Editorial

Die letzte Ausgabe dieser Zeitung ist – wie die grosse Zahl an Zuschriften zeigt, für die sich die Redaktion ganz herzlich bedankt – auf ein grosses Interesse der Leserinnen und Leser gestossen und hat durchwegs ein positives Echo ausgelöst. Die Auswahl der veröffentlichten Stellungnahmen legt ein beredtes Zeugnis davon ab.

Aufgrund der in den meisten Medien anhaltenden einseitigen Berichterstattung, die ausschliess­lich aus der Sicht der Ukraine kommt, hat sich die Redaktion dazu entschlossen, auch in dieser Ausgabe aktuelle Ereignisse, Hintergründe und weitere Zusammenhänge zum Ukraine-Konflikt zu beleuchten und zu analysieren. Wir wollen unseren Leserinnen und Lesern ermöglichen, die Auseinandersetzung nicht nur aus einem Blickwinkel zu betrachten, da man sich von der Situation so kaum ein realistisches Bild machen kann, das nicht nur schwarz oder weiss ist.

Wir verstehen unsere Arbeit als einen Beitrag zum Frieden und hoffen, dass wieder Vernunft einkehrt und auf diplomatischem Wege mit dem nötigen Ernst tragfähige Lösungen gesucht und gefunden werden.

Die Redaktion

 

«Die europäischen Länder – und allen voran die Schweiz – sollten versuchen, die Wogen zu glätten, anstatt Öl ins Feuer zu giessen»

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild zvg)
Jacques Baud (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Herr Baud, in unserem ersten Interview (Nr. 4/5) haben Sie erwähnt, dass Sie unter anderem im Auftrag der Nato in der Ukraine tätig waren. Was war Ihre Aufgabe dort?

Jacques Baud 2014 war ich bei der Nato für die Bekämpfung der Verbreitung von Kleinwaffen zuständig, und wir versuchten, russische Waffenlieferungen an die Rebellen in der Ostukraine aufzuspüren, um zu sehen, ob Moskau beteiligt ist.

Konnten Sie das herausfinden?

Die Informationen, die wir damals erhielten, stammten fast ausschliesslich vom polnischen Geheimdienst und passten nicht zu den Informationen der OSZE. Trotz ziemlich grober Behauptungen gab es keine Lieferungen von Waffen und militärischem Material aus Russland. Die Rebellen wurden durch russischsprachige Soldaten ukrainischer Einheiten, die auf die Seite der Rebellen übergelaufen waren, bewaffnet. Im Zuge der ukrainischen Niederlagen wurden die Reihen der Autonomisten durch vollzählige Panzer-, Artillerie- oder Flugabwehrbataillone vergrössert.

Nach unserem letzten Interview haben wir sehr viele positive Leserzuschriften bekommen. Die Menschen suchen nach objektiven Informationen …

ja, ich glaube, es ist wichtig zu sagen, dass es nicht darum gehen kann, die eine Seite zu belohnen und die andere zu bestrafen. Es geht darum, Informationen – wie zum Beispiel von den OSZE-Berichten –, die von den öffentlichen Medien vernachlässigt werden, in unsere Beurteilung der Lage zu integrieren. Man kann einen Konflikt nicht nur von einer Seite aus betrachten. Man muss immer beide Seiten anschauen. Wir sind im aktuellen Konflikt so gerichtet, dass wir ihn nur aus der Sicht der Ukraine wahrnehmen. Das ganze Zahlenmaterial in unseren Medien kommt nur von der ukrainischen Regierung. Die Berichterstattung betrifft nur die Seite der Ukrainer. Wir haben die Bilder und Emotionen nur von dieser Seite. Aber es gibt eine andere Seite, und es gibt auch eine Logik auf der anderen Seite. Da der Westen den Krieg nur aus einer Seite beurteilt, hat er die Ukraine nur schlecht beraten können. Paradoxerweise ist das vermutlich der Hauptgrund der ukrainischen Katastrophe. Selenskij hat bei CNN selbst gesagt, dass er von den westlichen Staaten betrogen wurde. Im Grunde genommen ist das Hauptziel des Westens, Putin zu bekämpfen und nicht der Ukraine zu helfen. Das sind zwei verschiedene Sachen.

Könnte das Betrachten der russischen Seite nicht auch einseitig wirken?

Ja, für manche vielleicht schon. Aber das hängt damit zusammen, dass wir in unseren Medien ein bestimmtes Bild über Putin und die Russen vermittelt bekommen. Wir wissen zum Beispiel, dass im Krieg keine Partei objektiv kommuniziert. Trotzdem übernehmen unsere Medien die von der ukrainischen Regierung veröffentlichten Zahlen über die gefallenen russischen Soldaten, statt offizielle russische Zahlen. Wir haben keine Ahnung, ob das stimmt oder nicht. Es geht darum, Russland schlecht darzustellen. Wenn man nur eine Seite kennt, läuft man Gefahr, die Dinge völlig falsch einzuschätzen. Man schafft heutzutage eine virtuelle Realität. Man hat eine Legende kreiert, und alles basiert darauf. Das ist extrem gefährlich.

Wo sehen Sie die Gefahren?

Zum Beispiel junge europäische Freiwillige, die in die Ukraine gegangen sind, um die Russen zu bekämpfen, sind traumatisiert zurückgekommen. Sie wurden durch die westliche Rhetorik, die die Russen in Panik und auf der Flucht darstellte, in die Irre geführt. Doch die Realität ist härter. Ein weiteres Beispiel: Seit einigen Wochen sind viele Dokumente erschienen, die die Grausamkeiten der freiwilligen ukrainischen Milizen zeigen. Gleichzeitig will die Schweizer Bundesanwaltschaft eine Task-Force einsetzen, um russische Kriegsverbrechen zu verfolgen. Warum soll eine geplante Task-Force nicht alle Kriegsverbrechen untersuchen, sondern nur die russischen? Das ist fast eine Einladung für die ukrainischen Milizen zu mehr Grausamkeiten. Auf einer eher strategischen Ebene fürchte ich, dass derzeit jeder Vorfall direkt Russland angelastet wird. Die Bedingungen für einen Vorfall unter falscher Flagge sind heute gegeben.

Was veranlasst Sie zu dieser Einschätzung?

Die Stimmung ist so antirussisch, dass es unmöglich ist, eine andere Einstellung zu vertreten, als gegen Russland zu sein. Niemand erwähnt die Möglichkeit, mit Russland zu verhandeln. Der Dialog wird mit allen Mitteln verhindert. Man favorisiert das Waffenliefern, man ist sich im Westen darin einig. Zum Beispiel beschloss Ende Februar, wenige Stunden, nachdem Selenskij die Idee geäussert hatte, einen Verhandlungsprozess mit Russland zu beginnen, die Europäische Union ein Budget von fast einer halben Milliarde Euro, um Waffen an die Ukraine zu liefern. Aber von den westlichen Staaten kämpft niemand. Man ermutigt die Ukrainer, ihr Leben zu riskieren.

«Der Grossteil der ukrainischen Streitkräfte ist im Kessel von Kramatorsk umkreist»

Hat sich in den letzten Wochen die Lage geändert? Ist das Vorgehen der Russen überhaupt erfolgreich?

Ja, man kann sagen, dass Russland seine Ziele in der Ukraine fast erreicht hat. Es ist klar, dass es die Ukraine nicht in Besitz nehmen will, aber sein Ziel ist es, die Bedrohung für die Donbas-Republiken zu neutralisieren. Derzeit ist der Grossteil der ukrainischen Streitkräfte im Kessel von Kramatorsk umkreist, wo sie für eine Offensive gegen den Donbas im Februar zusammengezogen worden waren. Sie werden von russischen Truppen, die aus dem Nordosten und Süden über die Krim kommen, und von Truppen aus den Republiken Donezk und Lugansk aus dem Osten in die Zange genommen.

 

Ist denn die russische Armee nicht auch in Mariupol?

Nicht wirklich. Die Einnahme von Mariupol erfolgte durch Truppen aus den Republiken Donezk und Lugansk sowie einer Abteilung der tschetschenischen Nationalgarde. Die russischen Truppen werden nicht direkt in den Städten eingesetzt, sondern dienen vielmehr der mobilen Kampfführung und der Einkesselung der ukrainischen Streitkräfte.

Wie ist das bei der Ukraine?

Auf ukrainischer Seite sind es die nationalistischen Freiwilligenmilizen ASOV, die die Städte verteidigen. Die Bevölkerung von ­Mariupol ist hauptsächlich russischsprachig mit einer starken griechischstämmigen Minderheit, die Russland eher positiv gegenübersteht. Das bedeutet, dass die Angreifer den Einwohnern kulturell nahestehen, während die Verteidiger weit von ihnen entfernt sind.

Wer führt die Freiwilligenmilizen?

Die Freiwilligeneinheiten sind in die ukrainische Nationalgarde integriert und sind nicht für den Kampf im offenen Gelände ausgerüstet. Sie verfügen weder über schwere Panzer noch über Artillerie. Es handelt sich dabei lediglich um Infanterie, die mit leicht gepanzerten Fahrzeugen ausgerüstet und eher für den Ortskampf geeignet ist. Deshalb kämpft sie nur innerhalb der Städte. Im Grunde genommen ist es auf beiden Seiten ähnlich. Die Armeen führen den beweglichen Kampf, die Freiwilligenmilizen führen den Ortskampf.

 

Was bedeutet das für das Gesamtbild?

Zunächst einmal zeigen die Karten, die in unseren Medien präsentiert werden, kaum eine Veränderung zwischen Ende Februar und heute. Zweitens zeigen sie nicht die Einkesselung des Grossteils der ukrainischen Streitkräfte im Sektor Kramatorsk. Daher haben wir den Eindruck, dass die russischen Koalitionskräfte nicht vorankommen. Die Realität sieht jedoch anders aus. Die russische Koalition, bestehend aus den beiden Republiken zusammen mit Russland, kämpft und kontrolliert fast den ganzen russischsprachigen Teil der Ukraine. Wenn man einen Sprachatlas nimmt, dann ist die Ukraine entlang der Sprachgrenzen von Russland kontrolliert. Vor einigen Tagen behauptete eine «Expertin» im französischen Fernsehen, dass die russische Koalition nur ein Gebiet von der Grösse der Schweiz oder der Niederlande eingenommen habe. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Gebiet, das so gross ist wie Grossbritannien.

In unseren Medien heisst es immer wieder, der Vormarsch sei gestoppt. Die Russen kämen nicht weiter. Die Armeeführung habe versagt.

Nein, das stimmt nicht. Es scheint klar zu sein, dass die Russen sich nicht im ukrainischsprachigen Teil des Landes engagieren wollen. Die Ziele, die sie sich gesetzt haben, erfordern dies auch nicht: «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung». Das erste Ziel wird erreicht, wenn die ukrainischen Streitkräfte im Kessel von Kramatorsk neutralisiert oder entwaffnet worden sind. Das zweite Ziel wird erreicht, wenn die Freiwilligenbataillone in den grossen Städten wie Mariupol oder Charkow neutralisiert worden sind.

Wo sind wir geografisch genau in der Ukraine?

Der Vorstoss der russischen Koalition deckt ungefähr das russischsprachige Gebiet des Landes ab. Kiew ist fast eingekesselt, aber es war nur ein Nebenvorstoss, wahrscheinlich um die ukrainische Verteidigung im Westen des Landes zu binden und die ukrainische Regierung an den Verhandlungstisch zu drängen. Der Grossteil der ukrainischen Armee befindet sich im Kramatorsk-Kessel, der sich von Slowiansk bis Donezk erstreckt. Wir sind weit entfernt von den Informationen, die wir im Fernsehen sehen.

Warum sind wir nicht richtig informiert?

Es wird versucht, die Vorstellung zu verbreiten, dass die Russen ihre Ziele nicht erreichten und dass sie gegen den ukrainischen Widerstand machtlos seien. Einige ziehen daraus den Schluss, dass die Russen zu Verzweiflungstaten bereit wären, um aus dieser Situation herauszukommen.

In dem Zusammenhang versucht man Putin als nicht mehr zurechnungsfähig darzustellen.

Ja, unser Bild vom russischen Vorstoss öffnet die Tür für alle Arten von Manipulationen. So sind alle Voraussetzungen dafür gegeben, dass ein Akteur eine mörderische Aktion durchführt, um Russ­land die Verantwortung dafür zuzuschieben. Man braucht nur «rote Linien» zu definieren, wie es Joe Biden in Polen getan hat, um sehr gefährliche Entwicklungen zu ermöglichen. Dennoch haben die Russen praktisch alle ihre Ziele erreicht. Daher haben sie erklärt, dass sie den Druck auf Kiew nicht erhöhen und sich auf den Südosten des Landes konzentrieren werden.

Was heisst das für den Fortgang des Konflikts?

Ich sehe natürlich nicht in den Kopf von Wladimir Putin, aber ich denke, dass die Koalition nicht weiter nach Westen vorstossen, sondern versuchen wird, ihre Erfolge im russischsprachigen Teil des Landes zu festigen. Russland hat genug erreicht, um die ukrainische Regierung zu Verhandlungen zu drängen. Ich glaube nicht, dass Russland versuchen wird, einen Teil der Ukraine zu besetzen, sondern es wird eine Neutralisierung des Landes erwirken.

«Die Vision Russlands wäre, dass die Länder Estland, Lettland, Litauen, Polen, Belarus und die Ukraine neutrale Länder seien»

Damit versucht Putin, den Anschluss ans westliche Bündnis zu verhindern?

Ja, mit einer neutralen Ukraine wird er die Stationierung von Nato-Truppen auf ukrainischem Gebiet verhindern wollen. Im Gegensatz zu den Behauptungen einiger französischsprachiger Medien kennen wir die Pläne Wladimir Putins effektiv nicht. Die verfügbaren Informationen lassen jedoch darauf schliessen, dass die eroberten Gebiete nach der «Demilitarisierung» (d. h. der Vernichtung oder Entwaffnung) der ukrainischen Streitkräfte und der «Entnazifizierung» (d. h. der Vernichtung oder Verurteilung) der paramilitärischen Kräfte zu einer Verhandlungsmasse werden.

Das widerspricht der in unseren Medien dargestellten Version. Das Narrativ des Westens, dass Putin eine imperiale Politik betreibe, die alte Sowjetunion wiederherstellen oder ein neues Zarenreich aufbauen wolle, ist objektiv nicht erkennbar. Sehen Sie das auch so?

Ja, diese westliche Interpretation entspricht keineswegs der russischen Sichtweise. Die Vision Russlands wäre, dass die Länder Estland, Lettland, Litauen, Polen, Belarus und die Ukraine neutrale Länder seien. Das bedeutet, frei von jeglichem Einfluss und militärischer Präsenz, weder von der Nato noch von Russland. Ich weiss nicht, ob Russland dies als realistisches Ziel ansieht, aber es ist seine Sicht. Russland hat weder die Absicht, diese Länder zu besetzen, noch hat es etwas dagegen, dass sie über Streitkräfte verfügen. Es sieht jedoch die Mitgliedschaft in einem militärisch-nuklearen Bündnis wie der Nato als Bedrohung für seine Sicherheit an. Wie in der Ukraine zu beobachten ist, besteht sein Ziel nicht darin, das Territorium zu besetzen. In dem Gebiet, das sie derzeit besetzen, geniessen die Russen eine relativ gute Unterstützung durch die russischsprachige Bevölkerung. Im westlichen Teil der Ukraine hätten sie nicht die gleiche Unterstützung.

Ich möchte noch auf einen älteren Konflikt zu sprechen kommen, der häufig im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt genannt wird und ebenfalls als imperiales Gebaren Russlands gedeutet wurde: die Auseinandersetzung um Abchasien und Südossetien. Lässt sich das mit der Ukraine vergleichen?

Die Konflikte in Abchasien und Südossetien weisen Ähnlichkeiten mit dem Konflikt in der Ukraine auf. Das Problem ist, dass es in allen ehemaligen Republiken der UdSSR russische Minderheiten gibt, die nun mit dem Nationalismus der neuen Staaten konfrontiert sind. Diese Staaten sind zu Recht stolz auf ihre Unabhängigkeit, haben aber oft Schwierigkeiten, die Russen zu integrieren, obwohl sie seit Generationen in diesen Ländern ansässig sind. Diese russischen Minderheiten sehen sich oft mit einer Form von Revanchismus konfrontiert.

Wie äussert sich dieser?

Mit der Unabhängigkeit der neuen Staaten der ehemaligen UdSSR wurden die Russen dort zu einer Minderheit. Anders als in anderen neuen Ländern wie z. B. dem Südsudan haben diese Minderheiten jedoch nicht immer die gleichen Rechte wie die «herrschende Ethnie». So haben in Lettland und Estland die Bedingungen, die für den Erwerb der Staatsbürgerschaft auferlegt wurden, dazu geführt, dass viele Russischsprachige zu «Nicht-Staatsbürgern» geworden sind. So verloren diese Menschen, die oft schon seit mehreren Generationen in diesen Ländern lebten, plötzlich ihre sowjetische Staatsbürgerschaft und hatten kein Anrecht auf die Staatsbürgerschaft der neuen Länder. So haben diese «Nicht-Bürger» natürlich nicht die gleichen Rechte wie die Bürger, und es war die EU, die ihnen einen Pass geben musste.

War das auch in Georgien das Problem?

Ja, in Südossetien und Abchasien hat sich diese Situation zu einem Ultra-Nationalismus auf beiden Seiten entwickelt und verhindert heute eine politische Lösung. Es ist eine explosive Situation.

Das ist nochmals eine ganz andere Dimension, von der natürlich in unseren Medien niemand spricht. Nicht einmal dann, wenn es offensichtlich ist.

Wie bei der Situation in der Ukraine im Jahr 2014 werden diese Tatsachen von unseren Medien nicht berichtet. Dabei haben diese Situationen in Russland eine sehr starke Solidarität für die russischen Minderheiten hervorgerufen. Daraus resultiert ein starker Druck der Bevölkerung auf die russische Regierung, in diesen Ländern zu intervenieren und den Minderheiten zu Hilfe zu kommen. Deshalb haben diese Länder Angst vor einer russischen Intervention. All dies könnte leicht behoben werden, wenn diese Länder eine echte demokratische Kultur hätten und die Minderheiten vollständig in ihre Nation integrieren würden.

Das ist ein Verstoss gegen die Menschenrechte und letztlich gegen die Werte, die die EU immer so hochhält.

Ja, das ist das Unglaubliche daran, dass das in der EU nie thematisiert wurde. Man weiss, dass es diese speziellen Probleme gibt, die zu Spannungen führen können, aber es war keine Bedingung, um der EU beizutreten. Wir haben genau das Problem in sehr vielen Ländern. In Weissrussland sieht es etwas anders aus. Lukaschenko wollte weder mit den Russen noch mit der EU. Er wollte eigenständig sein. Jetzt mit den Sanktionen gegen sein Land ist er natürlich näher an Russland gerückt, obwohl er das nicht unbedingt wollte. Das ist eine Konsequenz der EU-Politik. Die ideologische Sicht in der EU ist so stark, dass man nicht einmal diese menschliche Situation pragmatisch gelöst hat. Im Grunde genommen haben wir genau dieses Problem in der Ukraine.

Hat sich das erst nach dem Umsturz 2014 so scharf entwickelt?

Ja, die Rebellion im Donbas ist mit der Frage der Sprache verbunden. Sie wurde am 23.  Februar 2014 durch die Änderung des Amtssprachengesetzes ausgelöst, durch die der russischen Sprache der Status als Amtssprache entzogen wurde. Im Westen will dies jedoch niemand anerkennen, da man das Bild einer demokratischen Maidan-Revolution aufrechterhalten und so die Rhetorik einer russischen Intervention im Donbas nähren will. Das Problem ist, dass man mit einer falschen Diagnose das Übel nicht wirksam behandeln kann. Ich habe das Gefühl, dass man die Spannungen nicht abbauen, sondern aufrechterhalten wollte.

Noch einmal zurück zu Georgien. Wollte Georgien nicht ebenfalls in die Nato und provozierte deshalb den Krieg gegen Russland in der Hoffnung, die Nato greife dann ein?

Das Ganze spielte sich im Jahre 2008 ab. Georgien war nominiert für den Nato-Beitritt. Die USA stachelten Georgien an, etwas zu tun, damit man sie mit dem Nato-Beitritt belohnen könne. Ich habe nicht den Eindruck, dass die USA ernsthaft einen Beitritt der Ukraine oder Georgiens in die Nato in Erwägung ziehen. Sie haben diese Länder einfach instrumentalisiert. Und das ist das Perverse. Selbst Selenskij hat gesagt, er fühle sich von den USA betrogen, da die USA ihm gesagt hätten – und das war aber nur für die Öffentlichkeit bestimmt – ein Nato-Beitritt für die Ukraine sei möglich. Selenskij sagte tatsächlich: «I requested them personally to say directly that we are going to accept you into Nato in a year or two or five, just say it directly and clearly, or just say no» Zelensky said. «And the response was very clear, you're not going to be a Nato member, but publicly, the doors will remain open,» he said.¹

Also alles nur ein zynisches Spiel?

Ja, man hat das tatsächlich benutzt, um Russland zu provozieren. Man spielte sozusagen damit. Das ist wirklich zynisch. In Georgien hat man es genauso gemacht. Man weiss in der Nato, dass es viel zu kompliziert ist und zu Problemen führen würde, wenn diese Länder in der Nato wären. Man hat es aber bewusst so geführt, dass die Russen meinen bzw. glauben, dass ein Nato-Beitritt auf dem Tisch liege. Vor etwa zwei Wochen sagte der Generalsekretär der Nato, Jens Stoltenberg, die Ukraine als Mitglied der Nato sei nie ein Thema gewesen. Man hat also tatsächlich gespielt, um die Lage zu verschärfen, um einen Zwischenfall zu provozieren und opfert dabei die ukrainische Bevölkerung.

«Die USA trieb hier ein ganz perverses Spiel, um einen Krieg zu schaffen»

Das ist doch schändlich. Mich erinnert es an die Situation vor dem irakischen Angriff auf Kuwait 1990. Damals plante Saddam Hussein aus verschiedenen Gründen, Kuwait anzugreifen und versicherte sich sozusagen bei den USA, dass sie nicht eingreifen würden. Es war eine Falle, denn die USA verhängten sofort Sanktionen und führten anschliessend Krieg gegen den Irak. Sehen Sie da auch gewisse Parallelen?

Ja, das ist sehr ähnlich. Die US-amerikanische Botschafterin, April Glaspie, wurde von Saddam Hussein eine Woche vor der irakischen Offensive in Kuwait eingeladen. Er wollte sondieren, wie die USA bei einem Angriff auf Kuwait reagieren würden. April Glaspie sagte, Abläufe zwischen arabischen Staaten gingen sie nichts an, und sie hätten auch kein Interesse daran. Die USA trieb hier ein ganz perverses Spiel, um einen Krieg zu schaffen.

Ist Russland tatsächlich in so eine plumpe Falle getappt?

Ja, es war eine Falle, aber weil die Amerikaner die Situation falsch eingeschätzt haben, hat Wladimir Putin sie meiner Meinung nach zu seinem Vorteil genutzt. Russland ist ein Risiko eingegangen und muss sein Ziel erreichen, das mit dem gezahlten Preis zusammenhängt: Je höher der Preis, den der Westen ihm abverlangt, desto höher sind seine Forderungen. Allerdings war auch Wladimir Putin klar, dass die Situation ohnehin auf eine Eskalation hinauslief. Mit seiner Offensive hat er den Zeitpunkt und die Bedingungen für diese Eskalation selbst bestimmt. Das war vermutlich das Resultat der Lagebeurteilung. Es war von der Nato und von den USA ein perverses Kalkül dahinter. Die EU-Chefs, Emmanuel Macron, Olaf Scholz und Ursula von der Leyen an der Spitze, haben das Spiel, das im Hintergrund gespielt wurde, offensichtlich nicht verstanden.

Wenn man die Hintergründe und Zusammenhänge alle zusammenzieht, bekommt man den Eindruck, alles laufe nach einem Drehbuch ab. Das Ziel des Westens hatten Sie bereits im letzten Interview erwähnt. Sehen Sie das immer noch so?

Es gibt zwei Ebenen der Antwort. Die erste ist eine klar artikulierte Strategie, die bereits 2018 und 2019 von der RAND Corporation, einem Think Tank des US-Verteidigungsministeriums, dargelegt wurde. Sie beschreibt genau, wie man Russland auf der internationalen Bühne isolieren kann. Das Szenario, das wir heute sehen, ist dort fast wortwörtlich niedergeschrieben. Die zweite Ebene ist operativer und wird in die erste Ebene integriert. Ich denke immer noch, das Hauptziel war tatsächlich, North Stream II zu stoppen und zu verhindern. Ab diesem Zeitpunkt kam «der Appetit beim Essen». Die Europäer gingen noch einen Schritt weiter und opferten ihre nationalen Interessen. Dies gilt für Deutschland mit Nord Stream II, aber auch für die Schweiz, die ihre Neutralitätspolitik buchstäblich «verkauft» hat. Es gibt eine regelrechte Orgie an Sanktionen. Man hat den Eindruck, es ist nie genug. Es ist so absurd, jetzt wollen sie auch noch China sanktionieren. Es ist eine unglaubliche Dynamik entstanden.

Was hat das für Folgen?

Diese Dynamik führt zu Absurditäten und trägt dazu bei, alle Türen für einen Dialog zu schliessen. Während des gesamten Kalten Krieges haben uns die Russen ununterbrochen mit Erdgas versorgt, trotz Kommunismus, Menschenrechten, psychiatrischen Krankenhäusern und der Invasion Afghanistans. Heute verbietet der Westen behinderten russischen Sportlern die Teilnahme an den Paraolympischen Spielen, schliesst russische Katzen von Zuchtwettbewerben aus, sogar russische Bäume werden von Wettbewerben ausgeschlossen, und man geht sogar so weit, die Verwendung des Buchstabens «Z» mit drei Jahren Gefängnis zu bestrafen! Armer «Z»elensky2! Die Zürich-Versicherung will sogar für eine gewisse Zeit das Z aus ihrem Logo entfernen. Wo führt das noch hin?

«In Wirklichkeit versucht man, Putin zu bekämpfen …»

Wenn man all die Informationen, die Sie wieder zusammengetragen haben, nebeneinanderlegt und dann hört, wie das Ausland die Ukrainer ermutigt, Widerstand zu leisten, weil sie nicht wissen, was gespielt wird, dann ist das wirklich zynisch, und mit den gelieferten Waffen wird noch viel Geld verdient.

Das kommt noch dazu. Es ist klar, dass es wie in jedem Konflikt einigen gelingen wird, mit dem Blut anderer Menschen Geld zu verdienen. Aber auch hier gilt es, die Sache aus der Distanz zu betrachten. Die Waffen, die der Westen an die Ukraine geliefert hat, stammen aus alten Beständen. Sogar einige der von Grossbritannien gelieferten Waffen hatten ihr Haltbarkeitsdatum überschritten. Die von den USA gelieferten Luftabwehrraketen sind veraltete Modelle, für die die Russen sicherlich Gegenmassnahmen haben. Die Javelin-Raketen, über die in der Presse ausführlich berichtet wurde, wurden von den Russen in grossen Mengen gefunden, aber nicht eingesetzt: Sie sind unpraktisch, schwer im Feld einzusetzen und scheinen wenig effektiv zu sein. Ein weiteres Indiz dafür ist, dass die US-Armee ihre Bestellung für zukünftige Javelin-Raketen sogar reduziert zu haben scheint.

«… und nicht, der Ukraine zu helfen»

Das nützt der Ukraine also nichts? Der Westen treibt die Menschen an, gegen die Russen zu kämpfen mit Waffen, die sie gar nicht gebrauchen können?

Ja, dazu kommt noch, dass die Ukrainer diese Systeme auch nicht richtig bedienen können, weil sie dafür nicht ausgebildet sind.

Das Ganze macht zunehmend fassungslos. Worum geht es eigentlich?

Man hat ein wenig das Gefühl, dass der Westen versucht, den Krieg zu verlängern. In Wirklichkeit versucht man, Putin zu bekämpfen und nicht, der Ukraine zu helfen. Anstatt also einen diplomatischen und politischen Ausweg aus dem Konflikt zu suchen, wird die Bevölkerung zum Kampf gedrängt. Bürger in Kämpfer zu verwandeln klingt romantisch, ist aber kriminell, und es ist nicht die Aufgabe einer internationalen Institution, diese Art von Reaktion zu fördern. Die Kriegsführung muss so weit wie möglich eine Aufgabe des Militärs bleiben. Wenn man Zivilisten Waffen gibt, erhöht man das Risiko, dass der Krieg von Emotionen geleitet wird und zu Greueltaten führt. Dies ist daher eine besonders zynische Entscheidung der Europäischen Union. Man stellt fest, dass keines der Länder, die Selenskij um Mediation gebeten hat, in der Europäischen Union ist: China, die Türkei und Israel.

In dem Zusammenhang möchte ich noch die Rede von Bundesrat Cassis erwähnen, die er während einer Veranstaltung der ukrainischen Botschaft auf dem Bundesplatz in Bern gehalten hat. Meines Erachtens ein totaler Schaden für unser Land. Cassis hat genau das gemacht, was Sie als zynisch kommentiert haben. Er hat Selenskij und die Ukrainer ermutigt, den Kampf gegen das «Böse» zu führen. Wie sehen Sie das?

Das ist absolut blödsinnig. Es ist unverantwortlich, solche Dinge zu sagen. Ich denke, dass die Staaten politische Lösungen fördern sollten. Aber ich meine, es ist bestimmt nicht die Aufgabe der Schweiz, sie zum Kampf zu ermutigen. Die europäischen Länder – und allen voran die Schweiz – sollten versuchen, die Wogen zu glätten, anstatt Öl ins Feuer zu giessen.

Inwiefern, was hätte der Bundesrat tun können?

Unsere Diplomaten und Politiker wussten, dass die Nichteinhaltung der Minsker Vereinbarungen zu einer Katastrophe führen konnte. Sie wussten, dass die Menschen im Donbas seit acht Jahren wiederholt Angriffen ausgesetzt sind. Sie wussten, dass sich die Ukraine auf eine Offensive gegen den Donbas vorbereitete. Sie wussten all dies, unternahmen aber absolut nichts. Das ist schlichtweg kriminell. Die Schweiz hat sich in der Vergangenheit die Ehre gegeben, bei der Suche nach friedlichen Lösungen für Konflikte zu helfen. Diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. Heute ist der Grossteil der ukrainischen Armee eingekesselt, und Russland hat seine Ziele praktisch erreicht. Einzelne Personen dazu zu bringen, in den Kampf zu ziehen, wird keine Lösung bringen: Kämpfen gegen Putin bis zum letzten Ukrainer?

Was hat es für Folgen, wenn man unkontrolliert Waffen verteilt?

Als ich bei der Uno für die Doktrin der friedenserhaltenden Massnahmen zuständig war, war eines meiner Dossiers der Schutz der Zivilbevölkerung. Mit meinem Team haben wir die Faktoren untersucht, die zur Verwundbarkeit der Zivilbevölkerung beitragen. Nachdem wir zahlreiche Konflikte untersucht und Zeugen befragt hatten, kamen wir zum Schluss, dass einer der Hauptfaktoren die Kombination von weit verbreiteten Waffen und dem Fehlen von Führungsstrukturen ist. In dieser Situation kämpfen die Menschen nicht mehr nach einem Plan, sondern nach ihren Emotionen. Das führt dazu, dass Greueltaten begangen werden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Zum Beispiel lieferte Frankreich in Libyen trotz des Embargos der Uno an bestimmte Stämme Waffen. In den französischen Medien wurden Schwarze als «hochbezahlte» Söldner Gaddafis bezeichnet. Das Resultat war, dass das Dorf Tawarga mit französischen Waffen massakriert wurde, weil seine Bewohner Schwarze waren, die keine Söldner, sondern Gastarbeiter waren. Wenn man die Menschen mit Waffen versorgt und auf die Menschheit loslässt, führt das zu Massakern. In Mariupol haben wir diese Beispiele. Die dort kämpfenden Milizen üben Rache. Sie haben einen russischen Kriegsgefangenen an ein Kreuz gefesselt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Das sind die gleichen Methoden, die der Islamische Staat vor sechs Jahren praktiziert hat. Wenn man unkontrolliert Waffen verteilt, können sie auch in falsche Hände geraten, z. B. von kriminellen Banden, wie man es in Kiew und Kherson beobachten kann. Zudem kann es auch unerwartete Folgen haben. So wurde am 31. März ein ukrainischer Helikopter, der nach Mariupol kam, um Befehlshaber des Asov-Regiments zu evakuieren, mit einer Stinger-Missile abgeschossen, die von den Amerikanern geliefert worden war…

Sie haben vorhin erwähnt, dass wir in unseren Medien keine objektiven Informationen bekommen. Man spricht von einer grossen Zahl gefallener Russen. Ist das möglich?

Die vom russischen Verteidigungsministerium angegebene offizielle Zahl der russischen Verluste liegt bei etwa 1 400 Toten. Unsere Medien sprechen jedoch von 7 000 und sogar 14 000 Toten. Tatsächlich berichten unsere Medien die von den Ukrainern angegebenen Zahlen und sagen, dass die russischen Zahlen Desinformationen seien. In Wirklichkeit wissen wir nicht, wie hoch die genaue Zahl ist, aber wir wissen, dass Länder in der Regel bei ihren eigenen Toten genau sind und dazu neigen, die Zahl der feindlichen Toten zu erhöhen. Es handelt sich also eindeutig um Propaganda, die unsere Medien betreiben.

«Putin könnte die Ukraine zerstören, aber er hält sich zurück»

Nehmen wir einmal an, die Zahlen stimmen. Gäbe es eine Erklärung dafür?

Grundsätzlich führen die Russen einen ganz anderen Krieg als die USA. Die USA bombardieren zunächst mit der Luftwaffe und legen alles in Schutt und Asche, so dass die Bodentruppen nicht mehr gross kämpfen müssen. Die russische Strategie ist genau das Gegenteil. Die Russen, und das wurde vom Pentagon bestätigt, setzen ihre Luftwaffe in diesem Krieg kaum ein. Es gibt in Newsweek vom 23. März einen Artikel von William Arkim mit dem Titel: «Putin könnte die Ukraine zerstören, aber er hält sich zurück.» Einem US-Geheimdienstexperten zufolge entspricht die Behauptung, die Russen würden versuchen, durch wahllose Bombenangriffe alles in der Ukraine zu zerstören, nicht den Tatsachen. Die Russen seien ganz gezielt vorgegangen und hätten die Anzahl toter Zivilisten stark minimiert.³ Dafür müssen die Soldaten im Feld kämpfen, mehr als die amerikanischen. Das erklärt die höheren Verluste.

Das steht diametral entgegen der Berichterstattung unserer Medien.

Das Verhalten der Russen ist auch verständlich. Sie kämpfen inmitten einer russischsprachigen Bevölkerung, die ihnen nicht feindlich gesinnt ist, auch wenn sie vielleicht gegen die militärische Intervention ist. Die russische Armee versucht daher, die Verluste unter der Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten. Anders verhält es sich mit den paramilitärischen Milizen in Mariupol. Sie haben keinerlei Verbindung zu der Bevölkerung, die sie eigentlich verteidigen sollten. 

Sie haben über die Strategie der USA gesprochen, die dadurch im Irakkrieg 2003 verhältnismässig wenige Verluste an eigenen Soldaten hatten. Hängt das nicht auch damit zusammen, dass viele Soldaten aus anderen Staaten dort gekämpft hatten, die in keiner US-Statistik erschienen? War es nicht so, dass sehr viele ukrainische Soldaten beim Krieg der USA 2003 gegen den Irak im Einsatz waren?

Die osteuropäischen Länder waren die ersten, die sich der US-Koalition im Irak anschlossen. Dies hatte Donald Rumsfeld als «neues Europa» bezeichnet, im Gegensatz zum «alten Europa», zu dem auch Frankreich und Deutschland gehörten, die sich gegen den Irakkrieg ausgesprochen hatten. Die ehemaligen Ostblockländer schickten ihre Soldaten und bekamen dafür finanzielle Unterstützung von den USA für ihr Militär, sogar Flugzeuge erwarben sie. Das war der Grund, warum diese Länder in der Koalition der Willigen mitmachten, denn anfänglich wollte sich niemand an dem Krieg beteiligen. So konnten die Oststaaten ihre Armeen verbessern, ohne das Militärbudget zu erhöhen.

«In der Ukraine gab es zwischen 20 und 30 Biolabors»

Ein Thema, das in unseren Medien so gut wie keinen Niederschlag gefunden hat, sind die Biolabors, die sich auf ukrainischem Boden befinden. Wissen Sie etwas dazu?

Die USA haben rund um die Welt etwa 300 Biolabors. Das sind Labors, die vom Verteidigungsministerium finanziert werden. Sie arbeiten mit zivilen Unternehmen zusammen, allerdings an Projekten, die weitgehend vom Verteidigungsministerium finanziert werden. In der Ukraine gab es zwischen 20 und 30 Biolabors. Es ist nicht klar, was sie genau taten, aber ihre Existenz war bekannt und wurde bereits vor einigen Jahren in Europa aufgedeckt. Dazu muss man auch sagen, dass es nicht unbedingt geheim war, aber man behandelte sie sehr diskret.

Dann werden diese von den europäischen Staaten geduldet?

Mit dem russischen Angriff ist das auf einmal ein Thema geworden, denn es würde ziemlich heikel, z. B. wenn eine Bombe ein Labor treffen würde. Das birgt natürlich die Gefahr, dass pathogene Agenzien freigesetzt werden. Die USA bekamen Angst, denn am Anfang des russischen Angriffs wurde diese Gefahr erwähnt, aber niemand reagierte. Die USA sprachen von russischer Desinformation, bis Victoria Nuland vor die Kommission des amerikanischen Senats geladen und befragt wurde. Der extrem antirussische republikanische Senator Marco Rubio fragte, ob die USA Biowaffen in der Ukraine gelagert hätten. Victoria Nuland antwortete sehr zögerlich und ihre Worte waren wohl überlegt, das war am Fernsehen deutlich zu sehen. Sie bestätigte, dass die USA Biolabors in der Ukraine hätten und dass es darin Produkte gebe, die nicht in die Hände der Russen fallen dürften.

Was kann man aus dieser Aussage für Schlüsse ziehen?

Es gibt von den USA bestätigte Biolabors in der Ukraine und in diesen Labors wird mit gefährlichen Substanzen experimentiert. Ob es sich dabei um biologische Waffen handelt, bleibt eine offene Frage. Es scheint, dass einige Dokumente, die an die Öffentlichkeit dringen, darauf hinweisen, dass dort Forschung zu militärischen Zwecken betrieben wird. Aber man muss vorsichtig bleiben. Diese Forschung kann allemal gefährlich sein, auch ohne dass es sich dabei um Biowaffen handelt. Manche Politiker haben sich natürlich gefragt, warum man diese Forschung in der Ukraine betreibt. Die Ukraine ist nicht bekannt für besondere Kapazitäten und Kompetenzen auf dem Gebiet der biologischen Forschung. Warum sind diese Labore nicht in den USA mit sicheren Anlagen? Die Antwort ist nicht klar.

Warum nicht?

Es gibt eine Aussage von Robert Pope. Er ist Forschungsdirektor von der DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency). Diese Behörde ist vergleichbar mit der Arma-Suisse⁴. DARPA gehört zum US-Verteidigungsministerium, die in verschiedenen Bereichen wie Weltraum, Cyber, Elektronik etc. Forschung für die Verteidigung betreibt. Dieser Robert Pope hat gesagt, dass in diesen Labors keine Biowaffen produziert werden. Und dann wählte er eine seltsame Formulierung. Die Wissenschaftler, die dort beschäftigt seien, hätten sicher noch «alte Restanzen aus der Zeit des Kalten Kriegs in den Labors».

Was heisst das jetzt?

Wenn man ihm glauben würde, dann würde es bedeuten, das dort nicht unbedingt an Biowaffen geforscht wird. Aber sie haben sicher mit sehr gefährlichen Substanzen gearbeitet, und es kann sein, dass es einige, vielleicht alte Biowaffen dort gibt. Das ist der Stand der Dinge.

Ist das alles?

Im Video über die Anhörung von Victoria Nuland auf YouTube, stellt der Senator Rubio am Schluss eine sehr seltsame Frage: «Wenn es einen biologischen oder chemischen Zwischenfall gäbe in der Ukraine, hätten Sie dann den geringsten Zweifel, dass die Russen zu 100 Prozent dafür verantwortlich wären?» Das ist für mich ein Aspekt, der mich äusserst besorgt. Das heisst nicht, dass die USA so etwas vorbereiten und dann den Russen anlasten würden, aber es ist nicht ausgeschlossen. Die Frage von Senator Rubio kam aus heiterem Himmel. Es ging thematisch gar nicht darum. Deshalb bin ich sehr besorgt darüber, dass es möglicherweise Ideen gibt, etwas inszenieren zu wollen, um dann eine Berechtigung zu haben, aktiv in den Krieg einzugreifen. Das könnte äusserst gefährlich werden …

Herr Baud, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ «Persönlich forderte ich Sie auf, direkt und klar zu bekennen: Wir werden euch in einem, zwei oder fünf Jahren als Mitglied der Nato akzeptieren, sagt es einfach direkt und klar oder sagt einfach Nein», sagte Selenskij. «Und die Antwort war sehr klar; die Ukraine wird kein Nato-Mitglied werden, aber offiziell werden die Türen immer offen bleiben», sagte er.
edition.cnn.com/europe/live-news/ukraine-russia-putin-news-03-20-22/h_40b5886d6f2ad1440a9e5c7426901dfe
² Englische Schreibweise
³ www.newsweek.com/putins-bombers-could-devastate-ukraine-hes-holding-back-heres-why-1690494
⁴ Das Bundesamt für Rüstung armasuisse ist eine Bundesbehörde der Schweizerischen Eidgenossenschaft.

*Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges (UNHCR-Zaire/Kongo, 1995-1996). Er arbeitete für das DPKO (Departement of Peacekeeping Operations) der Vereinten Nationen in New York (1997-99), gründete das Internationale Zentrum für Humanitäre Minenräumung in Genf (CIGHD) und das Informationsmanagementsystem für Minenräumung (IMSMA). Er trug zur Einführung des Konzepts der nachrichtendienstlichen Aufklärung in Uno-Friedenseinsätzen bei und leitete das erste integrierte UN Joint Mission Analysis Centre (JMAC) im Sudan (2005-06). Er war Leiter der Abteilung «Friedenspolitik und Doktrin» des Uno-Departements für friedenserhaltende Operationen in New York (2009-11) und der Uno-Expertengruppe für die Reform des Sicherheitssektors und die Rechtsstaatlichkeit, arbeitete in der Nato und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

 

«Von Neutralität zu reden und zu schreiben ist das eine – neutral zu handeln das andere»

Bundespräsident Cassis‘ Auftritt auf dem Bundesplatz – eines Bundesrats nicht würdig

von Thomas Kaiser

Man glaubt es kaum. Der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis tritt an einer Demonstration auf dem Bundesplatz in Bern auf, die von der ukrainischen Botschaft organisiert worden ist, und biedert sich bei Wolodimir Selenskij an.

Was Bundespräsident Cassis an jenem Samstag geboten hat, ist seines Amtes nicht würdig und müsste dringend ein politisches Nachspiel haben. Doch das Parlament, der Bundesrat und zuvorderst ein Grossteil der Medien haben anscheinend keine Einwände, wenn unsere Neutralität im wahrsten Sinne des Wortes verkauft wird. Es ist ein Affront gegenüber der Schweizer Bevölkerung, die die Neutralität unseres Landes wahren will. Der ETH-Sicherheitsbericht vom Juni 2021 hält folgendes fest: «Gegenüber dem Vorjahr sprechen sich unverändert 96 % (±0 Prozentpunkte) der Schweizer*innen dafür aus, dass die Neutralität beizubehalten sei.»¹ Ein eindeutiges Verdikt.

Cassis giesst weiter Öl ins Feuer

Aber anstatt alles daran zu setzen, den Krieg zu beenden und die Kriegsparteien an den Verhandlungstisch zu bringen, giesst Bundespräsident Cassis weiter Öl ins Feuer und stellt sich als Bundespräsident der neutralen Schweiz offen auf die Seite einer Kriegspartei. Damit verhindert er, dass die Schweiz als «Brückenbauer bei Spannungen» aktiv werden kann.

In seiner Ansprache duzte er den Präsidenten der Ukraine wie einen Kumpel. Wörtlich sagte Bundespräsident Cassis unter anderem: «Lieber Wolodimir. […] Wir sind beeindruckt, wie ihr Grundwerte der freien Welt verteidigt, die auch unsere Grundwerte sind.»² Laut Medienberichten hat Cassis den ukrainischen Präsidenten letztes Jahr zum ersten Mal getroffen. Anlässlich seines Besuchs gedachte er der 4 000 toten ukrainischen Soldaten, die im Kampf gegen die Autonomisten in Lugansk und Donezk ums Leben kamen.³ Den 14 000 durch die ukrainische Armee getöten Zivilisten in dieser Region schenkt Bundespräsident Cassis bis heute kein Mitgefühl.

Systematische Waffenstillstandsverletzungen der ukrainischen Armee

Wer nur etwas die Entwicklung der Ukraine in den letzten 10 Jahren verfolgt hat, muss von allen guten Geistern verlassen sein, die Werte der Schweiz mit denjenigen der Ukraine zu vergleichen. Wie sehr hat sich Bundespräsident Cassis darum gekümmert, die Berichte der OSZE zu lesen, die ihm sicher täglich präsentiert werden? Darin hätte er die systematischen Waffenstillstandsverletzungen der ukrainischen Armee nachlesen können.

Es ist unverständlich, dass unser Parlament als Kontrollinstanz des Bundesrats kaum eine Reaktion gezeigt hat. Einzig einige Vertreter der SVP verliehen ihrem Unmut Ausdruck. Nationalrat Roland Büchel, Aussenpolitiker und ehemaliger Präsident der Aussenpolitischen Kommission, wählte deutliche Worte: «Dieser unwürdige Auftritt muss ein Nachspiel haben. […] Da organisiert ein fremder Staat auf unserem Bundesplatz eine Demonstration, und der Bundespräsident Cassis lässt sich vorführen wie ein Schuljunge. Wer ist eigentlich der Hausherr?»⁴

Unkenntnis der Geschichte

Schon vor dem Nationalrat, als Bundespräsident Cassis die Übernahme der Sanktionen rechtfertigte und wohl in Unkenntnis der Geschichte davon sprach, dass Russland nach 77 Jahren den Krieg wieder nach Europa gebracht habe, bewies er wenig historisches Wissen für sein Amt als Vorsteher des Aussendepartements.⁵ Doch wahrscheinlich ist es nicht nur ­Unwissenheit, sondern auch Willfährigkeit gegenüber den USA und der EU. Bundesrat Cassis und mit ihm wohl die Mehrheit des Bundesrats scheinen sich den USA mehr verbunden zu fühlen als den Grundprinzipien ihres eigenen Landes. An der Pressekonferenz hat Bundespräsident Cassis die Übernahme der Sanktionen unter anderem wie folgt verteidigt: «Andere demokratische Staaten sollen sich auf die Schweiz verlassen können.»⁶ Worauf sollen sie sich verlassen können? Auf eine neutrale Schweiz wohl nicht mehr.

Es ist absurd: Der Bundesrat schliesst sich der kriegerischsten Nation der Welt an, wie der deutsche Historiker und Buchautor Bernd Greiner in seinem Buch «Made in Washington» mit vielen Quellen und eindrücklichen Belegen darlegt: «Die Vereinigten Staaten haben mit Abstand die meisten Kriege geführt, wiederholt Angriffskriege vom Zaun gebrochen und das Völkerrecht mit Füssen getreten.»⁷ Damit sie bei den Grossen am Katzentisch sitzen dürfen, wirft der Bundesrat die Neutralität über Bord. Gerade die USA haben der Schweiz in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts übel mitgespielt. Auch während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 geriet das Land ins Fadenkreuz der USA, die absurderweise im Bankgeheimnis die Ursache ihrer hausgemachten Krise entdeckten. Alles schon vergessen?

Glaubwürdigkeit als neutraler Staat gewährleisten

Mit der unbesehenen Übernahme der Sanktionen brüstete sich der Bundesrat, diesen Entscheid in kürzester Zeit gefällt zu haben. Mit diesem Entscheid widerspricht er seinen eigenen Grundsätzen. Im Vorwort der vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) herausgegebenen Broschüre «Die Neutralität der Schweiz» schreibt Ignazio Cassis: «Die Neutralität hat ebenfalls eine rechtliche Dimension: So ist die dauernde Schweizer Neutralität im Völkerrecht anerkannt. Ebenso enthält das Völkerrecht Regeln dazu, welche Rechte einem Neutralen zustehen und welche Pflichten er hat, wenn andere Staaten Krieg führen. Und schliesslich hat die Neutralität auch eine breitere aussen- und sicherheitspolitische Dimension: Die Schweiz führt eine Neutralitätspolitik, um ihre Glaubwürdigkeit als neutraler Staat zu gewährleisten.» Weiter wird erklärt: «Allerdings ist es wichtig, dass die Neutralität eines Staates international anerkannt wird. Sonst kann die Neutralität ihren Zweck der Wahrung der Unabhängigkeit und territorialen Integrität des Staates nicht erfüllen. Dazu gehört auch die besondere Rolle, die wir international spielen, indem wir vermitteln und bei Spannungen Brückenbauer sind.»⁸

Nur diese beiden kurzen Abschnitte zeigen, dass der Bundesrat seinen eigenen Richtlinien nicht treu bleibt, sondern die selbst formulierten Grundsätze ignoriert.

Für das Ausland ist die Neutralität nicht mehr erkennbar

Man kann sich tatsächlich die Augen reiben, insbesondere wenn man liest, wie der Bundesrat sich jetzt befleissigt, im In- und Ausland den Menschen zu versichern, dass die Entscheidungen, die US/EU-Sanktionen gegen Russland  mitzutragen, auf dem Boden der Neutralität geschehen seien. Aber wenn man den Inhalt der Broschüre mit den Beschlüssen des Bundesrates vergleicht, kann man nur den Kopf schütteln. Man hat den Eindruck, dass der Inhalt der Broschüre im Aussendepartement nicht bekannt ist. Von Neutralität zu reden und zu schreiben ist das eine. Neutral zu handeln das andere. Das Interview mit Nationalrat Roland Büchel zeigt, dass für das Ausland die Neutralität nicht mehr erkennbar ist. Eine grosse Chance in der Friedensvermittlung wurde achtlos weggeworfen.

¹ css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/Si2021.pdf
² www.srf.ch/play/tv/srf-news-videos/video/cassis-zu-selenski-beeindruckt-wie-dein-volk-fuer-freiheit-kaempft?urn=urn:srf:video:6f2b26ea-1900-4a7d-b832-85c960ea25e9
³ www.nzz.ch/schweiz/bundesrat-cassis-zu-besuch-beim-ukrainischen-praesidenten-selenski-ld.1652739
⁴ NZZ vom 21.03.2022
www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=55827
www.swissinfo.ch/ger/sanktionen_diese-massnahmen-ergreift-die-schweiz-gegen-russland/47388504
⁷ Bernd Greiner: Made in Washington. S. 7
www.eda.admin.ch/dam/eda/de/documents/publications/SchweizerischeAussenpolitik/neutralitaet-schweiz_DE.pdf

«Wer hier mitmacht, ist Kriegspartei»*

von Hans Bieri, Schweizerische Vereinigung Industrie und Landwirtschaft (SVIL), Zürich

Wer bei den Sanktionen gegen Russland mitmacht, ist Kriegspartei. Die Sanktionen beziehen sich auf den Einmarsch russischer Truppen auf das Staatsgebiet der Ukraine. Wäre die Schweiz neutral, hätte sie zur Konfliktlösung etwas zu bieten. 

Der Konflikt begann ja nicht erst mit dem russischen Truppeneinmarsch im Februar 2022 sondern vor 8 Jahren. Es begann mit dem Putsch in der Ukraine, wo im Ergebnis historisch ansässige russischsprechende Bevölkerung von den demokratischen Rechten ausgeschlossen wurde.

Die OSZE, damals unter schweizerischer Leitung, war daran, den gesetzlosen Putsch beim Namen zu nennen. Vor allem auch die verachtenswerte Asymmetrie, dass die ukrainische Armee die Wohngebiete der russischsprechenden Ostprovinzen der Ukraine beschiesst, wogegen die aufständischen Verbände der Ostprovinzen die Offensiven der ukrainischen Armee bekämpften. Diese Asymmetrie führte im Laufe von 8 Jahren zu 14 000 Toten – mitten in Europa.

Es ist kaum zu bestreiten, dass es der Schweiz, als sie den Vorsitz der OSZE innehatte, auch wegen ihrer Neutralität gelungen ist, ein Abkommen in Minsk auf den Weg zu bringen, um das durch den Putsch ausgelöste Unrecht zu ordnen. 

Die aussenpolitische Kommission der Schweiz war in der Folge nicht in der Lage diesen Erfolg weiterzutragen. Minsk II wurde von Frankreich, Deutschland (mit den USA im Hintergrund), der Ukraine und Russland unterzeichnet. Dabei ist die OSZE diesen Ländern übergeordnet und nicht deren Sekretariat. 

Die Schweiz wäre durch den Neutralitätsstatus in aller Form legitimiert gewesen, diese friedensstiftende und ordnende Rolle nicht aus der Hand zu geben. 

Diese Aufgabe der Schweiz in Europa hat die Aussenpolitische Kommission vertan. Sie ist mental geschwächt und zu wenig eigenständig, weil sie Russland wegen dem Kalten Krieg immer noch aus Europa ausgrenzt und dabei den USA folgt, welche sich massiv in die inneren Angelegenheiten der Ukraine eingemischt und den Putsch in Kiew in seinen verbrecherischen Folgen zu verantworten haben. 

Dieses politische Versagen der schweizerischen Aussenpolitik findet nun seine Fortsetzung in der Preisgabe der Neutralität. Und wie wenn das noch nicht genug der Fehlentscheide wäre, bekennt sich der Delegierte der Schweiz in der OSZE, Andreas Aebi, auf einer ganzen Seite im Schweizer Bauer als «Bewunderer» der Kiewer Kriegspartei, welche während 8 Jahren die Wohngebiete im eigenen Land beschiesst, was bisher 14 000 Tote gefordert hat. ν

* alt Bundesrat Blocher in der NZZ vom 7. März 2022

 

«Es geht darum, wie die Neutralität vom Ausland her beurteilt wird»

Interview mit Nationalrat Roland Büchel

Nationalrat Roland Büchel, SVP (Bild thk)
Nationalrat Roland R. Büchel, SVP (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie kommentieren Sie den Auftritt von Bundespräsident Cassis auf dem Bundesplatz vor zwei Wochen?

Nationalrat Roland Büchel Das war für mich ein völliges Fehlverhalten. Die Veranstaltung wurde von einem fremden Staat organisiert. Da tritt man als Bundespräsident nicht im Vorprogramm auf.

Es ist nicht nur der Auftritt, es sind auch die Worte, die er gesagt hat.

Die Anbiederung ist deplaziert und unangemessen. Das passt nicht zum Wesen der Schweiz, dem vielleicht letzten wirklich neutralen Staat auf dieser Erde. 

Müssen wir heute leider nicht schon feststellen, dass unsere Neutralität nach den Äusserungen des Bundesrates und seiner Entscheidung, die Sanktionen gegenüber Russland mitzutragen, grossen Schaden genommen hat?

Es spielt keine Rolle, wie wir die Neutralität interpretieren. Es geht darum, wie die Neutralität vom Ausland her beurteilt wird. Dort ist das Urteil gefällt. Die Schweiz wird nicht mehr als neutraler Staat wahrgenommen. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.

Haben Sie solche Stimmen dazu vernommen?

Es sind Stellungnahmen in den ausländischen Medien, die ganz klar erkennen lassen, dass man die Schweiz nicht mehr als neutralen Staat betrachtet. Und es gibt Staaten, die sogar «offiziell» jubeln. Ich war kürzlich in London und habe mich mit bedeutenden Politikern getroffen. Da bekommt man Komplimente dafür, dass unser Land nicht mehr neutral ist. Macht das Freude? Nein, denn es ist extrem schädlich für die Schweiz.

Gibt es in der Schweiz keine Möglichkeit, hier politisch einzugreifen, um den Schaden zu begrenzen, bevor weiteres Ungemach unserem Land widerfährt?

Was wir im Moment feststellen können, ist ein vorsichtiges Zurückkrebsen. Es heisst, das Ganze sei nur schlecht kommuniziert gewesen. Klar scheint: Die Mehrheit des Parlaments will den Bundesrat nicht «zurückpfeifen».

Was würde die Situation verbessern?

Jetzt ist das Volk gefragt. Es muss wohl zu einer Volksinitiative kommen, damit die Neutralität noch klarer definiert wird als jetzt schon in Artikel 185 der Bundesverfassung.

Priska Seiler Graf hat vorgeschlagen, die Schweiz müsse sich näher an die Nato anlehnen. Und das kommt gerade von linker Seite, die auf der anderen Seite keinen Flieger von den USA wollen.

Das ist erstaunlich. Es sind die Armeeabschaffer, die sich plötzlich der Nato annähern und mehr Geld für die Armee ausgeben wollen. Ich frage mich, wie sie das bei ihrer Partei durchbringen wollen. Und antworte gleich, dass das nicht gelingen wird.

Haben Sie auch davon gehört, dass der Bundesrat in verschiedenen internationalen Zeitungen Erklärungen unterbringen wollte, dass sich die Schweiz nach wie vor als neutral versteht?

Nein, das habe ich nicht gehört. Aber wenn ich sehe, wie unsere Regierung mehr auf Public Relations als auf eine solide Staatsführung setzt, dann würden mich derlei Aktionen nicht wundern.

Können Sie sich erklären, warum man z. B. in England so positiv auf das Ende der Neutralität reagiert hat?

Auch die Briten haben es gerne, wenn man klar auf ihrer Seite steht. Nach dem Scheidungskrieg mit der EU sind sie in Brüssel nun nicht mehr «die Bösen». Ähnliches stellt man im Fall von Ungarn und Polen fest.

Warum?

Die EU ist froh, wenn der «westliche Block» ohne Lücken geschlossen steht. Wenn ich Brite, Pole oder Ungar wäre, hätte ich vielleicht auch Freude daran, wenn die Schweiz ihre Neutralität aufgäbe. Für uns hingegen gilt: Richtschnur kann und muss das sein, was langfristig das Beste für unser Land ist. Dementsprechend muss man handeln.

Das ist so nicht der Fall?

Es geht nicht um einen kleinen Entscheid, den man morgen wieder ändern kann. Es geht um das Selbstverständnis unseres Landes. In die gleiche Richtung geht die Auffassung, man müsse auch im Uno-Sicherheitsrat Einsitz nehmen.

Weshalb?

Es ist zwar «nur» ein Entscheid für zwei Jahre. Aber das wird langfristig enorme Auswirkungen haben. Wir laufen Gefahr, den Ruf, ein neutraler Staat zu sein, endgültig zu verlieren.

Wo sehen Sie dabei das Hauptproblem?

Im Uno-Sicherheitsrat wird über Sanktionen entschieden, ja sogar über Krieg und Frieden. Wir müssen für die eine oder andere Seite Partei ergreifen, und am Schluss kann eine der fünf Veto-Mächte alles zu Fall bringen. Zudem wird die Schweiz in dieser Zweijahres-Periode den Rat ein- oder zweimal präsidieren müssen.

Was bedeutet das?

Die Schweiz muss die Sitzungen einberufen. Sie kann sich nicht verstecken. Noch einmal: Es ist falsch, wenn wir dort mitmachen.

Dass in England die Politiker jubilieren, dass die Schweiz ihre Neutralität aufgibt, ist mehr als nur kurzfristig gedacht. Man müsste doch froh sein, dass es einen Staat gibt, der Verhandlungen anbieten kann?

Ja sicher, aber im Moment ist in der Politik die Vernunft nicht das oberste Gebot. Jeder möchte auf der «guten Seite» stehen. Opportunismus scheint opportun.

Welche Rolle spielen dabei unsere Medien?

Es ist gefährlich, wenn die Medien nur in eine Richtung ziehen. Es geht darum, die Fakten sauber zu analysieren und zu verstehen, was sich abspielt. Das gelingt nicht, wenn man sich einer Einheitsmeinung anschliesst und in jenem Chor mitsingt, den die Medien gebildet haben.

Es fehlt an Rückgrat?

Kaum jemand hat den Mut, die Gesamtsituation vernünftig, besonnen und aus der notwendigen Distanz zu betrachten. Die Schweiz müsste das können. Das war immer unsere Stärke. Das muss auch in Zukunft so sein. Die Mehrheit des Bundesrates scheint diese Meinung nicht zu teilen. Leider.

Herr Nationalrat Büchel, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Wenn zwei das Gleiche tun

Bundesrätin Keller-Suter sagt in einem Interview im Tages-Anzeiger-App vom 2. April: «Putin versucht mit Flüchtlingen Europa zu destabilisieren. Das ist eine hybride Kriegsführung.»

Wo war unsere Bundesrätin, als Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak oder aus Afghanistan Europa überfluteten? Eine einseitigere Beurteilung politischer Entwicklungen kann es gar nicht mehr geben. Es deckt aber auch geradezu schonungslos das Unvermögen eines unserer Regierungsmitglieder auf, im Sinne unserer Verfassung auf Herausforderungen adäquat zu reagieren. Auch steckt in dieser Feststellung ein Hauch von Unehrlichkeit und offensichtlicher Beeinflussung durch die westliche Propaganda im Ukraine-Konflikt. Ein eindeutiger Beweis, dass Frau Keller-Suter sich hat manipulieren lassen und einer sehr undifferenzierten Wahrnehmung der Geschehnisse verfallen ist. Ist ein solches Mitglied im Bundesrat noch tragbar? Mussten Bundesräte nicht schon wegen viel weniger gravierender Fehler zurücktreten? 

Reinhard Koradi

 

Nein zum Beitritt der Schweiz zum Uno-Sicherheitsrat!

von Gotthard Frick

Der Verfasser war den grössten Teil seines Berufslebens in sehr vielen Ländern auf allen Kontinenten für seine Firma beruflich tätig. Dabei erfuhr er immer wieder, wie sehr unser Land für seine Einmaligkeit geschätzt und bewundert wurde. Die Neutralität und die inzwischen abgeschaffte Wehrhaftigkeit wurden dabei immer positiv genannt. Jetzt will der Bundesrat unser Land in den Sicherheitsrat der Uno hieven. Passiert das, werden wir noch mehr im Interesse der USA handeln müssen, die unter allen Umständen die einzige, den grösseren Teil der Welt beherrschende Macht bleiben wollen. Kleine Länder können deren Macht nicht widerstehen.

Die dazu gehörende Doktrin wurde schon 1992 von Paul Wolfowitz, der u. a. Stv. US-Verteidigungsminister und dann Präsident der Weltbank war, verfasst und ist als Wolfowitz-Doktrin bekannt. Danach müssen die USA verhindern, dass irgend eine Macht je zum Rivalen der USA werden kann,  oder die Kontrolle über eine ressourcenreiche Region erlangt, die es ihr erlaubt, globale Macht zu erlangen. (Die Ukraine ist sehr reich an Ressourcen und bedeutenden Industrien).

Die USA gehören zu den 5 ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates, die alle über das Vetorecht verfügen. D. h. jedes von ihnen kann jeden ihren Interessen zuwiderlaufenden Entscheid der Uno, d. h. der Vertretung der Menschheit, mit dem Veto ungültig machen, selbst wenn die Schweiz dort mit ihrer Stimme zu einer grossen Mehrheit für einen Entscheid beitragen würde. Seit 1945, als die Uno gegründet wurde, bis 2022 haben die USA oder die UdSSR/Russland mit insgesamt 200 Vetos jeweils einen gegen sie gerichteten Entscheid des Sicherheitsrates zu Fall gebracht, so wie z. B. jetzt Russland die Verurteilung wegen des Krieges in der Ukraine oder seinerzeit die USA wegen der ­Besetzung durch zwei US-Brigaden des Ferieninselchens Grenada oder für ­andere ihrer zahlreichen militärischen Einmischungen oder die verdeckten durch die CIA. (Präsident Reagan meinte nach dem US-Veto zur Verurteilung durch die Uno wegen der Invasion Grenadas, sie habe sein Frühstück nicht gestört).

Die USA haben seit dem 2. Weltkrieg zahlreiche Länder zusammengebombt, besetzt oder durch die CIA den Sturz der jeweiligen, meistens linken Regierung ausgelöst und durch rechte ersetzt, die dann auch die Interessen der USA wahrnahmen. Sie benützen auch wirtschaftliche, finanzielle und andere Massnahmen gegen Länder, die sich nicht gemäss ihren Vorgaben verhalten. Wie alle anderen Vetomächte, konnten sie deshalb noch nie rechtsgültig verurteilt werden. Bei näherer Betrachtung aller Vetos ergibt sich folgendes Bild:

Zeitraum von 1991 bis 2022:
USA: 17 Vetos, Russland: 29, China: 15, UK: 0, Frankreich: 0

Zeitraum von 1945 bis 1990:
USA: 65 Vetos, UdSSR: 89,
China: 1, UK: 28, Frankreich: 16

Nach Meinung des Verfassers muss die Schweiz ihre Einmaligkeit aufrechterhalten und sollte keinesfalls Mitglied des Sicherheitsrates werden. 

Zerstörung von fruchtbarstem Land für «grüne» Energie? 

«Umweltschützer fordern ein Moratorium für den Abbau von Lithium in ganz Serbien»

von Mirjana Andjelković Lukić, technische Ingenieurin, Serbien

sl. Lithium gehört zu den Rohstoffen, die für die Zukunft wichtig sind. Das Leichtmetall wird in Batterien für Elektrofahrzeuge oder Smartphones verwendet. Deshalb wächst das Interesse an Serbien, wo Europas grösstes Lithium-Vorkommen liegt. Der umstrittene britisch-australische Bergbaukonzern Rio Tinto hofft, mit der serbischen Mine im Jadar-Tal zu einem der grössten Lithium-Abbauer der Welt aufzusteigen. Nicht alle sind darüber glücklich. Heftige Proteste der ansässigen Bevölkerung haben die Regierung Serbiens nun bewogen, Rio Tinto die Bergbaukonzession zu entziehen. Umweltschützer fordern jedoch ein generelles Moratorium für den Lithium-Abbau in Serbien. Die serbische Ingenieurin Mirjana Andjelković Lukić erklärt im Folgenden warum. 

Jadarit ist ein neu entdecktes Mineral, ein Silikat aus Natrium, Bor und Lithium mit der Formel LiNaSiB3O7 (OH). Einige Geologen glauben zwar, dass es nicht so «epochal» lithiumreich sei. Es enthält 0,5 bis 2 Prozent pro Tonne Erz. Das Erz liegt in einer Tiefe von etwa 400 Metern. Darüber, 25 Meter unter dem Boden, befindet sich Salzwasser aus dem Miozän, offenbar der Rest des Pannonischen Meeres. Die Salzkonzentration liegt bei 30 Prozent wie beim Meerwasser. Es handelt sich um verschiedene Salze, nicht nur um Natriumchlorid. Aufgrund des Salzwasserabbaus wird es zu einer Absenkung des Geländes kommen, von der nicht bekannt ist, wie stark sie sein wird. Dies kann im Falle einer Überschwemmung grosse Folgen haben. Der Jadar ist ein Hochwasser führender Fluss, und wenn es in diesem Gebiet zu einer Überflutung kommt, bleibt das Wasser in den Senken liegen. 

Das Salzwasser aus der Grube wird in einer Menge von 2 812 m³ pro Tag oder 942 000 m³ pro Jahr genutzt werden. Das Wasser aus den unterirdischen Salzquellen wird in Reservoirs gelagert, die mit einer undurchlässigen PVC-Folie ausgekleidet sind und je bis zu 400 000 m³ Wasser fassen!

Skrupellose Jagd nach Bodenschätzen

Rio Tinto ist sehr an der Gewinnung des Erzes interessiert und hat keinerlei Interesse an den Menschen, die in diesen Regionen leben. Das Unternehmen ist für seine arrogante Haltung gegenüber der Natur bekannt und zerstört alles, was es vorfindet, nur um Profit zu machen. Zu ihrem Pech kam Rio Tinto auf die kleine Pazifikinsel Bougainville. Als der Konzern die Gold- und Kupfermine nach 45 Jahren Ausbeutung verliess, hinterliess er ein Bild des Schreckens: zerstörte, mit Rückständen ­bedeckte Erde, von der aus verschiedene Gifte den Fluss und das Wasser verschmutzten. Papua-Neuguinea hat Rio Tinto wegen Umweltverschmutzung verklagt und verlangt, dass der Boden der Insel von verschiedenen chemischen Giften befreit und saniert wird.

Glaubt irgendjemand in Serbien wirklich – wenn er gute Absichten hat und sich um Serbien sorgt – dass Rio Tinto sich in unserem Land anders verhalten wird? Das einzige, was für das Unternehmen zählt, ist der Profit, und es ist blind und taub für die lebenswichtigen Bedürfnisse der Bevölkerung. Rio Tinto handelt kompromisslos und brutal, korrumpiert, wenn nötig, und schafft es, seine Pläne umzusetzen.

Umsiedlung und Zerstörung von wertvollem Kulturland

Serbien wird ein unglückliches Land sein, wenn dieses seelen- und heimatlose Unternehmen in das fruchtbare Land von Macva und Radjevina eindringt, die Bewohner von rund 20 Dörfern aus ihren jahrhundertealten Wohnstätten vertreibt, Obstgärten und Weinberge abholzt, Bienenstöcke zerstört und fast ein Drittel von Westserbien verschmutzt. Neben den chinesischen Grossverschmutzern in Smederevo und Bor wird dieser Grossverschmutzer ganz Zentralserbien von Ost nach West ökologisch verschmutzen. Rio Tinto wird die serbische Natur skrupellos behandeln, ebenso wie das chinesische Unternehmen ZiĐin, das Kupfersulfatabwässer aus dem Bergwerk Čukaru Peka direkt in den Fluss Brestovacka leitet und ihn verschmutzt. Dieser Fluss fliesst durch das Zentrum des Dorfes Metovnica bei Bor und mündet etwas weiter in den Crna Timok. Die Brunnen und die Fauna des Flusses wurden zerstört.

Lassen wir uns nichts vormachen, Rio Tinto wird sich nicht anders verhalten. Am Anfang geben sich diese Unternehmen in den Medien immer sanftmütig, sie beteuern, sie «werden sich immer um die Umwelt kümmern», und sobald sie sich festgesetzt haben, sieht man, wie rücksichtslos sie sind. Wie gedenkt Rio Tinto, sich um die Umwelt zu kümmern, wenn ein enormer Wasserverbrauch vorhersehbar ist, er die Strassen für seine schweren Lastwagen nutzt, die die riesigen Rückstände verteilen werden. Obstgärten, Wiesen und Wälder werden verschwinden, der Fluss Jadar wird von den Abwässern, die voller Salze aus Produktionsabfällen sind, verschmutzt, er wird die Drina verschmutzen und dann die Sava und schliesslich Belgrad erreichen.

Erzaufbereitung

Die Umwandlung des Erzes in Natriumsulfat, Borsäure und Lithiumcarbonat ist kompliziert, aber Rio Tinto möchte den Prozess nicht vollständig offenlegen.

Zur Erzaufbereitung wird unter anderem konzentrierte rauchige Schwefelsäure mit einer Konzentration von 94 % bis 98 %, Salzsäure, ebenfalls konzentriert, und das starke Alkali Natriumhydroxid verwendet. Salzwasser aus den Bergwerken wird ebenfalls verwendet, 942 000 t pro Jahr, d. h. 2 800 t pro Tag und auch Süsswasser aus den Brunnen am Ufer der Drina, 6000 m³ pro Tag oder 2 160 000 m³ Wasser pro Jahr! Zudem werden 158 t gebrannter Kalk pro Tag bzw. 53 000 t pro Jahr, gebraucht, um die bei der Produktion anfallende Säurelösung zu neutralisieren.

Die Schwefelsäure wird jeden Tag von 20 bis 30 Kesselwagen mit einem Volumen von 50 Tonnen transportiert. Jeden Tag, 365 Tage im Jahr, wird ein Zug mit 20 Eisenbahntanks à 50 Tonnen konzentrierter Säure durch Serbien fahren. Von Bor oder Pirdop in Bulgarien wird er Serbien von Ost nach West durchqueren, mit dem grossen Risiko, dass der Zug umkippt oder ein Waggon voller Säure aus den Schienen springt! Die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls beim Transport oder bei der Freisetzung von Schwefelsäure ist hoch, was ein langfristiges Risiko für Serbien darstellt, da Schwefelsäure stark ätzend ist und alles angreift.

Der Transport der Rückstände über eine Strecke von 14 Kilometern zur Deponie Stavinci erfolgt ebenfalls mit schweren Lastwagen – etwa 30 Lastwagen pro Tag – via Loznica-Valjevo, das sehr bald ruiniert sein wird. Die Industriemülldeponie hat die Form von vier fransigen Pyramiden, die zwei Kilometer lang und einen halben Kilometer breit sind und eine Höhe von 40 Metern haben. Das Gefälle beträgt 15 Prozent. Bei starken Regenfällen kann es zu Erdrutschen kommen. Das Volumen einer Pyramide beträgt nach 12-jährigem Betrieb 18,78 Millionen m³. Während der Lithium-Produktion fallen enorme Mengen an Rückständen an, die sich auf insgesamt 2 687 500 t pro Jahr oder 7 646 t pro Tag belaufen.

Für den Prozess der Erzaufbereitung wird konzentrierte Schwefelsäure in einer täglichen Menge von 851 Tonnen verwendet! Der jährliche Verbrauch an konzentrierter Rauchsäure (94–98 %) ­beträgt 299 700 Tonnen. Beim Schwefelsäureprozess wird Schwefelwasserstoff (H₂S) freigesetzt, ein giftiges und äusserst unangenehm riechendes Gas, dessen Abbau nicht vorgesehen ist.

Es wird erwartet, dass die Mine mit den dazugehörigen Gebäuden auf 1235 Hektar des fruchtbarsten Bodens von Radjevina und Macva liegen wird.

Korrumpierte Fakultäten und Politiker

Rio Tinto wird voraussichtlich etwa 700 bis 1000 Arbeiter beschäftigen, die für extrem gefährliche Arbeiten in der Mine in grosser Tiefe und bei der Erzaufbereitung mit konzentrierter und ätzender Säure eingestellt und erbärmlich bezahlt werden, was nichts ist im Vergleich zur Anzahl Einwohner, die vertrieben werden wird.

Die von diesem Unternehmen gesponserten Fakultäten und ihre Professoren sind ebenfalls aktiv geworden, um Rio Tinto nach Macva zu holen, und haben einen Bericht zu Gunsten der zukünftigen Produktion erstellt. Sie haben damit Serbien grosses Elend bereitet. Es sind gewissenslose Menschen, die, obwohl sie wissen, was die Eröffnung der Mine für Serbien bedeutet, aus finanziellen Gründen ihre Prinzipien mit Füssen treten und die Ankunft des berüchtigtsten Erzverarbeitungsunternehmens in Serbien ermöglichen.

Das Ausmass der Schäden, die die Mine anrichten würde, ist staatlichen Beamten und Experten klar, aber es handelt sich möglicherweise um Korruption, denn Rio Tinto sponsert gemäss vorliegenden Informationen die Fakultät für Bergbau und Geologie mit 100 Millionen Dinar, die Fakultät für Maschinenbau erhielt 10 Millionen Dinar, die Fakultät für Bauingenieurwesen und das Institut für öffentliche Gesundheit jeweils 12 Millionen Dinar. Einer der Professoren der Fakultät für Maschinenbau – er war Vorsitzender des interdisziplinären Koordinierungsgremiums für die Untersuchung der serbischen Umweltverschmutzung durch Bombenangriffe und ein erklärter «Umweltschützer» – hat begonnen, Dokumente zu verfassen, um den weltgrössten Umweltverschmutzer Rio Tinto an Bord zu holen. In mein Land, nach Serbien!

Das Ministerium für Umweltschutz wurde vom Jadar-Projekt ausgeschlossen, da sich dieses Ministerium gegen den Bau des Bergbaukomplexes aussprechen würde, der sich offensichtlich sehr schlecht auf die Ökologie von Macva und Radjevina auswirken, das fruchtbarste Land in Westserbien ruinieren und das Wasser sowohl ober- als auch unterirdisch verschmutzen würde. Das Ministerium für Bergbau und Energie und das Ministerium für Bauwesen, Verkehr und Infrastruktur werden hingegen in das Projekt einbezogen.

Der Vorsitzende des Vereins «Schützen wir Jadar und Radjevina», Momcilo Alimpić, erklärte, dass Rio Tinto «eine Deponie von biblischen Ausmassen in der Nähe von Gornji Brezovici bei Krupanj bauen will und dass das Bergbaubecken bei Loznica zwischen 36 und 40 km² gross sein wird». Alle Städte in der Nähe der Mine würden ökologisch verseucht, weder Loznica noch Krupanj würden verschont bleiben, und auch Sabac wäre stark gefährdet. Die Deponie bei Krupanj soll 450 Meter über dem Meeresspiegel liegen, so dass der Wind den Abfall bis nach Valjevo verteilen wird.

Die Personen, die über die Ankunft von Rio Tinto in Serbien entscheiden, mögen Serbien nicht und arbeiten gegen dessen Interessen und diejenigen seiner Bürger. Einige Mitglieder der serbischen Regierung haben zwei Pässe, sie empfinden Serbien nicht als ihr Land und können es verlassen, wenn sie mit dessen Verwüstung fertig sind – so wie es bereits ihre Vorgänger (Djelic und Co.!) getan haben –, um aus Serbien eine Abfalldeponie, ein verwüstetes Land zu machen, in dem das Leben wirklich unmöglich werden wird. 

Die serbische Bevölkerung wehrt sich 

Die Bürger Serbiens, insbesondere die Bewohner der Region Loznica, sind entschlossen, ihre jahrhundertealten Wohnstätten mit ihrem Leben zu verteidigen und nicht zuzulassen, dass ein ausbeuterisches, skrupelloses und ökologisch absolut unverantwortliches Unternehmen auf ihre fruchtbaren Felder kommt. Die Prüfung der Durchführbarkeit des zukünftigen Jadar-Projekts ergab, dass das Projekt aus technischer und ökologischer Sicht nicht durchführbar und weder für die Bewohner von Radjevina noch für die Republik Serbien ökologisch vertretbar ist. Rio Tinto prognostizierte Gesamteinnahmen aus dem Jadar-Projekt, die sich auf etwa 551 Millionen Euro pro Jahr belaufen würden. Die Höhe der Entschädigung Serbiens für die Nutzung der mineralischen Ressourcen würde etwa 7,6 Millionen Euro pro Jahr betragen, falls das Unternehmen ein tatsächliches Nettoeinkommen ausweisen würde (und es wird angenommen, dass dies nicht der Fall sein wird!). Selbst wenn der Staat die 7,6 Millionen Euro einnehmen würde, so würde das Unternehmen in den ersten zehn Arbeitsjahren etwa 4 Milliarden Euro aus Serbien abziehen, es ist also klar, welches Interesse an der Realisierung des Jadar-Projekts besteht.

Rio Tinto kann aus dem Projekt aussteigen, wann immer es will, ohne verpflichtet zu sein, die verwüsteten Gebiete zu sanieren. Wie die Erfahrungen der bereits genannten Länder, in denen Rio Tinto tätig war, zeigen, hat das Unternehmen die verwüsteten Gebiete nie saniert.

Genehmigung zurückgezogen?

Die mögliche Realisierung des Jadar-Projekts wird der Republik Serbien nur sehr geringe sozioökonomische Vorteile bringen, aber grossen sozioökonomischen Schaden anrichten, nicht nur aufgrund intransparenter Produktionsparameter, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass die sozioökonomische Analyse des Projekts die schädlichen Auswirkungen der Investition auf die Gesundheit der Bevölkerung, die Arbeitsfähigkeit und die Umwelt nicht berücksichtigt hat. Agrarland wird in Bauland umgewandelt, so wie es die weltweite Praxis der Rio Tinto Corporation ist, und mit der Umwelt und den Arbeitskräften rücksichtslos umgegangen. Das Land mit Millionen Tonnen von Rückständen und Abfällen wird für die nächsten Jahrhunderte verwüstet bleiben, selbst wenn Rio Tinto die Mine verlässt. Wir denken daran!

In diesen Tagen hat unsere Regierung alle Genehmigungen, die Rio Tinto erteilt worden waren, widerrufen. Bedeutet dies nun, dass Rio Tinto Serbien verlassen wird? Die Umweltschützer glauben nicht an die Entscheidung der Regierung, sie befürchten, dass ein anderes Unternehmen an die Stelle Rio Tintos treten und die Natur genauso zerstören wird. Deshalb fordern sie ein Moratorium für den Abbau von Lithium in ganz Serbien. 

Quelle: Dr. Mirjana Andjelković Lukić, Ingénieur en technologie

Jadar-Tal: www.banktrack.org/project/jadar_lithium_mine_project

https://miningreport.co/battery-materials/lithium/opposition-to-rio-tintos-jadar-lithium-project-gains-momentum-in-serbia

Übersetzung aus dem Franzöischen: Zeitgeschehen im Fokus

 

Wenn die «guten Jungs» zensieren

von Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas*, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Im Artikel 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte heisst es: «Jedermann hat das Recht auf freie Meinungsäusserung; dieses Recht schliesst die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben.»

Am 21. März wurde ich von Sputnik angerufen und zum Krieg in der Ukraine interviewt. Am 22. März wurde das Interview unter diesem elektronischen Link veröffentlicht: https://sputniknews.com/20220322/icc-should-consider-designating-nato-a-criminal-organisation-says-former-un-expert-1094090561.html. 

Der Link funktioniert nicht

Als ich versuchte, den Link aufzurufen, teilte mir der Server mit, dass «diese Seite nicht erreicht werden kann. Sputniknews.com hat zu lange gebraucht, um zu antworten». Egal wie oft ich es versuchte, stets bekam ich dieselbe Meldung. Freunden in der Schweiz ging es genauso.

Ich war überrascht, da ich in Genf, in der Schweiz wohne, die dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) beigetreten ist und sich verpflichtet hat, die beiden in Artikel 19 verankerten Rechte zu garantieren:

1. das Recht, Informationen und Ideen zu suchen und

2. das Recht, sie weiterzugeben und zu verbreiten.

Als ich den Link an Freunde in den Vereinigten Staaten schickte, konnten auch sie nicht auf die Seite zugreifen, obwohl die Vereinigten Staaten ebenfalls Vertragspartei des ICCPR sind. «Der Artikel kann auf dem Server von Google in den USA derzeit nicht aufgerufen werden.»

Was ist hier eigentlich los? Die Demokratie kann nur dann richtig funktionieren, wenn die Bürgerinnen und Bürger Zugang zu allen Informationen, Perspektiven und Standpunkten erhalten, damit sie sich eine eigene Meinung bilden können. Das Recht auf freie Meinungsäusserung bedeutet nicht das Recht, alle Informationen und Darstellungen zu übernehmen, die wir von unseren Regierungen oder in den «Qualitätsmedien» hören, sondern umfasst auch das Recht, von diesen Ansichten abzuweichen. Um sich ein eigenes Urteil über Fakten und Ereignisse bilden zu können, brauchen wir pluralistische Informationsquellen.

Es hat den Anschein, dass Zensur sowohl von Regierungen, die sich als angeblich «demokratisch» bezeichnen, als auch von der Privatwirtschaft, einschliesslich Twitter, Facebook und YouTube, praktiziert wird. Diese Art der Zensur ist einer demokratischen Gesellschaft unwürdig und sollte vom Büro des Uno-Hochkommissars für Menschenrechte, vom Uno-Menschenrechtsrat, von Amnesty International, Human Rights Watch und Reporter ohne Grenzen verurteilt werden.

Maximum an Informationen und Ansichten ist notwendig

Zensur ist genau der falsche Ansatz. Gerade jetzt, inmitten einer militärischen Konfrontation, die den gesamten Planeten und das Überleben der Menschheit gefährden kann, ist es notwendig, ein Maximum an Informationen und Ansichten zu haben. Es ist insbesondere notwendig, Zugang zu einer fundierten Analyse zu haben, die sich auf die Uno-Charta und das Völkerrecht stützt. Wir müssen uns bemühen, die Optionen, die Nuancen und die abweichenden Meinungen zu verstehen, um die Komplexität der Probleme zu erfassen, die sicherlich nicht schwarz und weiss sind. Wir müssen uns davor hüten, uns auf «patriotische» Zugpferde einzulassen und den Weg von Orwells Ministerium für Wahrheit einzuschlagen.

Wie kann die EU die Zensur in Russland und China kritisieren, wenn europäische Länder ebenfalls Zensur praktizieren?

Das zensierte Interview

Hier ist der Text des zensierten Interviews:

Sputnik Am 19. März 2003 begann Washingtons Operation «Shock and Awe» unter einem völlig falschen Vorwand. Sie sagen, dass es keinen so schwerwiegenden Verstoss gegen die Nürnberger Prinzipien gegeben hat wie die Invasion, Besetzung und Verwüstung des Irak im Jahr 2003. Wie meinen Sie das?

Alfred de Zayas Es war ein regelrechter Aufstand gegen die Nürnberger Prinzipien, das Völkerrecht und die internationale Ordnung. «Shock and Awe» bedeutete die Anhäufung von Aggressionsverbrechen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit – und das alles in völliger Straffreiheit. Das Ausmass der Operation, die Bösartigkeit der Bombardierung, die Zerstörung von Weltkultur­erbestätten und Museen, der ­Einsatz von weissem Phosphor und Streubomben, die weit verbreitete ­Folter in Abu Ghraib und anderen Gefängnissen, einschliess­lich Guantanamo, das Programm der «ausserordentlichen Überstellungen» – all dies stellte einen «Schock und Schrecken» für die irakische Bevölkerung dar, eine Demonstration imperialer Macht, die die Welt von Amerikas Hegemonie überzeugen sollte. Nicht nur der inkompetente Präsident George W. Bush und seine falkenhaften Neocons-Berater steckten hinter dieser Greueltat. Bush zog die «Koalition der Willigen» hinzu – 43 Länder, die angeblich dem Völkerrecht und den Menschenrechten verpflichtet waren – machte Bush zu Komplizen bei dem Angriff auf ein unglückliches Land und seine Bevölkerung. Das Ziel war der «Regimewechsel», der Sturz der irakischen Regierung von Saddam Hussein, der Raub des irakischen Öls und die Stärkung der geopolitischen Präsenz der Nato im Nahen Osten. Es handelte sich in der Tat um «Schock und Schrecken» bei der kollektiven Verwüstung eines Landes, das niemanden bedrohte.

Vergessen wir nicht, dass der Uno-Sicherheitsrat bereits seit 1991 mit der Situation im Irak befasst war, dass es keinen Grund und keine Dringlichkeit gab, etwas gegen die irakische Regierung zu unternehmen, die bereits mit der Uno seit Jahren kooperierte. Zwei Inspektoren der Uno führten ihre Arbeit vor Ort aus – eine systematische Suche nach Massenvernichtungswaffen – und fanden keine. Hans Blix und Mohamed El Baradei wurden beide von den Vereinigten Staaten bedroht, um sie zu der falschen Feststellung zu bewegen, dass Saddam Hussein gegen die einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrates «wesentlich verstossen» habe. Dies hätte den USA einen «Vorwand», einen Mantel der Legalität geliefert, um mit dem Segen des Sicherheitsrats in den Irak einzumarschieren. Aber Blix und El Baradei haben die magischen Worte «materielle Verletzung» nicht ausgesprochen, und die Uno musste ihre Inspektoren abziehen, weil es offensichtlich wurde, dass die USA mit oder ohne Zustimmung des Sicherheitsrats angreifen würden. Die ganze Operation war kriminell und vorsätzlich. 

Es ist eine Schande, dass 90 % der westlichen Medien «Shock and Awe» unterstützten und die ­gefälschten Nachrichten und ­Geheimdienstinformationen aus Washington und London verbreiteten. Es ist klar, dass George W. Bush und Tony Blair vor ein internationales Strafgericht hätten gestellt werden müssen. Aber nein. Sie und die anderen «Führer» demokratischer Länder, die sich an den Bombardierungen und Plünderungen beteiligten, blieben straffrei. In Kuala Lumpur konnte 2011 ein Völkertribunal einberufen werden, und die Richter haben sowohl Bush als auch Blair verurteilt. Ich habe den Fall persönlich mit einem der Richter diskutiert, mit Prof. Dr. Richard Falk von der Universität Princeton.

Laut dem Quincy Institute for Responsible Statecraft haben die westlichen Medien eine grosse Rolle bei der Beschönigung der illegalen US-Kampagne gespielt. Wie beurteilen Sie die Rolle der westlichen Medien im Weltgeschehen, wenn man bedenkt, dass sie zum acht Jahre währenden Völkermord an den russischsprachigen Menschen im Donbas immer noch schweigen und heute mit unwahren und verzerrten Darstellungen über russische Sondereinsätze hausieren gehen? 

Die westlichen Medien sind mitschuldig an den Verbrechen der Nato nicht nur im Irak, sondern auch in Afghanistan, Libyen und Syrien. Unsere Konzernmedien (ich bin amerikanischer Staatsbürger) betreiben eklatante Kriegspropaganda und hetzen zum Hass auf – 2003 gegen den Irak und das irakische Volk, das Saddam Hussein unterstützt hat, und heute gegen Russland und die Russen, die als Aggressoren und grobe Menschenrechtsverletzer dargestellt werden. Diese russophobe Propaganda hat nicht erst im Jahr 2022 begonnen – sie hat eine lange Geschichte, die bis in die 1950er Jahre und zu Joe McCarthy zurückreicht, bis zur Dämonisierung von Breschnew und Andropow und in jüngerer Zeit von Wladimir Putin. Die Medien verstossen systematisch gegen Artikel 20 Absatz 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, der Kriegspropaganda verbietet, und gegen Artikel 20 Absatz 2, der die Aufstachelung zu Rassenhass und Gewalt verbietet. Natürlich stehen unsere Konzernmedien im Dienste des Hegemons, und ihre Aufgabe ist es, als Echokammern für alles zu fungieren, was das Weisse Haus, das Pentagon, die CIA und der MI5 der Öffentlichkeit verkaufen wollen. Sie waren an der Dämonisierung von Saddam Hussein und an der Hysterie im Vorfeld der Invasion beteiligt, die Uno-Generalsekretär Kofi Annan wiederholt als «illegalen Krieg» bezeichnete. Unsere Medien verbreiten nicht nur «Fake News» und Scheinargumente, sie unterdrücken auch unbequeme Fakten, darunter die massiven Verstösse der Ukraine gegen die Minsker Abkommen von 2014 und 2015, den brutalen Beschuss von Lugansk und Donezk, die Zerstörung von Krankenhäusern und Schulen. Wer sich über die Geschehnisse in der Ukraine informieren will, muss auch RT, Sputnik, CGTN, Asia Times, Telesur, Prensa Latina und «alternative Medien» wie Greyzone, The Intercept, Consortium News und Counterpunch konsultieren.

Die Nato-Staaten haben in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Somalia und Syrien Kriege angezettelt und Greueltaten begangen. Bisher wurde jedoch niemand dafür zur Verantwortung gezogen. Ausserdem hat der IStGH [Internationaler Strafgerichtshof] in den Augen der USA keine Zuständigkeit, keine Legitimität und keine Autorität. Wie stehen Sie zu dieser Situation?

Ich stimme teilweise mit den USA überein, dass der IStGH wenig oder gar keine Autorität und Glaubwürdigkeit besitzt. Ich stimme den USA insofern nicht zu, als ich mir einen energischen, objektiven und proaktiven IStGH wünschen würde, der nicht nur für afrikanische Staatsoberhäupter und Militärs zuständig wäre, sondern der auch den Mut und die Unabhängigkeit hätte, Personen aus westlichen Ländern anzuklagen. Sicherlich verdienen es George W. Bush, Tony Blair, Dick Cheney, Paul Wolfowitz, John Bolton, Barack Obama, Donald Trump und Joe Biden, angeklagt zu werden – wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit, wegen der «Kollateralschäden», die durch den wahllosen Einsatz von Drohnen verursacht wurden, wegen des Einsatzes von verbotenen Waffen und Waffen mit abgereichertem Uran und lang anhaltender radioaktiver Wirkung. Der IStGH wird in der Tat nur dann glaubwürdig sein, wenn er sich entschliesst, die «grossen Fische» zu verfolgen. Bislang scheint der IStGH vor allem den Interessen der westlichen Länder zu dienen und weiterhin als Deckmantel für die Verbrechen des Westens zu fungieren, indem er sich nur auf die Verbrechen der «kleinen Fische» konzentriert.

Könnte man die Nato als «kriminelle Organisation» im Sinne von Artikel 9 des Römischen Statuts vom 8. August 1945 – dem Statut des Nürnberger Tribunals – qualifizieren? Gibt es dafür hinreichende Beweise und die notwendigen Voraussetzungen? Wie könnte dies geschehen?

Ich würde mir wünschen, dass Amnesty International und Human Rights Watch das Kind beim Namen nennen. Ich würde mir wünschen, dass der Uno-Generalsekretär und der Uno-Hochkommissar für Menschenrechte mehr als nur «Friedens»-Rhetorik betreiben, sondern einen umsetzbaren Plan formulieren, der eine Sicherheitsarchitektur für alle Länder in Europa und der Welt garantiert. Ich würde mir wünschen, dass der Generalsekretär die Ziele und Grundsätze der Uno-Charta verteidigt, einschliesslich der souveränen Gleichheit der Staaten und des Selbstbestimmungsrechts aller Völker, einschliesslich der Völker der Krim und des Donbas.

Es ist an der Zeit, ein Ende der Straflosigkeit für das Verbrechen der Aggression, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit zu fordern. Es ist an der Zeit, den Internationalen Gerichtshof aufzufordern, in einem Gutachten festzustellen, dass die Osterweiterung der Nato eine «Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung» im Sinne von Artikel 39 der Uno-Charta darstellt und einen Verstoss gegen Artikel 2, Absatz 4 der Charta bedeutet, der nicht nur die Anwendung von Gewalt, sondern auch die Androhung von Gewalt verbietet. Wie sonst lässt sich die kontinuierliche Ausweitung der Nato unter Verletzung der Gorbatschow 1989, 1990 und 1991 gegebenen Zusicherungen beschreiben? Wie sonst lässt sich die massive Aufrüstung der Ukraine beschreiben, die nur einem einzigen Zweck dient – Russland einzuschüchtern? Die Nato ist mit ­Sicherheit kein «Verteidigungsbündnis» – zumindest nicht seit der Auflösung des Warschauer Paktes im Jahr 1991. Die Nato hat versucht, die Rolle des Uno-Sicherheitsrats, der die alleinige Verantwortung für die Wahrung von Frieden und Sicherheit in der Welt trägt, an sich zu reissen. Da der Sicherheitsrat natürlich niemals zustimmen wird, dem Rest der Welt eine «Pax Americana» aufzuerlegen, übernimmt die Nato einseitig die Rolle des imperialen Polizisten über den Globus und errichtet Hunderte von Militärstützpunkte, die nicht nur Russland, sondern auch China einkreisen sollen.

Es sollte die Aufgabe des Internationalen Strafgerichtshofs sein, die von den Nato-Staaten in Jugos­lawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit zu untersuchen. Diese Verbrechen sind nicht nur in den Veröffentlichungen von Wikileaks dokumentiert, sondern auch in Berichten der Vereinten Nationen und unzähligen Augenzeugen- und Opferberichten. Ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs könnte sich mit der Frage befassen, ob die Anzahl und das Ausmass dieser Verbrechen die Nato als «kriminelle Organisation» im Sinne von Artikel 9 des Londoner Abkommens vom 8. August 1945 qualifizieren. Natürlich gibt es ernsthafte Probleme mit dem Konzept einer «kriminellen Organisation», denn wir alle glauben an individuelle Gerechtigkeit und nicht an Schuld durch Assoziation. Wir lehnen jede Pauschalisierung ab. Es wäre notwendig, die Unschuldsvermutung für alle Mitglieder einer «kriminellen Organisation» zu gewährleisten und ein ordnungsgemässes Verfahren zu garantieren, wie es in Artikel 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vorgesehen ist. Es müssen jedoch Fragen zu den von der Nato und den Nato-Staaten begangenen Verbrechen gestellt werden. In Anbetracht der Tatsache, dass die Nato seit langem Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit begangen hat, ist es wichtig, dass die Geschichte diese traurige Realität festhält und dass die Zivilgesellschaft in aller Welt die Propagandanarrative zurückweist und von der Führung der USA und aller Nato-Staaten mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht verlangt. Hier liegt eine Aufgabe für den Internationalen Strafgerichtshof – zu prüfen, ob die Verstösse der Nato-Staaten gegen die Artikel 5, 6, 7 und 8 des Statuts von Rom die Bezeichnung der Nato als «kriminelle Organisation» rechtfertigen. Unterm Strich: Das Völkerrecht ist per Definition universell, und es muss nicht nur gegen kleine Länder, sondern gegen alle Mitglieder der internationalen Gemeinschaft durchgesetzt werden, und zwar objektiv und ohne doppelte Standards.

Quelle: www.counterpunch.org/2022/03/25/when-the-good-guys-censor/  vom 25. März 2022

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

http://alfreddezayas.com/

 

Was dürfen wir hoffen?

von Dr. phil. Carl Bossard*

Dr. phil. Carl Bossard (Bild zvg)
Dr. phil. Carl Bossard (Bild zvg)

Der Krieg in der Ukraine kommt auch bei uns in die Kinderzimmer und in die Schulstuben. Via Medien. Die Bilder belasten. Was können Lehrerinnen und Pädagogen tun? Um standhalten und Halt geben zu können, braucht es ein geistiges Fundament.

Bilder haben Macht. Das spüren Lehrerinnen und Lehrer im Gespräch mit ihren Schülerinnen und Schülern in diesen Tagen ganz besonders. Über YouTube, TikTok und andere soziale Netzwerke sind Kinder und Jugendliche direkt mit dem Ukrainekonflikt konfrontiert. Oft sind sie dabei allein. Das Gesehene tragen sie in den Unterricht. Es belastet und bedrückt sie. «Kommt der Krieg auch zu uns?», fragen sie und wollen wissen: «Warum denn gibt es diese Kämpfe?». Zu Hause bekommen sie auf ihre Fragen nicht selten keine Antwort. Lehrerinnen und Pädagogen sind für manche Kinder die einzigen Ansprechpersonen.

Kants aufklärerische Hoffnung

Doch was sagen Lehrpersonen? Wie reagieren sie? Der Philosoph Immanuel Kant sprach von einer Pflicht zur Zuversicht. Sie gilt gerade in prekären Zeiten. Kinder müssen dies von Erwachsenen vorgelebt erhalten, auch in der Schule. Zuversicht ist etwas anderes als der naive, illusionäre Optimismus. Sie hat nichts zu tun mit dem schnell herbeizitierten positiven Denken oder gar mit dem kitschigen Blick durch die rosarote Brille. Nein, Zuversicht ist das Aufklärungsvertrauen, die geistige Widerstandskraft als menschliche Grundhaltung. Für junge Menschen eine Art mentaler Lebensversicherung und damit grundlegende Ressource des Lebens. Seelische Kräfte leben von dieser Antriebsenergie der Zuversicht. 

Vielleicht erinnern sich Lehrerinnen und Lehrer in diesen Tagen an Kants dritte Frage: «Was darf ich hoffen?». Sie bildet zusammen mit «Was kann ich wissen?» und «Was soll ich tun?» die drei Grundfragen der Philosophie. Später hat Kant das lapidare «Was ist der Mensch?» als vierte zusammenfassende Frage hinzugefügt.

Der Königsberger Aufklärer beschreibt die Geschichte als ein qualitatives Fortschreiten, das uns zu hoffen erlaubt. Ich darf hoffen, so sagt er, hoffen, dass es eine Entwicklung zu besserem Leben, weniger Gräuel und Krieg, mehr Möglichkeiten der Entfaltung und neuen Lebenschancen gibt.

Kants Grundidee zielt dahin: Die menschliche Evolution ist der Entwicklungsprozess einer Gattung, die lernen kann. Wir Menschen seien lernfähig, betont er. Darin besteht die aufklärerische Hoffnung. Gleichzeitig aber verdeutlicht der Philosoph auch: Dieses Lernen geht durch furchtbare Brüche hindurch, durch entsetzliche Katastrophen. Was dürfen wir angesichts dieser existentiellen und geschichtlichen Erfahrung hoffen? Kant sagt: Wir dürfen hoffen, dass es gut geht. Er hält daran fest trotz der Tatsache, dass die Geschichte auch Rückschläge, Brüche und Beben kennt, wie wir sie im Moment in der Ukraine dramatisch erleben. Der Mensch ist eben ein Wesen, in dem es auch Anlagen zum Bösen gibt. 

Zweifache pädagogische Verantwortung

Nicht umsonst spricht die politische Philosophin Hannah Arendt von der doppelten Form der Verantwortung von Eltern und Lehrpersonen. Beide hätten das Kind vor der Welt zu schützen und gleichzeitig die Welt vor dem Kind. Jeder Mensch trüge eben zweierlei in sich, das Gute wie das Destruktive. Darum übernähmen Erzieherinnen und Erzieher «die Verantwortung für beides, für Leben und Werden des Kindes wie für den Fortbestand der Welt». Und beides bedürfe eines Schutzes, die Welt wie das Kind.¹ «Diese beiden Verantwortungen fallen keineswegs zusammen, sie können sogar in einen gewissen Widerspruch miteinander geraten», betont Hannah Arendt weiter und weist so auf die unvermeidliche Ambivalenz der Erzieheraufgabe hin. Eines sei dabei wichtig: «Die Schönheit der Welt muss dem Kind gezeigt werden.» In ihr liegt das Hoffnungsvolle.

«Was darf ich hoffen?», fragt Kant. Hoffnung ist eine Weise der realistischen Sicht auf die Welt, die trotz allem vertraut. Vielleicht trifft der französische Dichter Romain Rolland mit seinem Satz aus dem Michelangelo-Roman das Gemeinte: «Es gibt keinen anderen Heroismus, als die Welt zu sehen, wie sie ist, und sie dennoch zu lieben.» – Wie trivial das ist. Und doch so schwer. Gerade in diesen Zeiten.

Doch Kinder brauchen genau diese Zuversicht. Schule muss angesichts des Erschreckens über Ereignisse wie den Ukraine-Krieg eben auch gegenhalten und zur Zuversicht erziehen. Das gehört zu ihrem pädagogischen Auftrag. Die Menschen stärken, die Sachen klären, wie es der Pädagoge Hartmut von Hentig einst ausgedrückt hat. 

¹ Hannah Arendt (1994): Die Krise der Erziehung. In: Dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München: Piper, S. 266f.

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