woche gab der Sicherheitsrat eine Erklärung heraus, in der er die Gewalt gegen Zivilisten durch das Militärregime in Myanmar verurteilte. Das asiatische Land ist in Aufruhr geraten, seit das Militär am 1. Februar durch den Sturz der zivilen Regierung die Macht übernommen hat.

Mehr als 60 Zivilisten wurden getötet, als Soldaten auf unbewaffnete Demonstranten schossen, die die Rückkehr der gewählten Regierung forderten. Mindestens 1500 Menschen wurden verhaftet, darunter auch politische Führer.

Grossbritannien, ehemaliger Kolonialherr von Burma (jetzt Myanmar)wie auch die USA und Frankreich haben gefordert, dass der Sicherheitsrat die Machtübernahme durch das Militär und die darauffolgende Gewalt gegen die Zivilbevölkerung verurteile. In der vergangenen Woche gelang es den Westmächten, China dazu zu bringen, sich in einer gemeinsamen Erklärung der Verurteilung anzuschliessen. Zuvor war China von den westlichen Mächten getadelt worden, weil es sich auf die Seite des Militärs in Myanmar gestellt hatte. Peking wurde beschuldigt, dessen Machtergreifung politisch zu decken.

China hat Milliarden von Dollar investiert, um Myanmar zu einem wichtigen Knotenpunkt seiner «Belt and Road Initiative» für den globalen Handel zu machen. Das Land ist Transitland für zwei von China gebaute Pipelines, die Erdgas und Öl über 800 Kilometer vom Indischen Ozean nach China  transportieren. Ausserdem sind ehrgeizige Projekte für den Schienenverkehr und Tiefseehäfen im Gange.

Peking pflegte gute Beziehungen zur zivilen Regierung in Myanmar, die 2011 eingesetzt wurde, als die Militärjunta die Macht abgegeben und Wahlen zugelassen hatte. Viele der ehrgeizigen Projekte wurden mit den gewählten Politikern ausgehandelt. Grundsätzlich sieht China keinen Vorteil im Sturz der Regierung durch das Militär. Die Unsicherheit im Land gefährdet potenziell Investitionen in Milliardenhöhe und die für Chinas Energieversorgung und internationalen Handel wichtige Infrastruktur. Aus diesem Grund sind die westlichen Mächte nicht unglücklich über die ungünstige Position, in der sich China in Bezug auf Myanmar befindet.

Pekings Zurückhaltung, sich früheren Verurteilungen anzuschliessen, wurde von Grossbritannien und den Vereinigten Staaten hervorgehoben. Diese schlechte Publicity diente dazu, die Demonstranten in Myanmar zu mobilisieren, damit sie ihren Zorn gegen China richteten. Wie Reuters berichtet, wird mit Sabotage gegen Chinas Energiepipelines und andere Geschäftsinteressen gedroht.

Zweifellos wurde China auf diese Weise unter Druck gesetzt, eine gemeinsame Erklärung zur Verurteilung durch den Uno-Sicherheitsrat herauszugeben. Die britische Botschafterin bei der Uno, Barbara Woodward, sagte, dass in Zukunft weitere schonungslose Erklärungen verfasst würden, von denen man erwartet, dass auch China (und Russland) sie unterstützen.

Dies ist zynische Verurteilungspolitik. Die westlichen Mächte spüren, dass sie China wegen seiner strategischen Wirtschaftsinteressen in Bezug auf Myanmar in der Hand haben. Wenn China das Militärregime in Myanmar nicht verurteilt, dann kann die Wut der Demonstranten auf die Zerstörung der Infrastruktur gerichtet werden. Wenn China das Regime verurteilt, dann werden die Beziehungen zu Myanmars Militärherrschern schwierig. Die westlichen Mächte scheinen die schraubstockähnliche Position sukzessive hochzufahren.

Die Biden-Administration hat überdeutlich gemacht, dass sie die geopolitische Rivalität mit China verschärfen wird – mehr noch als die vorherige Trump-Administration. Washington will scharf gegen den Aufstieg Chinas zur Weltmacht vorgehen. Indem sie Myanmar ins Visier nehmen, zielen die USA und ihre westlichen Verbündeten darauf ab, einen Knotenpunkt in Chinas neuen Seiden­strassen für seinen lukrativen globalen Handel und seine wirtschaftliche Expansion zu beschädigen. 

Grossbritannien, das drei Kolonialkriege im damaligen Burma führte und die asiatische Nation jahrzehntelang rücksichtslos ausbeutete, ist die am wenigsten qualifizierte Partei, sich um Demokratie und Menschenrechte in Myanmar zu «sorgen».

Wenn die westlichen Mächte eine ehrliche, fundierte Besorgnis hätten, warum verurteilen sie dann nicht die viel beunruhigenderen Menschenrechtsverletzungen anderswo in der Welt?

Die Doppelzüngigkeit der westlichen Mächte zeigt, dass ihre «Besorgnis» über Myanmar eine zynische politische Waffe ist, die sie gegen China einzusetzen versuchen. 

Quelle: Information Clearing House www.informationclearinghouse.info/56450.htm, 15. März 2021 

 

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

Geplanter Oster-Lockdown in Deutschland: Ein Fiasko für die Bundesregierung

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Die Mass­nahmen, die von der deutschen Bundesregierung ergriffen werden sollten, haben nach dem von der Regierung inszenierten Hin und Her doch bei vielen einen gewissen Unmut hinterlassen. Was hat sich eigentlich konkret abgespielt?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko In Deutschland werden die Entscheidungen über Lockdowns und die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie in einer exklusiven Runde im Kanzleramt mit den Regierungschefs der Bundesländer und Frau Merkel entschieden. Das Parlament ist ausgeschaltet, denn weder der Bundestag noch der Bundesrat, noch die Länderparlamente haben in diesen Fragen ein Mitspracherecht. DIE LINKE-Fraktion hat das auch immer wieder deutlich kritisiert. 

Was ist denn in den zwei Wochen vor Ostern passiert?

Für die Bundesregierung gab es eigentlich ein Fiasko. Sie hatte am Montag eine Konsultation im Kanzleramt, die bis in die Morgenstunden dauerte. Irgendwann in dieser Auseinandersetzung kam der Vorschlag des Oster-Lockdowns, der als «Osterruhe» bezeichnet wurde.

Wie sollte dieser Lockdown aussehen?

Bereits am Gründonnerstag sollten die Geschäfte zu sein und die Menschen nicht mehr arbeiten müssen. Bis dahin business as usual, d. h. weiter arbeiten. Am Samstag sollten nur die absolut essentiellen Geschäfte öffnen. Es ist auffallend, dass die Menschen voll im Arbeitsprozess stehen. Die Strasse und die öffentlichen Verkehrsmittel sind tagsüber voll. Die Menschen gehen zur Arbeit. Viele machen sicher auch Home-office, aber es gibt wieder viel Bewegung. Das ist anders als noch vor einigen Monaten. Jetzt über die Feiertage, in denen die Menschen ausspannen könnten, sollen sie nicht einmal innerhalb des Landes reisen dürfen. 

Warum kam man auf diese Idee?

Mit dieser Idee hat Merkel nach Mitternacht in der Sitzung herausgerückt und damit die ermüdeten Ministerpräsidenten überrumpelt. Schliesslich einigte man sich auf den Oster-Lockdown. Darüber war die Empörung von allen Seiten sehr gross. Sowohl von denjenigen, die sagen, es seien zu viele Massnahmen, als auch denjenigen, die sagen, es bräuchte mehr Massnahmen, weil dieser Entscheid jeglicher Logik entbehrt. So wären riesige Einkaufswellen am Tag zuvor oder am Karsamstag zu erwarten gewesen etc. Von allen Seiten wurde diese geplante Massnahme zerrissen, und es hagelte Kritik. 

Gab es eine Debatte im Parlament?

Am Mittwoch [24. März] begann die Plenarwoche mit einer Befragung der Regierung, bei der ich auch anwesend war. Frau Merkel musste Red’ und Antwort stehen. Sie gab ganz am Anfang der Sitzung ein Statement ab, in dem sie den Entscheid als Fehler bezeichnete, sich dafür verantwortlich zeigte und um Verzeihung bat.

Warum hat Frau Merkel ihren Entscheid zurückgenommen?

Es wurde offensichtlich, dass nichts genau überlegt war. Wie sollte dieser Lockdown genau aussehen? Es gab viele rechtliche Fragezeichen: Sollen die Arbeitnehmer frei bekommen? Gilt das als ein bezahlter Urlaubstag? Die Dinge waren überhaupt nicht klar, sondern es gab nur ein riesiges Chaos, als das beschlossen wurde. Hinzu kam auch, dass gesellschaftliche Aspekte völlig aussen vor blieben. Ostern ist für viele Menschen in Deutschland ein sehr bedeutendes Fest, das man mit der Familie verbringt. Und für Menschen, die in Armut leben, war es ein besonderer Hohn: Just am 1. April, wenn endlich wieder Geld aufs Konto kommt, sollten die Geschäfte geschlossen werden. Es gibt viele Menschen, die nicht mal eben am Monatsletzten einen Einkauf für mehrere Tage bezahlen können.

War für das Chaos nur der angekündigte Oster-Lockdown verantwortlich?

Nein, das ist nur die Spitze des Eisbergs. Es existiert eine grosse Unzufriedenheit wegen des chaotischen Impfmanagements. Das beginnt mit den Beschaffungen und den Verträgen, die schlecht ausgehandelt wurden, bis hin zum Hin und Her mit AstraZeneca. Es gab Todesfälle, die vermutlich auf den Impfstoff zurückzuführen sind, dann wurde der Impfstoff ausgesetzt, dann wieder zugelassen. Auch die Teststrategie in Deutschland ist wenig überzeugend. Dafür sind die beiden Minister Spahn und Scheuer zuständig, die völlig unfähig sind. Ihre «Taskforce» wurde ohne erkennbare Leistungen wieder aufgelöst. Der Unmut über diese Entwicklungen hat sich jetzt über Wochen aufgestaut. Dazu kommt noch eine allgemeine Corona-Müdigkeit, die im Gegensatz zum Verhalten vor einigen Monaten sehr deutlich zu spüren ist. Das kam alles zusammen und hat den Rückzieher bewirkt.

Entscheidungen zu später Stunde zu treffen ist nicht neu?

Es war immer die Verhandlungsstrategie von Merkel auch auf den EU-Gipfeln gewesen, so lange zu verhandeln, bis die Gesprächspartner müde werden. Die Entscheidungen werden dann nachts um drei gefällt, nachdem ein neuer Kompromissvorschlag aus dem Hut gezaubert wird. Ich war jetzt nicht dabei, aber ein professionelles Management sieht anders aus. Das Grundproblem der gesamten Corona-Strategie, nicht nur in Deutschland, ist, dass wir immer noch im Blindflug agieren. Es gibt viel zu wenige valide Daten, zum Beispiel darüber, wo sich die Menschen anstecken, welche Massnahmen wirklich wirksam sind oder sogar über das genaue Infektionsgeschehen. Diese Daten werden nicht systematisch erhoben, trotz wiederholter Forderungen danach. Es gibt auch keine repräsentativen Studien.

Sie hatten das doch schon im April 2020 gefordert…

Ja, ich hatte damals eine Pressemitteilung veröffentlicht. Wir brauchen zuverlässige Daten, um möglichst viel Licht in diesen Nebel zu bringen: Was passiert eigentlich genau, wie gestaltet sich das Infektionsgeschehen, wie sind die Übertragungswege usw.? Ich habe das Gefühl, dass es da weder von der Regierung noch vom Robert-Koch-Institut ein ausreichendes Bemühen gibt. Wenn die Zahlen aber steigen – wie im Moment in Deutschland –, holt man den Holzhammer hervor und verfügt einen Lockdown. Ausgangssperren werden ebenfalls diskutiert sowie die Menschen noch weiter in ihrer Privatsphäre einzuschränken, während das berufliche Leben immer weiterläuft. Dieses Missverhältnis ist das grosse Problem. Man greift dort ein, wo der Widerstand vermutlich am schwächsten ist, in die Privatsphäre, aber die Wirtschaft muss weiterlaufen. Das kritisiere ich natürlich, denn es wird alles auf das private Verhalten abgewälzt.

Aber dann sind diese Entscheidungen nicht zufällig.  

Man kann natürlich das Ganze interpretieren und sagen, dass hier ausgetestet wird, was man mit den Leuten machen kann. Wie weit kann man gehen? Ich habe aber den Eindruck, dass es eher Unfähigkeit ist als irgendein Plan. Die Stimmung in Deutschland wird auch in einer neuen Wortschöpfung zum Ausdruck gebracht: «mütend». Eine Kombination aus müde und wütend. Corona müde und wütend über das angerichtete Chaos. Die Stimmung ist sehr gereizt. Man sieht kein Licht am Ende des Tunnels, und das ist die Situation hier. 

In der Schweiz müssen die Restaurants weiterhin geschlossen bleiben, obwohl dort gute Schutzkonzepte auf die Beine gestellt worden sind. Zur Arbeit geht man. Wo ist hier die Logik? 

Diese Frage stellt sich mir auch. Manchmal frage ich mich auch: Was läuft ab? Gibt es noch andere Ziele, die gar nicht direkt mit dem Virus zu tun haben? Auf der anderen Seite habe ich bei erkrankten Freunden auch erlebt, dass die englische Mutation sehr heftig sein kann. Aber was mir dabei aufgefallen ist: Es gibt bei einer Infektion keine vernünftige Therapie, weder vom Hausarzt noch von den Gesundheitsämtern. Das Einzige, was empfohlen wird, ist Paracetamol, um das Fieber zu drücken und die Gliederschmerzen erträglich zu machen. Sonst gibt es gar nichts. Man hat sich um den Bereich der Therapie, der Linderung oder auch der Stärkung des Immunsystems viel zu wenig gekümmert. Das kommt in der öffentlichen Debatte kaum vor. Es wird nur von Impfung auf der einen und von Beatmung, Intubierung, auf der anderen Seite gesprochen. 

Ja, in der Schweiz ist es, was die Impfung anbetrifft, sehr ähnlich.

Kürzlich gab es die Meldung, Deutschland exportiere ganz viele Beatmungsgeräte. Man hat meines Erachtens diese viel zu früh eingesetzt. Manchmal muss man sie einsetzen. Aber das ist ein ganz invasiver Eingriff, der aus meiner Sicht nur im äussersten Notfall indiziert ist. Alles, was damit zu tun hat, das eigene Immunsystem zu stärken, spielt eine sehr untergeordnete Rolle. Es ist ja allgemein bekannt, dass Bewegung an der frischen Luft gut für den Körper, für das Immunsystem ist. Statt die Menschen dazu zu animieren, dies bewusst – und natürlich mit Vorsicht – zu machen, werden sie eher in die Innenräume gedrängt.  Ich frage mich auch, warum man nicht von Anfang an mehrgleisiger gefahren ist und auch mehr die Entwicklung von Medikamente gefördert hat. Es wurde sehr viel öffentliches Geld in die Entwicklung der Impfstoffe gesteckt, aber bei Medikamenten sieht es meines Wissens schlechter aus. Impfen ist eine wichtige Sache, und es ist ein Glücksfall, dass wir so schnell gleich mehrere Impfstoffe zur Verfügung haben. Aber warum hat man nicht schon von Beginn an viel intensiver geforscht, wie man das Immunsystem stärken kann, wie man medikamentös den Verlauf lindern kann usw.? In Deutschland gab es diese Diskussion kaum, alles ist auf die Impfstoffe fokussiert. 

Diese Diskussion gibt es zumindest in der Öffentlichkeit nicht. 

Es kann auch sein, dass das nicht ausreichend ist, aber man kann damit möglicherweise die Schwere des Verlaufs der Erkrankung bremsen. Aber diese Diskussion taucht in der ganzen öffentlichen Debatte nur sehr selten auf. In dem Zusammenhang stellt sich auch die Frage – und die hat Sara Wagenknecht gestellt – warum man nicht auf einen traditionellen Impfstoff gesetzt hat, der vielleicht schneller herzustellen ist, weil man das Verfahren kennt. Man hat nur auf die neuen Verfahren RNA und Vektor-Impfstoff gesetzt. Möglicherweise wird jetzt Corona genutzt, um einen schon lange geplanten Durchbruch zu erzielen.

In den meisten Medien bekommt man eigentlich nur serviert, dass das Impfen die einzige Möglichkeit ist. 

Diese Orientierung ist uns praktisch vom ersten Tag an eingebläut worden. Ich bin damals der Meinung gewesen, dass es eine Möglichkeit sein kann, aber es kann auch andere Wege geben. Aber es ist schon aussergewöhnlich, dass das der einzige Weg sein sollte. 

Vieles ist schwer zu verstehen oder nachzuvollziehen, was entschieden wird. Es ist von Anfang an widersprüchlich, aber die Massnahmen werden durchgezogen, teilweise recht autoritär…

…ja, das Autoritäre ist das Erschreckende dabei. Wir haben jüngst die aktuellen Zahlen aus Schweden gesehen, und da muss man feststellen, dass Schweden, was die Todeszahlen angeht, ziemlich genau im europäischen Mittel liegt. Betrachtet man nur die zweite Welle ab Herbst, steht Schweden sogar besser da als viele europäische Länder und auch als Deutschland. Etwa seit Oktober sind die Zahlen in Schweden weit besser, ohne dieses autoritäre Verhalten wie in Deutschland. Schweden hat vor allem auf die Freiwilligkeit der Menschen gesetzt und nicht mit Zwangsmassnahmen agiert. Das hat eine unglaubliche Aggression in den Medien der anderen Länder ausgelöst. Und die von ihnen erwähnte Widersprüchlichkeit hat sich insbesondere bei den Masken gezeigt. Zunächst waren alle einhellig der Meinung: Masken bringen nichts. Das hat sich sozusagen über Nacht geändert und wer keine Maske getragen hatte, musste jetzt ein Bussgeld bezahlen. 

Hat das autoritäre Verhalten zu mehr Erfolg geführt?

Nein, es hat Widerstand und Unmut hervorgerufen. Es hat sich auch klar gezeigt, dass die Massnahmen nicht besser eingehalten werden, wenn die Behörden sich autoritärer gebärden. Die Menschen nehmen die Regeln nicht mehr an, sondern treffen sich heimlich. Schweden setzt vielmehr auf den Weg der Einsicht. Schweden ist aber kein Thema mehr. Vor einem halben Jahr noch war Schweden das Feindbild, und es wurde immer wieder über das Scheitern des «schwedischen Sonderwegs» berichtet. 

Das Prinzip der Selbstverantwortung und der vernünftigen Einsicht ist doch eigentlich der Weg, der beschritten werden müsste. Das autoritäre Gehabe ist völlig unangemessen. In offiziellen Verlautbarungen wird jetzt aber nur noch vom Impfen und vom Impfpass gesprochen. Es gibt zwar keinen Impfzwang, aber wer nicht geimpft ist, muss wohl Nachteile in Kauf nehmen. Wie beurteilen Sie das?

Man muss Folgendes sehen. Wenn man in Länder Asiens oder Lateinamerikas reisen will, dann gibt es bestimmte Auflagen, um einreisen zu können. Ich war letztes Jahr in Bolivien und musste mich vorher impfen lassen. Solche Einreisekontrollen hat es immer gegeben, die Frage ist nur, wo ist die Grenze. Wenn andere Länder das verlangen, dann kann man wenig dagegen unternehmen. Aber wie weit geht das? Muss ich eine Impfbescheinigung vorlegen, wenn ich ins Theater gehen will, wenn ich ein Restaurant besuchen will oder innerhalb der EU reisen will? Das ist äusserst problematisch, denn es verstösst gegen den Gleichheitsgrundsatz der Menschen. Der Europarat hat sich dazu auch Ende Januar eindeutig ge­äussert. Auch die WHO und das ECDC, das Europäisches Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, haben die Idee von Impfpässen kritisiert.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Guatemala: «Denn die echte Pandemie ist die Armut, wissen Sie …»¹

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Im November 2020 waren Guatemala, Honduras und Nicaragua vom Hurrikan «Eta» und zwei Wochen später vom Hurrikan «Iota» getroffen worden mit schlimmsten Folgen für die Bevölkerung. Sintflutartiger Regen, Überschwemmungen, Erdrutsche und verschüttete Strassen erschwerten die Katastrophenhilfe massiv. Auch das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) entsandte eine Vierergruppe zur Katastrophenbewältigung ins Gebiet und unterstützt die betroffene Bevölkerung mit rund 3 Millionen Franken. Ende März 2021 veranstalteten Peace Brigades International (Schweiz), das Guatemalanetz Bern sowie Fastenopfer, eine Videokonferenz zur aktuellen Lage in Guatemala.

Zwei Frauen aus Guatemala sowie die Programmverantwortliche der DEZA für humanitäre Hilfe in Zentralamerika berichteten über die Folgen der Naturkatastrophe und die aktuelle Lage im Land.

Noch nie so eine schlimme Katastrophe

Die Koordinatorin des bäuerlichen Comité Campesino del Altiplano (CCDA) de las Verapaces, Guatemala, sprach über die Situation in der armen, abgelegenen Region Verapaces. «Es gab noch nie eine so schlimme Katastrophe. 15 700 Familien haben nichts mehr.» Die Mais-, Bohnen-, Kaffee- und Kardamonernten der indigenen Gemeinschaften wurden durch die grossflächigen Überschwemmungen weitgehend zerstört. Kaffee und Kardamon brauchen neu gepflanzt vier bis fünf Jahre, bis sie geerntet werden können.

In der Region Verapaces gab es kaum Nothilfe. Viele der Dörfer waren vollständig von der Umwelt abgeschnitten, und die Bevölkerung litt Hunger. Es gab keinen Mais mehr in den kleinbäuerlichen Gemeinschaften. Auch für die CCDA war es schwierig zu helfen. Je weiter eine abgeschnittene Gemeinde entfernt lag, desto schlimmer war und ist die Situation. Die ländlichen Gemeinden bleiben auf sich selbst gestellt. Für eine der abgeschnittenen Gemeinden hatte die CCDA den Zivilschutz um Hilfe gebeten, der daraufhin 15 Säcke mit Lebensmitteln abgeworfen hat, die im Wasser landeten. «Das nützt ja nichts!», so die Koordinatorin, «El Salvador soll Nahrungsmittel gespendet haben. Wir begleiten 350 Gemeinden. Von diesen Nahrungsmitteln haben wir nie etwas gesehen. Von der Regierung kam keine Hilfe. Sie sind nur an ihren Profiten interessiert.» Der guatamaltekische Präsident trat zwar öffentlich auf für Fototermine, «aber wir haben ihn nie gesehen», so der Kommentar der Koordinatorin, «der Staat hat angeboten, dass man angesichts der Katastrophe die Stromrechnungen nicht bezahlen muss, aber in den meisten Gemeinden gibt es noch gar kein Elektrisch. Auch der Preis für Mais ist gestiegen, von 25 Quetzal auf 86. Die Krise ist noch nicht zu Ende und wird noch lange andauern». Zu befürchten ist, dass auch die Unterernährung zunehmen wird.

Krise der staatlichen Institutionen

Ursula Roldan, Präsidentin des Stiftungsrats Fundacion Tierra Nuestra, sprach im Zusammenhang mit der Naturkatastrophe von einer Krise der staatlichen Institutionen. Statt der betroffenen Bevölkerung gezielt Hilfe zu leisten, treibt die Regierung durch die Förderung transnationaler Megaprojekte zur Zeit die Zerstörung der Umwelt und die Landenteignung der indigenen Bevölkerung voran. Vermehrt werden auch Ölpalmen in Plantagen kultiviert. 

Widerstand aus der Bevölkerung wird massiv unterdrückt. Wer sich für Landrechte, den Schutz der Umwelt und Menschenrechte einsetzt, wird kriminalisiert und verfolgt. 2020 kam es zu 15 Morden, zu 1000 Übergriffen auf Menschenrechtsverteidiger sowie zu 900 hängigen Haftbefehlen gegen Menschenrechtsvertreter, für die sich Fundacion Tierra Nuestra auch als Begleitschutz einsetzt. Gegen die Organisation sind aktuell fünf Haftbefehle hängig. Zudem unterhält der guatamaltekische Unternehmerverband eine Beobachtungsstelle, um Menschenrechtsvertreter als Kriminelle zu diffamieren.

Mit der Corona-Krise schränkte die Regierung auch die Bewegungsfreiheit ein. Die Bäuerinnen und Bauern konnten sich nicht mehr versammeln, um ihre Rechte zu diskutieren und durchzusetzen. Auch ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse konnten nicht mehr auf den Märkten verkauft werden. Eine staatliche Hilfe ist zudem immer an die Stromnummer eines Haushaltes geknüpft. Wer keinen Stromanschluss hat – wie so viele – hat auch keine Nummer und erhält daher auch keine Hilfe.

Ganz allgemein hat sich die Wirtschaftslage verschlechtert. Der Tourismus als wichtige Erwerbsquelle ist weggebrochen. Das Gesundheitswesen ist in einem schlechten Zustand. Folge ist, dass man sich wieder auf die traditionelle Medizin besinnt. Seit Jahren ziehen viele der Jungen Richtung Norden mit dem Ziel USA. Dem wirkt Fundacion Tierra Nostra entgegen, indem sie für die Jugend Ausbildungsmöglichkeiten anbietet.

Humanitäre Lage verschlechtert sich

Gemäss Sandra Aeschlimann von der DEZA ist Lateinamerika von den Massnahmen in der Corona-Krise ab Mai 2020 weltweit am massivsten betroffen. Armut und extreme Armut stiegen 2020 um 10 % auf 209 Millionen Menschen an. 34 Millionen Arbeitsplätze gingen verloren, und bis Ende 2020 stieg die Zahl der Arbeitslosen um 2,6 % auf 10,7 %. Auch wird ein Rückgang des BIP um 7,7 % erwartet.

Die humanitäre Lage in Guatemala wurde 2020 durch die Hurrikane, durch Trockenheit (Corredor seco) und eine verschärfte Ernährungsunsicherheit noch zusätzlich verschlimmert. Die Schweiz hat rund 3 Millionen Franken Hilfsgelder gesprochen. Direkt betroffene Familien können alle drei Monate die Hilfe als Geldbetrag auf der Bank abholen, den sie gemäss ihren Bedürfnissen verwenden können. Aber der Zugang zu den betroffenen Gemeinden im abgelegenen Norden von Guatemala bleibt nach wie vor schwierig.

Der Welthunger-Index 2020 beurteilt die Ernährungsunsicherheit in Guatemala im südlichen und im nördlichen Teil als belastet (angespannte Ernährungssituation) und im mittleren Bereich als Krise (kritische Ernährungssituation). Jedes zweite Kind unter 5 Jahren ist unterernährt, in ländlichen indigenen Gemeinden sogar 8 von 10 Kindern.

Mut machende Entwicklung

Die Vertreterin der DEZA wies auch auf eine Mut machende Entwicklung hin. So wurde 2018 im Rahmen der Uno das Abkommen von Escazu abgeschlossen (siehe Kasten). Es ist weltweit das erste regionale Umweltabkommen mit Schutzbestimmungen für Menschenrechtsvertreter und wurde bisher von Nicaragua und Panama ratifiziert und wird am 22. April in Kraft treten. Zu hoffen ist, dass auch Guatemala dieses Abkommen unterzeichnen wird. 

¹ «Porque la vera pandemia es la pobreza, sabez», äusserte der argentinische Arzt Dr. Mariano Arriaga in einer kurzen Videokonferenz der Medicos por la verdad Argentina TLV1, angesichts der aktuellen Weltlage.
Quelle: www.youtube.com/watch?v=Ek9YSEu5Mws

 

Zentralamerika: Die Region bereitet sich auf schwierige Jahre vor

«Innerhalb von zehn Tagen wurde die Region von zwei extrem starken Hurrikanen mit einer unglaublichen Zerstörungskraft heimgesucht. Über fünf Millionen Menschen sind betroffen. Hunderttausende haben ihr gesamtes Hab und Gut, ihre Lebensgrundlage verloren. Man muss sich das bildlich vorstellen: Die von Eta und Iota betroffene Bevölkerung war jeweils während bis zu 20 Stunden den Winden, dem Starkregen, dem Lärm und der Kälte ausgesetzt.

Die Menschen warteten während Tagen ohne Zugang zu Wasser und Nahrung auf Rettung; die Stürme haben auch Traumata ausgelöst. Bei den anderen unmittelbaren Grundbedürfnissen gibt es wenig Überraschungen: sauberes Wasser, Nahrungsmittel, Notbehausungen und die Deckung medizinischer Grundbedürfnisse sind in diesen Tagen und wohl auch Wochen prioritär. Bereits jetzt gilt es aber, die mittel- und langfristigen Bedürfnisse wie Unterkünfte, Instandstellung zerstörter Infrastruktur und Wiederaufbau im Hinterkopf zu behalten. Die Region bereitet sich auf schwierige Jahre vor.»

Quelle: Flisch Jörimann, Programmbeauftragter im Kooperationsbüro der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA in Managua, EDA vom 24.11.2020

 

Artikel 9 des Abkommens von Escazu: 
Menschenrechtsverteidiger in Umweltangelegenheiten

1. Jede Vertragspartei sorgt für ein sicheres und förderliches Umfeld, in dem Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen, die die Menschenrechte in Umweltangelegenheiten fördern und verteidigen, frei von Bedrohungen, Beschränkungen und Unsicherheit agieren können.

2. Jede Vertragspartei ergreift geeignete und wirksame Massnahmen zur Anerkennung, zum Schutz und zur Förderung aller Rechte von Menschenrechtsverteidigern in Umweltangelegenheiten, einschliesslich ihres Rechts auf Leben, persönliche Unversehrtheit, Meinungsfreiheit und freie Meinungsäusserung, des Rechts, sich friedlich zu versammeln und zu vereinigen, und des Rechts auf Freizügigkeit, sowie ihrer Fähigkeit, Zugangsrechte auszuüben, unter Berücksichtigung der internationalen Menschenrechtsverpflichtungen dieser Vertragspartei, ihrer verfassungsrechtlichen Grundsätze und der Grundelemente ihrer Rechtsordnung.

3. Jede Vertragspartei ergreift geeignete, wirksame und rechtzeitige Mass­nahmen, um Angriffe, Bedrohungen oder Einschüchterungen zu verhindern, zu untersuchen und zu bestrafen, denen Umwelt-Menschenrechtsverteidiger, bei der Ausübung ihrer Rechte gemäss diesem Abkommen, ausgesetzt sein können.

Quelle: Naciones Unidas, CEPAL, Acuerdo Regional sobre el Acceso a la Información, la Participación Pública y el Acceso a la Justicia en Asuntos Ambientales en América Latina y el Caribe, S. 30.

 

 

Eine Kultur jenseits der Erledigungsmentalität

von Dr. phil. Carl Bossard*

Dr. phil. Carl Bossard (Bild zvg)
Dr. phil. Carl Bossard (Bild zvg)

Aus der Leidenschaft für die Welt entstünde die Leidenschaft fürs Pädagogische, meinte die Politphilosophin Hannah Arendt. Diese Haltung kann schulisch viel bewirken. Eine Spurensuche.

Ein vergilbter Artikel hat allen Aufräumaktionen getrotzt. Es ist die Geschichte des Tessiner Briefträgers Guerino Saglini. Sein Leben lang hat er für die Post gearbeitet. Was denn einen guten Pöstler ausmache?, fragte ihn die NZZ beim Übertritt in die Pension. «Passione! Leidenschaft!», sagte Saglini kurz und bündig. Keinen Tag sei er ohne Freude zur Arbeit gegangen, fügte er bescheiden bei.

Im Handeln prägt das Wie jedes Was

Die Leute von Biasca schätzten den Postboten Saglini. Für alle hatte er ein freundliches Wort, ja er zog vor ihnen sogar seinen Pöstlerhut, verbunden mit einem frohen «buona giornata». Vielleicht liegt das Geheimnis seines Wirkens im schlichten Satz: «Ich habe diese Arbeit geliebt.» Während 46 Jahren. Saglini, der Briefträger aus Leidenschaft, wirkte mit seiner Person – mit seiner Art des Tätig-Seins, seiner Denkweise, seiner Sprache.

«Im Handeln prägt das Wie jedes Was.» Es ist stärker als jedes Was. Der Satz geht auf die politische Denkerin Hannah Arendt zurück. Saglini, der passionierte Pöstler, verteilte Briefe und Zeitungen; das war seine Arbeit, sein tägliches Was. Bei den Menschen von Biasca gewirkt aber hat er mit seinem Wie. Zwischen ihm und seinen Postkunden baute sich darum so etwas wie eine gemeinsame Welt auf.

Die Form konstituiert den Inhalt

«Die Welt liegt zwischen den Menschen», betonte Hannah Arendt, als sie sich 1959 für den renommierten «Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg» bedankte. Und dieses «Zwischen», so Arendt, sei entscheidend. Hier bilde sich die gemeinsame Welt vieler Menschen in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit.

Und eine gemeinsame Welt bildet sich auch im Unterricht – zwischen den Lehrpersonen und ihren Schülerinnen und Schülern, im Zusammenspiel verschiedener Generationen. Darum ist dieses «Dazwischen» so wichtig – das Emotionale, das Beziehungshafte, das Dialogische. Es entsteht und besteht in der Art des Handelns, des Denkens und Sprechens, mit der Erwachsene agieren und dabei auf die jungen Menschen wirken. Altmodisch formuliert, könnte man vom halb vergessenen Vorbild sprechen. Unterricht wirkt eben nicht primär über das Was – so grundlegend dieses inhaltliche Was ist – als vielmehr durch das bereits erwähnte Wie des Denkens und Handelns. Die Form konstituiert den Inhalt. Dieser Primat wäre das Prinzip allen pädagogischen Handelns. Ein solches Grundgesetz führt zu einer Kultur jenseits der Erledigungsmentalität.

Im Wie offenbart sich die Person

Hinter dem Was, hinter den Sachen und Stoffen, hinter den Inhalten, Methoden und Lehrmitteln kann sich ein Lehrer förmlich verstecken. Hinter seine Art zu handeln, sein Wie, aber kann keiner sich zurückziehen. Im Wie zeigt sich die Person. Und es ist die Person, die im Unterricht wirkt: mit ihrem Engagement, mit ihrer Leidenschaft für die Welt, mit ihrem Feu sacré für die Sache – und damit für die Schülerinnen und Schüler. Unterricht hängt eben ent-scheidend von dem Faktor ab, den eine frühere Literatur «Lehrerpersönlichkeit» nannte. Die Political Correctness verbietet heute den Ausdruck, und doch trifft er zu. Lehrerinnen und Lehrer bringen ihre Persönlichkeit in den Unterricht ein – und nicht einfach ihr Wissen oder, wie es heute heisst, ihre «professionelle Kompetenz». Und zu dieser Persönlichkeit bauen die jungen Menschen eine vertrauensvolle Beziehung auf.

«Wenn sie von Formen und Zahlen sprach, glühten ihr die Wangen und funkelten ihr die Augen, wie wenn Kinder von Schokolade-Glace reden.» So erinnert sich eine Berufsfrau an ihre vitale Primarlehrerin. Jahre später noch sieht sie deren Augen und Backen, fühlt die Atmosphäre und spürt die Freude am Lernen, wie sie offen bekennt.

Die begeisternde Lehrperson als Lesevermittlerin

Da war eine Lehrerin am Werk mit einer Leidenschaft für die Unterrichtswelt und damit einer Leidenschaft fürs Pädagogische. Wie diese Passion wirken und was sie bewirken kann, zeigt ein zweites Beispiel: Junge Menschen zum Lesen führen und sie fürs Medium Buch gewinnen, gehört heute zu den dringendsten und verantwortungsvollsten Aufgaben einer guten Schule. Der Weg führt über ein angeleitetes, konsequentes Lesetraining und über einen inspirierenden Literaturunterricht. Wie wichtig dabei die Lehrperson ist, betont Prof. Klaus Gattermeier. Er bildet an der Universität Passau Lehrer aus. Es komme, so sagt der deutsche Leseforscher illusionslos, «rein auf die individuellen Fähigkeiten und die Begeisterung des Lehrers an». In zahlreichen empirischen Studien konnte er seine Aussage nachweisen.

Lehrer als entscheidende Lesevermittler wirken über ihr Vorbild und ihren Enthusiasmus. Es ist das Wie, das über das Was zu einer stabilen, gelebten Lesekompetenz führt.

Effizienz allein ist es nicht

Guerino Saglini, Briefträger aus Passion, ging früher in Pension. Warum? Im Zuge einer Postreform rüffelte ihn ein Inspektor aus Bern. Mit der Stoppuhr erfasste er Saglinis Arbeitsschritte und mass seine Zustelleffizienz. «Vor allen Menschen den Hut ziehen? Das ist [für die Post] zu teuer!», beschied ihm der Kontrolleur aus der Berner Zentrale. Saglini zog die Konsequenzen; er quittierte seinen Dienst.

Das Wie ist durch keine Messbarkeit einzuholen

Gemessen hat der Funktionär einzig das Was, den Output. Das Wie ist nicht quantifizierbar. Wie wichtig dieses Wie ist, weiss jede gute Lehrerin, das hat jeder engagierte Lehrer verinnerlicht. Dieses Wie ist durch keine Messbarkeit einzuholen, was heute oft vergessen geht. Gemäss «Lehrplan 21» soll sich ja jedes schulisch vermittelte Wissen als ein Können kontrollieren und quantifizieren lassen. Kompetenzraster formulieren die Lerneffekte; sie werden in ein testfähiges Format transferiert und mit den Messmethoden der empirischen Bildungsforschung erfasst. Die Resultate münden nicht selten in Rankings.

Die Verwaltung hat Saglini auf seine Effizienz reduziert und damit auf sein Was zurückgestuft. Lehrerinnen und Lehrern geht es ähnlich; so sieht es einer, der selber Lehrer war, der Dichter Peter Bichsel. Die Schullehrer seien «schon längst […] zu Bildungsvollzugsbeamten geworden», bedauert er. Und viele Lehrpersonen müssen ihm wohl recht geben.

* Carl Bossard, Dr. phil., dipl. Gymnasiallehrer, war Rektor des Nidwaldner Gymnasiums in Stans, Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Heute leitet er Weiterbildungen und berät Schulen. Sein Hauptinteresse gilt bildungspolitischen und gesellschaftlich-historischen Fragen. Publikationen unter www.carlbossard.ch.

 

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