Artikel in dieser Ausgabe
- «Der Wolfsbestand in der Schweiz nimmt exponentiell zu»
- Rahmenabkommen Schweiz-EU: Aus dem Rahmen gefallen
- Rahmenabkommen Schweiz-EU: Direktdemokratischer Föderalismus versus Zentralismus mit mangelhafter demokratischer Legitimation
- 60 Rechtsprofessorinnen und Rechtsprofessoren warnen – unscharfe Begriffe öffnen staatlicher Willkür Tür und Tor
- Ursache und Folge – der «Westen» als treibende Kraft in Konflikten
- US-Truppen ziehen ab –der Krieg geht weiter?
- Österreich: Staatliche Massnahmen brauchen wahrheitsgemässe Begründungen
- Die Regionalspitäler bilden das Fundament für das schweizerische Gesundheitswesen
- «Alles wirkliche Leben ist Begegnung»
«Der Wolfsbestand in der Schweiz nimmt exponentiell zu»
Eine Revision der Jagdverordnung ist dringend geboten

Zeitgeschehen im Fokus Wie steht es um den Wolfsbestand in der Schweiz?
Thomas Egger Der Wolfsbestand nimmt in der Schweiz exponentiell zu. Alleine im Jahr 2020 hatten wir eine Zunahme von 80 Wölfen am Anfang des Jahres auf über 100 am Ende des Jahres.
Welche Region ist am stärksten betroffen?
Am stärksten betroffen ist derzeit der Kanton Graubünden. Hier hat sich der Wolfsbestand innert eines Jahres von 25 auf 50 verdoppelt. Auch die Zahl der Wolfsrudel ist innerhalb eines Jahres von vier auf sieben gestiegen. Man kann es mit dem Bild eines Seerosenteichs vergleichen. An einem Tag ist der Teich halb voll, am nächsten Tag ist er ganz voll. Das ist die Situation im Kanton Graubünden.
Wie reagiert die bäuerliche Bevölkerung darauf?
Die Nerven liegen blank. Die Landwirtinnen und -wirte wissen wirklich nicht mehr wie weiter. Sie hatten grosse Hoffnungen in die Revision des Jagdgesetzes gesetzt. Dieses kam am 27. September 2020 zur Abstimmung, wurde aber vom Volk abgelehnt. Für die Menschen braucht es neue Perspektiven, und zwar rasch auf die Alpsaison 2021 hin. Deshalb haben wir seitens der SAB vorgeschlagen, den Weg über eine Verordnungsrevision zu gehen.
Was könnten dabei für Massnahmen getroffen werden, um die Situation zu entschärfen?
Da die Revision des Jagdgesetzes abgelehnt wurde, können wir nur Massnahmen treffen, die sich innerhalb des bestehenden Jagdgesetzes abspielen. Wir müssen versuchen, den Handlungsspielraum auf Verordnungsebene möglichst auszunutzen.
Gibt es dort einen Spielraum?
Ja. Er besteht insbesondere bei den Schwellenwerten. Also nach wie vielen Rissen ein Wolf reguliert werden kann. Der Bundesrat schlägt nun vor, diese um einen Drittel zu senken. Von Seiten der SAB sind wir der Meinung, man könnte ruhig noch tiefer gehen.
Was ist Ihr Vorschlag?
Wir würden die Schwellenwerte um zwei Drittel heruntersetzen, damit die Erleichterung für die Landwirtschaft wirklich spürbar ist. Zudem muss man einen klaren Schwellenwert bei Grossvieh wie Pferden, Eseln, Rindern, Kühen, Lamas und Alpakas definieren. Dort besteht heute noch keine klare Regelung. Wir sind der Meinung, wenn ein Pferd oder ein Rind gerissen wird, ist eine rote Linie überschritten. In dem Fall muss der Wolf sofort reguliert werden. Denn für den Wolf sind sonst die Hürden zu klein bis zum nächsten Schritt: Angriffe auf Menschen. Und das muss unbedingt verhindert werden.
Hat es schon konkret Übergriffe auf Rinder gegeben?
Ja, im Jahre 2020 gab es mehrere Übergriffe auf Rinder im Kanton Graubünden und im Kanton Waadt, im Herbst wurde im Kanton Graubünden ein Esel gerissen. Das sind deutliche, aber auch beunruhigende Anzeichen. Das heisst, der Wolf sucht sich neue Beutetiere und wagt sich dabei immer weiter vor. Bei Grossvieh ist eine Schwelle erreicht, hier muss unbedingt ein Riegel geschoben werden.
Die Esel haben doch die Funktion des Herdenschutzes?
Ja, das ist eben der Punkt. Lamas, Alpakas und Esel werden zum Herdenschutz eingesetzt und sind nun selbst zu Beutetieren der Wölfe geworden. Man sieht deutlich, dass der Herdenschutz auch Grenzen hat.
Wie hoch ist der Schwellenwert bei Schafen oder Geissen, bevor ein Wolf reguliert wird?
Das ist unterschiedlich und kommt darauf an, ob es bereits vorher eine Wolfspräsenz gab oder ob es sich um ein Rudel handelt. Bei Übergriffen, bei denen es vorher noch keine Präsenz von Wölfen gab, also wenn ein Einzelwolf neu auftaucht, liegt heute der Schwellenwert bei 35 Rissen (innert vier Monaten) und dieser Wert soll neu auf 25 gesenkt werden. Wir sind der Meinung, der Wert müsse noch viel tiefer sein. Zudem fordern wir, dass auch Tiere angerechnet werden, die notgetötet werden müssen.
Geschieht das oft?
Ja, das gibt es immer wieder. Der Wolf reisst ein Schaf, verletzt es schwer, tötet es aber nicht, weil er schon auf das nächste losgeht. Diese verletzten Tiere erleiden grosse Qualen und müssen getötet werden. Für den Schäfer ist das genau der gleiche Verlust, wie wenn der Wolf das Schaf getötet hat. Das muss ganz klar korrigiert werden.
Lange setzte man vom Bund auf den Herdenschutz, der aber auch problematisch scheint.
Wir sind auch der Meinung, dass man den Herdenschutz ausbauen muss. Das war auch mit der Kommissionsmotion im Auftrag an den Bundesrat bewusst so formuliert. Man soll so viel wie möglich Herdenschutz betreiben, doch es ist klar, dass der Herdenschutz seine Grenzen hat. Etwa wenn Herdenschutztiere selbst angegriffen werden.
Müssen Herdenschutzhunde nicht speziell ausgebildet sein?
Ja, das ist richtig. Und genau hier besteht ein weiteres Problem, weil es schlicht zu wenig Herdenschutzhunde gibt. Diese werden von Agridea, dem landwirtschaftlichen Beratungsdienst, ausgebildet. Nur diese Herdenschutzhunde werden vom Bund anerkannt. Andere können zwar eingesetzt werden, aber wenn es dann zu Rissen kommt, werden diese Risse nicht angerechnet. Eine konkrete Massnahme, um den Herdenschutz auszubauen, ist die Anerkennung zusätzlicher Herdenschutzhunde.
Ist der Ausbau des Herdenschutzes unproblematisch?
Nein, der Ausbau des Herdenschutzes führt zu Folgekonflikten, insbesondere mit dem Tourismus. Letztes Jahr musste man deswegen in der Surselva und im Unterwallis Wanderwege sperren. Das ist keine gute Entwicklung. Es kann nicht sein, dass unsere Alpen wegen des Wolfs nicht mehr frei begehbar sind. Die Konflikte schaden dem Image der Berggebiete, der Landwirtschaft und auch des Tourismus.
Kann man diese Konflikte lösen?
Die neue Verordnung sieht erstmals vor, dass die Kantone eine Entflechtung von Herdenschutzgebieten und Wanderwegen planen müssen. So kann man Konflikte von vornherein vermeiden. In diese Planung müssen übrigens auch die Bikewege einbezogen werden. Die SAB ist zusammen mit dem Schweizerischen Bauernverband und dem Schweizerischen Alpwirtschaftsverband daran, auf die kommende Sommersaison 2021 eine Sammlung von guten Beispielen zu erstellen und zu publizieren, wie man mit diesen Konflikten umgehen kann. So könnten z. B. die Tourismusorganisationen auf ihren Webseiten die Karten der Gebiete mit Herdenschutzhunden publizieren. Diese Karten sind online auf dem Portal des Bundes zu finden. Die Tourismusorganisationen müssten sie nur noch verlinken und dazu noch die Verhaltensregeln publizieren. Das könnte zu einer Entschärfung führen.
Herr Egger, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
Rahmenabkommen Schweiz-EU: Aus dem Rahmen gefallen
Es gibt viele Gründe, das unsägliche Institutionelle Rahmenabkommen mit der Europäischen Union abzulehnen. Dazu gehören die Unionsbürgerrichtlinie, der Lohnschutz, die dynamische Rechtsübernahme sowie die dominante Rolle des europäischen Gerichtshofes, dem ein Schiedsgericht lediglich als Feigenblatt vorgeschoben werden soll. Ein weiteres wichtiges Argument, das in der schweizerischen Öffentlichkeit kaum diskutiert wird, sind die staatlichen Beihilfen. Das liegt wohl einerseits daran, dass die Schweiz selber kein vergleichbares Regelwerk kennt. Mit dem Rahmenabkommen müsste die Schweiz also neue Regeln übernehmen. Und zum anderen dürfte es daran liegen, dass dieser sperrige Begriff der staatlichen Beihilfen sich nicht auf ein explizites und in Stein gemeisseltes Gesetz bezieht, sondern auf Regeln («Sekundärrecht»), die durch die EU-Kommission und die Rechtsprechung laufend angepasst und verändert werden.
Die EU-Kommission verfolgt mit den Regeln über staatliche Beihilfen ein klares Ziel: Förderung der freien Marktwirtschaft und Beseitigung von allem, was aus ihrer Sicht eine Wettbewerbsverzerrung darstellt. Wohin dieses dogmatische Streben nach Wettbewerb führt, dafür steht symbolisch der Zusammenbruch der Eisenbahnen in Grossbritannien. Vermutlich war das mit ein Grund, weshalb sich eine Mehrheit der britischen Bevölkerung für den Brexit aussprach.
Die Schweiz hat ein völlig anderes Staatsverständnis. Die Schweiz ist darauf bedacht, allen Bevölkerungsschichten die Chancengleichheit zu gewähren. Ausgleich statt Wettbewerb. Dafür investiert sie auch viel Geld. Diese Massnahmen sind in der Schweiz demokratisch abgestützt, oft durch Volksentscheide. Die Bürokraten der EU-Kommission in Brüssel jedoch fürchten Volksentscheide wie der Teufel das Weihwasser. Die direktdemokratischen Prozesse der Schweiz sind ihnen ein Graus.
Im Entwurf des Institutionellen Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der EU wird zwar beteuert, dass sich die Regeln für die staatlichen Beihilfen bei den aktuellen bilateralen Abkommen nur auf das Luftverkehrsabkommen beziehen. Für alle zukünftigen Abkommen würden sie aber auch gelten, so zum Beispiel für das zur Diskussion stehende Stromabkommen. Das ist mit ein Grund, weshalb sich die Schweiz derzeit beim Ausbau der Wasserkraft so schwer tut. Denn alle Fördermassnahmen für die Wasserkraft werden jetzt schon darauf geprüft, ob sie mit diesen staatlichen Beihilferegeln kompatibel sind, obschon das Rahmenabkommen noch gar nicht unterzeichnet ist. Vorauseilender Gehorsam der Schweiz. Einmal mehr. Es braucht zudem relativ wenig Phantasie, um sich auszumalen, dass die EU-Behörden die staatlichen Beihilferegeln gerne auch auf andere Bereiche ausdehnen möchten. Dies geschieht in der EU schon laufend. So wurde z. B. durch Beschluss des EuGH die Wohnraumförderpolitik in den Niederlanden als nicht kompatibel mit den Beihilferegeln beurteilt. Das Gleiche dürfte der Wohnungspolitik in der Schweiz blühen.
Mit der Unterzeichnung des Rahmenabkommens wäre die Schweiz verpflichtet, eine neue Behörde für die Prüfung der staatlichen Beihilfen aufzubauen. Alle staatlichen Beihilfen müssten in Zukunft dieser Behörde gemeldet werden. Konkret: eine von der Gemeinde X geförderte Ansiedlung eines neuen Unternehmens müsste der neuen nationalen Behörde gemeldet werden. Diese entscheidet abschliessend, ob die Förderung zulässig ist oder nicht. Dabei müsste sie die gleichen Regeln wie die EU anwenden und diese sind gemäss Abkommen explizit dynamisch ausgestaltet. Dieser Prozess widerspiegelt typisch die Brüsseler Denkhaltung, in der die Macht bei der Verwaltung und nicht bei der Politik konzentriert ist. Sie ist damit in keiner Art und Weise kompatibel mit dem schweizerischen Staatsverständnis.
Der Staatsapparat in der Schweiz würde weiter aufgebläht. Diese neue Behörde dürfte versucht sein, auch weitere Beihilfen (Subventionen) zu prüfen und in Frage zu stellen. Bereits heute wird im Rahmen des Bundesbudgets jedes Jahr eines der sieben Departemente durchleuchtet und Antrag auf Kürzung oder Streichung von Subventionen gestellt. So wurde z. B. kürzlich der Beitrag des Bundes an den Schweizer Tourismus-Verband gestrichen. Ein zwar kleiner Beitrag, aber symbolisch für die Geringschätzung des Tourismus durch die Wettbewerbshüter im Finanzdepartement.
Bundesrat Cassis hat bis jetzt den Reset-Knopf nicht gefunden. Unklar ist, wie ernsthaft er ihn wirklich gesucht hat. Selbst Teile seiner eigenen FDP stellen sich inzwischen gegen das Rahmenabkommen. Dieses Rahmenabkommen ist definitiv aus dem Rahmen gefallen. Nachverhandlungen im kosmetischen Bereich ändern daran kaum etwas. Ehrlicher wäre ein wirklicher Neustart bei dem sich Schweiz und EU auf gleicher Augenhöhe gegenüber stehen und gegenseitig respektieren.
Rahmenabkommen Schweiz-EU: Direktdemokratischer Föderalismus versus Zentralismus mit mangelhafter demokratischer Legitimation
Direktdemokratischer Föderalismus versus Zentralismus mit mangelhafter demokratischer Legitimation
Drei Punkte seien es, warum das Rahmenabkommen – auch Institutionelles Abkommen (InstA) genannt – in der jetzigen Form vom Bundesrat nicht unterzeichnet werden könne. So die Botschaft, die in den letzten Wochen immer wieder zu hören war. Auch während des Besuchs des Schweizer Bundespräsidenten Guy Parmelin bei der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel kam es bei den strittigen Punkten zu keiner einvernehmlichen Lösung. Im Gegenteil, die EU zeigt keine Bereitschaft nur einen Millimeter von ihrer Position abzurücken. Das Ganze könnte sich zu einer unendlichen Geschichte entwickeln, wenn man nicht ins Auge fasst, welche grossen staatspolitischen Unterschiede zwischen der EU und der Schweiz bestehen: direktdemokratischer Föderalismus versus zentralistische Hierarchie mit mangelhafter demokratischer Legitimation und Kontrolle.
Der Vorsteher des Aussendepartements Ignazio Cassis, der seit seinem Amtsantritt für dieses Dossier verantwortlich ist, wurde kurzerhand zum Treffen mit der Kommissionspräsidentin ausgeladen, weil – in «diplomatischer» EU-Sprache ausgedrückt – das «aus protokollarischen Gründen»¹ nicht vorgesehen war. Dieser aussergewöhnliche Vorgang selbst fand in unseren Leitmedien wenig Beachtung. Dennoch waren es schlechte Vorzeichen, die erhebliche Zweifel am Bemühen der EU aufkommen liessen, die strittigen Punkte aufzugreifen und eine für beide Seiten zufriedenstellende Lösung aushandeln zu können. Alt Botschafter Paul Widmer bezeichnete das Verhalten der EU in einem Gastbeitrag als «Affront gegenüber der Schweiz»². Er sprach bei diesem Vorgang auch von einem «neuen Sofagate – mit umgekehrten Vorzeichen», in Anspielung auf den Besuch des EU-Ratspräsidenten Charles Michel und Ursula von der Leyens beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vor ein paar Wochen.
«Fundamentale Differenzen»
Nach dem Treffen in Brüssel konnten die Reaktionen nicht unterschiedlicher sein. Während Bundespräsident Guy Parmelin von «erheblichen Differenzen» sprach, die im Laufe der nächsten Tage zu «fundamentalen Differenzen» wurden und mit dieser Bezeichnung der Realität am nächsten kamen, fabulierte der Sprecher der EU von Gesprächsbereitschaft: «Die Türen bleiben offen»³, obwohl die EU klar signalisiert hatte, keine Vertragsänderungen mehr zuzulassen. Die EU argumentierte, wie sie es gegenüber der Schweiz immer getan hat, nicht auf einer Ebene der Gleichwertigkeit, sondern vom hohen Ross herunter. Man zeigt gerne, wo die Macht zu Hause ist. Dieses Gebaren hat neben der persönlichen Komponente auch eine strukturelle Ursache. Die EU ist ein von oben nach unten durchorganisierter zentralistischer Machtapparat, der der nationalen Souveränität keine Beachtung schenkt und im Falle der Schweiz der direkten Demokratie verständnislos bis ignorant gegenübersteht. «Denn», so der Historiker Oliver Zimmer, «die direkte Demokratie (und teilweise auch die parlamentarische) stellt im Kontext des EU-Rechtscodes einen systemwidrigen Störfaktor dar.»⁴
EuGH hätte das letzte Wort
Nach dem Treffen in Brüssel titelte die NZZ: «Brüssel fordert Kompromissbereitschaft von Bern»⁵. Übersetzt heisst das, die Schweiz habe sich den Vorgaben der EU zu unterwerfen und ihre Bedingungen zu akzeptieren, will sie an dem Rahmenabkommen festhalten. Es geht also nicht um Gesprächsbereitschaft und ernsthaftes Suchen nach einem Kompromiss, sondern um die Unterwerfung der Schweiz unter den Machtapparat der EU.
Das ist auch nicht gross verwunderlich. Wer sich der EU annähert – und mit dem Rahmenvertrag wäre die Schweiz der EU sehr nahe gekommen –, muss nach ihrem Takt tanzen. Wer einen anderen Takt vorgeben will oder aus der Reihe tanzt, hat einen schweren Stand. Wie weit sich die Schweiz der EU genähert hätte, erklärt Oliver Zimmer wie folgt: «Mit dem Rahmenabkommen würde die Schweiz faktisch zu einem EU-Mitglied ohne Stimmrecht. Sie würde sich verpflichten, bestehendes und neues Unionsrecht dynamisch zu übernehmen. Sollte das Schweizer Parlament im Einzelfall den Aufstand proben, hätte der EuGH das letzte Wort.»⁶
Neben den drei Punkten, Lohnschutz, Unionsbürgerschaft und staatliche Beihilfen, die in der medialen Berichterstattung unterschiedliche Aufmerksamkeit erlangten, muss die Preisgabe an Souveränität in Bezug auf die Rechtsprechung aus staatspolitischen Gründen sehr ernsthafte Sorgen bereiten. Denn neben den einzelnen Teilaspekten des Vertrags wird bei einem Streitfall immer der Mächtigere entscheiden: der Europäische Gerichtshof. Damit muss das Land nicht nur fremdes Recht übernehmen, sondern auch noch ein fremdes Gericht akzeptieren.
Die «dynamische» Rechtsübernahme, wie sie euphemistisch bezeichnet wird und angeblich als Kompromiss der EU gegenüber der Schweiz zu werten sei – wie unter anderem von der FDP-Nationalrätin Christa Markwalder⁷ gerne beschwichtigt –, bedeutet in Tat und Wahrheit nichts anderes als die «eigenständige» Übernahme des EU-Rechts. Paul Widmer erklärt dazu: «Ein InstA sollte zweierlei sicherstellen: erstens, dass die Schweiz neues EU-Recht laufend oder dynamisch übernimmt; zweitens, dass sich die Schweiz auf ein Verfahren zur Streitbeilegung verpflichtet, in welchem die Rechtsauslegung durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), wann immer EU-Recht betroffen ist, verbindlich ist.»⁸
Retorsionsmassnahmen angedroht
Sollte die Schweiz sich aber der EU-Rechtsprechung widersetzen, sind Strafmassnahmen, sogenannte Retorsionsmassnahmen, angedroht in Form von Sanktionen, Marktzugangsbeschränkungen oder anderen «Nettigkeiten» aus dem Fundus der EU.
Nach den Erfahrungen der letzten Monate gibt es nur noch eine schlüssige Reaktion: Sofortiger Abbruch der Verhandlungen und vertieftes Nachdenken darüber, was man von der EU erwarten kann, wo die Interessen der Schweiz gewahrt werden und welche effektiven Vorteile ein Abkommen mit der EU bringen muss. Die Aufgabe der Souveränität und der staatlichen Hoheit über Recht und Gesetz ist keine Option, nie und nimmer.
Selbst für SP-Ständerat, Mitglied der Aussenpolitischen Kommission sowie EU-Sympathisant Christian Levrat, ist der Abbruch der Verhandlungen um das Rahmenabkommen, wenn die EU sich nicht kompromissbereit zeigt, kein Weltuntergang: «Ein Abbruch dieser Verhandlungen führt nicht zu einem Brexit à la Schweiz.»⁹ Nun ist es am Bundesrat, das Rahmenabkommen zu beerdigen.
¹ NZZ vom 24.04.2021
² TagesAnzeiger vom 21.04.2021
³ NZZ vom 24.04.2021
⁴ Oliver Zimmer: Wer hat Angst vor Tell? Unzeitgemässes zur Demokratie, Basel 2020, S. 157
⁵ NZZ vom 24.04.2021
⁶ Oliver Zimmer: Wer hat Angst vor Tell? Unzeitgemässes zur Demokratie, Basel 2020, S. 157
⁷ NZZ vom 14.04.2021
⁸ https://paulwidmer.com/wp-content/uploads/2020/07/Paul_Widmer_14_07_2020.pdf
⁹ www.srf.ch/news/schweiz/eu-rahmenabkommen-bundesrat-zieht-die-kommunikative-notbremse
60 Rechtsprofessorinnen und Rechtsprofessoren warnen – unscharfe Begriffe öffnen staatlicher Willkür Tür und Tor
Zum Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT)
sl. Im September letzten Jahres hat das eidgenössische Parlament das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus, das sogenannte Anti-Terror-Gesetz, verabschiedet. Dies trotz zahlreicher internationaler und nationaler Warnungen. Die Uno-Sonderbeauftragte für Menschenrechte, Fionnuala Ní Aoláin, warnte bereits im Mai: «Der Entwurf für das Schweizer Anti-Terror-Gesetz bricht internationale Menschenrechtsstandards, indem er die Definition von Terrorismus ausdehnt, und könnte zu einem gefährlichen Präzedenzfall werden für die Unterdrückung von politischer Opposition weltweit.»¹ Kurz vor der Schlussabstimmung im eidgenössischen Parlament im September 2020 wandten sich über 60 Rechtsprofessorinnen und Rechtsprofessoren aller Schweizer Universitäten in einem ausführlichen offenen Brief an die Parlamentarier, in dem sie darlegten, dass das Gesetz mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar ist.
Wachsame Bürgerinnen und Bürger haben Ende letzten Jahres gegen das vom Parlament verabschiedete Gesetz das Referendum ergriffen und innert kurzer Zeit und unter erschwerten Corona-Bedingungen 142 800 Unterschriften gesammelt. Am 13. Juni werden die Schweizer Bürgerinnen und Bürger darüber abstimmen können.
Bundesrätin Karin Keller-Sutter betreibt nun Abstimmungspropaganda, um «ihr Gesetz» zu «retten». In einem Interview wischt sie die prominenten Warnungen mit unerträglicher Arroganz vom Tisch. Damit die Bürgerinnen und Bürger sich ein objektives Bild zur Abstimmungsvorlage machen können, veröffentlichen wir im folgenden den offen Brief der 60 Rechtsprofessorinnen und Rechtsprofessoren im Wortlaut.
¹ Swissinfo, https://www.swissinfo.ch/ger/-schweiz-sendet-fatales-signal-in-die-welt-hinaus-/46047064
Offener Brief von universitären Rechtsexpertinnen und Rechtsexperten:
Sehr geehrte Frau Bundesrätin, sehr geehrter Herr Bundesrat,
sehr geehrte Frau Ständerätin, sehr geehrter Herr Ständerat,
sehr geehrte Frau Nationalrätin, sehr geehrter Herr Nationalrat
Der Terrorismus gehört zu den schlimmsten Ausprägungen verheerender und tödlicher Kriminalität, vor welcher der Staat die Bevölkerung bestmöglich zu bewahren hat. Daher soll das rechtliche Instrumentarium der Schweiz in der Terrorismusbekämpfung gestärkt werden, sowohl aus repressiver Sicht durch neue Tatbestände im Strafgesetzbuch als auch aus präventiver Sicht durch die polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus, die sogenannten «PMT».
Die Gesetzesvorlage zu den PMT, welche zur Schlussabstimmung bereitsteht, wurde auf rechtlicher Ebene heftig kritisiert: von internationalen Institutionen, verschiedenen Menschenrechtsorganisationen sowie Vertretern*innen der akademischen Forschung.
Bei dieser Kritik handelt es sich nicht lediglich um «politische Stellungnahmen»¹ oder «persönliche Meinungen»². Ganz im Gegenteil: sie sind das Ergebnis ernsthafter und vertiefter juristischer Analysen. Daraus folgt die Erkenntnis, dass staatliches Handeln in diesem Bereich in Anbetracht der inhärenten Risiken einer «Null-Risiko-Politik» mit grösster Vorsicht zu erfolgen hat. Angesichts der Tatsache, dass die vorliegenden Massnahmen weitreichende Beschränkungen von Grund- und Menschenrechten erlauben, deren Schutz durch die Bundesverfassung und internationale Abkommen (EMRK, UNO Pakt I und II, usw.) garantiert ist, verdient diese Kritik eine seriöse Überprüfung.
Folglich erlauben wir uns, bestimmte, aus unserer Sicht rechtlich besonders problematische Aspekte der Gesetzesvorlage hervorzuheben:
Repression ohne verfahrensrechtliche Garantien
Die PMT werden ausserhalb des strikt strafrechtlichen Rahmens zur Anwendung kommen. Aufgrund ihres repressiven Charakters nähern sie sich strafrechtlichen Massnahmen an, ohne jedoch jene Garantien zu bieten, die zu jedem strafrechtlichen Verfahren gehören. Auch präventiv-polizeiliche Massnahmen dürfen nur unter strengen Bedingungen erlaubt sein und dürfen keinesfalls als Ersatz strafrechtlicher Verfahren dienen, andernfalls sie unseren Rechtsstaat untergraben.
Das Gesetz öffnet der Willkür Tür und Tor
Im Zentrum der Gesetzesvorlage steht der extrem unpräzise Begriff des «terroristischen Gefährders», welcher nicht die Begehung einer Straftat voraussetzt, sondern lediglich das Vorhandensein von «Anhaltspunkten», dass die betroffene Person «eine terroristische Aktivität ausüben wird», unter anderem durch die «Verbreitung von Furcht und Schrecken». Dafür bedarf es einer Gefährlichkeitseinschätzung, welche, wie auch der Bundesrat zugibt, mit «prognostischer Unsicherheit verbunden»³ ist. Der Begriff des «terroristischen Gefährders» ist daher von Subjektivität geprägt und öffnet der Willkür Tür und Tor.
Unzureichende richterliche Kontrolle
Aufgrund der Schwierigkeit einer solchen Einschätzung sollte die richterliche Gewalt zeitgleich mit der Verfügung der polizeilichen Massnahmen zum Zug kommen. Diese Verfügungsmacht obliegt jedoch ausschliesslich einer administrativen Behörde, nämlich fedpol. Abgesehen von der Eingrenzung auf eine Liegenschaft treten die Massnahmen sofort und ohne vorgängige richterliche Kontrolle in Kraft. Aufgrund ihrer Rolle im Verfahren und ihres gesetzlichen Auftrags als polizeiliche Behörde erfüllt fedpol nicht die notwendigen Bedingungen, um die Wahrung der Grundrechte der betroffenen Person ausreichend sicherzustellen.
Einführung einer Gefährlichkeitsvermutung
Da die Massnahmen aufgrund eines abstrakten Risikos einer potentiellen Straftatbegehung ausgesprochen werden, wird es sehr schwierig sein, sie anzufechten. Es etabliert sich eine Gefährlichkeitsvermutung, welche vor der richterlichen Behörde widerlegt werden muss. Das ist unserer Rechtsordnung und den ihr zugrunde liegenden Werten fremd. Das Fehlen einer aufschiebenden Rechtsmittelwirkung sowie einer vorgängigen richterlichen Kontrolle führt dazu, dass die von polizeilichen Massnahmen betroffene Person die beruflichen, sozialen und psychologischen Folgen selbst dann zu erdulden hat, wenn sich die Massnahmen als unbegründet erweisen.
Unvereinbarkeit mit der EMRK
Die Eingrenzung auf eine Liegenschaft erfolgt ohne Bezug auf die Begehung einer bestimmten Straftat und dementsprechend auch ohne jegliche Konkretisierung hinsichtlich Zeitpunkt, Ort oder Opfer. In der zurzeit im Gesetzesentwurf vorgesehenen Form ist diese Massnahme – sollten keine erheblichen Lockerungen im Vollzug vorgesehen werden – mit Art. 5 EMRK unvereinbar. Dies wurde bereits von Professor Andreas Donatsch in seinem Rechtsgutachten zuhanden der Kantonalen Konferenz der Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) dargelegt.⁴ Unseres Erachtens wurde auch mit den letzten Anpassungen in der Gesetzesvorlage dieser Schlussfolgerung von Prof. Donatsch unzureichend Rechnung getragen. Folglich wird es zu Freiheitseinschränkungen kommen, welche die minimalen Garantievorgaben von Art. 5 EMRK verletzen. Darüber hinaus wird mit der Eingrenzung auf eine Liegenschaft ein Verstoss gegen eine weniger einschneidende Massnahme sanktioniert, wodurch sie einen strafenden Charakter erhält. Folglich kann sie als strafrechtliche Anklage im Sinne von Art. 6 EMRK erachtet werden. Nichtsdestotrotz sind die sich daraus ergebenden Garantien nicht vorgesehen.
Aushebeln des Schutzes von Minderjährigen
Die PMT können auch gegen Kinder ab dem vollendeten 12. Altersjahr verfügt werden (bei der Eingrenzung auf eine Liegenschaft ab dem vollendeten 15. Altersjahr). Die den PMT zugrunde liegende präventiv-repressive, auf den Ausschluss ausgerichtete Philosophie steht im Widerspruch zur UN-Kinderrechtskonvention, da diese Massnahmen nur schwer mit dem übergeordneten Interesse des Kindeswohls in Einklang zu bringen sind. Es ist besorgniserregend, dass diese Problematik in der Botschaft des Bundesrats nicht vertieft behandelt wurde.
In Anbetracht der genannten Schwachpunkte dieser Gesetzesvorlage, insbesondere die unpräzisen Definitionen sowie die unzureichende richterliche Kontrolle, befürchten wir, dass die Grundrechte von durch PMT betroffenen Personen verletzt werden und es zu einer hohen Anzahl an «falsch-positiven Ergebnissen» kommen kann, das heisst Personen, von denen zu Unrecht vermutet wird, dass sie «terroristische Aktivitäten ausüben» könnten.
Auch wenn ausser Frage steht, dass Terrorismus nach einer starken Antwort unserer Institutionen verlangt, muss staatliches Handeln im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit erfolgen. Es ist ein starker Rechtsstaat, dessen die Schweiz bedarf, um der terroristischen Bedrohung entgegenzutreten. Die der Bundesversammlung unterbreitete Gesetzesvorlage ist hingegen höchst problematisch mit Blick auf die Bundesverfassung und internationale Menschenrechtsabkommen. Ihre Annahme würde unseren Rechtsstaat aushöhlen. Daher, geschätzte Parlamentarierinnen und Parlamentarier, appellieren die Unterzeichnenden an Ihre Wachsamkeit und Sorgfalt.
Wir danken Ihnen für die Aufmerksamkeit, die Sie diesem Schreiben entgegenbringen. Mit freundlichen Grüssen
¹ Qualifiziert als solche durch Bundesrätin Karin Keller-Sutter während der parlamentarischen Debatte vom 18. Juni 2020: «Ich teile die international geäusserten Bedenken nicht und erachte sie als unbegründet. Es ist eine politische Stellungnahme; eine solche abzugeben, ist jedem unbenommen, man ist frei, das zu tun» (BO 2020 N 1111).
² Die Bundesrätin beschreibt die Stellungnahmen der Sonderberichterstatter*innen als solche: «[Ich] fand, dass sie persönliche Meinungen geäussert haben» (BO 2020 N 1112).
³ BUNDESRAT, Botschaft zum Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus, BBI 2019 4751, S. 4784.
⁴ ANDREAS DONATSCH, Rechtsgutachten, Umgang mit gefährlichen Personen. Mögliche gesetzgeberische Lösungen auf Stufe Bund und Kantone, Zürich, 4. April 2019. Abrufbar unter www.kkjpd.ch / News / 20.3.2020 Rechtsgutachten Prof. Donatsch, Rz 127, 177 und 178.
Hauptunterzeichnende
Prof. Dr. iur. Frédéric Bernard,
Professeur ordinaire de droit public, Université de Genève
Prof. Dr. iur. Véronique Boillet, Professeure associée de droit public, Université de Lausanne
Prof. Dr. iur. Nadja Capus, Ordentliche Professorin für Strafrecht, Universität Neuenburg
Prof. Dr. iur. Daniel Moeckli, Ordentlicher Professor für Öffentliches Recht mit internationaler und rechtsvergleichender Ausrichtung, Universität Zürich
Prof. Dr. iur. Laurent Moreillon, Professeur associé de droit pénal, Université de Lausanne
Prof. Dr. iur. Evelyne Schmid, Professeure associée de droit international public, Université de Lausanne
54 weitere Mitunterzeichnende
Quelle: https://unser-recht.ch/wp-content/uploads/2020/09/PMT-Offener-Brief.pdf
Ursache und Folge – der «Westen» als treibende Kraft in Konflikten

Zeitgeschehen im Fokus: Biden hat den Rückzug der USA aus Afghanistan angekündigt…
Prof. Dr. Alfred de Zayas… und die USA haben nach Vietnam erneut eine schwere Niederlage erlitten. Es ist der längste Krieg, den die USA je geführt haben. Seit nahezu 20 Jahren treibt das US-Militär in Afghanistan sein Unwesen und hinterlässt das Land in einem schlechteren Zustand als vor seiner Intervention: zerstörte Infrastrukturen, verseuchte Umwelt, «Kollateralschäden». Ja, die USA haben eine Niederlage einstecken und das Land verlassen müssen. Die Meinungsmacher werden zwar einen Dreh finden, dass es keine Niederlage ist. Aber es ist, was es ist, eine Niederlage, die uns Amerikaner allerdings Milliarden Dollars kostete, die viel besser in das Gesundheitswesen, das Schulwesen oder den Wohnungsbau hätten investiert werden sollen.
Wie beurteilen Sie den Einsatz der US-Armee?
Sie hat nichts, aber auch gar nichts erreicht, und es ist positiv, dass sie endlich abzieht. Wenn die Welt gerecht wäre, müssten die USA Milliarden an Reparationen bezahlen, denn Nato und US-Militär haben dieses Land zerstört. Sie haben dieses Land mit abgereichertem Uran (Depleted Uranium) verseucht. Sie haben Tausende von Zivilisten in den Tod gejagt. Das Land ist voller Krater durch die Tausenden von Bomben, die sie während 20 Jahren auf das Land abgeworfen haben. Die USA haben dieses Land gefoltert. Zum Glück gehen sie endlich. Aber das muss ein Nachspiel haben. Es ist eine Untersuchung vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC) wegen der Verletzungen des Kriegsrechts durch die USA und ihrer Verbündeten in der Nato eröffnet worden. Die muss weiterlaufen und entsprechende Konsequenzen haben. Es muss von den USA eine Wiedergutmachung für alle angerichteten Schäden in Afghanistan geben.
Werden die USA das leisten?
Das müssen die unabhängigen Staaten wie Russland und China, aber auch andere Länder einfordern. Die USA können sich nicht einfach zurückziehen, als wenn nichts geschehen wäre. Sie haben das Land zerstört wie seinerzeit Vietnam. Dort sterben noch heute die Menschen an den Folgen von «Agent Orange». Die USA haben chemische Waffen eingesetzt, sowohl in Vietnam als auch in Afghanistan. Das sollte einmal von der bisher wenig glaubhaften Organisation über das Verbot von chemischen Waffen (OPCW) untersucht werden, anstatt den Unsinn über Syrien weiterzuverbreiten.
Die Welt wird also mit Biden nicht friedlicher …
Nein, wir haben laufende Provokationen gegenüber China und Russland. Besonders die Provokationen gegen Russland sind bewusst, gezielt, heuchlerisch, menschenverachtend. Wenn wir die ganzen Konflikte genauer anschauen, so auch die Situation in Venezuela oder China oder, oder, dann kommen wir nicht darum herum, die Frage nach Ursache und Folge zu stellen.
Bleiben wir einmal bei Russland. Was heisst das jetzt konkret für den sich in der Ukraine seit kurzem wieder zuspitzenden Konflikt?
Die Ursache für den Konflikt ist, wenn man so sagen will, der Westen. Dies haben viele Völkerrechtler und Professoren der Politikwissenschaft, u. a. Professor John Mearsheimer der Universität Chicago, festgehalten.¹
Der Westen hat 2014 den Staatsstreich organisiert und eine demokratisch gewählte Regierung zu Fall gebracht. Diejenigen, die Janukowitsch gewählt hatten, konnten damit nicht einverstanden sein und waren es auch nicht. Es gibt nichts Undemokratischeres als einen Putsch. Viele empfanden den Vorgang als antirussisch und entschieden sich, sich von der Ukraine abzuspalten. Das ist Ursache und Folge.
Wie ist die aktuelle Entwicklung zu beurteilen?
Es hat eine Mobilisierung der Truppen auf der ukrainischen Seite in Richtung Russland gegeben. Was soll man von so einer Entwicklung erwarten? Glaubt man tatsächlich, die Russen würden stillhalten und abwarten? Das ist doch weltfremd. Auch hier stellt sich wieder die entscheidende Frage nach Ursache und Folge. Die Russen provozieren nicht. Sie wollen keinen Konflikt, aber sie reagieren auf Provokationen. Wenn die Gegenseite mobil macht, dann tun sie das auch. Es bleibt nahezu keine andere Wahl. Nun lesen wir, dass die Russen ihre Truppen abziehen. Das ist sicher eine gute Entwicklung. Ich vermute, dass entsprechende Gespräche zwischen Selinsky und Putin stattgefunden haben, um zur Entspannung beizutragen. Aber wer sind hier Kriegstreiber? Die Nato?
Die Situation um die Ukraine erinnert etwas an das Szenario vom Sommer 2008 mit Sakaaschwili in Georgien. Gibt es hier gewisse Parallelen?
Ja, auch hier war der Westen die treibende Kraft, also die Ursache. Saakaschwili war im Grunde genommen ruhig. Aber es ist bekannt, dass die CIA ihn überzeugte, das südliche Ossetien ohne politische Gefahr wieder einnehmen zu können. Zu dieser Zeit wimmelte es in Tiflis von Mossad- und CIA-Agenten, sogenannte Advisors, die ihn ermunterten, das zu tun. So kam es zur Aggression Saakaschwilis, was offiziell anerkannt ist und in unzähligen Dokumenten dargelegt: Der Aggressor war Saakaschwili.
Russland hat damals deutlich darauf reagiert.
Ja, es war dann schnell der Vorwurf im Raum, dass Russland zu weit gegangen sei. Das ist aus meiner Sicht falsch. Die russische Armee ist verhältnismässig vorgegangen. Sie hätte Tiflis besetzen können und Saakaschwili «einen Tritt» versetzen. Das hat sie aber nicht getan. Sie hat in sechs Tagen die Aggression zurückgeschlagen, und damit war die Sache beendet. Wenn Georgien keine sinnvolle Politik gegenüber den Minderheiten betreibt, dann wird Russland die Unabhängigkeit von Abchasien und Ossetien anerkennen. Also auch hier haben wir Ursache und Folge. Hätte Saakaschwili nicht den Angriff gegen Südossetien begonnen, wäre die Situation heute noch wie vor dem Angriff 2008.
Die USA haben die Sanktionen gegen Russland verschärft, was sie mit der Lage in der Ukraine begründen und mit der Wiedereingliederung der Krim in die russische Föderation. War das eine völkerrechtswidrige Annexion?
Nein, die Argumentation ist völkerrechtlich falsch. Aber Achtung: Die ständige Wiederholung einer falschen völkerrechtlichen Darstellung hat Folgen, denn die meisten Leute sind keine Völkerrechtler und nicht in der Lage zu beurteilen, ob das richtig oder falsch ist. Deshalb denken sie, in der Mitte liege die Wahrheit: «Wenn die USA das sagen, dann muss es ja etwas haben.» Verschiedene Völkerrechtler haben dazu Stellung genommen. Es handelt sich keinesfalls um eine völkerrechtswidrige Annexion. Das ist dann der Fall, wenn ein Staat ein fremdes Gebiet angreift, militärisch besetzt und sich gegen den Willen der dort lebenden Bevölkerung das Territorium einverleibt.
Was sagt die Bevölkerung?
Dazu gibt es eine interessante Begegnung, die zwar schon einige Jahre zurückliegt, aber das Problem sehr gut illustriert. Ich war 1994 zweimal als Vertreter des Uno-Generalsekretärs für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Ukraine. Da habe ich das Land durchquert und festgestellt, dass viele Leute Russen waren und sich auch als Russen fühlten, obwohl sie im Grunde ganz friedlich in der Ukraine weiterleben wollten, denn dort hatten sie Arbeit und Familie. Ich spreche nämlich Russisch und habe die Gelegenheit genutzt, mich mit Bürgern auszutauschen. Als ich den Präsidenten der autonomen Republik Krim in Simferopol besuchte, sagte er mir als erstes: «Professor de Zayas, wir hier sind Russen.» Er wollte mich darauf aufmerksam machen, dass sie im Prinzip nur pro forma zur Ukraine gehörten, sie aber keine Ukrainer waren. Auch hier haben wir Ursache und Folgen.
Das ganze Narrativ der USA ist also falsch, egal ob es in der New York Times oder der Washington Post steht.
Auf der Krim war die Mehrheit für einen Wiedereintritt in die russische Föderation…
Ja, die überwiegende Mehrheit. Auch wurden alle wichtigen völkerrechtlichen Schritte befolgt. Zunächst gab es ein Referendum, bei dem über 90 % der Bevölkerung einem Anschluss der Krim an Russland zugestimmt hatten. Daraufhin folgte eine unilaterale Erklärung durch das zuständige Parlament. Danach kam es zu einem offiziellen Antrag zur Aufnahme der Krim in die Russische Föderation. Zunächst musste das russische Parlament prüfen, ob das überhaupt möglich ist. Am Schluss überprüfte das russische Verfassungsgericht, ob das ganze Prozedere nach den Vorgaben der russischen Konstitution abgelaufen ist. Wir haben hier einen rechtsstaatlichen Vorgang, der sich an bestehenden juristischen Grundlagen orientiert hat. Der ganze Prozess ist Schritt für Schritt auf den Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts der Völker abgelaufen, wie es im Artikel 1 des Uno-Paktes über bürgerliche und politische Rechte vorgesehen ist. Alles andere ist Propaganda. Die USA und leider auch die Europäer wiederholen immer wieder diesen Quatsch von der russischen Annexion.
Damit schaffen sie eine negative Stimmung gegenüber Russland und giessen immer wieder Öl ins Feuer.
Eigentlich argumentieren sie nur für ihre eigene Geopolitik, unterdrücken aber dabei wesentliche Fakten. Man muss die zeitliche Entwicklung genau sehen: Im Jahre 1955 geschieht Chruschtschows eigenmächtiger Transfer der Krim von Russland zur Ukraine, ohne jegliche Konsultierung der auf der Krim lebenden Bevölkerung; Februar 2014 der «Maidanputsch» unter Bedrohung von Leib und Leben der Regierung; Februar 2014 antirussische Gesetzgebung im illegalen Putsch-Parlament. Als Reaktion darauf erfolgte das Selbstbestimmungsreferendum. Also: Ursache und Folge. Wer dies bezweifelt, soll einmal in die Krim reisen und mit den Menschen dort reden.
Damit war der Anschluss der Krim an Russland also keine Annexion…
Im Sinne des Völkerrechts war der Anschluss bestimmt keine Annexion und schon gar kein Völkerrechtsbruch. Es war die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim, ein Recht, das in der Uno-Charta und im Artikel 1 des Uno-Paktes über bürgerliche und politische Rechte stipuliert ist. Annexion ist ein «Terminus technicus» im Völkerrecht und kann bei der Krim nicht angewandt werden. Wir leben aber in Zeiten der «Fake news» und des «Fake law» bzw. vorgetäuschten Rechts. Viele Politiker und Journalisten instrumentalisieren juristische Termini in frivoler, extravaganter Manier, und manchmal finden sie auch einige Völkerrechtler, die diese Beugung des Rechts so quasi legitimieren. Hier sollen wir auf die deutliche Feststellung des Internationalen Gerichtshofs in seinem Gutachten vom 22. Juli 2010 bezüglich der unilateralen Erklärung der Unabhängigkeit Kosovos verweisen, welche dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes Priorität über die territoriale Integrität Serbiens einräumte.² Die Mainstream-Medien aber verschweigen ständig, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der Krim schlicht und einfach zu Russland gehören will.
Hätte man das Problem mit der Krim nicht schon beim Zerfall der Sowjetunion regeln müssen?
Ja, die Uno hätte 1991 auf der Krim, im Donezk oder in Lugansk ein Referendum durchführen müssen, denn es war völlig klar, dass die Bevölkerung russisch war. Als sich die Ukraine von der UdSSR gelöst hatte, hätte man in diesen Gebieten eine Abstimmung durchführen können, um somit späteren Problemen vorzubeugen. Das Ergebnis wäre nicht anders als 2014 gewesen, aber dadurch hätte man viele Konflikte präventiv verhindert.
Zurück zum Völkerrecht. Heute nimmt die EU für sich in Anspruch, dass sie Völkerrecht setzen kann.
Ja, das ist immer ein Problem gewesen. Das Völkerrecht ist nicht von Gott erschaffen worden, es ist auch keine göttliche Offenbarung. Das Völkerrecht ist etwas, was eine Gruppe von Staaten zu einem bestimmten Zeitpunkt als Regeln untereinander vereinbart. Die Schöpfer der Regeln sind in dem Fall nur die EU-Staaten. Das Völkerrecht, das wir kennen, ist ein Produkt des Westens, ohne Mitarbeit von den Milliarden von Menschen aus China, Indien, Indonesien und Afrika etc. Die westlichen Staaten haben Regeln für sich vereinbart, die sie dann auf die übrige Welt übertragen haben. Für einen Zeitraum können diese Regeln für alle gelten, wenn sie sie akzeptieren, aber sie sind nicht sakrosankt. Diese Regeln sind nicht für alle Ewigkeit gemacht.
Gilt das für alle zwischenstaatlichen Regeln?
Nein, es gibt gewisse Prinzipien, die alle überragen. Dazu gehören das Gewaltverbot, das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten von anderen Staaten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Prinzip der Freiheit der Meere, das Verbot der Sklaverei, der Piraterie, der Folter. Diese Regeln sind sozusagen grenzüberschreitend und immerwährend. Alles andere wie z. B. die Anerkennung eines anderen Staates ist reine Politik. Das hat mit Recht nichts zu tun.
Wenn die EU also sagt, wir bestimmen das Völkerrecht, dann steht das auf keiner internationalen Rechtsgrundlage, sondern ist vor allem politisch motiviert.
Ja, das wäre politisch. Was sie bestimmen kann, ist ein regionales Völkerrecht zwischen den Staaten, die das mitmachen wollen. Die EU hat gemäss dem Vertrag von Maastricht und dem Vertrag von Lissabon tatsächlich die Kompetenz, für das gesamte Gebiet der Europäischen Union Recht zu sprechen, und kann so ein regionales Völkerrecht erlassen, was aber nur in den Mitgliedstaaten Anwendung findet. Das hat absolut keine Bedeutung für die restliche Welt. Was kümmert Uganda das lokale Völkerrecht in Europa? Das geht sie nichts an. Was kümmert einen Chinesen, was die Clique in Brüssel für eine Vorstellung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker hat? Dass auch Europäer damit ihre Mühe haben, sieht man an den Katalanen, die unabhängig sein wollen, oder an der Bevölkerung von Korsika, die lieber heute als morgen nicht mehr zu Frankreich gehören möchte, so wie auch die Basken. Aber sie sind alle in dieser totalitären Auffassung gefangen.
Ein Konflikt, der auch unter diesem Aspekt zu betrachten ist, ist der zwischen Armenien und Aserbaidschan um Nagorni Karabach.
Was hier ins Auge fällt und wirklich schockiert, sind die eklatanten Verletzungen der Dritten Genfer Konvention von 1949. Es gibt die Verpflichtung, die Kriegsgefangenen sofort zu entlassen. Das haben die Aseris bis jetzt nicht getan. Sie haben sogar einen Kriegspark eröffnet, was besonders stossend ist und eine totale Kriegshetze bedeutet, indem man die vielen Helme der getöteten armenischen Soldaten als Trophäen präsentiert.
Wo bleibt hier die Empörung der westlichen «Wertegemeinschaft»?
Es ist ein Skandal, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarats nicht sofort Aserbaidschan wegen des Bruchs der Vereinbarung mit der OSZE und der Eröffnung von Kampfhandlungen gerügt hat. Der Uno-Generalsekretär António Guterres und der Uno-Sicherheitsrat haben zwar im September 2020 für einen Waffenstillstand plädiert. Aber sie haben den Aggressor – Aserbaidschan – nicht beim Namen genannt. Es gab keine angemessene Diskussion im Uno-Sicherheitsrat und in der Uno-Generalversammlung, obwohl der Angriff Aserbaidschans einen eklatanten Bruch der Uno-Charta darstellt. Auch die menschenverachtende Verherrlichung des «Sieges» durch Aserbaidschan hat keine allgemeine Rüge bekommen. Es ist gegen alle Moral und Ethik. Es ist gegen die Demut vor dem Tod.
Sie haben die Auseinandersetzung zwischen China und den USA erwähnt. Wie sehen Sie das aktuelle Verhältnis zwischen beiden Ländern?
Aussenminister Blinken weiss nichts Besseres zu tun, als gegen China wegen eines angeblichen Genozids an den Uiguren zu hetzen, ohne irgendeinen Beleg für seine Aussagen zu liefern. Der Bericht des Aussenministeriums ist absolut frei von irgendwelchen Beweisen. Sie bemühen das Wort Genozid, aber nirgends ist auch nur ein Versuch, das aufgrund der Konvention von 1948 zu belegen. Es wird etwas in die Welt gesetzt, was von der Presse sogleich aufgenommen wird. Es ist eine Schande. Es ist ein klassisches Beispiel für Fake News. Schlimmer noch – es geht hier um «Fake Law» – denn «Völkermord» ist ein kodifiziertes Verbrechen, und wenn man es behauptet, muss man es auch beweisen.
Wenn es in unseren Medien um China oder Russland geht, sprechen sie immer davon, dass diese beiden Länder die USA bzw. die Nato provozieren. Wie sehen Sie das?
Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Russen haben etliche Male bewiesen, dass sie gute Beziehungen mit der EU und den USA wollen. Der Westen nimmt aber zunehmend eine aggressive Haltung ein, provoziert und verhängt Sanktionen. Hinzu kommt eine ungute Atmosphäre der Russophobie, eine ständige Diffamierung Putins und der Russen insgesamt. Sie sind eben «die Bösen». Ist es dann verwunderlich, dass die Russen darauf reagieren? Bei China verhält es sich ebenso. China führt keine Kampagne gegen die USA, auch nicht in ihrer internen Presse. Einige meiner Studenten leben in China und haben mir Entsprechendes darüber erklärt. China will lediglich seinen «Platz an der Sonne» verteidigen und sein eigenes Territorium und die umliegenden Gewässer schützen. Was haben die USA im Meer von Taiwan zu suchen? Was haben die USA in Okinawa, bei den Philippinen oder im südchinesischen Meer verloren? Washington betreibt eine permanente Provokation gegenüber China.
Wenn China versucht zu sagen, hier ist die rote Linie, dann soll das eine Provokation durch China sein. Dass viele Leute in Washington miese Typen sind, das wissen wir. Aber dass die Presse als Resonanzraum nur das wiederholt, und zwar kritiklos, was Aussenministerium und Pentagon in die Welt setzen, ohne es zu hinterfragen und selbst zu recherchieren, ist ungeheuerlich.
Es gibt einen Bericht des US-Aussenministerums. Wie seriös ist der?
Ich habe diesen Bericht des Aussenministeriums zu den Menschenrechten in China gelesen.³ Natürlich gibt es Menschenrechtsverletzungen in China, wie es sie in Russland, Belarus, Deutschland, Frankreich, und den USA gibt. Was besonders ins Auge sticht, ist nämlich die Behauptung, China betreibe Völkermord in Xinjian. Im Vorwort des Berichtes und im «Executive summary» steht das – aber dann fehlt jeglicher Beweis im Text des Berichtes. Wie bei «Annexion» stellt das «Verbrechen des Völkermords» eben einen «Terminus technicus» im Völkerrecht dar. Die Uno-Völkermordkonvention von 1948 definiert das Verbrechen, die Elemente, die Umstände und setzt den Beweis der «Intention» (bzw. «mens rea», Absicht) als unabdingbare Voraussetzung.⁴
Dann gibt es klare Kriterien für eine entsprechende Beweisführung …
… aber im Bericht wird das nicht belegt. Da ist nicht einmal der Versuch, glaubwürdige Beweise, Statistiken, Zeugnisse über einen Genozid in Xinjian vorzulegen. Der Bericht beschreibt Probleme mit der Meinungsfreiheit, mit den freien Wahlen, mit Flüchtlingen, in Gefängnissen usw. Probleme, die allerdings gar nichts mit Völkermord zu tun haben. Was Tötungen anbetrifft, wird behauptet, dass «numerous reports» existieren, aber «few or no details were available», d. h., es wird irgendwo etwas behauptet, aber Beweise liegen keine vor. Mit einer Ausnahme – ein gefangener Uigure ist im Gefängnis verstorben – nach offizieller Information an natürlichen Ursachen.
Wird das im Bericht akzeptiert?
Nein, der Bericht will die offizielle Erklärung nicht akzeptieren, ohne dabei ein Alternativszenario zu präsentieren. Dann wird behauptet, dass bis zu einer Million Uiguren inhaftiert sei. Wo und wie wird nicht erkärt. Dabei ist zu bemerken, dass auch China mit islamistischen Gruppen bzw. Terroristen zu tun gehabt hat, so wie die USA in Syrien, im Irak, in Afghanistan usw. Die Chinesen behaupten und belegen, dass in Xinjian terroristische Aktivitäten zu verzeichnen sind, so wie u. a. der Hong Konger Geschäftsmann Weijian Shan berichtet. Und tatsächlich stand bis spät im Jahr 2020 das Uighur East Turkestan Islamic Movement auf der US-Terroristenliste, zumal es in Afghanistan eingesetzt war und die USA viele uigurische Kriegsgefangene in Afghanistan machten. Im Juli 2020 wurde von der Uno die Präsenz von Tausenden Uiguren-Kämpfern in Afghanistan und sogar in Syrien festgestellt. Es ist also unseriös und unverantwortlich vom State Department, ein so gewichtiges Wort wie «Völkermord» ohne Beweise in die Welt zu setzen. Leider wurden diese Behauptungen auch von der New York Times tel quel übernommen und verbreitet. Darum habe ich am 23. April zusammen mit Professor Richard Falk von der Princeton University einen Kommentar zur völkerrechtlichen Bedeutung des Begriffs Genozid veröffentlicht.⁵
Die Situation im Südchinesischen Meer zwischen China und den USA erinnert etwas an die Situation mit Japan und den USA vor dem Angriff auf Pearl Harbour im Dezember 1941. Teilen Sie diesen Eindruck?
Ja, das hat etwas, aber die Chinesen sind viel zu klug, sie haben nicht die Hybris der Japaner. Sie werden keinen Angriff à la Pearl Harbour inszenieren. Sie werden den USA keinen Anlass bieten, um den Krieg zu erklären. Sie werden, wie wir es auch bei Putin sehen, ganz ruhig, angemessen und verhältnismässig im Sinne des «Tit for tat» reagieren. Die Massnahme wird zugeschnitten auf die Aktion der USA. Wenn die USA Sanktionen verhängen, dann werden die Chinesen ebenfalls Sanktionen verhängen. Die USA werfen chinesische Diplomaten aus dem Land, dann tun die Chinesen das auch. Aber ich glaube nicht, dass es hier zu einer Eskalation kommen wird. Der ganze Lärm und die Provokationen sind vor allem auf das eigene amerikanische Publikum ausgerichtet.
Was bringt Sie zu dieser Einschätzung?
Vor allem, weil die Chinesen eine realistische, vorhersehbare und stabile Weltpolitik machen. Sie leiden nicht an Megalomanie. Sie kennen ihre Stärken, sie kennen ihre Schwächen. Sie planen nicht für einen «Blitzkrieg», sie planen nicht, um die Welt zu erobern. Sie wissen, dass sie in 30 Jahren die Welt wirtschaftlich bestimmen könnten. Das hängt nur mit der Entwicklung der Weltwirtschaft zusammen. Was mir mehr Sorge macht, ist aber die Militarisierung des Weltraums auf Mond oder Mars.
Gibt es hier keine Regeln?
Es gibt bereits internationale Verträge, die das verbieten. Der sogenannte Weltraumvertrag – (Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschliesslich des Mondes und anderer Himmelskörper) wurde am 27. Januar 1967 auf Basis der Erklärung der Uno vom 13. Dezember 1963 zu den Rechtsgrundsätzen hinsichtlich der Tätigkeiten im Weltraum vereinbart. Er trat am 10. Oktober 1967 in Kraft. Besser wäre der sogenannte «Mondvertrag» von 1979 gewesen, aber nur 17 Staaten haben ihn ratifiziert.
Man muss daher ein Auge darauf haben, dass die USA nicht alles für sich in Anspruch nehmen. Die Chinesen werden das kaum erlauben. Man weiss nun, dass die Chinesen nicht kurzfristig, sondern in Dekaden denken. Dazu können Sie das exzellente Buch des Sinologen Professor Harro von Senger (aus Willerzell bei Einsiedeln) lesen⁶.
Was kann man gegen die ungute und auch gefährliche Entwicklung tun?
Natürlich habe ich keine «Silver bullet» und kann also keine einfache Lösung vorschlagen. Gewiss lehne ich stoisches «Zuschauen» entschieden ab. Ich mache mir ernste Sorgen und rede mit Politikern, Diplomaten und Professoren. Hier kann und muss die Uno aktiver werden – im Sinne der Verpflichtung in der Uno-Charta, um «künftige Generationen vor der Geisel des Krieges zu bewahren». Wir schwimmen aber in einem Ozean voller Lügen. Regierungen und Medien lügen tagtäglich. Die Medien indoktrinieren uns. Es gibt nicht nur eine Lügenpresse, sondern auch eine Lückenpresse.
Braucht es nicht auch eine kritische Haltung und das akribische Suchen nach verlässlichen Quellen?
Genau. Darum muss die erste Aufgabe sein, die richtigen Informationen zu bekommen, damit man agieren kann. Die Zivilgesellschaft muss sich durch demokratische Mittel dieses Recht zurückholen – das Recht auf Information, das Recht auf Wahrheit, das Recht auf Meinungsfreiheit. Dann erst können wir von unseren Politikern verlangen, dass sie im Uno-Sicherheitsrat, in der Uno-Generalversammlung, im Uno-Menschenrechtsrat konsequent handeln. Wir fordern, dass der Friede als Menschenrecht anerkannt und kodifiziert wird. Wir verlangen, dass der militärisch-industrielle-finanzielle Komplex unter Kontrolle gebracht wird. Wir brauchen neue Prioritäten und verlangen einen neuen Sozialvertrag, der die Menschenrechte und die Menschenwürde in den Mittelpunkt stellt. Wir verlangen Multilateralismus, internationale Solidarität, ein Ende der gefährlichen Russophobie und Sinophobie. Wir haben die Instrumente, die den Frieden sichern würden und die menschliche Vernunft. Frieden wäre jederzeit möglich. Mein neues Buch «Building a Just World Order» (erscheint im Sommer im Clarity Press, Atlanta, Georgia) formuliert 25 Prinzipien der Weltordnung und beschreibt, wie man sie erreichen kann.⁷ Pax und Justitia sind keine Utopie. Es liegt an uns, sie zu errichten.
Herr Professor de Zayas, ich danke für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
¹ www.mearsheimer.com/wp-content/uploads/2019/06/Why-the-Ukraine-Crisis-Is.pdf
² siehe vor allem Absatz 80 des Gutachtens www.icj-cij.org/public/files/case-related/141/141-20100722-ADV-01-00-EN.pdf
³ «Country Reports on Human Rights Practices» www.state.gov/reports/2020-country-reports-on-human-rights-practices/
⁴ www.un.org/en/genocideprevention/documents/atrocity-crimes/Doc.1_Convention%20on%20the%20Prevention%20and%20Punishment%20of%20the%20Crime%20of%20Genocide.pdf
⁵ www.counterpunch.org/2021/04/23/reflections-on-genocide-as-the-ultimate-crime/
⁶ Harro von Senger: 36 Stratageme. Bern 1991, Scherz Verlag
⁷ https://www.claritypress.com/wp-content/cache/wp-rocket/www.claritypress.com/product/building-a-just-world-order/index.html_gzip
US-Truppen ziehen ab –der Krieg geht weiter?
[…] Wir begrüssen Präsident Bidens Entscheidung, die Forderungen all der Neokonservativen zu ignorieren, die sich zur Unterstützung seiner Regierung eingefunden haben, aber wie so oft, wenn Washington im Spiel ist, muss man wirklich das Kleingedruckte lesen, wenn etwas zu gut klingt, um wahr zu sein. In diesem Fall besteht das Kleingedruckte darin, dass die USA Afghanistan eigentlich gar nicht verlassen werden. Wie ein aktueller Artikel in The Grayzone zeigt, wird der Krieg in Afghanistan mit US-Spezialkräften, CIA-Paramilitärs und Auftragskillern weitergehen, die den Platz der US-Soldaten einnehmen. Der Krieg wird nicht enden, er wird nur «privatisiert» werden. […]
Wir müssen vollständig aus Afghanistan hinaus. Gestern.
Quelle: http://ronpaulinstitute.org
Österreich: Staatliche Massnahmen brauchen wahrheitsgemässe Begründungen
hhg. Am 29. Januar 2021 hatte eine österreichische Regierungspartei für den 31. Januar eine Versammlung auf einem öffentlichen Platz in Wien angemeldet. Bereits am 26. Januar hatte sich der Polizeipräsident an den Gesundheitsdienst der Stadt Wien gewandt, der – gestützt auf eine Empfehlung der Corona-Kommission vom 21. Januar – dazu riet, Demonstrationen am Wochenende vom 30./31. Januar zu verbieten, da davon auszugehen sei, dass Abstände nicht eingehalten und Masken nicht getragen würden. Auch das Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung hatte sich in einem Aktenvermerk am 28. Januar ähnlich geäussert. Am 31. Januar teilte die Landespolizeidirektion Wien der Regierungspartei daher mit, die Versammlung dürfe nicht durchgeführt werden, da eine Missachtung des verordneten Mindestabstandes und der Maskenpflicht zu befürchten sei. Gegen diesen Entscheid legte die Partei Beschwerde ein.
Am 24. März 2021 hat das Verwaltungsgericht Wien dieser Beschwerde in allen Punkten¹ zugestimmt: «I. Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid behoben. Die Untersagung erfolgte zu Unrecht.»
Klar und deutlich stellt das Verwaltungsgericht fest, dass es dem Entscheid des Wiener Polizeipräsidenten, «an einer haltbaren Begründung für eine Untersagung» mangelt. In Österreich hat dieses Urteil ziemlich Wellen geworfen.
Zu einigen rechtlichen Aspekten des Urteils
Der rechtlichen Begründung des Urteils wird der Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorangestellt: «Gemäss Art. 11 Abs. 1 EMRK BGBl. Nr. 210/1958 idF BGBl. III Nr. 30/1998, haben alle Menschen das Recht, sich friedlich zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschliessen, einschliesslich des Rechts, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu bilden und diesen beizutreten.»
– Aktuelle Lage falsch beurteilt
Die «Informationen aus gesundheitlicher Sicht» des Gesundheitsdienstes Wien, auf die der Polizeipräsident sein Verbot gestützt hat, hat die aktuelle Seuchenlage falsch beurteilt. Grundlage einer solchen Beurteilung müssen gemäss WHO symptomatische Infektionen und Erkrankte sein, so das Gerichtsurteil:
«Der Gesundheitsdienst der Stadt Wien verwendet (…) die Wörter ‹Fallzahlen›, ‹Testergebnisse›, ‹Fallgeschehen› sowie ‹Anzahl an Infektionen›. Dieses Durcheinanderwerfen der Begriffe wird einer wissenschaftlichen Beurteilung der Seuchenlage nicht gerecht. Für die WHO ausschlaggebend ist die Anzahl der Infektionen/Erkrankten und nicht der positiv Getesteten oder sonstiger ‹Fallzahlen›.»²
Das Urteil stellt fest, dass die Falldefinition von Covid-19 des Gesundheitsministeriums vom 23.12.2020 nicht haltbar ist. Ein Covid-19-Fall ist gemäss Gesundheitsministerium a) Jede Person mit positivem PCR-Test, mit oder ohne Krankheitssymptome b) Jede Person mit SARS-COV-2 spezifischem Antigen, die entweder klinische oder epidemiologische Kriterien erfüllt. Keine dieser Falldefinitionen erfüllt die «Erfordernis des Begriffs ‹Kranker/Infizierter› der WHO», so das Urteil.
– Zum PCR-Test
Ein PCR-Test für sich allein, kann den Gesundheitszustand eines getesteten Menschen nicht beurteilen, so das Urteil. Sowohl der Erfinder des PCR-Tests wie auch die WHO weisen darauf hin, «dass ein PCR-Test nicht zur Diagnostik geeignet ist und daher für sich alleine nichts zur Krankheit oder einer Infektion eines Menschen aussagt.» Die Beurteilung, «ob eine Person krank ist oder gesund, muss von einem Arzt getroffen werden (vgl. § 2 Abs. 2 Z 1 und 2 Ärztegesetz 1998, BGBl. I. Nr. 169/1998 idF BGBl. I Nr. 31/2021).»
– Zum CT-Wert
Das Urteil hält fest, dass ab einem CT-Wert von 24 kein Virus mehr nachgewiesen werden kann, der vermehrungsfähig ist: «Laut einer Studie aus dem Jahr 2020³ ist bei CT-Werten grösser als 24 kein vermehrungsfähiger Virus mehr nachweisbar und ein PCR Test nicht dazu geeignet, die Infektiosität zu bestimmen.»
– Zum Antigen-Test
Das Gericht urteilt, «dass die Antigen-Tests bei fehlender Symptomatik hochfehlerhaft sind. Dennoch stützt sich die Corona-Kommission für die aktuellen Analysen ausschliesslich auf Antigen-Tests.»
Weder valide noch evidenzbasierte Aussagen
Das Urteil hält fest, dass «stark steigende Fallzahlen nicht zuletzt auf stark steigende Tests zurückzuführen sind.»
Die Beurteilung der ‹Information› des Gesundheitdienstes der Stadt Wien ist vernichtend: «Insgesamt ist bezüglich der ‹Information› des Gesundheitsdienstes der Stadt Wien und der darauf fussenden Begründung des Untersagungsbescheides festzuhalten, dass zum Seuchengeschehen keine validen und evidenzbasierten Aussagen und Feststellungen vorliegen.»
Das Urteil leistet einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion über dieses Thema.
¹ Verwaltungsgericht Wien, GZ: VGW-103/048/3227/2021-2 vom 24. März 2021. www.verwaltungsgericht.wien.gv.at/Content.Node/rechtsprechung/103-048-3227-2021.pdf
² (WHO Information Notice for IVD Users 2020/05, Nucleic acid testing (NAT) technologies that use polymerase chain reaction (PCR) for detection of SARS-CoV-2, 20 January 2021), zitiert in Verwaltungsgericht Wien, S. 8.
³ Bullard, J., Dust, K., Funk, D., Strong, J. E., Alexander, D., Garnett, L., ... & Poliquin, G. (2020). Predicting infectious severe acute respiratory syndrome coronavirus 2 from diagnostic samples. Clinical Infectious Diseases, 71(10), 2663-2666 zitiert in Verwaltungsgericht Wien, S. 9.
Die Regionalspitäler bilden das Fundament für das schweizerische Gesundheitswesen

Das letzte Jahr hat gezeigt, dass das Gesundheitswesen systemrelevant ist. Angesichts dieser Tatsache erstaunt es doch sehr, dass der Kanton St. Gallen just in der zweiten Corona-Welle beschlossen hat, sein Spitalwesen zu zentralisieren. Dazu sollen fünf Regionalspitäler geschlossen bzw. zu Notfall- oder Gesundheitszentren heruntergefahren werden. Diese Entwicklung, die Regionalspitäler in den Land- und Berggebieten zu schliessen, ist schweizweit zu beobachten. Der Kanton Graubünden jedoch ist nicht gewillt, seine gut funktionierende Gesundheitsversorgung diesem Trend zu opfern. Silvio Zuccolini, ehemaliger Direktor des Regionalspitals Thusis, erklärt im folgenden Gespräch, warum der Kanton Graubünden die Regionalspitäler beibehalten wird.
Zeitgeschehen im Fokus Herr Zuccolini, warum sind die Regionalspitäler für das Gesundheitswesen so wichtig?
Silvio Zuccolini Das hat einen historischen Hintergrund. Diese Regionalspitäler sind alle irgendwann einmal aus einer Notlage heraus gegründet worden. Was jetzt in der ganzen Schweiz und insbesondere im Kanton St. Gallen abläuft, ist ein Skandal. Die damals zuständige St. Galler Regierungsrätin, die das angezettelt hat, ist jetzt nicht mehr im Amt und hat einen guten Posten ausserhalb ihres Kantons gefasst. Sie hat alles angezettelt, und die andern können es nun ausbaden. Wobei gesagt werden muss, dass auch ihre Nachfolger im Amt keinen Mut beweisen. Sie hätten sagen können: «Gut, jetzt ist eine neue Zeit, jetzt sind neue Leute, jetzt beurteilen wir das alles neu.» Aber sie machen gleich weiter. Mich, obwohl nicht direkt betroffen, beschäftigt das nach wie vor.
Zu Recht, Sie haben ja die ganze Entwicklung der Spitalpolitik seit 1968 hautnah miterlebt. Gab es im Kanton Graubünden auch Bestrebungen, Regionalspitäler zu schliessen?
Ja, wir haben das im Kanton Graubünden in den 1980er Jahren ähnlich erlebt. Die Existenz der beiden Regionalspitäler Thusis und Schiers stand auf der Kippe. Man hat X Gutachten machen lassen, unter anderem von der damals gross propagierten Beratungsfirma Motor-Columbus. Die haben zwei dicke Bücher geschrieben und wollten alles zentralisieren, immer unter dem Vorwand, Kosten einzusparen. Ich habe damals die Debatte im Grossen Rat von der Tribüne aus verfolgt. Nur dank dem Stichentscheid von FDP-Grossrat Marx Heinz aus Thusis wurde die Schliessung der Spitäler in Thusis und Schiers abgelehnt. Seither ist Ruhe. Die heutige Kantonsregierung steht voll und ganz hinter den Regionalspitälern.
Lassen sich denn mit der Schliessung von Regionalspitälern tatsächlich Kosten einsparen?
Nein. Alle diese Gutachter, diese gescheiten Leute, haben auch gemerkt, dass es mit den Spitalschliessungen keine Kosteneinsparungen gibt, weil die Kosten ja da sind, wenn nicht in Thusis, dann in einem grossen Spital, und dort sicher nicht günstiger. Und was mich jetzt «putzverruckt» macht, das ist diese neue Masche mit den Fallzahlen. Jetzt sagen sie einfach, die kleinen Spitäler, die dortigen Chirurgen brächten die Routine mit der Anzahl der Operationen nicht hin, und das sei zu gefährlich. Auf dieser Schiene versuchen sie jetzt, Angst zu machen, und haben zum Teil auch Erfolg. In gewissen Kantonen gibt es bereits Listen für die Spitäler, wo was gemacht werden darf, und das ist natürlich eine ganz schlimme Entwicklung.
Man versucht, mit den Fallzahlen Gesundheitspolitik zu betreiben, um auf diesem Weg die kleinen Regionalspitäler in ihrer Existenz zu gefährden. Die Behauptung, dass höhere Fallzahlen eine bessere Qualität ergeben, müsste zuerst einmal belegt werden. Meint man die Fallzahlen des Operateurs oder des Spitals? Wenn z. B. ein Spital 50 Hüftoperationen macht, dann werden diese im grossen Spital von 5 verschiedenen Chirurgen ausgeführt, im kleinen Spital ist es ein Chirurg, der alle 50 Operationen macht. Welcher hat nun mehr Routine? Das Argument der besseren Qualität dank höherer Fallzahlen müsste anhand von tatsächlichen Haftpflichtfällen untersucht, statistisch erfasst und bestätigt werden. Alles andere ist Polemik und richtet sich einzig gegen die Regionalspitäler.
Was wären die Folgen für die Bevölkerung, wenn z. B. das Spital in Thusis geschlossen würde?
Man sagt immer, von Thusis nach Chur sei es ja nur eine halbe Stunde. Aber zuerst müssen die Leute mal aus der ganzen Region bis nach Thusis kommen: von San Bernardino, von Splügen, aus dem ganzen Albulatal, aus dem Averstal usw. Unsere Ärzte kennen ihre Grenzen schon, sie machen keine Behandlungen, die nicht ins Regionalspital gehören. Die Schliessung des Spitals in Thusis würde zu einer ganz eindeutig schlechteren Versorgung führen für die ganze Region mit immerhin etwa 17 000 Einwohnern. Darum sage ich den Leuten, ihr müsst euer eigenes Spital brauchen und nicht erst dann demonstrieren gehen, wenn es droht, geschlossen zu werden, dann ist es bereits zu spät.
Dann müsste das Bewusstsein gestärkt werden, dass die Bewohnerinnen und Bewohner mit ihrem Verhalten viel zum Erhalt des Regionalspitals beitragen können?
Ja, wenn ich hier einen an Krücken traf, dann wusste ich natürlich, ob er bei uns oder wo anders war, und es ist interessant, dass sich die meisten sofort rechtfertigten, «ich konnte es aus diesem oder jenem Grund nicht hier machen lassen.» Dann habe ich ihnen gesagt: «Wisst ihr, mit eurem Verhalten gefährdet ihr das Regionalspital, wenn ihr euch wegen solchen Sachen ausserhalb der Region behandeln lasst.» Der Patient ist in diesem ganzen Konzert nicht ganz unschuldig, es gibt einfach einen grossen Teil von Patienten – nicht nur in unserer Region, auch in anderen Regionen – , die unbegründet die grossen Spitäler aufsuchen. Sie haben einfach das Gefühl, die machen es besser.
In unserem Spital wird das so praktiziert: Sie wissen genau, wenn es etwas ist, womit sie überfordert sind, dann weisen sie den Patienten weiter. Wir haben eine prima Zusammenarbeit mit Chur. Das ist nicht nur gut bezüglich der Kosten, sondern auch fürs System als Ganzes. Wenn zum Beispiel alle Patienten aus dieser Region, die unbegründet in ein grösseres Spital gehen, hier bleiben würden, dann gäbe es kein Defizit.
Welche Rolle spielen eigentlich die Medien in der Frage der Zentralisierung des Gesundheitswesens?
Wenn ich am Fernsehen diese Gesundheitsökonomen höre, so sind es immer die gleichen, die «ihres Züg loslönd», was hinten und vorne nicht stimmt. Einer dieser «Spezialisten» hat in Bern alles angezettelt. Dort hat man rigoros regionale Spitäler geschlossen, aber ohne jeglichen Effekt. Da wurde nichts gespart, nur Unruhe wurde geschaffen. Es gibt einfach zu viele Banausen, die von nichts eine Ahnung haben und sich von sogenannten Fachleuten beeinflussen lassen.
Das Gesundheitswesen ist doch eigentlich Teil des Service public und soll zum Gemeinwohl der Bürger beitragen. Heute gewinnt man den Eindruck, dass es nicht mehr so sehr um das Wohl der Bevölkerung, sondern eher um Gewinnmaximierung geht. Stimmt das?
Ja, und es gibt natürlich auch eine Verlagerung in den Machtbereich der Krankenversicherungen. Die haben eine derartige Macht, das kann man sich nicht vorstellen. Ich finde es eine Katastrophe, dass sie Geld auf die Seite tun können und Reserven bilden in Milliardenhöhe. Das sind alles Prämiengelder. Aber ich habe noch kaum je eine Prämienreduktion gesehen. Sie hacken immer nur auf den Leistungserbringern (Spitäler, Physio-, Ergotherapeuten etc.) rum, verhandeln stundenlang um einige Franken mehr oder weniger und seit der Einführung der Fallpauschale muss minutiös begründet werden, warum ein Patient länger im Spital bleiben muss, als es die Fallpauschale vorsieht. Die Krankenkassen haben eine unglaubliche Macht, und die Leistungserbringer sind zu Bittstellern geworden.
Zurück zum Regionalspital Thusis: Welche Bereiche kann das Spital abdecken?
Wir haben eine Abteilung für Allgemeine Medizin, eine Chirurgie, eine Orthopädie und eine Geburtenabteilung. Zu 75 % decken wir die Grundleistungen ab. Für andere Bereiche gibt es Sprechstunden mit Ärzten, die einmal pro Woche aus Chur nach Thusis kommen, sie sind z. B. auf Krebstherapie, Kardiologie, Darmspiegelung, Urologie spezialisiert. So müssen die Leute nicht nach Chur reisen. Und wir haben den Draht zum Zentrum. Es gibt Dinge, die ins Zentrum gehören, wir arbeiten sehr gut zusammen im Kanton Graubünden. Seit kurzem haben wir auch eine Kinderarztpraxis, die wir als Spital führen. Auch die Elternberatung ist uns übergeben. Je mehr wir uns vernetzen, desto unersetzbarer machen wir uns. Bei uns identifiziert sich das Personal mit dem Regionalspital. Der Lohn ist nicht alles.
Können Sie das an einem Beispiel illustrieren?
Der Klassiker ist der mit der Geburt: Die erste Geburt ist in Chur, da man noch ein bisschen ängstlich ist, und die zweite Geburt ist dann hier, und dann sagen die Frauen oft: «Hätte ich gewusst, wie gut man hier aufgehoben ist, wäre ich schon beim ersten Kind gekommen.» Man kennt einander mit Namen, man grüsst sich, man weiss genau, was das Problem ist, und oft ist es eben nicht nur das Medizinische, sondern auch sonst, dass man mal zuhört. Das trägt auch zur Heilung bei.
Comparis hat einen Spitalvergleich gemacht im Bereich Geburten. Alle Geburtshäuser sind vorne in der Benotung und wir als erstes Spital und dann Frutigen, auch ein kleines Spital. Wir haben 5,8 als Durchschnittsnote. Das zeigt, dass die Frauen diese persönliche Betreuung, den menschlichen Geist in unserem Haus sehr schätzen. Und dann kommt ein Gesundheitsökonom und sagt: «Alles unter 1000 Geburten ist ein Witz, würden Sie als Frau in ein Spital gehen, wo man das so selten macht?» Das entspricht nicht der Realität. Wenn ich die Hebamme schon in der Schwangerschaft kennenlerne, dann habe ich sie bei der Geburt, später im Wochenbett und allenfalls auch noch zu Hause. Das schafft eine andere Vertrauensbasis als im grossen Spital.
Genau deshalb dürfen die Geburtenabteilungen nie zentralisiert werden. Aus emotionalen Gründen darf man das nicht machen, auch wenn die Gynäkologie bei uns mit 180 Geburten pro Jahr nicht kostendeckend sein kann. Übrigens kommen die Frauen von überall her, auch aus dem Einzugsgebiet des Kantonsspitals Chur. Wir haben 110 Geburten aus der Region und 70 von ausserhalb. Diese Frauen nehmen einen langen Weg in Kauf, um in einem kleinen, persönlich geführten Haus gebären zu können.
Was ist Ihrer Ansicht nach für die Zukunft wichtig?
Wir müssen Sorge tragen zum Ganzen, wachsam bleiben und dafür sorgen, dass die Kantonsautonomie erhalten bleibt. Der Bund hat z. B. auf dem Verordnungsweg versucht, den Kantonen vorzuschreiben, dass ein Spital mindestens 1000 Geburten haben muss, um eine Geburtenabteilung führen zu können. Der Kanton Graubünden hat sich dagegen gewehrt, denn dann hätten wir noch eine einzige Geburtenstation in Chur und sonst nirgends mehr. Das ist in unserem Kanton nicht denkbar! Wir haben gesagt: «Schreibt uns das nicht vor, in Zürich geht das vielleicht, aber in Graubünden geht das nicht. Die Kantone müssen selber entscheiden können, was das Richtige ist. Im Notfall wären wir nach Bern gefahren und hätten auf dem Bundesplatz demonstriert. Da waren wir uns einig und konnten es abwenden. Jetzt sind es kann-Kriterien, und die Kantone können es selber einschätzen. Ich sage nochmals, halten wir Sorge zu den Regionalspitälern, wir brauchen sie. Die dort tätigen Mitarbeitenden verdienen das Vertrauen der Bevölkerung und nicht der Gesundheitsökonom.
Herr Zuccolini, herzlichen Dank für das Gespräch.
Interview Henriette Hanke Güttinger und Susanne Lienhard
«Alles wirkliche Leben ist Begegnung»
«Digitalisierung» – das ist das Zauberwort unserer Zeit. Kulturwissenschaftler sprechen von der digitalen Revolution und stellen sie den beiden grossen Revolutionen der Menschheitsgeschichte gleich.
Bei der ersten, der neolithischen, wurden unsere Vorfahren sesshaft und begannen mit Ackerbau und Viehzucht. In der zweiten, der Industrialisierung, entstand die moderne Massengesellschaft und jetzt eben die Revolution der digitalen Medien, deren Folgen wir noch gar nicht abschätzen können.
Klar ist aber, dass die IT alle Lebensbereiche durchdringt. Da macht die Schule keine Ausnahme. Digitale Bildung scheint das Gebot der Stunde. Jetzt, in der Zeit der Pandemie, soll das computergesteuerte Lehren und Lernen den herkömmlichen Unterricht im Klassenraum ersetzen.
Kinder brauchen Menschen, keine Bildschirme
Wie das Homeschooling abläuft, das braucht man Millionen von Schülerinnen und Schülern und deren Eltern nicht zu schildern. Der Leidensdruck ist gewaltig. Und das liegt nicht nur an der oft mangelnden technischen Ausstattung. Es fehlt der direkte menschliche Kontakt mit den Lehrkräften und mit den Klassenkameraden. Ich selbst habe über Monate hindurch nahezu ausschliesslich Fernunterricht erteilt.
Die wichtigste Erfahrung, die ich dabei machen konnte, ist die: Kinder brauchen Menschen, keine Bildschirme. Laptops und Tablets sind nur ein Notbehelf. Je länger der Fernunterricht andauert, desto schwerer fällt die Motivation.
Keine Videokonferenz kann die Dynamik des echten Unterrichts ersetzen. Bei allen Beteiligten ist die Sehnsucht gross nach einem ganz normalen Zusammensein in der Schule.
Irgendwann wird es wieder soweit sein. Aber was dann? Soll die Digitalisierung in den Schulen stärker vorangetrieben werden? Wenn es nach den meisten Politikern und Wirtschaftsführern geht, ist die Antwort ein klares «Ja».
Keine elektronischen Lernfabriken, sondern soziale Räume
Dem digitalen Lernen gehört die Zukunft. Wie ein Mantra wird dieser Satz den Menschen eingehämmert. Aber zeigen nicht gerade die Erfahrungen in der Pandemie, dass man für wirkliches Lernen einen unmittelbaren Kontakt braucht?
Es ist wahr, Lerninhalte lassen sich digitalisieren, Verstehensprozesse aber nicht. Oder um es noch deutlicher zu sagen: Der Mensch lernt nicht digital! Digitale Medien gehören zu einem modernen Unterricht, aber sie sind – so wie die analogen Medien auch – nur Hilfsmittel, nicht mehr.
Unsere Schulen sollten daher keine elektronischen Lernfabriken werden, sondern soziale Räume bleiben, in denen Lehrer und Schüler in einen echten Dialog treten. Für Motivation und Lernerfolg ist keine ausgeklügelte Software entscheidend, sondern eine kompetente Lehrkraft, der die Kinder und Jugendlichen vertrauen. Auch für die Schule gilt, was der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber einmal so formulierte:
«Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Wenn wir aufhören, uns zu begegnen, ist es, als hörten wir auf zu atmen.» (Martin Buber)
In den kommenden Jahren wird der Digitalpakt von Bund und Ländern einige Milliarden Euro für die Digitalisierung unseres Bildungswesens ausgeben. Aber werden unsere Schulen damit leistungsstärker? Wäre es nicht viel sinnvoller, Klassen und Kurse deutlich zu verkleinern?
Dafür müssten mehr Lehrerinnen und Lehrer eingestellt werden. Dazu auch Psychologen und Sozialarbeiter, die sich vor allem der Kinder annehmen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – beim Lernen schwertun.
Fach Religion bei den Schülern sehr beliebt ist
Herausgefordert sind dabei auch die Kirchen. Der Religionsunterricht spielt eine wichtige Rolle, wenn Kinder und Jugendliche ihre Persönlichkeit entwickeln. Viele Studien zeigen – allen Unkenrufen zum Trotz – dass gerade das Fach Religion bei den Schülern sehr beliebt ist. Hier ist für viele der Ort, wo in vertrauensvoller Atmosphäre auch persönliche Fragen angesprochen werden können.
Offenheit und Empathie sind die Grundvoraussetzungen für einen guten Unterricht. Gerade als Religionslehrer erfahre ich immer wieder, dass man nicht nur als Experte für den Glauben gesehen wird.
Die Mädchen und Jungen brauchen auch Wegbegleiter – gerade in einer so schwierigen Zeit wie heute. Digital ist das nicht zu machen, das geht nur leibhaftig. Von Mensch zu Mensch. Ganz im Sinne von Martin Buber:
«Alles wirkliche Leben ist Begegnung.»
Deutschlandfunk Morgenandacht vom 22.04.2021
Quellen:
https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2021/04/22/morgenandacht_22042021_dlf_20210422_0635_4cca6076.mp3
https://www.katholische-hörfunkarbeit.de/index.php?id=3557&no_cache=1&sword_list%5B%5D=Britz
Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.