«Die USA treten das Völkerrecht mit Füssen»

«Die Nato steht im diametralen Gegensatz zur Uno»

Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Genf

Alfred de Zayas (Bild thk)
Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie ist der Überfall der USA auf den Irak heute vor 15 Jahren völkerrechtlich zu beurteilen und welche weiteren Auswirkungen hatte dieser Überfall auf die Respektierung des Völkerrechts?

Professor de Zayas Es war eine Urkatastrophe. Es ging nicht um eine banale, herkömmliche Verletzung des Völkerrechts, sondern es ging darum, das Völkerrecht ganz und gar auszuschalten und durch die imperiale Diktaur der Vereinigten Staaten zu ersetzen. Seit 1945 hat es keine so umfassende Verletzung der allgemeinen völkerrechtlichen Normen und Sitten mehr gegeben wie im März 2003. 

Wie kommen Sie zu dieser Beurteilung?

Es ging um eine völlig unprovozierte Vergewaltigung eines Volkes durch die USA mit der kriminellen Unterstützung von einer sogenannten Koalition der Willigen, von 43 Staaten, die die Aggression der Vereinigten Staaten mitgetragen haben. Unter diesen Staaten befanden sich eine Reihe europäischer, angeblich «demokratischer» Staaten, die gegen den Willen ihrer eigenen Völker – es gingen Millionen von Menschen in den europäischen Metropolen auf die Strasse, in Rom, Mailand, Madrid, Barcelona, London etc. – in den Krieg gingen. Und dies trotz der Proteste der Bürger gegen den geplanten Mord, gegen die Manipulation der öffentlichen Meinung, gegen diese Lügen über angebliche Lager von Massenvernichtungswaffen.

Ein klarer Verstoss gegen das Völkerrecht also?

Ja, schockierend war, dass die Staaten bewusst die Uno-Charta zur Seite schoben, als ob sie nicht mehr relevant wäre und bewusst Artikel 2 Abs. 3 und Abs. 4 der Charta verletzt haben. Zu der Zeit waren Hans Blix und Mohammed el-Baradei Uno-Inspektoren in Bagdad, und sie hatten damals festgestellt, dass keine Massenvernichtungswaffen vorhanden waren. Die beiden waren im Auftrag des Uno-Sicherheitsrats dort, und es gab natürlich keine Uno-Resolution, die eine militärische Aktion hätte rechtfertigen können. Trotzdem haben 44 Staaten diese Urverletzung des Völkerrechts unterstützt. 

Hätten diese Staaten nicht zur Rechenschaft gezogen werden müssen …

… ja, schon allein deswegen, weil der Krieg ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Statuts von Rom stattfand, das den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) ins Leben gerufen hatte. Hier lag nicht nur ein Verbrechen der Aggression vor, sondern darauffolgend Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit.

Was macht der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag?

Dieser beschäftigt sich mit den kleineren Verbrechern von Afrikanern, und die grossen wie George W. Bush oder Tony Blair, Dick Cheney, Paul Wolfowitz, Richard Pearl, Donald Rumsfeld u. a. laufen alle frei herum. Diejenigen, die an der Vergewaltigung eines Volkes mitgewirkt, die über eine Million Opfer auf dem Gewissen haben, sie sind in keiner Weise belangt worden. Darum handelt es sich um eine Urkatastrophe im Sinne der internationalen Ordnung. Wehe, wenn die Organe, die die Menschheit schützen sollen, uns verraten, wenn die Instrumente der «Justiz» nicht justizfähig sind.

Was heisst «im Sinne der internationalen Ordnung»?

Die internationale Ordnung muss auf bestimmten Prinzipien basieren. In meinem letzten Bericht an den Uno-Menschenrechtsrat habe ich 23 solcher Prinzipien der Weltordnung formuliert. Das Prinzip der Friedenserhaltung, das Prinzip des Dialogs, also sämtliche Differenzen durch friedliche Mittel auf dem Verhandlungsweg zu lösen, wurde von der «Koalition der Willigen» am 20. März 2003 über Bord geworfen. Plötzlich galt die Uno-Charta nicht mehr, und die Uno war ganz und gar irrelevant. Es gab keine Grundlagen für eine friedliche internationale Ordnung mehr, sondern es zählte nur der Wille des Hegemons in Washington. 

Gab es nicht schon vorher Tendenzen, das Völkerrecht, im besonderen die Uno-Charta, auszuschalten?

Ja, natürlich, wir hatten bereits ein paar Jahre früher einen sogenannten Testlauf, eine Probe. Denn im Jahre 1999 wurde Jugos­lawien ohne eine Resolution des Uno-Sicherheitsrates, ohne Provokation seitens Jugoslawiens von der Nato angegriffen – natürlich mit absurden Vorwänden. Schon wieder ein Verbrechen gegen den Frieden im Sinne des Artikels 6a des Statuts des Nürnberger Tribunals nach dem Londoner Abkommen vom 8. August 1945. Das, was in den Nürnberger Prozessen 1945-46 konsequent gegen Jo­achim von Ribbentrop, gegen Hermann Göring und die grossen Nazis angewendet und ihre Ver­­brechen geahndet wurden, nämlich das Urverbrechen der Aggression wurde von der Nato bei völliger Straflosigkeit begangen. Was 1999 von der USA im Verbund mit der Nato ausprobiert wurde, setzte sich 2001 in Afghanistan fort und dann ganz massiv 2003 im Irak. Ein Artikel aus meiner Feder, der am 20. März 2003 in der «Welt» veröffentlicht wurde, trug den einfachen Titel: «Dieser Krieg ist völkerrechtswidrig».

Was haben Sie in diesem Artikel dargelegt?

Es ging darum, unter welchen Umständen man nach der internationalen Ordnung, also der Uno-Charta, Gewalt anwenden könnte. Ich bin zu dem klaren Schluss gekommen, dass in diesem Fall keine Gewalt angewendet werden durfte. Zumal der Uno-Sicherheitsrat bereits damit beschäftigt war, mit Inspektoren in Bagdad, im Irak zu untersuchen, ob es überhaupt noch Massenvernichtungswaffen dort gebe. 

Inwieweit hat der massive Bruch des Völkerrechts im weiteren Verlauf der Geschichte Auswirkungen gehabt?

Es war ein sehr gefährlicher Präzedenzfall, und wir haben es gesehen, wie weiterhin einige mächtige Staaten so handeln, als ob sie das Völkerrecht zur Seite geschoben hätten, als ob das Völkerrecht nicht mehr gelte.

Was für einen Vorgang haben Sie dabei im Blickfeld?

Das war im Jahr 2011, als die Nato mit massiven Luftschlägen Libyen zerstört hat. Eigentlich hätte es sich um humanitäre Hilfe handeln müssen. Es ging aber um den verbrecherischen Missbrauch des Sicherheitsrates und die ad absurdum Ausweitung der Resolution 1973, die lediglich eine humanitäre Hilfe für das leidende Volk in Libyen vorgesehen hatte. Niemals hätte der Sicherheitsrat grünes Licht für einen Krieg gegen Libyen gegeben. Aus einer humanitären Resolution wurde eine massive Aggression gegen die Regierung Gaddafi. Wir sehen es überall in der Welt, dass die USA das Völkerrecht mit Füssen treten und agieren, als ob sie legibus solutus wären. Der Internationale Strafgerichtshof hat bisher niemanden für die Aggressionen und Kriegsverbrechen in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien zur Rechenschaft gezogen. Deshalb bin ich für eine Abschaffung des ICC, als dieses Tribunal weiterhin als eine Maskerade laufen zu lassen. Er hätte nur dann eine Legitimation, wenn die grossen Verbrecher wie Bush, Blair usw. belangt würden. 

Wie sieht es mit dem heutigen Präsidenten der USA aus?

Auch er müsste wegen der illegalen Einmischung der USA im Syrien-Krieg, wegen der Unterstützung des verbrecherischen Krieges Saudi-Arabiens gegen Jemen, wegen der Unterstützung und Finanzierung der Verbrechen des Staates Israel in Palästina und Gaza –  aber auch wegen der Sanktionen gegen Kuba und Venezuela belangt werden. Artikel 7 des Statuts von Rom verbietet Verbrechen gegen die Menschheit. Sicherlich liegt ein Verbrechen gegen die Menschheit vor, wenn unilaterale Sanktionen aus geopolitischen und ökonomischen Gründen verhängt werden und als Folge davon die medizinische Versorgung beeinträchtigt wird. Menschen sterben, weil sie kein Insulin oder keine Antimalaria-Mittel bekommen können. Menschen sterben aufgrund mangelnder Lebensmittel an Unterernährung. 

Was kann man dagegen tun?

Man muss die Anzahl der Fälle zusammenstellen, um beweisen zu können, dass diese Sanktionen nicht harmlose politische Sanktionen sind, sondern sie töten Menschen. Das wäre durchaus eine Sache, die die Existenz eines Internationalen Strafgerichtshofs rechtfertigen würde. Bisher sind es vor allem Afrikaner, die vor diesem Tribunal stehen. Es ist durch und durch eine unbefriedigende Situation, die die Glaubwürdigkeit nicht nur des Tribunals, sondern auch der Uno in Frage stellt.

Lassen Sie uns nochmals auf die Bedeutung des 20. März 2003 zurückkommen.

Ja, es war ein Versuch, die Irrelevanz der Uno zu beweisen. Eine massive Verletzung des Völkerrechts konnte geschehen, und die Uno unternahm nichts dagegen. Selbst der damalige Generalsekretär der Uno, Kofi Annan, hat zunächst gesagt, dass dieser Krieg nicht im Einklang mit der Uno-Charta stehe, und als er von der Presse bedrängt wurde, sagte er im Klartext, der Krieg sei illegal. Dies geschah aber ohne Konsequenzen für die Verbrecher. 

Besteht aktuell die Gefahr, dass die USA erneut nach beschriebenem Muster vorgeht?

Wir haben drei Situationen: 2003 im Irak, 2011 in Libyen und heute wird Venezuela bedroht. Rex Tillerson, der ehemalige Aussenminister der USA, hat klar angedeutet, dass eine militärische Aktion gegen Venezuela durchaus denkbar wäre. Das ist eine klare Drohung. Natürlich wäre diese Aktion illegal, aber die USA kümmern sich kaum darum, ob eine Aktion illegal ist oder nicht. 

Beim Irakkrieg 2003 hatten Frankreich und Deutschland eine andere Haltung eingenommen.

Ja, was fehlt, ist ein Widerstandswille gegen das hegemoniale Gebaren der USA. Die Nato ist eine kriminelle Organisation im Sinne des Nürnberger Statuts. Ich kann das nicht anders bezeichnen. Die Nato ist da, andere Staaten zu bedrohen und unter Umständen auch anzugreifen. Seit der Warschauer Pakt aufgelöst ist, gibt es keine Legitimation mehr für die Nato. Die Nato steht im diametralen Gegensatz zur Uno, da sie sich weder an der Uno-Charta noch an das dort festgehaltene Gewaltverbot hält. Wir sehen eine Erosion des Völkerrechts und eine Zerstörung der wichtigsten völkerrechtlichen Normen. In dem Sinn leben wir in einer gefährlichen Zeit.

Womit hängt es zusammen, dass der Widerstandswille gegen diese Entwicklungen nicht stärker sichtbar ist?

Das hängt unter anderem auch mit unseren Medien zusammen. Dabei geht es nicht nur um «Fake news». Was fehlt, ist, dass sich die Menschen ein umfassendes Bild machen können, was auf der Erde geschieht und so einen Standpunkt bekommen. Wir sehen das zum Beispiel in Syrien. Syrien ist ein Proxy-Krieg. Es ist ein künstlicher Krieg. Hier hätte man ohne die Einmischung der USA, Saudi-Arabiens, Israels und der Türkei keinen Krieg. Hier waren gewalttätige Demonstration im Jahre 2011, die die Syrer ohne weiteres untereinander hätten regeln können. Aber durch den völkerrechtswidrigen Eingriff der anderen Staaten ist das Ganze zu einem internationalen Krieg eskaliert. Die Medien berichten aber einseitig, sie unterdrücken wichtige Fakten, sie lügen. Widerstandswille kann nur durch umfassende Information und moralische Empörung erzeugt werden.

Wie beurteilen Sie die Rolle Russlands?

Russland ist der einzige Staat, der in Syrien legal agiert. Russland wurde offiziell von Syrien um Unterstützung angefragt. Bei einem Bürgerkrieg darf sich kein dritter Staat einmischen, es sei denn, er wird von der legitimen Regierung angefragt. Russland hat aber auch in seiner Kriegsführung das Prinzip der Proportionalität eingehalten. Es hat nicht mehr gemacht als militärisch vertretbar und notwendig war. Die Verhältnismässigkeit ist hier eingehalten worden. 

Welche Rolle spielen in diesem Konflikt die Medien?

Wir hören ständig von chemischen Waffen, aber eine ordentliche Beweisführung erfolgt nicht, obwohl die Regierung in Syrien das mehrfach verlangt hat. Es werden Behauptungen und Vorwürfe formuliert. Was nicht ins Bild passt, wird unterdrückt. Zum Beispiel am Freitag, 16. März, als syrische Truppen einen Teil von Ost-Ghouta zurück­erobert hatten, fanden sie dort eine chemische Waffenfabrik, die Terroristen betrieben hatten. Das habe ich in mehreren alternativen Nachrichten lesen können. Vor allem ein Artikel von einer Amerikanerin, die diese Fragen stellt. Das erklärt vieles und deshalb wird diese Erkenntnis unterdrückt. 

Die Einseitigkeit der Medien lässt sich auch in der Berichterstattung über Jemen erkennen …

… ja, man erfährt sehr wenig über die täglichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit dort. Dabei spielt sich dort eine fürchterliche humanitäre Krise ab. Es sind dort unter der Führung Saudi-Arabiens mehr als 10  000 Zivilisten getötet worden, drei Millionen sind auf der Flucht, aber die Medien ignorieren das. Auch der Hochkommissar für Menschenrechte und der Uno-Menschenrechtsrat sprechen wenig darüber. Stattdessen verlangt der Hochkommissar, dass eine Kommission eingesetzt wird, um die Situation in Venezuela zu untersuchen, wo keine humanitäre Krise herrscht, sondern eine durch Sanktionen verursachte künstliche Krise in der Versorgung von einigen Lebensmitteln und von Arzneimitteln und medizinischem Gerät. 

Was spielt er für ein Spiel?

Als der Hochkommissar letztes Jahr einen Bericht zu Venezuela veröffentlichte, übrigens einen Bericht, der ultra vires war, denn die Resolution 48/141, die sein Amt begründete, gibt ihm nicht die Kompetenz, motu proprio einen solchen Bericht zu verfassen, ausser er wird von der Generalversammlung oder dem Menschenrechtsrat dazu aufgefordert, das zu tun. Er hat das ohne Auftrag getan und sich mit der Opposition getroffen und ein absolut einseitiges Machwerk verfasst. Dadurch wird die Glaubwürdigkeit des Amtes zerstört. 

Was kann im Falle Venezuelas getan werden?

Russland und China sollten das vor den Sicherheitsrat unter dem Aspekt der konstanten Bedrohung Venezuelas bringen, was in der Tradition der Aggressionen seit 1999 liegt. Auch die Generalversammlung sollte eine Resolution annehmen, so ähnlich wie die Resolutionen, die die US-Sanktionen gegen Kuba verurteilten und ein Aufheben dieser verlangten. Dasselbe sollte nun auch für Venezuela geschehen. Man hätte sicher genug Stimmen dafür. Wenn die Blockfreien und die Gruppe der 77 sich zusammenschlössen, hätte man mehr als genug Staaten, um eine Resolution durchzubekommen. Dabei muss man klar festsstellen, dass Öl die Ursache der Bedrohung und der Aggressionen ist. Der Irak wurde 2003 auseinandergerissen, um ihm das Öl stehlen zu können. Libyen kam 2011 an die Reihe. Was passiert nun mit den grössten Ölreserven der Welt, nämlich in Venezuela? Man muss eine Aggression durch Information, Empörung und Widerstandswillen verhindern. 

Was muss die Resolution beinhalten?

Sie sollt die Sanktionen als ein Verbrechen gegen die Menschheit erklären. Als Resolution der Generalversammlung: Wenn Kinder an Unterernährung sterben und Menschen sterben, weil sie keine Krebstherapien machen können oder keine Medikamente gegen Malaria oder Diabetes bekommen, dann ist das Tötung. Das soll auch als Tötung bezeichnet werden. Der Staat, der das verursacht hat, muss belangt werden, muss Reparationen bezahlen und muss auch strafrechtlich vor dem Internationalen Strafgerichtshof belangt werden. Das kann die Generalversammlung veranlassen. Sie kann auch ein Gutachten vom Internationalen Gerichtshof verlangen zur Frage: Bedeuten Sanktionen, die töten, ein Verbrechen gegen die Menschheit? Wenn diese Frage von der Generalversammlung auf die Stufe des Internationalen Gerichtshofs gehoben wird, glaube ich nicht, dass der Internationale Gerichtshof anders beurteilen kann als hier dargelegt; denn Sanktionen töten.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Genf

Bundesrat verhängt illegale Sanktionen gegen Venezuela

thk. Klammheimlich und ohne grosses Medienecho hat der Bundesrat gegen den souveränen Staat und das Uno-Mitglied Venezuela Sanktionen ergriffen und sich dabei willfährig der EU angeschlossen.¹ Völkerrechtlich ist dieser Vorgang höchst problematisch. Sanktionen gegen einen Staat kann nur der Uno-Sicherheitsrat erlassen. Einseitige Zwangsmassnahmen, wie sie vom Bundesrat beschlossen wurden, widersprechen dieser völkerrechtlichen Maxime. 

Venezuela ist seit der Bolivarischen Revolution unter Hugo Chavéz schwersten Anfeindungen aus dem Ausland ausgesetzt, die insbesondere von den USA und ihren Vasallen gesteuert werden.² Sogar Rex Tillerson (vgl. Interview mit Alfred de Zayas S. 1ff.), seines Zeichens Aussenminister, schloss vor kurzem eine militärische Intervention in Venezuela nicht aus. Das Land wird seit Jahren wirtschaftlich und finanziell von den USA und ihren Verbündeten unter Druck gesetzt, was sich verheerend auf die Versorgungslage im Land ausgewirkt hat. Das Strickmuster ist immer das gleiche: Wenn ein Staat den von den USA verlangten neoliberalen Kurs nicht mittragen will, wird er unter Druck gesetzt und im schlimmsten Fall mit Krieg überzogen. Als Begründung werden meistens Menschenrechtsverletzungen oder mangelndes demokratisches Verhalten bemüht. Dass dieses Vorgehen die grösste Verletzung der Menschenrechte und des Völkerrechts bedeutet, wird von den Medien meist ignoriert. Schon mehrmals haben sich die Menschen nach Bekanntwerden der wirklichen Gründe schmerzlich die Augen gerieben – die unschuldigen Toten werden dadurch nicht wieder lebendig. Dieses Vorgehen ist sattsam bekannt und lässt sich seit Jahrzehnten beobachten. Umso stossender ist es, dass der Bundesrat, unterzeichnet von Bundespräsident Alain Berset und Bundeskanzler Walter Thurnherr³, ebenfalls Sanktionen gegen Venezuela erlässt, anstatt sich als neutraler Staat um die Beilegung des Konflikts zu bemühen. Der erst neu amtierende Vorsteher des Departements für auswärtige Angelegenheiten, Bundesrat Ignazio Cassis, könnte auf der Weltbühne eine konstruktive Rolle spielen, anstatt Sanktionen der EU nachzuvollziehen. So sieht keine eigenständige Politik aus. Die Neutralität der Schweiz ist geradezu prädestiniert, hier vermittelnd und schlichtend zu wirken, anstatt Öl ins Feuer zu giessen.

¹ Pressmitteilung Sanktionen gegenüber Venezuela 28.03.2018; www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-70265.html
² Le Courrier vom 6. April 2018, «Les sanctions sont idéologiques», Interview mit Walter Suter

³ Verordnung über Massnahmen gegenüber Venezuela vom 28. März 2018; www.seco.admin.ch/seco/de/home/Aussenwirtschaftspolitik_Wirtschaftliche_Zusammenarbeit/Wirtschaftsbeziehungen/exportkontrollen-und-sanktionen/sanktionen-embargos/sanktionsmassnahmen/massnahmen-gegenueber-venezuela.html

«Wir werden 7 Länder in 5 Jahren angreifen: Irak, Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan und zu guter Letzt Iran …»

hhg. Am 4. März 2018 wurde der ehemalige russische Agent Sergej Skripal und seine Tochter im süd­englischen Salisbury mit Vergiftungssymptomen aufgefunden. «Höchstwahrscheinlich» stecke Russland dahinter, behauptete wenig später die britische Premierministerin Theresa May, verhängte Sanktionen und wies 23 russische Diplomaten aus. Neben den USA und Deutschland übernahmen 13 EU Staaten dieses Vorgehen. Russlands Angebot zur Zusammenarbeit bei der Aufklärung lehnte May ab. Anfang April meldete das Forschungszentrum des britischen Verteidigungsministeriums man habe «nicht die genaue Herkunft» aus Russland nachweisen können.

Bevor überhaupt untersucht wurde, stand für May der Schuldige fest? Warum wurde mit Sanktionen nicht gewartet, bis der Fall seriös aufgeklärt worden ist? Müsste England nicht die Konsequenzen ziehen aus Tony Blairs Kriegslügen von 2003? Man hat diese noch im Ohr: 

«Am Dienstag habe ich den britischen Streitkräften den Befehl gegeben, sich an Kampfmassnahmen im Irak zu beteiligen. (…) Ihre Aufgabe: Saddam Hussein zu entmachten und dem Irak seine Massenvernichtungswaffen zu nehmen.» Massenvernichtungswaffen gab es keine. Aber 250 000 Menschen, darunter 180 000 Zivilisten, die ihr Leben verloren, Bürgerkrieg, Not und Elend für das einst blühende Land und den Nahen Osten bis heute. (Webseite Iraq Body Count)

Dass der Angriff auf den Irak bereits 2001 feststand, bekennt Wesley Clark, pensionierter 4-Sterne General der U.S.Army und Supreme Allied Commander der NATO während des Krieges gegen Jugoslawien von 1999, in einem Interview Jahre später: «Etwa zehn Tage nach 9/11 ging ich durch das Pentagon (…) einer der Generäle rief mich. Er sagte: ‹Sir, Ich möchte Sie kurz sprechen. (…) Wir haben beschlossen, den Irak anzugreifen.› (…) Einige Wochen später als der Krieg gegen Afghanistan bereits begonnen hatte, sah ich ihn wieder und fragte: ‹Wollen wir den Irak immer noch angreifen?› Er sagte: ‹Oh, es ist schlimmer als das.› Er nahm von seinem Schreibtisch ein Blatt und sagte: ‹Ich habe das gerade heute von oben erhalten – gemeint war der Verteidigungsminister. Und er sagte: ‹Das ist eine Aktennotiz, die beschreibt, wie wir sieben Länder in fünf Jahren angreifen werden, beginnend mit Irak, und dann Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan, und zum Schluss Iran.›»

Wäre es nicht an der Zeit sich von der Manipulation gewisser Massenmedien zu befreien und aus der Geschichte zu lernen? 

Quelle: Video Interview with General Wesley Clark and Amy Goodman, Democracy Now, 2 March 2007, on Global Research  February 06.2018.

Kriege und bewaffnete Konflikte sind die Haupt­ursachen für Hungerkrisen

Die Jahrestagung der Humanitären Hilfe und des Schweizerischen Korps für Humanitären Hilfe

von Thomas Kaiser, Biel

In seiner Rede an der Jahrestagung der Humanitären Hilfe und des Humanitären Hilfe Korps betonte Bundesrat Ignazio Cassis, dass wir in einer äusserst paradoxen Situation leben. Die weltweit produzierten Kalorien übersteigen das Doppelte der zum Leben aller Menschen benötigten Menge und dennoch hungern fast ein Neuntel der Weltbevölkerung. Mit anderen Worten, wir könnten schon heute die doppelte Anzahl der aktuellen Weltbevölkerung ernähren. Dennoch sind so viele Menschen von Unterernährung und gar vom Hungertod betroffen. Das müsste nicht sein. 

Die Zahlen sind erschreckend: Fast eine Milliarde Menschen leidet unter chronischem Hunger. Davon sind 27 Millionen akut vom Hungertod bedroht. Jean Ziegler, der streitbare Soziologe und ehemalige Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, legte in seinem Buch «Wir lassen sie verhungern»¹ ungeschminkt die Ursachen und verheerenden Auswirkungen des weltweiten Hungers dar. Er sprach von «der Schande der Menschheit», wenn er über das Ausmass des von Menschen gemachten Hungers auf unserer Welt berichtete. Ein bis heute ungelöstes Problem und ein weiterer Schandfleck der Menschheitsgeschichte. Auch stellen Hunger und Mangelernährung das grösste Gesundheitsrisiko dar, weil sie für unzählige Folgeerkrankungen verantwortlich sind.

Mit dieser Menschheitsfrage beschäftigte sich auch die Humanitäre Hilfe der Schweiz an ihrer Jahresversammlung  2018, die Ende März im Kongresszentrum Biel durchgeführt wurde. Dabei kamen sowohl die Ursachen dieser Hungersnöte zur Sprache als auch Wege, die es gibt, um die Leidenden von ihren Qualen zu befreien. 

Hungerkrisen – kein unabänderliches Schicksal 

Botschafter Manuel Sager, Direktor der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), wehrt sich dagegen, dass man von Hungerkatastrophe spricht, «denn der Begriff», so Sager, «ist irreführend, weil er uns einredet, dass wir es mit einer höheren Gewalt zu tun haben, im gewissen Sinn einem Naturereignis, dessen Folgen wir zwar mildern, aber das wir letztlich nicht verhindern können». Diese Sichtweise lässt Sager nicht gelten, denn er ist der Überzeugung, dass die Menschen im Vorfeld einer sich anbahnenden Hungersnot weit mehr in der Hand hätten, als im nachhinein Hilfe zu leisten. 

Naturereignisse wie Überschwemmungen oder Dürreperioden, wie wir sie immer wieder in Asien oder Afrika feststellen müssen, haben natürlich eine Auswirkung auf die Versorgungssicherheit der betroffenen Völker und Länder, doch die Hauptursache, darin sind sich die an der Veranstaltung Mitwirkenden alle einig, sind die verschiedenen bewaffneten Konflikte, von denen diese Länder heimgesucht werden. Botschafter Manuel Bessler und Chef der Humanitären Hilfe bestätigte in seinem einführenden Referat «Krieg ist in den letzten 15 Jahren die Ursache Nummer eins von Hunger geworden.» Das betrifft z. B. Staaten wie der Jemen, Somalia, Nigeria oder Süd-Sudan, um nur ein paar wenige zu nennen. Sie leiden unter verheerenden Kriegen und Bürgerkriegen, die die Versorgungslage der Menschen, insbesondere in den schon ärmeren Regionen, weiter verschlechtert haben. 

«Kriege müssen sofort beendet werden»

Der Leiter des Welternährungsprogramms der Uno, des WFP (World Food Program), David Beasley, erhob auch den dringenden Appell, dass Kriege und Konflikte sofort beendet werden müssten. Das Ziel der Agenda 2030 sei nur zu erreichen, wenn die Konflikte beendet würden. «Wir werden den Hunger nur beenden, wenn wir auch die Kriege beenden können.» Dieser Aufruf richtete sich vor allem an die Akteure in den laufenden bewaffneten Konflikten im Jemen und in Syrien, aber auch in Myanmar, Kolumbien, Nigeria u.a. David Beasley sieht in diesen Kriegen die Hauptursachen für das  Hungerproblem. Die Bevölkerung wird häufig vertrieben und kann ihrer Arbeit in der Landwirtschaft nicht mehr nachgehen. Das führt zu Missernten und zur Unterversorgung der Bevölkerung. 

Kriege zu beenden ist sicher die richtige Forderung, doch sollte man die Ursachen dieser Kriege kennen. Als Beasley im Jemen ein Kinderspital besucht hatte, in dem unterernährte Kinder vor seinen Augen an Entkräftung starben, berührte ihn das zutiefst. «Ich konnte meine Tränen nicht mehr unterdrücken, das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit!» 

Afrika im Griff des Neokolonialismus

Doch der Appell, alle Kriege und bewaffnete Konflikte umgehend zu beenden, darf nicht ungehört verhallen. Dabei ist es nicht unbedeutend zu verstehen, wer für diese Kriege verantwortlich ist. Wer verdient an Kriegen und wo sitzen die Kriegstreiber?  

Die senegalesische Schriftstellerin und Intellektuelle, Ken Bugul, die während der Veranstaltung an einer Diskussionsrunde teilgenommen hatte, verlangte ebenfalls mehrmals das Stoppen aller Kriege und die Einmischungen in die afrikanischen Länder. «Die bewaffneten Konflikte müssen aufhören.» Dabei nahm sie kein Blatt vor den Mund und benannte diejenigen, die für die Kriege verantwortlich sind und was deren Ursachen sind (vgl. Interview S. 5f.). Auch wenn man den Zustand Afrikas, vor allem vom Westen, besonders den Afrikanern selbst anlasten und damit sich aus der Verantwortung für die jahrhundertelange Ausbeutung schleichen will, greift dieser Erklärungsversuch viel zu kurz. Letztlich sind es bis heute die gleichen Mechanismen, die schon während der Zeit des Imperialismus zur Anwendung kamen: Die hemmungslose Ausbeutung des ungeheuren Rohstoffreichtums. So erklärte Ken Bugul, dass Benin ein ganz friedliches Land sei, denn es gebe dort keine Rohstoffe. Sie kritisierte auch die Politik der Industrienationen, die darauf ausgelegt ist, trotz aller Entwicklungszusammenarbeit möglichst viel Profit zu ziehen. Besonders deutlich wurde sie betreffend der Produktion von nur einmalig verwendbarem Saatgut, das von Firmen wie Monsanto u. a. hergestellt wird und die afrikanischen Länder in eine absolute Abhängigkeit drängt. Sie betonte aber auch, dass die Schweiz hier eine Ausnahme sei.

Bedeutung der neutralen Schweiz 

Um bei einzelnen Menschen und in den Regionen eine Linderung des Elends zu erreichen, leistet die Schweiz tatsächlich einen erheblichen Beitrag. Von grosser Tragweite ist in dieser Beziehung, wie der ehemalige Chef der DEZA, Martin Dahinden, immer wieder betont hatte, dass die Schweiz keine «hidden agenda» besitze. Dadurch habe die Schweiz als neutrales Land Zugang in Gebiete, die anderen Staaten verwehrt blieben, weil man ihr vertraue. Bundesrat Cassis betonte in seiner Rede die enge Verbindung zwischen dem Roten Kreuz, der Humanitären Hilfe und der Neutralität der Schweiz. Henry Dunant habe den Verwundeten und Elenden bei seinem Einsatz in Solferino geholfen und nicht gefragt auf welcher Seite des Konflikts sie gestanden seien.

Konkret ist die Humanitäre Hilfe der Schweiz in 16 Schwerpunktländern oder -regionen tätig. Dazu gehören z. B. der Nahe Osten, Nordafrika, das Horn von Afrika, aber auch einzelne Ländern wie Mali, Sudan, Süd-Sudan, Myanmar, Kolumbien, Demokratische Republik Kongo und weitere. Die meisten sind in einem erbärmlichen Zustand als Folge von Dürrekatastrophen, Überschwemmungen und in besonderem Masse bewaffneter Konflikte. Als Beispiel wurden Somalia und Süd-Sudan erwähnt. Seit über 25 Jahre wird Somalia von einem Bürgerkrieg beherrscht. Zusätzlich wird das Land immer wieder von verheerenden Naturkatastrophen heimgesucht, die aufgrund der Fragilität des Landes vernichtende Ausmasse annehmen. Hier versucht die Schweiz langfristige Unterstützung zu leisten, indem man mit den Menschen zum einen Präventionskonzepte ausarbeitet und gleichzeitig das bereits schon Vorhandene stärkt und weiter ausbaut. 

Nicht den Fisch bringen,
sondern das Angeln lehren

Das Prinzip der Schweizer Entwicklungshilfe bedeutet, «nicht den Menschen den Fisch zu bringen, sondern sie das Angeln zu lehren», wie der Verantwortliche für die Süd-Sudan Hilfe erklärte. Mit anderen Worten, es geht um eine langfristige Planung und Arbeit, die Menschen aus der Armut zu führen, indem die Betroffenen lernen, die dazu nötigen Instrumente selbst einzusetzen und zu beherrschen. Das geht natürlich nur, wenn man nicht akut eine Hungersnot überwinden muss. Denn dann ist spontane und direkte Hilfe angebracht. Diese wird vom im Milizwesen organisierten Humanitären Hilfe Korps geleistet. Der Leiter der Humanitären Hilfe Schweiz, Botschafter Manuel Bessler, würdigte, was die Menschen, die dort assoziiert sind, alles leisten: «Das sind die Menschen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit, am Wochenende, in den Ferien, über die Feiertage bereit sind, sich für die Humanitäre Hilfe einzusetzen.» Letztes Jahr hatte das Korps weltweit 285 Einsätze. Darin enthalten sind bilaterale Einsätze in verschiedenen Ländern, wie Afghanistan oder Somalia, aber es gibt auch die schnellen Hilfseinsätze nach einem Erdbeben oder einer Flutkatastrophe. Hier wird Grossartiges geleistet.

In einer abschliessenden Diskussionsrunde mit Vertretern der bürgerlichen Parteien, Nationalrätin Doris Fiala (FDP), Nationalrat Claude Béglé (CVP) und Nationalrat Luzi Stamm (SVP), waren sich alle drei Vertreter des Parlaments einig, dass die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz unbedingt weitergeführt werden muss. Nationalrat Luzi Stamm plädierte letztlich dafür, den Beitrag der Schweiz für die Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen. Die drei Bürgerlichen zeigten höchsten Respekt vor der Arbeit, die im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit und der Humanitären Hilfe geleistet wird.

¹ Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern. ISBN: 978-3-570-10126-1

«Die meisten Konflikte in Afrika sind auf die Bodenschätze zurückzuführen»

Interview mit der senegalesischen Schriftstellerin Ken Bugul

Ken Bugul (Bild thk)
Ken Bugul (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus In Ihrer Erklärung während der Diskussion haben Sie mehrmals wiederholt: Die Konflikte müssen aufhören! Was sind die Gründe für diese Konflikte? 

Ken Bugul Die meisten Konflikte in Afrika sind auf die Bodenschätze zurückzuführen. Wir haben sie in der Demokratischen Republik Kongo, wir hatten sie in Liberia mit den Diamanten, im Sudan mit dem Öl und in vielen anderen afrikanischen Ländern. 

Wer steckt hinter diesen Konflikten? 

Der Westen, Europa und die USA. Betrachten Sie zum Beispiel die Situation in Jemen. Die USA verkaufen immer noch Gewehre und Waffen nach Saudi-Arabien im Wert von vielen Milliarden Dollar. In dieser Situation sollten sie sagen: «Wir müssen dies sistieren, weil sie in einem Konflikt stecken. Wir müssen zuerst eine Lösung für den Frieden finden.» Der Grund für diesen Konflikt ist ein Kampf zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, der in einem Drittland ausgetragen wird. Zuerst müssen wir all diese Probleme bewältigen. Dies liegt in der Verantwortung des Westens. Stoppt den Verkauf von Waffen an Länder in Konflikten! 

Afrika ist in der Lage, seine eigenen Angelegenheiten ohne Einmischung der Industrieländer zu regeln … 

… na sicher! Wir kämpfen jeden Tag um unser eigenes Überleben. Wir schicken unsere Kinder zur Schule; wir schicken unsere Kinder zur Gesundheitsvorsorge und versuchen unsere Ernährung und unsere sanitären Einrichtungen zu verbessern. Das liegt daran, dass wir kämpfen. 65 % dieses Kampfes wird von Frauen geleistet. Und gegenwärtig wird 10 % von den jungen Leuten, Frauen und Männern geleistet. Und die anderen 25 % werden von den Migranten beigetragen. Jeden Monat schicken die Migranten das Geld für ihre Familien, und das ist zehnmal wichtiger als das Geld des Westens. Das ist sehr wichtig. Die Tatsache, dass Afrika immer noch aufrecht steht, hängt mit der Rolle der Frauen zusammen. 

Können Sie das ein bisschen näher erklären? 

Frauen stellen die Ernährung sicher, sie sind verantwortlich für die schulische Ausbildung, gesundheitliche Versorgung oder was auch immer ansteht. Hätten wir nicht die Frauen, die in Afrika die Arbeiten erledigen, Afrika wäre vor langer Zeit schon verschwunden. Bringt Hilfe, keine Unterstützung! Frauen brauchen keine Unterstützung. Frauen sind sehr schlau, und sie tun viel. Die westlichen Länder schenken den Frauen nicht genug Aufmerksamkeit. In Afrika kann eine Frau tun, was zwanzig Männer tun können. Wir haben einen grossen Einfluss auf unsere Männer. Wir wissen, wie man mit unseren Kindern spricht, weil die Mutter eine Symbolfigur ist. 

Auf welche Weise? 

Wenn wir mit unseren Kindern sprechen, hören sie mehr auf die Mutter als auf den Vater. Die Frauen in Afrika tun wirklich viel und reden nicht nur wie ich jetzt gerade. Sie bringen neue innovative Ansätze, Technologien usw. mit, weil sie sehr aktiv sind. Aber der Westen anerkennt nicht diese grundlegende Arbeit von Frauen in Afrika. 

In Ihrer Erklärung erwähnen Sie die Wirtschaftsabkommen zwischen Afrika und der Europäischen Union. Können Sie die Auswirkungen dieses Problems erklären? 

Wir nennen diese Abkommen Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPAs) in der Landwirtschaft. Diese Vereinbarungen tötet mit den Subventionen unsere Wirtschaft. Die meisten unserer Landwirtschaftsbetriebe in Afrika sind Familienbetriebe, kleine Familienbetriebe, aber wir haben zu essen. Sie erfüllen unser Bedürfnis nach Nahrung. Wenn Europa jetzt seine Agrarprodukte nach Afrika bringt, dann töten die Europäer unsere Wirtschaft, weil sie keine Steuern zahlen müssen, keine Zölle; ihre Produkte sind zollfrei und subventioniert und somit viel billiger als unsere eigenen Produkte. Kein westliches Land sagt aber: «Oh, das ist nicht fair». Sie wollen Afrika helfen, aber sie töten unsere Landwirtschaft. Und die westlichen Länder zwingen uns, die Abkommen zu unterzeichnen – vier Länder, darunter Ghana und Nigeria weigerten sich, dies zu tun – und was folgte, war wie eine Erpressung. Sie sagen: «Wenn ihr nicht unterschreibt, werden wir dieses und jenes reduzieren.» Wenn wir schon über Ethik und Moral sprechen, dann muss der Westen seine Haltung überdenken. Aber es wird eine neue Generation heranwachsen, die von ihren Müttern unterstützt wird und zusammen mit den Frauen wird die neue Generation die Dinge verändern. Das wird in Zukunft ein Problem für Europa sein, aber nicht für Afrika. 

Madame Bugul, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser, Biel

«Nachhaltige und gut koordinierte humanitäre Hilfe» 

Schweizer Engagement in Somalia

Interview mit Laila Sheikh Rüttimann

Laila Sheikh Rüttimann (Bild thk)
Laila Sheikh Rüttimann (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Frau Sheikh, mit welchen Aufgaben sind Sie in Afrika betraut?

Laila Sheikh Rüttimann Ich bin in Nairobi stationiert und bin die Ko-Leiterin der internationalen Zusammenarbeit für das Horn von Afrika. Zusammen mit Lukas Rüttimann bin ich für die Umsetzung der regionalen Strategie der DEZA verantwortlich. Der Fokus liegt auf Somalia, aber wir arbeiten auch in den angrenzenden Gebieten, also Nordost-Kenia und Südost-Äthiopien. In Addis Abeba haben wir ebenfalls ein Büro, das bei der Umsetzung der Regionalstrategie mit uns zusammenarbeitet. 

Wie versucht die DEZA ganz konkret, die Situation in Somalia zu verbessern?

Die DEZA setzt sich für eine nachhaltige und gut koordinierte humanitäre Hilfe und Entwicklungskooperation vor Ort ein. Generell versuchen wir die Resilienz, d. h. die Widerstandfähigkeit der Menschen zu erhöhen. Dies ist in einer Region, die klimatisch sehr herausfordernd ist und gleichzeitig seit Jahrzehnten von Konflikten heimgesucht wird, zentral. Es gibt nach wie vor viele Gebiete, die für uns nicht zugänglich sind, was unsere Arbeit in Somalia erheblich erschwert. Dies stellt besonders hohe Anforderungen an unsere Fähigkeiten, die Umsetzung von Programmen zu begleiten. Glücklicherweise ist zum Beispiel das IKRK in diesen Gebieten vor Ort und leistet dort humanitäre Hilfe.

Wie versuchen Sie das?

Das Horn von Afrika wird immer wieder eine Reihe von Klimaschocks erleben. Es gibt grosse Dürreperioden, verbunden mit der Gefahr von grossen Überschwemmungen. Daher ist unser Ansatz, nicht nur lebensrettende Massnahmen zu erbringen, sondern die Lebensgrundlage der Menschen zu erhalten und zu verbessern, damit sie, wenn der nächste Naturschock kommt, besser darauf vorbereitet sind.

Wie kann man die Menschen darauf vorbereiten?

Indem man zusammen mit den Gemeinden (Gemeinschaften) arbeitet und gemeinsam eine gute Vorbereitung plant. Oft werden Reserven angelegt, oder das Vieh wird verkauft, bevor es zu abgemagert ist und keinen guten Ertrag mehr erzielen kann. Dies ist für Pastoralisten (Hirten; Anm. d. Red.) oft eine schwierige Entscheidung, denn in ihren Augen liegt ihr ganzer Reichtum und ihre Sicherheit im effektiven Viehbestand. Direkte Nahrungsmittelhilfe wird zunehmend in Form von Bargeld ausbezahlt. Dies hat den Vorteil, dass der lokale Markt erhalten bleibt. Auch versucht man zunehmend, die Wiederherstellung des Tierbestandes zu unterstützen, oder Saatgut und Bargeld zu verteilen, damit die Menschen wieder in die wirtschaftliche Unabhängigkeit zurückfinden.

Wie kann man gewährleisten, dass das Geld an den richtigen Ort kommt?

Das sind sehr ausgeklügelte Systeme mit biometrischer Erkennung. Das macht es sehr gut überprüfbar. Man kann die Empfänger anrufen und nachfragen, ob die Zahlung angekommen ist und abklären, was sie für Bedürfnisse haben und wie die Gelder eingesetzt worden sind. Wie ist der Warenkorb? Was kaufen die Frauen, ist es Milch, ist es Getreide? Dadurch erhält man wertvolle Informationen und hat einen viel besseren Kontakt.

Wie gehen die Menschen mit dieser Nahrungsmittelknappheit um?

Wenn die Krise akut ist, wandern viele Menschen in das nächst gelegene Zentrum in der Hoffnung, dass sie dort Hilfe bekommen. Viele von ihnen werden auch von ihren Verwandten unterstützt. Je weiter die Menschen von ihrem Ursprungsort entfernt leben, desto schwieriger wird die Rückkehr für sie. Wir versuchen deshalb, die rasche Rückkehr zum Beispiel durch die Verteilung von Saatgut zu unterstützen.

Wie sieht die langfristige Hilfe aus?

Wir investieren stark in die gute Regierungsführung, Ernährungssicherheit, in die Berufsbildung etc. Das ist die langfristige Sicht. Es ist ein Mix aus vielen Bereichen. Gesundheit ist auch ein wichtiger Aspekt. Mangelernährung macht krank. Es ist wichtig, dass die Menschen Mangelernährung erkennen und Kinder behandelt werden. Mangelernährung hat verheerende Auswirkungen auf die körperliche und geistige Entwicklung. Wenn die Basis schon so schlecht ist, ist es schwierig für sie, sich zum Beispiel ökonomisch zu engagieren. Wir versuchen, die Entwicklungshilfefortschritte, die wir erzielt haben, zu bewahren. Deshalb haben wir einen Nothilfefonds eingerichtet, der dann eingesetzt wird, wenn es zu einer Naturkatastrophe kommt. Damit man das, was man vorher gewonnen hat, nicht alles wieder verliert und vieles noch retten kann. 

Wie sieht die politische Entwicklung in Somalia aus?

Seit 1991 ist die Situation schwierig. Es gibt jedoch seit 2012 nennenswerte Fortschritte. Somalia ist heute ein föderaler Staat im embryonalen Zustand. Es geht also ganz langsam vorwärts, aber es ist noch ein weiter Weg. Das gibt Hoffnung, denn das Land und seine Menschen haben sehr viel Potential. Auch ist die Diaspora sehr engagiert. Unser Ziel ist, sie in der Entwicklung optimal zu unterstützen. Es gibt Fortschritte, aber wir dürfen nicht vergessen, es ist ein Konfliktgebiet. Auch müssen wir uns bewusst sein, dass Somalia ein Aktionsfeld ganz verschiedener Interessen ist. Es ist nicht nur die westliche Gemeinschaft, es sind auch die Nachbarländer und die Golfstaaten. Die Situation ist auch fragil, weil die Menschen bis jetzt noch diesen verschiedenen Interessen ausgeliefert sind.

Frau Sheikh, ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Biel

Präsenzschule versus Cloud-Teaching? 

«Frankreich holt mit dem Verbot der mobilen Geräte das Lernen wieder in die Schule»

von Professor Dr. phil. Ralf Lankau

In Frankreich sollen auf Anordnung von Präsident Macron ab September 2018 die Schulen handyfrei werden, auch in den Pausen und auf dem Schulhof. In Deutschland hingegen sollen Schüler/innen und Lehrkräfte mit stationären und mobilen Geräten in der Schul-Cloud arbeiten.

Frankreich: Handy- und smartphonefreie Schulen

Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte es schon im Wahlprogramm versprochen: Neben erheblichen Investitionen in den Bildungsbereich stand die Verbannung von Mobiltelefonen aus allen Primar- und Sekundarschulen in seinem Manifest. Frankreichs Bildungsminister Jean-Michel Blanquer bestätigte im Dezember 2017 als Starttermin für das Verbot September 2018, den Beginn des neuen Schuljahrs. Die Intention: Schülerinnen und Schüler sollen sich in den Pausen mehr bewegen, spielen und miteinander reden, statt auf Displays zu starren. «Heute spielen die Kinder nicht mehr in der Pause, sie stehen nur noch vor ihren Smartphones, und das ist aus pädagogischer Sicht ein Problem», sagte Blanquer in einem Interview.¹ Es sei eine Frage der «öffentlichen Gesundheit», die dysfunktionale Nutzung von privaten, mobilen Geräten in der Schule zu reglementieren.

Das Verbot privater Geräte an Schulen wird nach diesem Plan komplettiert durch massive Investitionen in bessere Bildungschancen vor allem für sozial Benachteiligte. Neben Sofortinvestitionen von zunächst 15 Milliarden Euro (mit Schwerpunkt auf Berufs- und Weiterbildung für wenig qualifizierte Arbeitnehmer) sollen mehr als 4000 Lehrkräfte, speziell für Grundschulen eingestellt und die Klassengrösse verkleinert werden. Dazu kommen Geldprämien für Firmen, die junge Menschen aus sozial schwierigen Vierteln einstellen und ein Gratis-Kulturpass im Wert von 500 Euro für alle jungen Menschen ab 18 Jahren. Bei der Bildung liegt der Fokus in Frankreich damit eindeutig auf mehr Personal und direkter Betreuung. Lehren und Lernen funktioniert nun mal über Personen und Beziehung.

Deutschland: Mit Handy oder Smartphone in die Schul-Cloud

Während Frankreich die Notbremse zieht und private Geräte wegen ihres Ablenkungspotentials aus dem Unterricht verbannt, geht Deutschland den entgegengesetzten Weg. Das Hasso-Plattner-Institut (HPI) entwickelt in Kooperation mit dem nationalen Excellence-Schulnetzwerk MINT-EC und gefördert vom BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) eine Schul-Cloud² und hat im Dezember 2017 einen Demo-Zugang freigeschaltet.³ Im Fact-Sheet auf der HPI-Seite⁴ steht dazu: «Interessierte Nutzer/innen können neueste Software & Bildungsinhalte über die Schul-Cloud beziehen, während sich Expert/innen um deren sichere Konfiguration & Aktualisierung kümmern. Die Schulen brauchen keine Server anzuschaffen & zu administrieren, sondern greifen von schlanken Endgeräten webbasiert über die Schul-Cloud auf vielfältige Angebote zu.»

In der Kurzbeschreibung «Ein Pilotprojekt zur Modernisierung des Schulunterrichts» auf dem HPI-Server⁵ liest man dann die übliche Mischung aus Digitalwerbung und Technikversprechen. Eine moderne Lehr- und Lerninfrastruktur etwa sei «unabdingbar, um die digitale Transformation im Bildungssektor zum Erfolg zu führen.» (S. 1) Ausgeblendet wird, dass das, was Schule und Lernen ausmacht, sich nicht digitalisieren lässt. Für Bildung gilt das umso mehr. Nicht die technische Infrastruktur, sondern das menschliche Miteinander im sozialen Raum entscheidet über das Gelingen von Lernprozessen. Ob man Kinder «optimal auf das Leben in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft» vorbereitet, indem man sie möglichst früh an das Arbeiten an Bildschirmen gewöhnt, darf daher aus Sicht der Pädagogik und Lernpsychologie, der Erziehungs- und Kognitionswissenschaft – wissenschaftlich belegt – bezweifelt werden. Wer aus der Schulpraxis kommt und die Studienlage kennt, weiss zum Beispiel, dass die Automatisierung und Medialisierung von Lernprozessen regelmässig scheitert, wie es u. a. Claus Pias⁶ beschrieben hat und sowohl OECD-, PISA- oder Hattie-Studie bestätigen.

Das Konzept der Schul-Cloud und Knewton

Bei Cloud-Konzepten werden Hardwareverwaltung, Updates und IT-Pflege in der  Regel ausgesourct. Interessanterweise steht über die dadurch entstehenden Kosten ebenso wenig im HPI-Papier wie über die Konsequenzen. Schule und Unterricht werden abhängig von einer externen technischen Infrastruktur. Programme, Zugänge und Nutzerdaten sind in der Anbieter-Cloud gespeichert. Ohne Netzzugang kann man weder auf Programme noch auf eigene Daten zugreifen. Man hängt buchstäblich im Netz der Cloudbetreiber. Was mit den Daten passiert, ist für die Nutzer weder transparent noch nachprüfbar.⁷ Dafür ist die Umwandlung von öffentlichen Bildungseinrichtungen in Bildungsmärkte nach Wettbewerbskriterien explizit formuliert:

«Die Schul-Cloud wird dazu beitragen, einen prosperierenden Bildungsmarkt mit innovativen digitalen Bildungsprodukten zu etablieren. (…) Private und institutionelle Anbieter von Inhalten können diese über die Schul-Cloud anbieten. Die Angebote stehen allen Lehrkräften und Schülern zur Verfügung und müssen sich im Wettbewerb behaupten. Über integrierte Evaluationsmechanismen können die Lernprogramme bewertet und kommentiert werden, sodass diese beständig weiterentwickelt werden können.»⁵ (S. 4)

Das Weiterentwickeln von Lernprogrammen anhand von Evaluationsmechanismen bedeutet in der Praxis, dass möglichst viele Daten erfasst und ausgewertet werden. Das kann bis zum möglichst vollständigen Erfassen aller Schülerdaten und der Protokollierung aller Handlungen über den sogenannten Rückkanal führen, wie es z. B. Jose Ferreira für sein Programm Knewton beschreibt: 

«Knewton durchleuchtet jeden, der das Lernprogramm nutzt. Die Software beobachtet und speichert minutiös, was, wie und in welchem Tempo ein Schüler lernt. Jede Reaktion des Nutzers, jeder Mausklick und jeder Tastenanschlag, jede richtige und jede falsche Antwort, jeder Seitenaufruf und jeder Abbruch wird erfasst. (…) Jeden Tag sammeln wir tausende von Datenpunkten von jedem Schüler», sagt Ferreira stolz. «Diese Daten werden analysiert und zur Optimierung der persönlichen Lernwege genutzt. Kom­plexe Algorithmen schnüren individuelle Lernpakete für jeden einzelnen Schüler, deren Inhalt und Tempo sich fortlaufend anpassen, bei Bedarf im Minutentakt.»⁸

Ohne personenbezogene Daten ist eine «individualisierte» oder «personalisierte» Anpassung an den einzelnen Lernenden nicht möglich. Bei Lern-Programmen (nicht nur) in der Cloud heisst der Begriff dafür Learning Analytics. In der Praxis von Knewton, Google Classroom oder Apple bedeutet das schon heute nicht mehr nur «Big Brother is watching you», sondern «Big Brother is teaching your Children.»

Learning Analytics

Big Data-Technologien und die Identifizierung der Nutzer sind nicht nur die Grundlage für Social-Media-Anwendungen, sondern für jedes sogenannte «individualisierte» oder «personalisierte» Angebot, für das möglichste viele Daten über jede(n) Nutzer(in) erfasst und per Mustererkennung ausgewertet werden. Der Mensch im Netz ist nur ein Muster und Datensatz. Für den Bildungsbereich formuliert Professor Dirk Ifenthaler (Universität Mannheim) die Reichweite dieser Datensammlung (Big Data für Lernprozesse) wie folgt: «Mithilfe von Learning Analytics können datenbasierte Auskünfte über das Lernverhalten, Lernaktivitäten und Einstellungen in Echtzeit während des Lernprozesses erfasst und im weiteren Verlauf berücksichtigt werden. Somit werden individuelle dynamische Curricula und Echtzeit-Feedback möglich.»⁹ 

In der Praxis werden Lernende dafür vollständig per Kamera und Mikrofon aufgezeichnet und alle Aktionen – jeder Mausklick, jede Eingabe und auch jede Korrektur von Eingaben – ausgewertet. In Forschungsprojekten werden zusätzlich Sensoren auf Arme und Kopfhaut geklebt, um Körperfunktionen und psychische Reaktionen (Stress, Erschöpfung, Angst u. ä.) zu messen. Dabei würden laut Ifenthaler im Idealfall folgende Daten mit einbezogen: 

Merkmale der Lernenden (Interesse, Vorwissen, akademische Leistungen, Ergebnisse standardisierter Tests, Kompetenzniveau);

soziodemografische Daten; das soziale Umfeld (persönliches Netzwerk, Interaktionen, Präferenzen hinsichtlich sozialer Medien);

externe Daten (aktuelle Geschehnisse, Ortsangaben, Emotionen, Motivation).10 

Dadurch könnten im Lernkontext «Bedürfnisse der Lernenden frühzeitig erkannt und individuell auf sie reagiert werden.» Das bedeutet im Klartext aber auch: Mit Learning Analytics werden komplette Lern- und Persönlichkeitsprofile erstellt und das soziokulturelle Umfeld ebenso ausgewertet wie psychosoziale Merkmale der Lernenden. Diese Profile sind derart umfangreich, dass das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Lernenden gar nicht mehr gewährleistet werden kann, sobald jemand Zugriff auf diese Daten und Profile hat. 

Das ist nicht nur juristisch fragwürdig, sondern vor allem päda­gogisch abwegig. Ziel von Lernprozessen ist ja nicht Messbarkeit oder ein möglichst exaktes Lernvermessungsprotokoll, sondern Persönlichkeitsentwicklung und (Fach-)Verständnis. Es ist zugleich ein massiver Eingriff in Bildungs- und Erwerbsbiographien, wenn aufgrund dieser Daten nicht nur Lernangebote, sondern auch Berufswege oder Studiengänge vorbestimmt werden (sollen). 

Wer sich vergegenwärtigt, dass Daten der Schmierstoff und das Gold des 21. Jahrhunderts sind, wird nicht darauf vertrauen, dass solch detaillierte Datensätze ungenutzt bleiben. Auch ein vermeintliches Anonymisieren der Datensätze hilft nicht. Das bestätigen Forensikern. Es ist nur eine Frage des Aufwands, anonymisierte Datensätze zu re-personalisieren. Und wie anfällig selbst mehrfach gesicherte Netzwerke im Netz sind, zeigt der im Februar bekannt gewordene Angriff auf das IVBB-Netzwerk des Bundes (Informationsverbund Berlin Bonn).

Lernen als Data Mining versus Lernen in der Schule

Es ist eine Frage des logischen Denkens, welche Absicht hinter dem Cloudcomputing steht. Auf der einen Seite werden Schülerinnen und Schüler samt Lehrkräften mit (zunächst) kostenlosen Diensten ins Netz gelockt. Apple und Google etwa statten schon heute ganze Schulen mit Hard- und Software sowie Clouddienstleistungen aus und bestimmen dabei sogar die Lehrinhalte, etwa durch Programmierkurse. «Modernes Lernen» wird behauptet, überregionale Kooperation und flexible Arbeitsgruppen versprochen. Dabei werden Lernende zu unfreiwilligen Datenspendern, der Prozess des Lernens wird zu einer Quelle von immer mehr Daten über jeden Einzelnen, wie man es aus den (a)sozialen Medien kennt. 

Die französische Regierung holt mit dem Verbot der mobilen Geräte das Lernen wieder in die Schule und in die einzelne Klasse zurück und sperrt den Störenfried und Ablenkungskönig Smartphone aus. In Deutschland hingegen fördert das BMBF die Entwicklung und Erprobung einer Schul-Cloud, um Schüler/innen und Lehrkräfte auch mit privaten Geräten ins Netz zu schicken.

Macron wird u. a. von seiner Frau beraten, die über 30 Jahre an französischen Schulen unterrichtet hat. Die (beim Schreiben des Beitrags noch amtierende) Wissenschaftsministerin Wanka liess sich u. a. von August Wilhelm Scheer beraten, mehrfach Mitglied im Aufsichtsrat der SAP AG und 4 Jahre Präsident des IT-Branchenverbandes Bitkom. Zusammen mit Frau Wanka ist er Vorsitzender der vom BMBF gegründeten IT-Gipfel-Plattform «Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft»11, die den Digitalpakt#D verantwortet. 

Scheer ist zugleich einer der Autoren des Saarbrücker Manifest von 2016, in dem gefordert wird, den grundgesetzlich geregelten Föderalismus der Länder (Stichworte Bildungshoheit, Kooperationsverbot) ebenso zu ändern wie Datenschutzbestimmungen, wenn IT-Projekte durch gesetzliche Vorgaben erschwert oder behindert würden. Der zweite Autor des Manifests ist Leiter des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz ( DFKI ), das «intelligente Lösungen für die Wissensgesellschaft» anbietet und die Grundlage für automatisierte, digitalisierte und personalisierte Lernmanagementsysteme (LMS) liefert. 

So schliessen sich die Kreise. Techniker vertrauen auf für sie einträgliche technische Lösungen. Es sind, in Anlehnung an das BMBF-Hightech-Strategie-Papier von 2011 zu «Industrie 4.0», Visionen für die möglichst vollautomatische «Produktion von Humankapital mit validierten Kompetenzen» – als wären Menschen Objekt und Produkt statt Subjekt. Man kann das als «Bildung 4.0» apostrophieren. Es ist eine Dystopie. Die technischen Parameter für Automatisierung und Prozessoptimierung aus dem Qualitätsmanagement (QM) sind für Sozialsysteme generell ungeeignet. Dazu muss man allerdings die digitale Brille (ob augmented oder virtuell) absetzen. Denn nicht «die Welt» ist digital, sondern nur technische Systeme. Diese aber sollten Werkzeuge im Dienst der Menschen sein und nicht Kontroll- und Steuerungsinstrument im Dienst und zum Nutzen weniger IT-Monopole. Was bei diesen technischen Phantasien fehlt, ist das Verständnis für elementare menschliche Entwicklungs- und Lernprozesse. Es fehlt die Ausdifferenzierung nach Lebensalter, Fachinhalten, Lernsituationen und Persönlichkeiten. Es fehlt: der Mensch. 

Quellen:

1 www.thelocal.fr/20171211/france-to-ban-mobile-phones-in-schools [11.12.2017]
2 https://hpi.de/open-campus/hpi-initiativen/schul-cloud/
3 Demo-Zugang: https://schul-cloud.org/ 

Zitat: «Das Hasso-Plattner-Institut für Digital Engineering entwickelt unter der Leitung von Prof. Dr. Christoph Meinel zusammen mit dem MINT EC, einem bundesweiten Exzellenznetzwerk von knapp 300 Schulen und unterstützt vom Bundesministerium für Forschung und Bildung eine Schul-Cloud.»
4 Fact-Sheet: https://hpi.de/fileadmin/user_upload/hpi/dokumente/flyer/Fact_Sheet_Schul-Cloud.pdf
5 Kurzbeschreibung: https://hpi.de/fileadmin/user_upload/hpi/dokumente/publikationen/projekte/schul-cloud_beschreibung_website.pdf 
6 Siehe Claus Pias (2013 ): Eine kurze Geschichte der Unterrichtsmaschinen, FAZ vom 10. Dezember 2013 ; www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/automatisierung-der-lehre-eine-kurze-geschichte-der-unterrichtsmaschinen-12692010.html
7 Knop, Carsten (2018): Wem gehört unser digitaler Zwilling? FAZ vom 19.02.2018, www.faz.net/aktuell/wirtschaft/software-weckruf-behaltet-die-kontrolle-ueber-euer-digitales-ich-15448079.html 
8 Dräger/Müller-Eiselt: Die digitale Bildungsrevolution, 2015, S. 24 f.

9 Ifenthaler, D.; Schumacher, C. (2016): Learning Analytics im Hochschulkontext. WiSt Heft 4. April 2016. S. 179
10 Ebd.
11 www.bildung-forschung.digital/de/plattform-digitalisierung-in-bildung-und-wissenschaft-1717.html

Die Schule darf Kinder und Jugendliche nicht an den Tropf der IT-Industrie hängen

Immer mehr Kinder und Jugendliche zeigen alarmierende Zeichen einer Internetabhängigkeit

von Susanne Lienhard

Am 14. März titelte die Thurgauer Zeitung «Handypflicht an der Kantonsschule», und der Rektor der Kantonsschule Romanshorn verkündet sichtlich stolz die Tablet-Pflicht und die Integration von Smartphones in den Schulunterricht. Es gelte die Devise «Bring your own device», was heisst, dass die Schülerinnen und Schüler ihr eigenes Smartphone und ihr eigenes Tablet in die Schule mitbringen müssen. «Bei uns sind Handys auch Lerngeräte», betont der Rektor. Wandtafeln abfotografieren, Taschenrechnerfunktion oder das Arbeiten mit der Lernplattform «One Note» seien nur einige Beispiele, wie das Handy eingesetzt werden könne. Aus «Le Temps» war am 2. Februar zu erfahren, dass sich Ärzte, Psychiater und Sozialarbeiter in der Romandie grosse Sorgen machen, da immer mehr Kinder und Jugendliche alarmierende Anzeichen einer Internetabhängigkeit via Tablet und Smartphone zeigen. Ihr Denken sei in Beschlag genommen und sie reagierten gereizt bis aggressiv, wenn man ihnen die elektronischen Geräte wegnehme. 

Anfang Jahr hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Internetsucht als Krankheit in die elfte Ausgabe der internationalen Klassifikation der Krankheiten (CIM-11) aufgenommen. Professor Daniele Zullino, Vorsteher der Abteilung Suchtmedizin am Universitätsspital Genf, hat in der Arbeitsgruppe der WHO mitgearbeitet und stellt fest: «Heute ist die Internetsucht via Tablets und Smartphones der häufigste Grund, weswegen Jugendliche die Suchtstelle des Universitätsspitals Genf konsultieren, noch vor Cannabis und Alkohol.»¹

Internet hat grösseres Suchtpotenzial als Heroin

«Man findet die gleichen neurobiologischen Veränderungen wie bei der Abhängigkeit von Alkohol oder Kokain. Im Gegensatz zu diesen Drogen bietet das Internet viel konzentriertere Stimulationen, die schnell und immer vorhanden sind. Das Abhängigkeitspotenzial ist viel grösser und gefährlicher als bei Heroin», so Daniele Zullino.² Verschiedene wissenschaftliche Studien und Artikel zeigen, dass die Spiele im Internet eine Auswirkung auf die Dopaminausschüttung haben, ein Hormon, das «Glücksgefühle» auslöst und Kinder und Jugendliche dazu verführt, immer mehr zu spielen. Aussagen von Ex-Angestellten von Facebook sind in diesem Zusammenhang erhellend. Sean Parker, ehemaliger Präsident von Facebook, warnt vor der Nutzung sozialer Medien. Er verkündete am 17.  November letzten Jahres: «Wir haben ganz bewusst die Verletzlichkeit der menschlichen Psyche ausgenutzt»³, und der ehemalige Vizepräsident von Facebook, Chamath Palihapitiya, erklärte seinerseits: «Die permanente Dopamin-Belohnung ist im Begriff, die Gesellschaft zu zerstören.»⁴

Ohne Smartphone bessere Schulleistungen

Jugendliche verbringen im Schnitt täglich gute drei Stunden aktiv im Netz, und ihr Blick wandert rund 200 Mal pro Tag aufs Display. Es herrscht Einigkeit darüber, dass das Smartphone die Konzentration beeinträchtigt. Mehrere US-Studien haben bei Studierenden einen Leistungsabfall gemessen, wenn diese ihr Smartphone auf dem Pult hatten. Nach dem Griff zum Handy dauerte es jeweils rund 20 Minuten, bis die Probanden wieder ihre volle Konzentration erlangten. 2015 hat die London School of Economics an 91 britischen Schulen untersucht, wie sich die Verfügbarkeit von Smartphones in der Schule auf die Leistungen der Schüler auswirkt. Das Resultat: An Schulen, an denen das Smartphone verboten ist, waren die Noten um 6,4 % besser als an jenen ohne solches Verbot. Besonders deutlich wird der Unterschied bei schwächeren Schülern: Diese erreichten an handyfreien Schulen um 14 % bessere Noten. Das Fazit der Forscher: Verbannen Schulen das Smartphone vom Schulgelände, verbessert sich die Leistung der Schüler im gleichen Masse, wie wenn sie pro Woche eine Stunde oder pro Jahr fünf Tage länger unterrichtet würden.⁵

Belohnung für offline Studien- und Unterrichtszeit 

Neben Frankreich, das auf Herbst 2018 Smartphones aus den Schulen verbannt (vgl. Artikel S. 9), versuchen auch Norwegen, Dänemark, Schweden und verschiedene britische Universitäten Gegensteuer zu geben und andere Wege zu gehen als die Schweizer Bildungspolitik. Eine erfolgreiche norwegische App belohnt Schüler und Studenten mit Einkaufsgutscheinen und Prämien, wenn sie während der Studien- und Unterrichtszeit ihr Smartphone nicht benutzen. Die Entwickler dieser App hoffen, dass sie so das Bewusstsein schärfen und zu einer Verhaltensänderung beitragen können. Die dänische Bildungswissenschaftlerin Dorte Aagaard spricht von der «pädagogischen Herausforderung Nr. 1». Durch die Smartphone-Nutzung werde die Fähigkeit des Gehirns, Wissen zu speichern, laufend beeinträchtigt. Eine dänische Studie mit 2700 Gymnasiasten ergab, dass rund ein Drittel der Befragten in den Schulstunden online ist – und dies meist ohne Bezug zum Unterricht. Konzentrationsschwierigkeiten und Stresssymptome waren bei diesem Drittel der Befragten am ausgeprägtesten.⁶ Schweizer Gymnasiasten verhalten sich genau wie ihre dänischen Kollegen, wenn sie die Möglichkeit haben, im Unterricht online zu sein.

Bildungsauftrag der Schule

Der gezielte Einsatz von Tablets oder Laptops als Hilfsmittel mag ja im einen oder andern Fach vielleicht noch Sinn machen. Der pädagogische Nutzen des Smartphones ist jedoch gleich null, das Ablenkungspotenzial dafür immens. Die Schule darf die Kinder und Jugendlichen nicht auch noch an den Tropf der IT-Industrie hängen. Ihr Auftrag ist es, ein Lernumfeld zu schaffen, in dem sich alle, auch die schwächeren Schüler, auf den Lernstoff konzentrieren können. Gemeint sind nicht Einzelkabinen, wo jeder sein Wochenplanpensum für sich abarbeitet, sondern eine Klassengemeinschaft, in der man aufeinander hört, sich respektiert, sich gegenseitig hilft und in diesem sozialen Umfeld vor allem solide Grundlagen in den Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen erwerben kann. Das Smartphone reduziert nicht nur die schulischen Leistungen, sondern stört auch die sozialen Beziehungen. Statt in den Pausen miteinander zu plaudern, zu spielen oder auch zu streiten, zückt jeder sein Smartphone und verabschiedet sich in die virtuelle Welt. Aufgabe der Schule ist es aber, die Kinder und Jugendlichen zu gemeinschaftsfähigen, selbstständig denkenden und handelnden Menschen zu bilden und ihnen behilflich zu sein, Freunde in der realen Welt zu finden. ν 

¹ vgl. «Le Temps» vom 2. Februar 2018
² Ebd.
³ www.theguardian.com/technology/2017/nov/09/facebook-sean-parker-vulnerability-brain-psychology
www.theguardian.com/technology/2017/dec/11/facebook-former-executive-ripping-society-apart
www.theguardian.com/education/2015/may/16/schools-mobile-phones-academic-results
⁶ Niels Anner: «Prämien für Verzicht auf permanenten Smartphone-Konsum», NZZ vom 28.02.2018

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