Grundstimmung in der deutschen Bevölkerung: «Wir wollen keinen Krieg mit Russland!»

Interview mit Andrej Hunko, Mitglied des deutschen Bundestags und Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Nach dem Militärschlag der USA, Frankreichs und Grossbritanniens haben Frau Merkel und die deutsche Bundesregierung Zustimmung signalisiert. Wie beurteilen Sie das? 

Andrej Hunko Der Militärschlag, wie er von den ausführenden Staaten bezeichnet wird, 102 Marschflugkörper, die in drei verschiedenen Orten einschlugen, ist ein schwerer Völkerrechtsbruch, was man auch klar so benennen muss. Ihn hat übrigens auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages auf Anfrage der Linksfraktion als solchen charakterisiert. Man muss die ganze Vorgeschichte dabei im Auge behalten. 

Was gehört alles zu der Vorgeschichte?

Zunächst war die Skripal-Geschichte, was einen ungeheuerlichen Vorgang darstellt. Er ist beispiellos in der internationalen Diplomatie. Hier wird Russland für die Vergiftung eines ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters schuldig gesprochen, bevor die OPCW, die Organisation, die für die Aufklärung zuständig ist und bei der es klare Regeln gibt, wie man sich nach solch einem Ereignis zu verhalten hat, einbezogen war. Ohne eine ordentliche Untersuchung wurde Russland verurteilt, worauf eine kollektive Ausweisung der Diplomaten stattfand. 

Worum ging es hierbei eigentlich?

Das habe ich mich auch gefragt. Ging es um Northstream II, ging es um die Fussball-WM? Ein guter Bekannter meinte damals schon, es gehe um Syrien. Das war vor den ganzen Ereignissen in und um Ost-Ghuta. Wir haben in Syrien eigentlich eine Wiederholung des Vorgangs: einen mutmasslichen Chemiewaffenangriff – der genaue Ablauf und die Frage, ob überhaupt Chemiewaffen im Einsatz waren bzw. wer die Täterschaft war, sind völlig unklar – für den Assad und Russland sofort für schuldig erklärt wurden. Trumps Äusserung «Get ready, Russia» schien auch einen grossen Krieg in Kauf zu nehmen. 

Worum geht es den westlichen Staaten dabei?

Man will nochmals mitreden können, wie die Nachkriegsordnung in Syrien aussieht. Der Angriff war zum einen völkerrechtswidrig, zum andern waren die übrigen Staaten nicht gefragt, auch nicht die EU. Beteiligt waren nur Theresa May und Emmanuel Macron, der zwar bei jeder Gelegenheit von der gemeinsamen Aussenpolitik der EU spricht, doch gegen seine eigenen Prinzipien handelt.

Wie beurteilen Sie diese Aktion?

Wenn man so etwas ohne Beweise und gegen das Völkerrecht tut und nachher sagt, es sei egal, was jetzt wirklich war, dann sehen wir, was für eine Erosion sich in der Rechtsauffassung vollzogen hat. Das gilt natürlich auch für den Fall Skripal. Ich hatte damals getwittert: Das Prinzip «in dubio pro reo» wird durch das Prinzip «in dubio pro Nato» ersetzt. Das ging ja so weit, dass Frau Merkel verlangt hatte, «Moskau soll zuerst seine Unschuld beweisen».

Wie ist die Stimmung im Aussenministerium Deutschlands?

Wir haben eine neue Regierung, nach ewigen Verhandlungen, und noch bevor sich Frau Merkel zu Wort meldete, hatte der neue Aussenminister Heiko Maas eine Beteiligung der Deutschen an der Aktion gegen Syrien in Aussicht gestellt. 

Wie hat Frau Merkel darauf reagiert?

Ihre Antwort am Donnerstag: «Wir werden uns nicht an einem Militärschlag beteiligen», war der Versuch, den Aussenminister etwas zurückzuholen. So ein Ablauf ist neu. Bis jetzt war es immer so, dass die Aussenminister, Steinmeier oder Gabriel, aber auch Westerwelle, eigentlich ein mässigender Part der deutschen Aussenpolitik waren. Westerwelle hat sich 2011 im Sicherheitsrat bei der Libyenresolution enthalten, persönlich wollte er sich sogar dagegenstellen. Steinmeier hat vor einer zunehmenden Eskalation mit Russ­land, vor einem Säbelrasseln, gewarnt. Das war, als die grossen Nato-Manöver in der Ukraine stattfanden. Bei Gabriel gab es kritische Reaktionen, als die USA eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland beschlossen hatten, die auch deutsche Unternehmen betrafen, die am Bau von Northstream II beteiligt sind. Gabriel hat auch einen Tag nach seiner Demission eine sehr nachdenkliche Rede gehalten, in der er auch die Russ­landpolitik Deutschlands als zu konfrontativ kritisierte. 

Wie sieht das jetzt bei dem neuen Aussenminister aus?

Bei Heiko Maas ist es genau umgekehrt. In der Russlandpolitik ist er völlig auf Konfrontation aus. Er wurde von der Kanzlerin gebremst mit der Aussage: «Wir beteiligen uns nicht an einem Militärschlag.» Was so natürlich auch nicht stimmt, weil deutsche Tornados und Aufklärungsflugzeuge dort vor Ort sind und Bilder liefern, die möglicherweise für einen Militärschlag genutzt wurden. Es ist eine indirekte Beteiligung. Auch hat Frau Merkel nach dem Militärschlag gesagt, er sei «angemessen und erforderlich» gewesen. Das ist natürlich eine politische Unterstützung. Das Erfreuliche dabei ist, dass beim EU-Aussenministertreffen diese Linie nicht durchgekommen ist. Sie haben drei Tage später eine Resolution verabschieden wollen, die eine ähnliche Linie wie «erforderlich und angemessen» verfolgt hätte. Durchgekommen ist nur, «dass man Verständnis hat».

Welche Länder haben hier Opposition gemacht?

Das sind ähnliche Staaten wie bei der Resolution zum Fall Skripal. Da waren es zunächst 12 Länder, die sich geweigert hatten, Botschafter auszuweisen. Dazu gehören Griechenland, Bulgarien, Belgien, Italien, Portugal, Zypern usw. Diese Länder wollten eine Deeskalation. Im Fall des Militärschlags war es vor allem Italien, das sich deutlich gesträubt hat. Auch Luxemburg war zunächst dagegen. Es ist für mich unerträglich, dass gerade die Grünen im Europaparlament genau diese Staaten angegriffen und sie als «antieuropäisch» bezeichnet haben.

Gab es Reaktionen darauf?

Ja, unsere Partei hat gesamthaft sowohl die Ausweisungen der russischen Diplomaten als auch den Raketenangriff deutlich kritisiert. Es gab auch eine spontane Kundgebung vor dem Brandenburger Tor, der doch zahlreiche Menschen gefolgt sind. Auch in Aachen, meiner Stadt, gab es eine spontane Kundgebung. Es hat die Menschen schon bewegt, was da passiert ist. 

Wie ist die Position Deutschlands in der gesamten Auseinandersetzung zu beurteilen?

Insgesamt bin ich hier sehr skeptisch. Es gibt in Deutschland nach wie vor eine starke Tradition, die sich an der Ostpolitik Willy Brandts orientiert. Die war traditionell bei der SPD angesiedelt, wird aber ausgerechnet von dieser entsorgt. Gabriel stand eher noch in dieser Tradition. Heiko Maas – er sagt es selbst – hat damit nichts mehr zu tun. Dennoch gibt es in breiten Teilen der Bevölkerung eine Grundstimmung: Wir wollen keinen Krieg mit Russland!

Das ist beruhigend. Welchen Hintergrund hat diese Einstellung?

Das hat viel mit den historischen Erfahrungen aus den zwei Weltkriegen, aber auch mit den Erfahrungen der Wiedervereinigung zu tun. Man darf nicht vergessen, dass die Sowjetunion einem wiedervereinigten Deutschland innerhalb der Nato zugestimmt hat. Das war ein grosses Zugeständnis in Verbindung mit dem Abzug der sowjetischen Armee aus der DDR, der auch komplett vollzogen wurde. Ganz im Gegensatz zu den USA, die immer noch in Deutschland präsent sind. Das ist den Menschen schon noch bewusst, verbunden mit einer gewissen Dankbarkeit, was die vollzogene Wiedervereinigung anbetrifft. Deshalb besteht ein grosses Unbehagen gegenüber dieser Konfrontationspolitik, mehr als in anderen vergleichbaren Ländern. Die Bundesregierung fährt aber den Eskalationskurs mit, sie tritt zwar manchmal auf die Bremse, aber im Grunde genommen nimmt sie daran teil. Ich halte das für völlig falsch. Deutschland müsste hier eine viel zurückhaltendere Position einnehmen. 

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf Syrien selbst, nachdem Erdogan Afrin erobert hat.

Syrien ist eine völlige Katastrophe. Aber Erdoğan wird Afrin nicht halten können, und das ist vermutlich der Grund für die Neuwahlen. Er möchte die nationalistische Stimmung in der Türkei nutzen, vielleicht auch die letzten Monate vor dem Eintrüben der Wirtschaft, denn es sieht dort nicht gut aus. So versucht er wohl, sich noch einmal über die Wahlen zu retten. Damit hängt der vorgezogene Wahltermin zusammen. In Syrien hat der Westen verloren. Er hat auf «regime change» gesetzt und dabei unmögliche Gruppierungen unterstützt. Das machten vor allem die USA, aber politisch wurde das von der EU mitgetragen. 

Inwieweit?

Mit den erwähnten Aufklärungsflugzeugen, den AWACS, aber auch mit dem Embargo gegen Syrien. Katastrophal ist auch, dass Deutschland immer noch Waffen an Saudi-Arabien, das Krieg im Jemen führt, und an die Türkei liefert, obwohl sie völkerrechtswidrig in Syrien einmarschiert ist. Man kann natürlich auch die Bombardierungen der Russen kritisieren, aber die Dynamik ging ganz klar vom Westen aus. Der Plan ist nicht aufgegangen. Man versucht, jetzt noch über Verhandlungsformate Einfluss zu nehmen, aber eigentlich ist es ein totales Fiasko. Die Waffen müssen schweigen, und dann muss das syrische Volk entscheiden, was es will. Es müssen auch, wenn eine gewisse Ruhe und Stabilität eingekehrt ist, Wahlen abgehalten werden. Am besten wäre es sicher, wenn sich Syrien eine föderale Struktur geben würde, in der die Kurden zu ihrem Gebiet kommen. 

Was geschieht mit der Türkei?

Sie muss sich aus Syrien zurückziehen, ihre Präsenz ist auf alle Fälle völkerrechtswidrig. Im Bundestag haben alle Parteien von der LINKEN über die CDU bis zur AfD gesagt, dass das völkerrechtswidrig sei, auch wenn sich die Bundesregierung auffallend zurückgehalten und von einer «fluiden» Lage gesprochen hat. Ich hoffe, dass die Politik, unliebsame Regierungen einfach wegzubomben und durch Bewaffnung zweifelhafte Gruppierungen zu unterstützen, endlich aufhört. Natürlich wollen wir für die Menschen dort mehr Demokratie, aber letztlich müssen die Menschen entscheiden, welche Regierungsform sie wollen und in welcher Staatsform sie leben wollen. Dazu braucht es gesellschaftliche Prozesse, die Zeit in Anspruch nehmen und die sich nur frei von geopolitischen oder geostrategischen Interessen entwickeln können. So etwas braucht seine eigene unabhängige Entwicklung.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser,
Strassburg

Bedeutung der bewaffneten Neutralität in Krisenzeiten

Konsequenzen der EU-Waffenrichtlinien

von Reinhard Koradi

Wird die Schweiz – obwohl nicht Teil der EU – immer mehr zur Befehlsempfängerin Brüssels? Tatsache ist jedenfalls, dass die Schweizer Gesetzgebung mit geradezu unheimlicher Geschwindigkeit durch europäische Paragraphen zersetzt wird. Jüngstes Beispiel ist die Übernahme der EU-Waffenrichtlinien ins Schweizerische Waffenrecht. Mit der Begründung «Kampf gegen den Terrorismus» wird die Schweiz gezwungen, mit bisherigen Traditionen zu brechen. 

Die Grundhaltung, dass die Waffe beim Wehrmann bleibt, ist eng mit dem Milizsystem und der Wehrhaftigkeit des Schweizer Volkes verbunden. Die Wehrbereitschaft durch den von zu Hause aus bewaffneten Bürger unterstreicht zudem die Glaubwürdigkeit unserer bewaffneten Neutralität. Unsere Unabhängigkeits- und Neutralitätspolitik überzeugt nur dann, wenn die Schweiz nicht auf fremde Hilfe angewiesen ist. Selbst wenn sich die Zeiten geändert haben sollten – nicht geändert haben sich die fundamentalen Werte, die unser Selbstverständnis über Freiheit und Unabhängigkeit prägen. Dass die Armeewaffe beim Staatsbürger bleibt, ist Teil dieser Identität. Dass diese verleugnet oder ausgelöscht werden soll, dürfen die Schweizer Bürger nicht hinnehmen. Die damit verbundene Erosion unseres Selbstverständnisses ist Teil einer Strategie, den Freiheitsdrang und den Willen zur Unabhängigkeit des Schweizer Volkes Stück für Stück aufzulösen. 

Mit Speck fängt man Mäuse

Im Vorfeld der Abstimmung über das Assoziierungsabkommen von Schengen (SAA) wurde der Köder ausgelegt, dass an den Landesgrenzen keine Personenkontrollen mehr durchgeführt werden, dass wir für sehr wenig Geld viel mehr Sicherheit erhalten werden und dass das Asylwesen durch die Unterbindung von Mehrfachanträgen im EU-Raum vereinfacht und beschleunigt wird. Die Stimmberechtigten folgten den Empfehlungen des Bundesrats und des Parlaments und sagten Ja am 5. Juni 2005.

Heute wissen wir, dass die Sicherheitsversprechungen bei weitem nicht erfüllt werden und die budgetierten Kosten von jährlich 7,4 Millionen Franken sich auf über 100 Millionen Franken erhöht haben. Wir spüren die negativen Folgen davon, dass die Schweiz als souveräner Staat nicht mehr selbst über das Visa-Recht bestimmen kann. Auch das Versprechen, dass mit dem Assoziierungsabkommen das Bankgeheimnis gerettet werden kann, hat sich inzwischen in Luft aufgelöst. Blauäugig tappten wir in die Falle des automatischen Rechtsnachvollzuges. Mit der Übernahme des Schengenrechts haben wir wichtige Volksrechte an die EU abgetreten. Die schmerzliche Realität der dynamischen Rechtsanpassung spüren wir jetzt bei der Übernahme des EU-Waffenrechts. Sie sollte uns vor ähnlichen Zugeständnissen gegenüber der EU warnen respektive unsere Abwehrbereitschaft gegenüber solchen Anliegen auf höchste Alarmstufe stellen.

Terrorabwehr – Tür zur Bevormundung und Überwachung

Wer hat eigentlich den Terror respektive die Kriegspolitik in die Welt getragen? Es sind doch die zahlreichen seitens der USA inszenierten Kriege, vielfach entfacht durch den Aufbau des Widerstandes gegen gewählte Landesregierungen in den Zielländern. Es sind die Aktionen von Drittstaaten zur Destabilisierung eines Regimes, die als Nährboden für den Terrorismus dienen. Bei einem ehrlichen Kampf gegen den Terror müssten doch primär diese Einmischungen in die inneren Angelegenheiten durch vom Ausland gesteuerte Aktivitäten eingestellt werden. Die Anwendung des Völkerrechts müsste beim Kampf gegen den Terror an erster Stelle stehen. Ein ernsthafter Kampf gegen den Terror beinhaltet, die Hoheitsrechte über die natürlichen Ressourcen der rohstoffreichen Länder zu respektieren und deren Ausbeutung zu unterlassen. Anstelle von Sanktionen gegen sogenannt nicht kooperierende Regierungen müssten uneigennützige Projekte zur Förderung eigenständiger Produktions- und Versorgungsstrukturen lanciert und begleitet werden. Bei gegensätzlichen Meinungen mit Konfliktpotenzial gibt es nur den Weg an den Verhandlungstisch. In solchen Situationen könnte die Schweiz wieder an ihre langjährige und geschätzte Tradition der «Guten Dienste» anknüpfen und Hand zur Konfliktlösung bieten. Im Gegensatz zum mustergültigen Gehorsam gegenüber den Grossmächten würde diese Politik die Fähigkeit der Schweiz zur Friedensförderung und deren Neutralität stärken und ihr wieder den Platz in der Aussenpolitik einräumen, der ihr zusteht – weltweite Akzeptanz als souveräner Staat und verlässlicher Partner, wenn Glut- oder Brandherde gelöscht werden müssen.

Alle diese Möglichkeiten wären wohl zielführender als das Mitlaufen in der Kolonne der unehrlichen Allianz gegen den Terror. An die Stelle des angeblichen Kampfes gegen den Terror muss die Friedensförderung treten. Mit Gewalt auf Gewalt zu reagieren kann nie zu einer Lösung führen. Selbstverständlich müssen die Täter zur Rechenschaft gezogen werden, aber mit rechtlichen und nicht mit kriegerischen Mitteln. Zudem sind sämtliche Täter zu verfolgen, vor allem auch die Hintermänner von Kriegshandlungen und Terroranschlägen und sonstige Brandstifter. 

Interessanterweise fehlen solche Ansätze in der Terrorbekämpfung. Vielmehr geraten die eigenen Bürger, die mehrheitlich friedliche Bevölkerung, die gar keine Kriege zulassen will, ins Visier der Terrorbekämpfung. Ein Beispiel dieser Vorgehensweise ist die Revision der EU-Waffenrichtlinien, die die Schweiz nun in ihr eigenes Waffengesetz integrieren will.

Die vorgeschlagene Revision führt zu einer erheblichen Bürokratisierung des Schweizer Waffenrechts und zeugt von einem zunehmenden Misstrauen des Staates gegenüber seinen Bürgern. Mit den von der EU vorgegebenen Gesetzesanpassungen wird die freiheitliche Waffentradition und enge Verbundenheit von Volk und Armee destabilisiert. Die angedachten Gesetzesänderungen treffen in erster Linie rechtschaffene Bürgerinnen und Bürger, Schützen, Jäger und Waffensammler.

Unbescholtene Bürgerinnen und Bürger werden durch eine massive Ausweitung der Liste verbotener Waffen (Art. 5 Abs. 1 neuWG) kriminalisiert. Zu den verbotenen Waffen gehören sollen neu z. B. je nach Grösse des Magazins auch Faust- und Handfeuerwaffen (halbautomatische Zentralfeuerwaffen). Um eine solche Waffe zu erwerben, müsste man künftig einem Verein angehören oder auf andere Weise regelmässige Nachweise für eine sportliche Schiesstätigkeit erbringen (Art. 28d Abs. 2 neuWG). Für Schützen, die erstmalig eine Waffe erwerben und einen Nachweis der regelmässigen Schiesstätigkeit gar nicht vorweisen können, schafft die Neuregelung gar einen faktischen Vereinszwang. Durch die Ausweitung verbotener Waffen wird künftig in immer mehr Fällen ein Bedürfnisnachweis zwingend, was den bisherigen gesetzgeberischen Entscheidungen zum Schweizer Waffenrecht zuwiderläuft.

Nach dem Willen der Revisoren sollen sogar Ordonnanzfeuerwaffen zukünftig verboten werden. Der Kern der freiheitlichen Schweizer Waffentradition – die Armeewaffe beim Bürger – wird damit per Federstrich zu einem grundsätzlich gesetzwidrigen Zustand erklärt. Eine Regelung, die zwar durch Ausnahmebewilligungen und Übergangsbestimmungen etwas abgedämpft, aber nicht aus der Welt geschafft wird.

Am Ziel vorbeigeschossen

Der Gesetzesentwurf verfehlt das ursprüngliche Ziel der EU-Waffenrichtlinie, Terroranschläge wie in Paris zu verhindern – stattdessen werden legale Waffenbesitzer drangsaliert. Es liegt eine Scheinlösung auf dem Tisch, die den legalen Waffenbesitz kontrolliert, aber beispielsweise keine Massnahmen gegen den gefährlichen Handel mit illegalen Waffen enthält. Unsere bestehenden Gesetze reichen aus – würden sie konsequent angewendet. Eine wirklich pragmatische Lösung wäre deshalb gewesen, wenn der Bundesrat die EU-Waffenrichtlinie zwar akzeptiert hätte, anschliessend aber zum Schluss gekommen wäre, dass das bestehende Schweizer Waffenrecht die Ziele der Richtlinie, Waffenmissbrauch im Umfeld des internationalen Terrorismus einzudämmen, bereits mehr als genügend erfüllt. So sind beispielsweise bereits heute Serienfeuerwaffen und zu halbautomatischen Feuerwaffen umgebaute Serienfeuerwaffen verboten und benötigen eine Ausnahmebewilligung.  

Die EU-Richtlinie und deren schweizerische Umsetzung ist eine Mogelpackung. Keine der in der EU-Waffenrichtlinie sowie im Vorschlag zum Bundesbeschluss enthaltenen Bestimmungen ist dazu geeignet, den internationalen Terrorismus wirksam zu bekämpfen. Es ist einzig ein weiterer untauglicher Versuch, auf Umwegen unser Waffengesetz zu verschärfen. Die Terrorbekämpfung dient als Vorwand, das wirkliche Ziel ist die Entwaffnung des Bürgers, ohne dadurch die Sicherheit der Bevölkerung zu erhöhen, Suizide mit Waffen zu vermindern oder gar die terroristische Gefahr zu reduzieren. Getroffen werden einzig unbescholtene Bürger, Sportschützen und Waffensammler, denen weitere Auflagen und Sanktionen zugemutet werden und die obendrein noch die Kosten für die unverhältnismässigen, ineffizienten Massnahmen sowie den administrativen Leerlauf zu tragen haben.

Wie schon so oft wiederholt sich der Bundesrat, wenn die Souveränität unseres Landes angegriffen wird. Die Fortführung, in diesem Fall der Schengen-Zusammenarbeit, sei für die Schweizer Sicherheitsbehörden und für die Schweizer Wirtschaft von grosser Bedeutung. Daneben hätte eine Beendigung des Schengen-Assoziierungsabkommens auch den Ausschluss der Schweiz aus der Dublin-Zusammenarbeit zur Folge, was es zu verhindern gelte.

Da schiesst unsere Exekutive aber gehörig am Ziel vorbei oder hat sie ein ganz anderes Ziel im Visier? Geht es einmal mehr um die Wegbereitung für den EU-Beitritt der Schweiz und hat man den eigentlichen Auftrag, Terroranschläge zu verhindern, aus den Augen verloren?

Wer derart am Ziel vorbeischiesst, muss in den Nachschiess­kurs einrücken – in diesem Fall in ein Seminar über «Säulen eines souveränen Staates am Beispiel Schweiz». 

«Syrien hat sich zu einem Schlachtfeld regionaler und internationaler Mächte entwickelt»

von Thomas Kaiser, Strassburg

Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) erörterte in verschiedenen Debatten die Lage in Libyen und Syrien sowie die Frage nach der Finanzierung des IS. Es ist offensichtlich, dass die verheerenden Zustände in Libyen und der fürchterliche Krieg in Syrien etwas gemein haben: Sie sind das Resultat eines westlichen Interventionismus, der sich am besten mit der Strategie der USA, des «regime change», zusammenfassen lässt. Das bedeutet, unter dem Vorwand der Demokratisierung Regierungen zu stürzen und einen unliebsamen Herrscher bis auf weiteres durch einen genehmeren zu ersetzen.

Die Geschichte der letzten 70 Jahre bietet unzählige Beispiele für diese Strategie und wie sie «erfolgreich» umgesetzt wurde. Der erste in der arabischen Welt organisierte Staatsstreich fand 1949 – und das ist vielleicht die Ironie des Schicksals – in Syrien statt, weil der amtierende, demokratisch gewählte Präsident, Schukri al Quwatly, und die Mehrheit des syrischen Parlaments eine von den USA projektierte und Syrien durchquerende Pipeline nicht bauen wollten. (vgl. Michael Lüders: Die den Sturm ernten, S. 22ff.)

Einzelne Vertreter der parlamentarischen Versammlung verwiesen darauf, dass die Entstehung des IS oder wie er international heisst, Daesh, einen Zusammenhang mit der Interventionspolitik der USA nach dem Ende des Ost-West-Konflikts habe und dass er mit dem «Krieg gegen den Terror» seine propagandistische Terminologie erhalten habe. Doch reichen die Wurzeln «des islamischen Terrors», wie der türkische Parlamentarier Ertuğrul Kürkçü im nachfolgenden Interview klar festhält, noch in die Zeit des Kalten Krieges zurück.

Im einleitenden Referat zur Lage in Syrien brachte die isländische Parlamentsabgeordnete Rosa Brynjolfsdóttir die vielen Facetten des Desasters zur Sprache: «Während jener Jahre hat sich Syrien zu einem Schlachtfeld regionaler und internationaler Mächte entwickelt, inklusive der USA, Grossbritanniens, Russlands, Frankreichs, der Türkei, des Iran, Saudi-Arabiens, Israels, Katars und der Vereinigten Arabischen Emirate.» Auch machte sie im Hinblick auf den völkerrechtswidrigen Raketenangriff der USA, Frankreichs und Grossbritanniens vom 14. April klar: «Luftschläge haben den Krieg in Syrien nicht gelöst und werden ihn auch nicht lösen.» Vielmehr plädierte sie für Verhandlungslösungen, die der einzige Weg zu einem dauerhaften Frieden sind: «Je mehr Zerstörung wir am Boden sehen, um so dringender wird die Notwendigkeit einer politischen Lösung.» 

Am Ende ihres Berichts nimmt sie die Parlamentarier in die Pflicht: «Ich fordere alle Mitglieder dieser Versammlung auf, diese Botschaft an ihre nationalen Parlamente weiterzuleiten und für die Wiederaufnahme der Friedensgespräche im Rahmen der Uno zu kämpfen, um das auszurotten, was wir ständig auf der Welt beobachten können: Die geopolitischen Interessen der Grossmächte vernichten Staaten und bringen unschuldige Menschen um. Das ist eine Schande.»

Desolates Libyen

Wenig zuversichtlich stimmt die Lage in Libyen. Der irische Abgeordnete Paul Gavan erinnerte die Parlamentarier daran, wer das Chaos in Libyen verursacht hatte: «Libyen, das durch europäische Staaten mit der Nato vollständig zerstört und destabilisiert wurde.» Er zeigte auf, was Flüchtlinge, die versuchen über Libyen nach Europa zu kommen, dort alles erleben: Vergewaltigung, Misshandlungen, massive Ausbeutung und Menschenhandel mit allen Konsequenzen sind in den Flüchtlingslagern Libyens an der Tagesordnung. Auch die bürgerliche «Neue Zürcher Zeitung» vom 24. April berichtete in einem zweiseitigen Artikel über die verheerenden Zustände in Libyen, denen die Menschen dort schutzlos ausgeliefert sind. In verschiedenen Stellungnahmen äusserten sich die Anwesenden in der PACE besorgt über das Elend, das diesen Menschen widerfährt. Die Frage, die hier im Raum steht, inwieweit die europäischen Staaten Abhilfe leisten können und müssen, wird unterschiedlich diskutiert.

Geopolitische Interessen

Der Bericht des britischen Abgeordneten Wilson über die Finanzierung des IS, der entscheidende Aspekte der Problematik, wie der Ire Paul Gavan in nachfolgendem Interview bemängelt, ausser acht lasse, vermittelte auch im gewissen Sinne etwas Positives. Von der grössten Ausdehnung des «Islamischen Staates» seien heute nur noch 2 % übrig, auch die Geldquellen seien grösstenteils versiegt. Über die Hintergründe und die Entstehung des IS herrschte wenig Einigkeit. 

Auch wenn am Ende der Debatte eine Resolution verabschiedet wurde, die diese Uneinigkeit nicht beachtete, täuscht dies nicht darüber hinweg, dass viele bis heute in einem undifferenzierten Schwarz-Weiss-Denken verhaftet sind und die wahren Hintergründe nur wenig Beachtung erfahren. Als Aussenstehender gewinnt man den Eindruck, dass die geopolitischen Interessen einzelner Staaten stärker gewichtet werden, als das Interesse an einer seriösen Aufarbeitung der historischen Zusammenhänge zur Entstehung des fundamentalistischen Terrorismus und des Islamischen Staates. Die folgenden Interviews mit zwei Vertretern der Parlamentarischen Versammlung des Europarats geben einen Einblick in diese Zusammenhänge.

«Die westlichen Mächte haben diese Krisen geschaffen»

Interview mit Senator Paul Gavan, Abgeordneter des irischen Oberhauses, Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Senator Paul Gavan, Sinn Féin (Bild thk)
Senator Paul Gavan, Sinn Féin (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wer steht hinter dem IS und wer finanziert ihn?

Paul Gavan Ich denke, im Westen erzählt man sich, dass der IS plötzlich wie aus dem Nichts erschien, wie Magie. Das ist nicht der Fall. Der IS entstand direkt als Reaktion auf die illegale Invasion der USA und Grossbritanniens im Irak. Es ist eine schreckliche sektiererische Terrororganisation. Aber der «Elefant im Raum» war gestern, dass niemand die Tatsache erwähnt, dass es Mitglieder des Europarats gibt, die den IS unterstützen.

Welches Land unterstützt den IS?

Ich habe gestern von einem kurdischen Mann, der die Bewegung der demokratischen Gesellschaft vertritt, ein Gutachten erhalten, das von 3000 IS-Kämpfern spricht, die sich zusammengeschlossen haben, um an der Seite der türkischen Truppen in Afrin zu kämpfen. Das ist die Realität.

Handelt nur die Türkei so?

Nein, eine weitere Realität ist die Rolle von Saudi-Arabien. Wie konnte der Europarat einen Bericht über die Gründung des IS vorlegen, ohne Saudi-Arabien zu erwähnen? Im Bericht wird eine ganze Reihe von Ländern erwähnt, jedoch nicht Saudi-Arabien. Ich denke, der Bericht, der einige sehr gute Empfehlungen enthält, ist in dieser Hinsicht fehlerhaft.

Sie haben Saudi-Arabien erwähnt. Handelt dieses Land entsprechend seiner eigenen Entscheidung?

Wenn man sich die sogenannte Saudi-Koalition anschaut, die derzeit im Jemen Krieg führt, gibt es eine Verbindung zu den USA in Bezug auf die Finanzierung und in Bezug auf Waffen, was die strategischen Unterstützungen betrifft. Ein Aspekt, der für mich als Ire eine Schande ist, ist die logistische Unterstützung, die vom Flughafen Shannon in Irland kommt. Und wir sollten eigentlich ein neutrales Land sein. Und das ist es, was ich ständig in meinem eigenen Parlament vorbringe.

Was können wir tun, um den Krieg in Syrien und im Jemen zu stoppen?

Vor allem müssen wir aufhören, den Terrorismus zu finanzieren. Leider geschieht dies im Jemen und in Syrien. Die westlichen Mächte haben diese Krisen geschaffen. Sie finanzieren den Terrorismus und geben gleichzeitig vor, dass dies nicht geschehe. Also reden sie über Assad und erwähnen Afrin nie. Sie haben die türkische Invasion nie erwähnt. Das Leben einiger Leute ist wichtig, das von anderen nicht. Es hängt davon ab, wo du in Syrien lebst. Das ist eine schändliche Doppelmoral.

Wenn die westlichen Länder gegen internationales Recht vorgehen, wird es als legal bezeichnet, aber wenn andere Länder dies tun, haben sie Kriegsverbrechen begangen.

Absolut. Betrachten wir einmal den Krieg, nicht nur in Syrien, sondern auch im Irak oder in Libyen und jetzt im Jemen – all dies schürt immer mehr Verzweiflung und Unruhe. Das erste, was der Westen tun sollte, ist, aufzuhören, Kriegsmaterial zu liefern und Krieg zu unterstützen. Aber die wirkliche Herausforderung – und darum ist es so grossartig, mit Ihnen zu sprechen, so dass die Botschaft verbreitet wird – ist die Wahrheit, dass die Menschen die Rolle des Westens in Syrien nicht kennen und den Schaden, den er in Bezug auf Verlust des Lebens und Niederlagen anrichtet.

Was wäre notwendig?

Wir brauchen einen konstruktiven Friedensprozess. Der Westen sollte ihn anführen, anstatt immer noch mehr den Krieg zu schüren. Das führt nur zu grösseren Flüchtlingskrisen, aber wir müssen sehen, dass Europa eine Festung ist. Die Türkei bekommt Milliarden Euro, um Menschen effektiv einzufangen und sie dort festzuhalten. Wir werden später am heutigen Tag eine Debatte über die schrecklichen Zustände in Libyen führen. Wiederum wurden die Menschen zusammengetrieben, interniert, gefoltert und vergewaltigt. Dies geschieht mit Wissen der EU. Das Weltgeschehen ist gerade an einem Tiefpunkt. Deshalb müssen die Linken mit aller Macht die Wahrheit sagen. Wir können nicht übersehen, was vor sich geht, d. h. die entsetzliche Rolle des Westens und die Unterstützung für den IS in Syrien von Seiten der Türkei.

Herr Gavan, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

«Stellvertreterkriege ruinieren den Irak, Syrien, Jemen, Libyen und andere Orte»

Interview mit Ertuğrul Kürkçü, Abgeordneter in der türkischen Nationalversammlung, Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Abgeordneter Ertuğrul Kürkçü, HDP (Bild thk)
Abgeordneter Ertuğrul Kürkçü, HDP (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Was ist der Hauptgrund für die Existenz des IS?

Ertuğrul Kürkçü Dieser politische Islam wurde künstlich verstärkt durch die US-Intervention im Nahen Osten und durch die Verhältnisse im Mittleren Osten. Es begann mit der russischen Intervention in Afghanistan, den Revolutionen in Somalia und im Iran. Diese Revolutionen haben die USA zu einer Strategie getrieben, die das Ziel verfolgte, einen «Grünen Gürtel» um die nicht-sunnitischen und revolutionären Umgruppierungen von Kräften im gesamten Nahen Osten zu legen. 

Wo kam diese Strategie zur Anwendung?

Diese Strategie des «Grünen Gürtels» wurde also angewandt in Afghanistan, im Irak, in der Türkei und in Ägypten, wo die Gefahr einer Revolution unmittelbar drohte, oder – um es in amerikanischen Begriffen auszudrücken – «eine russische Machtübernahme». Diese Grüngürtel-Strategie basierte also darauf, die politische Unzufriedenheit aufzugreifen und mit dem Islamismus zu beantworten. Deshalb wurden all jene unter den Arbeitern, unter den traditionellen Teilen der Bevölkerung, unter den Regierungen – soweit sie unter amerikanischem Einfluss standen – ermutigt, die Bedeutung des Wertes ihrer Religion stärker in den Mittelpunkt zu stellen. 

Was geschah mit Ländern, die sich nicht der Strategie der USA unterwerfen wollten?

Wenn die Regierungen nicht pro USA waren, wurde die Opposition in Richtung einer neuen islamistischen Opposition gedrängt. Die Taliban und Mudschahedin in Afghanistan waren ein Produkt der USA. Die Muslimbrüder in Syrien und Ägypten hatten immer die Unterstützung der USA. In der Türkei, besonders nach dem Staatsstreich von 1980, unterstützten die USA und Saudi-Arabien den Aufbau einer erhöhten Anzahl von Imam-Hatip-Schulen etc. Die USA glaubten dann, das Hauptbollwerk gegen den Kommunismus in den vorwiegend islamischen Ländern sei der islamische Widerstand. Dies gab politischen islamistischen Bewegungen ein enormes Potential, das sie in ihrem eigenen Entwicklungstempo nicht hatten.

Wie hat sich das nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelt?

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatten diese Organisationen ihre eigenen Gründe, überall um die Macht zu kämpfen. Daher spielten sie besonders während des «Arabischen Frühlings» eine sehr wichtige Rolle. Sie kamen in Ägypten und in Tunesien an die Macht. Sie erzwangen einen Regimewechsel in Libyen und versuchten es in Syrien. In Afghanistan ging der Krieg durch die Russen verloren, und es wurde deshalb zum Bollwerk des Dschihadismus. Obwohl die USA dagegen waren, gelang es ihnen nicht, sie unter Kontrolle zu bringen. Das endete mit 9/11, und die Reaktion der USA war sehr hart, nur nach Rache sinnend. Diese Rache, basierend auf falschen Anschuldigungen, endete mit dem Angriff auf den Irak. Und die Geschichte entwickelt sich weiter. D2iese Stellvertreterkriege zwischen Russland und den USA ruinieren den Irak, Syrien, Jemen, Libyen und andere Orte.

Was bedeutet das für die dort lebenden Menschen?

Dies ist das zweite Problem. Millionen und Abermillionen junger Menschen, Männer und Frauen, sind hoffnungslos in Armut zurückgeblieben und ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft, aber anfällig für die Erklärung des Dschihadismus und Märtyrertums im Sinne des IS. Diese dschihadistische Interpretation der Widersprüche in ihrer unmittelbaren Umgebung passt zu ihren Beobachtungen. Wenn es keine Hoffnung gibt, dass du etwas tun kannst, um aus dem Elend zu kommen, wirkt sie wie ein Magnet, der all diese Menschen anzieht.

Wie beurteilen Sie die Haltung des Westens in diesem Fall?

Die Reaktion der USA und Europas auf diesen Trend zielt nur darauf ab, die Militärmaschinerie zu zerschlagen. Sie vergessen jedoch ihre erste Sünde. Sie wurde von den USA und Europa begangen. Sie unterstützten sie, liessen sie jedoch ohne glaubwürdige Perspektive zurück. Armut und Ignoranz in Verbindung mit der vermehrten politischen islamistischen Propaganda führen zu etwas wie dem IS. 

Welche Bedeutung hat die Intervention der USA im Irak im Verbund mit der Koalition der Willigen?

Natürlich gibt es einen weiteren Faktor, besonders nach dem Sturz des Saddam-Regimes im Irak, als all diese Baath-Elemente und die sunnitischen Gläubigen vom Regime ausgeschlossen wurden. Sie nahmen ihre Militär- und Verteidigungserfahrungen mit zum IS. Al-Qaida wurde dann durch die Überreste der professionellen irakischen Soldaten und Verwaltungsangestellten weiter gestärkt.

Wie war das in Syrien?

Auch in Syrien schlossen sich nach der Niederlage des Aufstandes der Muslimbrüder die syrischen Armeeoffiziere der von den USA unterstützten Freien Syrischen Armee an, die später fast alle Mitgliedsorganisationen und Ressourcen an Al Qaida und den IS verlor. Der IS erhielt eine Militärdoktrin, übernahm die Schatzkammer bestimmter Provinzen, militärische Substrukturen, die Mentalitäten von Organisationen usw. Deshalb war der IS nicht nur eine einfache terroristische Organisation in der konventionellen Bedeutung. Aber es war eine unkonventionelle aussergewöhnliche Reaktion auf das, was in dieser Region passiert ist. Natürlich musste der IS besiegt werden.

Was ist der erfolgreichste Weg, den IS zu besiegen?

Die beste Antwort auf den IS war die kurdische. Sie antworteten dem IS nicht nur, indem sie töteten und zur alten Ordnung zurückkehrten. Sie haben befreite Gebiete geschaffen, in denen Araber und andere mit Kurden zusammenkommen und ein neues Leben aufbauen können. Dies war das beste Mittel. Aber für die USA ist das Töten von IS-Mitgliedern das einzige Mittel, und sie werden tatsächlich getötet.

Aber der Terror ist noch nicht zu Ende?

Was wir jetzt sehen, ist, dass all jene Elemente, die der IS mit seiner Ideologie erfüllte, den Terrorismus in ganz Europa verbreiten. Das beste Mittel ist also, sowohl Gebiete in der Region für demokratische Alternativen zu öffnen als auch für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen. Wenn wir ignorieren, dass eine extrem dekonstruierte islamische Lehre und Armut zusammenkommen, dann wird das zum Bodensatz des IS.

War die Diskussion in der Versammlung für Sie erfolgreich?

Die gestrige Debatte war keine Debatte über die Ursachen; es ging nur um einige Erkenntnisse. Das ist also nicht befriedigend. Ich lebe in der Türkei, und wir waren das Hauptziel des IS unter der Kontrolle der türkischen Regierung. Es wird offen auf den Strassen diskutiert. Alle von den Richtern angeforderten polizeilichen Berichte wurden den Gerichten vorgelegt, und es ist offensichtlich, dass alle Selbstmord­attentäter unter polizeilicher Überwachung standen. Sie wurden 7 Tage die Woche 24 Stunden lang verfolgt. Ihre Namen standen auf der Fahndungsliste. Bis zum Moment der Explosion wurden sie verfolgt, aber sie wurden nicht gestoppt.

Gab es dazu keine politische Reaktion?

Nun, als diese Frage aufkam, sagte Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu: «Wir leben in einem demokratischen Land. Wir können die Menschen nicht festnehmen, bevor sie handeln.» Aber sie verhaften Leute von der Linken, noch bevor sie daran denken konnten.

Wird der IS wirklich von den USA und ihren Verbündeten bekämpft oder gibt es da auch Finanzflüsse?

Sie gaben den Islamisten Waffen. Aber ich glaube nicht, dass die imperialistischen Länder ihnen derzeit Geld zur Verfügung stellen. Sehr wahrscheinlich taten sie dies während der Tage des Kalten Krieges. Sie haben natürlich Taliban oder andere in Afghanistan finanziell unterstützt. Sie manipulierten die islamistische Opposition innerhalb der PLO. Sie unterstützten die Muslimbruderschaft mit allen Mitteln. Aber nach dem 11. September, selbst wenn sie es in der Vergangenheit getan hatten, finanzieren sie sie praktisch nicht, nehme ich an. Aber die politischen islamischen Gruppen sind seither in einem solchen Umfang gereift, dass sie jetzt ihre eigenen Ressourcen schaffen.

Warum haben sie die Fähigkeit?

Sie haben ihre eigenen Millionäre aus der saudischen Elite, sie haben ihre eigenen Handelsleute, die ihr Geld durch Handel verdienen. Und vor allem der IS, wo immer er im Irak und in Syrien Gebiete besetzte, legte alle Industrie- und Verwaltungsstrukturen neu auf. Sie erhoben Steuern. Sie haben Öl verkauft. Es gibt Berichte der Russen, dass sie Öl an die Türkei verkauften. Über Satellitenbeobachtung verfolgten sie Lastwagen, die über die türkische Grenze kamen. Während der Haushaltsdebatte in unserem Parlament hat der Finanzminister einen Bericht über den Grenzhandel mit Syrien vorgelegt. Bei einem Handel an einem bestimmten Grenzübergang wurde ein Einkommen von 7 Millionen türkischen Lira (1,5 Millionen Euro) erzielt. Aber dieser Grenzübergang stand damals unter der Kontrolle des IS.

Gab es eine Reaktion auf diesen Bericht?

Als diese Frage gestellt wurde, gab es keine Antwort. Darüber haben sie später nicht einmal gesprochen. Es ist offensichtlich, dass es auf dem grauen Markt mit IS-Elementen in den türkischen Grenzstädten einen lebhaften Handel mit illegalen Waren gab. Natürlich machten sie ihr eigenes Geld. So finanzieren sie sich. Es gibt keinen Beweis, dass sie direkt von den Staaten finanziert wurden. Also macht der IS Geschäfte auf seine Art.

Herr Kürkçü, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

Die Parlamentarische Versammlung des Europarats darf sich nicht selbst lahmlegen 

von Thomas Kaiser, Strassburg

Was schon länger schwelt, ist während der Frühjahrssession der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (Parlamentary Assembly of the Council of Europe/PACE) endlich zum Vorschein gekommen. Anstatt sich mit den brennenden Fragen, wie Respektierung der Menschenrechte, Ausbau der Demokratie und Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit in Ruhe befassen zu können, muss sich das «gesamteuropäische» Gremium gezwungenermassen mit sich selbst auseinandersetzen. Der Vorwurf der Korruption steht im Raum. Verschiedene Parlamentarier stehen unter dem Verdacht, bestochen worden zu sein, um Abstimmungsergebnisse in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen. Um die happigen Vorwürfe zu untersuchen, wurde von der Parlamentarischen Versammlung ein externes Untersuchungsgremium (Independent external body of investigation into allegations of corruption/IBAC) eingesetzt, das einen 200seitigen Bericht verfasste. Darin geriet insbesondere Aserbeidschan ins Visier der Experten.

Sitz des Europarats in Strassburg (Bild thk)

Sitz des Europarats in Strassburg (Bild thk)

 

Der Untersuchungsbericht des dreiköpfigen externen Beratergremiums schlug am ersten Tag der Frühjahrssession bei so manchem Parlamentarier hohe Wellen und schüttelte die Parlamentarische Versammlung ordentlich durch. Parlamentarier, besonders aus Aserbeidschan, versuchten ihre Ehre und die Ehre ihres Landes zu retten. Betroffenheit und Entschlusskraft, diesen negativen Auswüchsen zu Leibe zu rücken, bestimmten die Debatte. Die PACE hatte beschlossen, den eignen Verhaltenscodex neu zu definieren, um solche Fälle in Zukunft zu verhindern bzw. schneller darauf reagieren zu können. Zu diesem Zweck hat sie die «Gruppe der Staaten gegen Korruption» (Group of States against Corruption/GRECO) ins Leben gerufen, die sich mit der Ausarbeitung eines neuen Verhaltenscodex befassen soll. In den anschliessenden Diskussionen ging es zum Teil recht emotional zu und her, wobei vor allem ukrainische Parlamentarier den Boden einer sachlichen Auseinandersetzung häufig verliessen. Stellungnahmen einzelner drohten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Es gab aber auch besonnene Stimmen, die vor einer Überreaktion warnten und mehr Sachlichkeit in der Debatte verlangten. 

Die Affäre hat etwas Bemerkenswertes

Es ist sicher dringend geboten, die Vorgänge zu untersuchen und diejenigen zu sanktionieren, die die gesamte Organisation in Miss­kredit gebracht haben. Die Parlamentarische Versammlung darf sich aber dadurch nicht selbst lahmlegen. 

Neben den vornehmlich negativen Aspekten wie einem Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust hat die ganze Affäre auch etwas Bemerkenswertes: Es ist den Mitgliedstaaten des Europarats offensichtlich nicht einerlei, wie sie in der Gemeinschaft der europäischen Staaten wahrgenommen werden. Sie setzen alles daran, international in einem positiven Licht zu erscheinen. Das ist grundsätzlich etwas Positives, sollte aber durch die Verbesserung des eigenen demokratischen Systems und durch Umsetzen der Werte des Europarats erreicht werden statt mit unlauteren Methoden. Der Wunsch, im Europarat in gutem Licht zu erscheinen, straft diejenigen Lügen, die diese Versammlung als zu wenig effizient abtun wollen. 

Dass sich die grossen Medien nur dann auf das gesamteuropäische Gremium fokussieren, wenn es dort sozusagen knirscht und kracht, ist weniger eine Visitenkarte der Parlamentarischen Versammlung als der Sensationsgier der grossen Medienhäuser geschuldet.

Wichtige Funktionen des Europarats

Den wenigsten Menschen ist bekannt, welch wichtige Funktionen der Europarat ausübt und welche Gremien er besitzt, aber viele werden jetzt eines wissen: Dort ist man korrupt. Das wird der Leistung des Europarats und im besonderen der PACE in keiner Weise gerecht, auch wenn es darin Parlamentarier gibt, die mit Bestechen und Sich-Bestechen-Lassen versucht haben, politischen Einfluss zu nehmen. Welche Bedeutung der Europarat und die PACE haben, lässt sich aus den Stellungnahmen folgender Parlamentarier aus verschiedenen Staaten Europas erkennen.

 

Der Europarat – «ein Gremium, das ich lieber gestärkt sehen möchte als geschwächt»

Zeitgeschehen im Fokus Welche Bedeutung hat der Europarat?

Andrej Hunko Für mich hat er vor allem Bedeutung in zwei Dimensionen. Die eine ist die geopolitische Dimension: Er ist das einzige europäische Gremium gemeinsam von EU- und nicht EU-Staaten, er umfasst Russland, die Schweiz, Norwegen, Island, aber auch andere Staaten wie Aserbaidschan, Armenien oder Georgien usw. Es gibt kein vergleichbares Format, die EU kann das nicht ersetzen, weil sie ein rein westlicher Akteur ist. Die zweite Dimension sind die Grundlagen des Europarates wie z. B. die Menschenrechtskonvention, aber auch andere Konventionen. Sie sind sehr bedeutsam wie die Europäische Sozialcharta, die sich von den Grundlagen der EU unterscheidet, weil sie stärker sozial und regional ausgerichtet ist, weniger wirtschaftlich und neoliberal. 

Welche Rolle spielt darin die Parlamentarische Versammlung?

Die Versammlung selbst bringt die Abgeordneten der 47 Mitgliedstaaten zusammen. Das ist ein einzigartiges Forum des Austausches und verfügt durchaus über einige Instrumente. Wir wählen die Richter des Menschenrechtsgerichtshofes, der 820 Millionen Menschen schützt. Wir wählen den Generalsekretär, verfassen Berichte, die an Regierungen gehen. Insofern ist es ein Gremium, das ich lieber gestärkt sehen möchte als geschwächt.

«Es muss ein Weg zur Rückkehr der Duma-Vertreter nach Strassburg gefunden werden»

Interview mit Christoph Wenaweser, Liechtenstein, Landtagsabgeordneter, Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Landtagsabgeordneter Christoph Wenaweser, Vaterländische Union (Bild thk)
Landtagsabgeordneter Christoph Wenaweser, Vaterländische Union (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie beurteilen Sie die Entwicklung im Europarat?

Christoph Wenaweser Leider muss sich die parlamentarische Versammlung des Europarats aufgrund gravierender Korruptionsvorwürfe und wohl auch tatsächlicher Korruptionsfälle im Moment stark mit sich selbst beschäftigen. Es ist notwendig, dass sie sich nach schonungsloser Aufarbeitung wieder mehr und effizienter als bisher auf ihre Kernkompetenzen fokussiert. 

Wird das den Europarat nachhaltig schwächen?

Wenn die Prozesse zur Fokussierung und zur Effizienzsteigerung gelingen, wird der Europarat zu seiner alten Stärke zurückfinden, und das ist notwendig. Der Europarat darf allerdings nicht auf seine Parlamentarische Versammlung reduziert werden. Es gibt auch das Ministerkomitee und insbesondere den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Dieser arbeitet offensichtlich sehr erfolgreich. Der Umsetzung seiner Urteile kommen die Mitgliedsstaaten des Europarats zudem in hohem Masse nach. 

Welche Bedeutung messen Sie der Tatsache bei, dass über 50 Staaten im Plenum vertreten sind? 

Nebst den 47 Mitgliedstaaten kommt den Beobachterstaaten und den Demokratiepartnerstaaten grosse Bedeutung zu. Wenn wir den Menschen vor Ort vermehrt zuhören, lernen wir vielleicht, etwas von der Beseeltheit der westlichen Welt abzulassen, für andere festzulegen, was gut und richtig für sie ist. An der Frühjahrssession der parlamentarischen Versammlung rief eine Vertreterin des Demokratiepartnerstaates Jordanien am Beispiel ihres eigenen Landes als stabiles Element in einer Krisenregion den erfolgversprechenden Weg in Erinnerung, den Staaten der Welt dabei zu helfen, im Dialog aller Kräfte ihre eigenen demokratischen Reformprozesse zu gestalten, anstatt militärisch zu intervenieren, was zu Desaster und wachsendem Terrorismus in der ganzen Region führe. 

Russland wurde aufgrund der Intervention auf der Krim 2016 das Stimmrecht entzogen. Wie sehen Sie das?

Ich halte die damalige Entscheidung – zugegebenermassen aus der zeitlichen Distanz des damals Unbeteiligten – zumindest für fragwürdig. Sie hat Russlands Politik nicht zu ändern vermocht. Nur redet man seither im Europarat nicht mehr miteinander und nicht mehr miteinander zu reden, ist in jeder Form von Beziehung immer der schlechtere Weg. Die Entscheidung Russlands, nach dem Stimmrechtsentzug den Sessionen fern zu bleiben und die Beitragszahlungen zu kürzen, kann ich allerdings ein gutes Stück weit nachvollziehen. Es muss ein Weg zur Rückkehr der Duma-Vertreter nach Strassburg gefunden werden. 

Herr Landtagsabgeordneter Wenaweser, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

 

«Wir brauchen aus allen Parteien Politiker, welche den Mut haben, ihre Ideale und ihre Wähler zu vertreten» 

Interview mit Nationalrat Roland Büchel, Schweiz, Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Nationalrat Roland Büchel, SVP (Bild thk)
Nationalrat Roland Büchel, SVP (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Welche Bedeutung hat der Europarat, und wie kann man den Schaden, bedingt durch die Korruptionsfälle, wiedergutmachen?

Roland Büchel Der Europarat steht für Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Menschenrechte. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) hat die Aufgabe, mehr als 820 Millionen Menschen zu vertreten. Das ist die Anzahl Bewohner in den 47 Mitgliedstaaten. 

Kann sie das immer noch glaubwürdig tun?

Die PACE verliert all ihre Glaubwürdigkeit, wenn die zahlreichen Korrupten künftig weiterhin im Rat sitzen. Hier müssen wir endlich Ordnung schaffen. Dabei wird es die Versammlung noch einmal richtig durchschütteln. Anders geht es nicht. 

Wo sehen Sie den Schwerpunkt in der PACE für den Europarat?

Wir müssen sehr aufpassen, dass die Ministerkonferenz nicht überhandnimmt. Wir sind in Strassburg, wie auch in den nationalen Parlamenten, die Vertreter unserer Bevölkerung – und nicht von den Regierungen. Wir müssen für unsere Meinung und die unserer Wähler einstehen. Ein SPler ist anders als ein SVPler. Das soll auch so wahrgenommen werden. Es ist wichtig, dass die verschiedenen politischen Ideen in der Versammlung vorhanden sind.

Wo liegt das gemeinsame Ziel?

Es liegt darin, die Menschenrechte der Bürgerinnen und Bürger auf eine sinnvolle und verhältnismässige Art zu verteidigen. Es ist unsinnig, dass man die Schweiz für irgendeine kleine Geschichte an den Pranger stellt – und gleichzeitig massive Menschenrechtsverletzungen in anderen Mitgliedstaaten akzeptiert.

Hat der Europarat auch Instrumente, konkret etwas zu erreichen?

Der Europarat hat keine gesetzgeberische Wirkung. Das wissen viele nicht. Um etwas zu erreichen, muss man die Anträge ins nationale Parlament hineintragen. Trotz allem: Die PACE kommt mir vor wie ein Seismograph.

Wie meinen Sie das?

Im Europarat wird früh sichtbar, was ein paar Jahre später in den nationalen Parlamenten thematisiert werden wird. Dabei muss man als Bürgerlicher natürlich aufpassen. Es kann nicht sein, dass der Staat am Schluss alles regelt. 

Kann man sagen, dass der Europarat für die Schweiz sehr wichtig ist, weil sie sich zum einen wie alle übrigen Staaten einbringen und zum anderen Stimmungen oder Tendenzen frühzeitig wahrnehmen kann?

Es ist wichtig, Stimmungen wahrzunehmen und Entwicklungen frühzeitig zu erkennen. Auch wenn es etwas arrogant klingen mag: Wir haben in Strassburg eine Vorbildrolle zu spielen. Unsere Leute sind im Normalfall nicht korrupt. Wir sind in den Sitzungen fast immer präsent. Das ist bei anderen Staaten viel zu oft nicht der Fall. Dazu kommt, dass wir Milizparlamentarier sind. Das steigert die Glaubwürdigkeit. 

Das ist eine hohe Verantwortung …

die wir in der Korruptionsangelegenheit wahrgenommen haben. Was schon lange geschwelt hat, konnte ins Rollen gebracht werden. Alfred Heer, unserem Delegationsleiter der letzten beiden Jahre, sei Dank. 

Was hat das für Folgen gehabt?

Der Europarat kann mit einem Riesentanker verglichen werden. Da gehen Reformen naturgemäss etwas länger. Gerade deshalb bin ich erfreut über das Tempo, mit welchem neue Regeln erlassen und zahlreiche Fälle untersucht wurden. Zudem waren die untersuchenden Persönlichkeiten sehr glaubhaft. 

Wehrten sich die Fehlbaren denn nicht?

Oh, doch. Und wie! Es wurden alle Register gezogen. Einige haben sich gar auf eine doppelte Immunität berufen, jene als Parlamentarier in ihrem Land und jene als Mitglied des Europarats. Trotzdem: Die Dämme sind gebrochen.

Mit welchem Resultat?

Der Tsunami, welcher den Rat überrollt hat, wird zu einer Verbesserung und zu einer höheren Glaubwürdigkeit führen. 

Es hat sich gezeigt, dass die Schweiz hier aufgrund ihres Systems etwas bewirken kann.

Ja, das ist so. Gerade in der SVP macht man sich immer wieder Gedanken: Macht es überhaupt Sinn, sich hier zu engagieren? Für mich ist klar, dass wir uns in Strassburg mit guten Leuten voll und ganz einbringen müssen. 

Das gilt aber nicht nur für die SVP, oder?

Wir brauchen aus allen Parteien Politiker, welche den Mut haben, ihre Ideale und ihre Wähler zu vertreten. Wer per se geliebt werden will, ist hier am falschen Ort. 

Herr Nationalrat Büchel, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

«Es ist gut, dass es ein reinigendes Gewitter gibt»

Interview mit Bundesrat Stefan Schennach, Österreich, Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Bundesrat Stefan Schennach, SPÖ (Bild thk)
Bundesrat Stefan Schennach, SPÖ (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Sie wurden im Korruptionsbericht der Parlamentarischen Versammlung des Europarats namentlich erwähnt. Was wirft man Ihnen darin vor?

Stefan Schennach Ich bin im Korruptionsbericht namentlich erwähnt, jedoch nicht unter dem Stichwort «Korruption» – das ist wichtig. Zu aller und meiner Überraschung stand mein Name darin. Der Vorwurf war, dass ich über meine professionelle Arbeit hinaus zu engagiert arbeiten würde mit Menschenrechtsorganisationen, mit Menschenrechtsanwälten, für Angehörige von politischen Gefangenen und für politische Gefangene. Das ist in einem Satz erwähnt. Auch würde ich sehr eng mit Arif und Leyla Yunus, weltweit geehrte Menschenrechtsaktivisten aus Aserbaidschan, zusammenarbeiten. Für Herrn und Frau Yunus konnte ich erreichen, dass sie das Land verlassen durften. Sie leben jetzt im Exil in den Niederlanden. Es sind hochbetagte Menschen, die sich weltweit einen Namen gemacht haben.

Was war hier der konkrete Vorwurf?

Ich hätte ihnen einen Berichtsentwurf weitergeleitet, was ein grosser Fehler gewesen sei. Es ist auch vom Ehepaar Yunus klargestellt worden, dass sie von mir niemals einen Berichtsentwurf bekommen haben. All diese Vorwürfe haben sich sehr schnell in Luft aufgelöst. Man hat mir vorgeworfen, ich würde mit meinem Engagement für Menschenrechte und die Freilassung von politischen Gefangenen, Gefahr laufen, meine Objektivität und Neutralität zu verlieren. Mit diesem Vorwurf, der ja schon fast eine Auszeichnung ist, kann ich gut leben, denn es entspricht meinem Leben, engagiert zu sein, für Menschen da zu sein. Aber in einem Bericht hat dieser Vorwurf nichts zu suchen. Das hatte fatale Folgen, weil ich meine Funktionen vier Tage ruhen liess. Seit heute Donnerstag – also noch während der Frühjahrssession – ist das zu Ende.

Ich habe meinen Ausschussvorsitz und alle meine Funktionen wieder übernommen.

Gab es eine offizielle Verlautbarung zu Ihrer Rehabilitation?

Ja, ich hatte gestern eine Anhörung vor dem Geschäftsordnungsausschuss. Sie haben mich zu all diesen Punkten befragt. Es gab auch von dem Human-Rights-House in Genf ein sehr umfassendes Schreiben und eine Dokumentation. 

Was stand in dem Schreiben?

Dass ich einer der «most integrity and honest» Rapporteure sei, und das wurde vom Chief-Advocat der Organisation geschrieben. Anschliessend haben sie mich von allen Vorwürfen «freigesprochen» mit einer Einschränkung, einer Rüge, dass ich während der Wahlbeobachtungsmission mich mit NGO‘s und Angehörigen von politischen Gefangenen getroffen hätte, was ich nicht hätte tun sollen. Das ist Auslegungssache. Ich war nicht alleine, zwei Bundestagsabgeordnete waren dabei, und ich habe einen Experten der Venice Commission mitgenommen. Das war eher eine taktische Rüge, damit die Autoren des Berichts nicht blamiert sind. Formal bin ich aber nicht mehr im Bericht.

Wie haben die Kollegen auf Ihre Rehabilitation reagiert?

Ich habe sofort Solidaritätsbekundungen von allen Seiten bekommen. Ein Abgeordneter der Ukraine sagte, «es ist eine Schande», dass Schennach in dem Bericht erwähnt sei. Ein liberaler Abgeordneter aus Lichtenstein hat sich ebenfalls klar dagegen geäussert. Am Ende meiner Rede heute, in der ich den Beschluss des Geschäftsordnungsausschusses mitgeteilt hatte, erhielt ich langanhaltenden Applaus. Nach vier Tagen Alptraum hat das gut getan.

Was für eine Bedeutung hat die Auseinandersetzung um die mutmasslichen Korruptionsfälle für die konkrete Arbeit der parlamentarischen Versammlung?

Kein Berichterstatter war in so vielen Gefängnissen. Bei jedem Besuch bin ich von morgens in der Früh bis am Abend spät in den verschiedensten Gefängnissen gewesen und habe hauptsächlich mit männlichen, aber auch mit weiblichen Gefangenen gesprochen. Ich bin mit Menschrechtsaktivisten zusammengesessen, und ich muss ihnen klarmachen können, dass sie hier in diesen Rat Vertrauen haben können. Darum ist es gut, dass es ein reinigendes Gewitter gibt. Insgesamt ist es wichtig für die Parlamentarische Versammlung ein Zeichen gesetzt zu haben, nach all den verschiedenen Vorwürfen «Caviar diplomacy» oder Gerichtsfall «Volonte» in Italien.

Erstmals hat eine Internationale Organisation eine unabhängige Untersuchungskommission damit beauftragt, das könnte Schule machen.

Herr Bundesrat Schennach, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

Freihandelsabkommen Mercosur – Schweiz

Hormonfleisch für die einen, Armut für die anderen

Medienmitteilung der SWISSAID vom 3. Mai 2018 

Diese Woche ist Bundesrat Schneider-Ammann mit einer Entourage aus Wirtschaft und Politik auf PR-Mission in Südamerika. Mit Besuchen bei Regierungsvertretern, landwirtschaftlichen Vorzeigebetrieben und High-Tech-Messen möchte er der hochkarätigen Delegation das Freihandelsabkommen (FHA) mit den Mercosur-Staaten schmackhaft machen. Obwohl das FHA die soziale Ungerechtigkeit im Süden verstärkt und drastische Auswirkungen auf Umwelt und Klima hat, werden keine kritischen Stimmen angehört. Auch Konsumenten in der Schweiz haben das Nachsehen: Kommt das Abkommen zustande, bedeutet das nicht nur Aussicht auf günstige Steaks, sondern auch auf Fleisch, das häufig aus tierquälerischer Haltung stammt, mit Hormonen und Antibiotika belastet ist und Kleinbauernfamilien in Existenznöte bringt.

Artgerechte Tierhaltung als Voraussetzung für gesunde Fleischproduktion (Bild thk)

Artgerechte Tierhaltung als Voraussetzung für gesunde Fleischproduktion (Bild thk)

 

Die Absicht des Bundesrates ist klar: So rasch als möglich möchte er das Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay abschliessen und der Schweizer Wirtschaft erleichterten Zugang zu einem Markt von 260 Millionen Käufern schaffen. Knackpunkt ist die Landwirtschaft: Während die Aussicht auf günstiges Fleisch Schweizer Konsumenten lockt, widersprechen die dortigen Produktionsbedingungen vielen Nachhaltigkeitskriterien ganz klar.

«Beim freien Handel zählt in erster Linie der Preis. Gewinner sind jene Produzenten, die kurzfristig am günstigsten produzieren können – und das zumeist auf Kosten von Mensch und Umwelt», sagt Christine Badertscher, Landwirtschaftsexpertin von SWISSAID. Die durch das FHA gesteigerte Exportnachfrage nach Fleisch heize die Bodenspekulation weiter an. Viele Kleinbauernfamilien gerieten in Existenznot.

Tiefe Preise hin oder her: Auch für die Schweizer Konsumenten bietet die Marktöffnung beträchtliche Nachteile: Ihnen wird vermehrt Fleisch vorgesetzt, das den Schweizer Standards nie und nimmer entspricht. Wer heute an Fleisch aus Südamerika denkt, denkt an riesige Weiden. Ein Trugbild. Das südamerikanische Rindfleisch wird immer öfter in tierquälerischer Mast produziert, mit leistungsfördernden Hormonen und Antibiotika sowie gentechnisch veränderten Futtermitteln.

SWISSAID fordert deshalb, dass das Abkommen mit Mercosur nur abgeschlossen werden darf, wenn zwingend folgende Bedingungen erfüllt sind:

Keine Hormone und keine Antibiotika: Nur Fleisch aus Weidehaltung, welches ohne Hormone und antimikrobielle Leistungsförderer produziert wurde, soll importiert werden dürfen.

Keine Gentechnik: Weiterhin darf nur GVO-freies Soja in die Schweiz eingeführt werden. Der freiwillige Verzicht der Schweizer Landwirtschaft auf GVO-Futtermittel darf nicht geschwächt werden.

Studie zu den Auswirkungen: Der Bundesrat muss die Auswirkungen des FHA auf die Kleinbauern in Südamerika, auf die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft sowie die Folgen der intensiven Soja- und Fleischproduktion für die Umwelt untersuchen.

Weitere Informationen:
Christine Badertscher, Verantwortliche Ernährungssouveränität,
079 583 69 03, c.badertscher@swissaid.ch

«Die Schweiz muss ihren Teil der Verantwortung für eine nachhaltige Lebensmittelproduktion tragen»

Mercosur-Abkommen: Grosse Herausforderungen, insbesondere für Schweizer Fleisch

Medienmitteilung der SALS-Schweiz* vom 9. Mai 2018

Bundesrat Johann Scheider- Ammann hat seine Promotionsreise zugunsten des Freihandelsabkommen mit dem Mercosur abgeschlossen. Die Schweizer Vereinigung für einen starken Agrar- und Lebensmittelsektor warnt vor den Nachteilen, die ein Abkommen mit dem Mercosur darstellt, insbesondere für die Fleischproduzenten, und zwar auch im Premium- Segment. Die Landwirtschaft in den Mercosur-Ländern produziert in einem Umfeld mit deutlich geringeren Kosten und einem wesentlich weniger umfassenden gesetzlichen Rahmen als die Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft. Trotz hohem Bildungsgrad und allerbestem Willen können die Schweizer Produzenten nicht mit den argentinischen Rindfleischproduzenten oder den brasilianischen Geflügelproduzenten mithalten. Wir spielen nicht in der gleichen Liga.

Die Schweiz muss ihren Teil der Verantwortung für eine nachhaltige Lebensmittelproduktion tragen. Sie kann auf internationaler Ebene ein Vorbild sein. Wir können nicht alle Probleme und Umweltauswirkungen im Zusammenhang mit der Ernährung ins Ausland exportieren. Wir wollen eine starke und vielfältige Land- und Ernährungswirtschaft und keine Grünlandmonokultur mit einer Landwirtschaft, die auf den Export einiger weniger Käsespezialitäten abzielt. Das bedeutet, dass wir an starken Rahmenbedingungen festhalten müssen, damit in der Schweiz komplette Wertschöpfungsketten einschliesslich Produktion und Veredelung von Nahrungsmitteln eine Zukunft haben.

Die Schweizerische Vereinigung für einen starken Agrar- und Lebensmittelsektor setzt sich zusammen mit ihren Partnern vehement für verlässliche Rahmenbedingungen ein, um Arbeitsplätze in der Wertschöpfungskette und eine Zukunft für Betriebe und Unternehmen in der Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft zu gewährleisten.

Auskunft: Hans Jörg Rüegsegger,
Präsident SALS-Schweiz,
Riggisberg, 079 393 87 50

*Die Schweizerische Vereinigung für einen starken Agrar- und Lebensmittelsektor (SALS-Schweiz) ist eine Dachvereinigung, die über 60 Branchenorganisationen und Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette vereint. Die SALS-Schweiz verteidigt gemeinsame Interessen von Produzenten und Verarbeitern des Schweizer Agrar- und Lebensmittelsektors. Sie setzt sich für eine produzierende Schweizer Landwirtschaft und eine starke Nahrungsmittelindustrie ein. Die der SALS-Schweiz angeschlossenen Unternehmen und Branchenorganisationen generieren einen jährlichen Gesamtumsatz von über 16 Milliarden Schweizer Franken und beschäftigen über 160 000 Personen.

Leserbrief

Es braucht einen modernen «Plan Wahlen»

Im 2. Weltkrieg 1939 bis 1945 hat der spätere Bundesrat Traugott Wahlen einen Anbauplan zur Ernährungssicherheit der Schweiz erstellen lassen. Die Umsetzung des «Plan Wahlen». 

2017 hat das Schweizervolk dem Verfassungsartikel zur Ernährungssicherheit mit über 75 Prozent zugestimmt. Wie wird der Verfassungsartikel nun umgesetzt? Bäuerinnen und Bauern, Konsumentinnen und Konsumenten, Verarbeiter, Grossverteiler und Politikerinnen und Politiker sind gefordert, ihren Beitrag zu leisten. 

Die Bäuerinnen und Bauern haben die Selbstversorgung mit lebenswichtigen Nahrungsmitteln aus Acker-, Milch-, Fleisch-, und Eierproduktion zu sichern.

Die Konsumentinnen und Konsumenten müssen die Schweizer Produkte zu kostendeckenden Preisen kaufen – sonst gibt es bald keine Schweizer Bauern mehr.

Die Verarbeiter müssen aus diesen Nahrungsrohstoffen eine Vielfalt von gesunden Lebensmitteln herstellen. Die Grossverteiler haben dafür zu sorgen, dass die Schweizer Nahrungsmittel frisch zum Kauf angeboten werden. 

Die Politikerinnen und Politiker können nicht Freihandelsabkommen abschliessen und vergessen, dass die Versorgungssicherheit in der Schweiz in einem Verfassungsartikel zugrunde gelegt ist und in einem Gesetz noch geregelt werden muss. 

Wir alle sind also gefordert. 

Das Wegwerfen von Nahrungsmitteln muss in unserer zivilisierten Gesellschaft wieder vermindert – besser noch verhindert werden.

Der Bundesrat sowie die National- und Ständeräte müssen mit Unterstützung der Hochschulen einen modernen «Plan Wahlen» zur Ernährungssicherheit der Schweiz erstellen.

Die Beführworter des Agrar-Freihandels haben sich an den Verfassungsartikel zu halten und dürfen die Schweizer Nahrungsmittelproduktion nicht einfach zerstören. 

Heute kennen wir in der Schweiz den Hunger nicht. Das soll so bleiben. 

Isidor Kunz, Bergbauer,
Hergiswil am Napf (LU)

Vollgeld-Initiative gegen Finanzkrisen?

von Reinhard Koradi

Im Juni 2018 stimmen die Schweizer Stimmbürger über die Vollgeld-Initiative ab. Die Ini­tianten versprechen mit ihrem Vorstoss «krisensicheres Geld». Ein verlockendes Versprechen, aber kann die Vollgeld-Idee auch halten, was sie verspricht? Wohl nur begrenzt. Doch allein die Suche nach Lösungen kann ein Fortschritt sein, indem eine längst fällige Diskussion über eine zukünftige, den Menschen gerecht werdende Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik lanciert wird. Dieser Diskurs müsste aber weit über die Frage hinausgehen, wer Geld produzieren darf.

Der unter dem Einfluss der globalen Gleichschaltung eingeschlagene neoliberale Kurs zerstörte und zerstört gewachsene Strukturen, Werte und das bis anhin weit verbreitete Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Allgemeinwohl innerhalb unserer Gesellschaft. Damit sind auch massgebend Gestaltungsmöglichkeiten auf Ebene des Nationalstaates nur noch begrenzt umsetzbar und erfordern in den meisten Fällen die Akzeptanz aus dem Ausland und einschlägiger Organisationen. Wer nicht spurt, wird sanktioniert oder auf eine schwarze Liste gesetzt. 

Die Weltgemeinschaft, und damit auch die Schweiz, ist mit unzähligen politischen, wirtschaftlichen und kriegerischen Konflikten konfrontiert und steht vor gewaltigen Herausforderungen. Wieweit die Vollgeld-Initiative in diesem Umfeld einen effektiven Lösungsbeitrag leisten kann, ist für mich eine offene Frage, die im Rahmen des laufenden Abstimmungskampfs wohl auch nicht beantwortet werden kann. Vollgeld ist immer wieder Thema, wenn Wirtschaftskrisen die Menschen bedrohen, doch hatte diese Idee bis anhin keine reelle Chance, sich in der Praxis zu bewähren. Dies ist dann auch das stärkste Argument der Gegner der Vollgeldinitiative. Es wird befürchtet, dass sich die Schweiz in ein Abenteuer stürzt, dessen Ausgang äusserst ungewiss ist, und das, statt die Krise zu lösen, neue Krisen nach sich ziehen könnte.

Was soll anders werden?

Mit der Vollgeld-Initiative wollen die Initianten die Zentralbank (in der Schweiz die Schweizerische Nationalbank, SNB) stärken und die Geschäftsbanken zurückbinden. Geschäftsbanken sollen gemäss dem Willen der Initianten kein Geld mehr selbst «produzieren» können. Bei Annahme der Initiative wäre allein die SNB für die «Produktion des Geldes» zuständig. Das Geldmonopol (Münzen und Noten) lag schon immer bei der Nationalbank, neu ist, dass auch «Buchgeld» oder elektronisches Geld nur noch durch die SNB herausgegeben werden darf. Bei den Geschäftsbanken würde diese Einschränkung einen erheblichen Einfluss auf deren Geschäftstätigkeit bedeuten und wahrscheinlich auch deren Erfolgsaussichten (Gewinn) nach unten drücken. Es ist daher leicht nachvollziehbar, dass sich Banken, aber auch weite Kreise aus der Wirtschaft gegen die Vollgeld-Initiative stellen. Interessanterweise wehrt sich auch die Politik, Bundesrat, Parlament und die meisten Parteien gegen diesen Befreiungsschlag aus der Krise. Dabei könnte sich die Politik bei einer Annahme der Initiative möglicherweise etwas von der Bevormundung durch Banken und Wirtschaft loslösen, indem sie ihren Einfluss auf die Geldversorgung durch die Nationalbank ins Spiel bringen könnte. Aber nicht einmal das Argument, dass der öffentlichen Hand bei einem Systemwechsel zur Vollgeld-Wirtschaft 300 Milliarden Franken ­infolge des Seigniorage-Gewinns zukommen soll, bewirkt einen Stimmungswandel. Beim Seigniorage-Gewinn handelt es sich um den Profit, der durch das Monopol der Zentralbankgeldschöpfung entsteht. Seigniorage ist die Differenz zwischen den Prägekosten von Münzgeld bzw. den Herstellungs- und Bereitstellungskosten von Papiergeld und deren jeweiligem Nennwert. Er fällt als Emissionsgewinn dem jeweiligen Seigneur, also dem Staat (Münzprivileg) bzw. der Nationalbank (SNB) zu.1

Unter dem bisherigen Regime produzieren die Geschäftsbanken immer dann Geld (Giralgeld), wenn sie Kredite vergeben. Die Banken verfügen jedoch nur über eine geringe Teilsumme des nachgefragten Kredits, den Rest produzieren sie per Knopfdruck. Mit der Vollgeldinitiative soll dies den Geschäftsbanken verboten werden. Sie können Kredite dann nur noch vergeben, wenn sie über das nachgefragte Geld verfügen, sei es über Spargelder oder Kreditzusagen seitens der Notenbank.

Zu hohes Risiko?

Grundsätzlich hängt die Geldmenge, die einer Volkswirtschaft zur Verfügung gestellt wird, eng mit dem gesamten Produktionsvolumen einer Volkswirtschaft und deren Wachstumsperspektiven zusammen. Eine Geldmengenpolitik ist dann unproblematisch, wenn ein Gleichgewicht zwischen der verfügbaren Geldmenge und der gesamten realen Produktion einer Volkswirtschaft besteht. Durch die Globalisierung und vor allem den anhaltenden Wirtschaftskrieg und die enormen Staatsverschuldungen weltweit ist dieses Gleichgewicht längst aus den Fugen geraten. Die Geldmengenausweitung in der Schweiz ist das Ergebnis einer Währungspolitik, die das Ziel verfolgt, den Schweizerfranken auf ein für die Exportwirtschaft angemessenes Niveau zu senken. Der Schweizerfranken wird bewusst geschwächt durch Interventionen am Devisenmarkt (Schweizerfranken werden gegen ausländische Währungen getauscht) oder durch Negativzinsen (Sparen wird nicht mehr belohnt, sondern bestraft). Die Ursachen der aktuellen Blasenbildung liegen dann auch weniger in der Schweiz selbst, sondern hauptsächlich im Euro-Raum und teilweise auch in den USA. Die Staatsverschuldung hat dort ein unerträgliches Ausmass angenommen. Der Kampf gegen den Schuldenberg mit einer ungebremsten Geldmengenpolitik verschärft die gesamte Problematik zusätzlich. Das Ziel, das «unsichere Geld» respektive die Risiken einer Wirtschafts- oder Finanzkrise durch ein Geldschöpfungsmonopol der Nationalbank aufzufangen und in einen sicheren Hafen zu führen, wird wohl an der Realität einer grundsätzlich verfehlten globalen Wirtschaftspolitik, der ins uferlose gewachsenen Staatsverschuldung und der unverantwortlichen geographischen Expansionspolitik der Europäischen Union (Transferzahlung an die «armen» und neuen Mitgliedsländer) scheitern. Das Risiko eines Systemwechsels liegt weniger bei der Vollgeld-Idee selbst, vielmehr ist es das grenzüberschreitende Umfeld, das diesen isoliert vorangetriebenen Schritt nicht zulassen wird. Es ist nun einmal eine Tatsache, dass vorerst die Ursachen der Schieflage behoben werden müssen, bevor eine selbstbestimmte Politik der Schweiz ernsthaft ins Auge gefasst werden kann. Es sind Voraussetzungen im gesamten Umfeld zu schaffen, die der Schweiz erlauben, als unabhängigem, freiem und souveränem Staat eine selbstbestimmte Politik umzusetzen. 

Alternativen finden

Ein Systemwechsel, gleich ob in Bezug auf die Wirtschafts-, Geld- oder Finanzpolitik, kann bei den aktuellen Verflechtungen nur in Form von Parallelstrukturen angegangen werden. Es würde sich bestimmt lohnen, in dieser Richtung neue Ideen einzubringen. Warum nicht über eine Parallelwährung im Sinne des Schwundgeldes oder von Regionalwährungen nachdenken? Ergänzen könnten solche Projekte regionale, überschaubare Wirtschaftskreisläufe, die es erlauben, sich aus den Fängen der globalen und neoliberalen Vereinnahmung zu befreien.

Machtkonzentration bei der Nationalbank

Die SNB ist meiner Meinung nach kein Garant für sicheres Geld. Selbstverständlich ist das Versprechen da, Schweizerfranken jederzeit entgegenzunehmen. Aber wo liegt der effektive Gegenwert? Mit der Goldbindung oder einer 100 % Reservebildung wäre die versprochene Sicherheit gegeben. Aber davon sind wir weit entfernt. Auch unsere Notenbank produziert nichts anderes als ungedecktes Papiergeld (Fiatgeld), ob nun als Münze, Banknote oder auf elektronischem Weg. Im Ernstfall könnte letztlich nur der Staat angerufen werden, um für allfällige Verluste einzustehen und die Zahlungsunfähigkeit der Notenbank auszugleichen. Und der Staat sind wir. Mit anderen Worten, wir Bürger, die gesamte Volkswirtschaft (Infrastruktur und Güter) werden immer für den Schweizerfranken geradestehen müssen. Das Vertrauen in den Schweizerfranken beruht nicht auf dem Vertrauen in die SNB. Es ist der Reichtum der Schweiz, unsere politische Stabilität und das durchaus vorhandene Wirtschaftspotential, die für den Schweizerfranken bürgen. Daher ist die Kontrolle über das Geld im Grundsatz Aufgabe des Bürgers. Doch bis heute ist diese Kontrolle nicht gewährleistet. Das Nationalbankgesetz (NBG) vom 3. Oktober 2003 (in Kraft seit 1. Mai 2004) gibt den Rahmen für die Nationalbank und ihre Tätigkeit vor. Der verfassungsrechtliche Auftrag der SNB sowie deren Unabhängigkeit wird im Gesetz konkretisiert. Gegenstück zur Unabhängigkeit ist die Rechenschafts- und Informationspflicht der SNB gegenüber Bundesrat, Parlament und Öffentlichkeit (Art. 5-7 NBG). Im Weiteren erteilt das NBG der SNB  den verfassungsmässigen Auftrag, aus ihren Erträgen ausreichende Währungsreserven zu bilden. Allerdings hat sich auch die Schweiz mit der neuen Gesetzgebung von der Goldbindung verabschiedet. Eine explizite Regel zur Gewinnermittlung erlaubt es der SNB, ihre Rückstellungen nach Massgabe der Entwicklung der schweizerischen Volkswirtschaft anwachsen zu lassen (Art. 30 NBG).2 Eine Kontrollinstanz durch das Volk gibt es nicht, wird die Bank doch weitgehend nach den Vorschriften des Aktienrechts geführt.

Der Vorwurf an die Banken, virtuell aus dem «Nichts» Geld herzustellen, gilt auch für die Nationalbank. Sie trägt mindestens dieselbe Verantwortung dafür, dass heute 90 % unseres Geldes per Knopfdruck in Umlauf gebracht werden (nur noch 10 % sind Bargeld). Das elektronische Geld erlaubt den Geschäftsbanken, selber Finanzprodukte und Immobilien zu kaufen oder Kredite zu vergeben. Sie kassierten über Jahrzehnte Milliarden aus dieser privaten Geldherstellung, was insgesamt zu Wettbewerbsverzerrung, Finanzblasen und auch Bankenrettungen führte. Sollen diese Fehlentwicklungen korrigiert werden, dann müssen die Nationalstaaten in die Pflicht genommen werden. Sie müssen ihre Staatshaushalte in Ordnung bringen und für wirtschaftliche Rahmenbedingungen sorgen, die der Realwirtschaft eine echte Chance eröffnen und der Blasenwirtschaft den Hahn zudrehen.

Vor diesem Hintergrund muss die Konzentration der Geldschöpfung auf eine einzige Institution (SNB) schon noch einmal ernsthaft hinterfragt werden. So könnte man doch den Geschäftsbanken ihre Kreditgewährung weiter zugestehen, jedoch mit höheren Rückstellungen (Reserven). Und dann wäre, wie bereits erwähnt, die Schaffung von Parallelwährungen ein wirkungsvolles Instrument zur Dezentralisierung und zur Wettbewerbsförderung. 

Die aktuellen Krisen brauchen Lösungen, die durch die Bürger entwickelt, getragen und umgesetzt werden. Noch haben wir zu grossen Respekt vor der Komplexität des Geldwesens. «Mehr als bei allen anderen Zweigen der Wirtschaftswissenschaften haben wir es beim Geldwesen mit einer Disziplin zu tun, in der die Komplexität häufig nur dazu dient, die Wahrheit zu verschleiern, statt sie für jedermann verständlich darzustellen».3 Geld ist ein Zahlungsmittel und lässt sich leicht horten, zudem dient es auch zur Bestimmung des Wertes einer Arbeit oder eines Produktes. Geld respektive die Akzeptanz des Geldes beruht allein auf Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit des Herausgebers von Geld. Schwindet dieses Vertrauen, schwindet auch der Wert des Geldes. Jede Währung baut auf Vertrauen auf, auch unser Schweizerfranken. Vertrauen kann man sehr schnell verlieren, aber nur schwer wieder zurückholen. Daher keine Experimente mit unsicherem Ausgang. Konzentrieren wir unsere Energie und Geisteskraft auf die für unser Land zentralen Aufgaben, die uns wieder die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen und unsere Freiheit und Unabhängigkeit zurückbringen. 

1 www.wirtschaftslexikon.ch/de
2 www.snb.ch/d
3 John Kenneth Galbraith: Geld. Woher es kommt, wohin es geht. München 1976, S. 15

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