Grundversorgung beinhaltet mehr, als Engpässe zu überwinden

von Reinhard Koradi

In den letzten Monaten wurden verschiedene Versorgungslücken offengelegt. Durch die Corona-Krise zeigte sich, dass viele Länder wie auch die Schweiz ungenügend auf allfällige Versorgungsengpässe vorbereitet waren. Der Glaube an den Freihandel mit globalen Dimensionen und die Freundschaftsbeteuerungen bezüglich dem guten Willen der Nachbarländer hat uns den Blick auf elementare Sicherheitsvorkehrungen vernebelt.

Zeitgeschehen im Fokus hat bereits in mehreren Beiträgen über Jahre hinweg auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass die Grundversorgung und damit die Versorgungssicherheit grundsätzlich über Eigenleistungen (Inlandleistung) gewährleistet werden muss, und diese nur sehr begrenzt durch Freihandelsverträge geregelt werden können. Die Gewährleistung der Grundversorgung, also die Existenzsicherung einer Nation und deren Bevölkerung, ist und bleibt eine staatspolitische Aufgabe. Sie kann unter keinen Umständen ans Ausland delegiert werden. Die Signale vor und rund um die Corona-Problematik sind ein Schuss vor den Bug der selbstherrlichen Glorifizierung einer global ausgerichteten «Versorgungsstrategie». Die Warnungen müssen wir ernst nehmen und die Agenda über die Versorgungssicherheit grundsätzlich neu überdenken.

Ressourcen im eigenen Land haben erste Priorität

Arbeit, Boden, Kapital und Wissen gelten als grundlegende Ressourcen einer Volkswirtschaft. Sie sind sehr unterschiedlich über den gesamten Globus verteilt. Überfluss und Knappheit an natürlichen Ressourcen zwingen uns zum zwischenstaatlichen Güteraustausch, doch primär gilt es, die eigenen Bodenschätze respektive Wirtschaftsfaktoren mit grösster Sorgfalt zu pflegen und zu nutzen. Die Schweiz verfügt bekanntlich über keine nennenswerten Bodenschätze. Sie ist demnach im besonderen Ausmass gezwungen, die beschränkt vorhandenen materiellen und immateriellen Produktionsfaktoren haushälterisch zu nutzen.

Unserem hervorragenden Bildungswesen Sorge tragen

Bis vor noch nicht so langer Zeit entwickelte und förderte die Schweiz zum Beispiel die menschliche Arbeitskraft respektiv deren Leistungsfähigkeit geradezu vorbildlich durch ein hervorragendes Bildungswesen. Die Grundlagen unseres Wohlstands wurden über Generationen hinweg durch Bildung und Arbeit geschaffen. Reformen und eine einseitig auf Wachstum getrimmte Wirtschaft führten zu einschneidenden Fehlentwicklungen, die nicht nur beim sogenannten «Humankapital» zu einem Verschleiss natürlicher Ressourcen geführt haben. Das heutige Schulsystem (Lehrplan21) nimmt bewusst in Kauf, dass ein Teil der Schulkinder auf der Strecke bleibt. Ein enormer Verlust für die gesamte Gesellschaft, der geradezu beispielhaft aufzeigt, wohin Fehlentwicklungen führen, meist allein durch kurzfristige ökonomisch motivierte Optimierungsansprüche ausgelöst, wenn diese nicht durch Vernunft, Einsicht und verantwortungsvolles Handeln korrigiert werden.

Förderung des Selbstversorgungsgrades

Die Versorgung mit einheimischen Lebensmitteln ist ein weiteres Beispiel, wie einst erfolgreiche Strategien zum Schutz und zur Förderung des Selbstversorgungsgrades (Anteil der eigenen Lebensmittelproduktion an der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln) durch politisches Kalkül aufgelöst und in eine Freihandelsdoktrin überführt wurden. Durch Importe sollen die fehlenden Eigenleistungen kompensiert werden. Ein Gesinnungswandel mit verheerenden Folgen für die Versorgungssicherheit. Durch die Produktionsverlagerung ins Ausland verlieren die einheimischen bäuerlichen Familienbetriebe ihre Existenz (Dumpingpreise für Lebensmittel). Die bis anhin erfolgreichen dezentralen Produktionsstrukturen wurden durch die Zentralisation (industrielle Landwirtschaft) zerstört und wertvolles Kulturland wird durch Überbauungen brachgelegt. Zur Vernichtung von Produktionskapazitäten kommen der Verlust von Wissen und Qualitätseinbussen, da die entsprechenden Anforderungen in der Schweiz zumindest teilweise viel höheren Ansprüchen genügen müssen.

Das mittelständische Gewerbe schützen

Das mittelständische Gewerbe (Arbeitsplätze) wurde im Laufe der Zeit ebenfalls durch Konzentration und die Bevorzugung von Billiganbietern aus dem Ausland (bilaterale Verträge mit der EU) dem Kommerz geopfert. Nicht zu unterschätzen ist der erhebliche Nachteil, dass heute in sogenannt schweizerischen Konzernen ausländische Geldgeber und Konzernchefs das Sagen haben. Das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft leidet durch diese Entwicklung erheblich und fügt der direkten Demokratie, unserem Selbstverständnis, entscheidenden Schaden zu. Der Verlust unserer Identität und einheimischer Wertehaltungen sind durch diese Übernahmen massgeblich beschleunigt worden. Der Verzicht auf einheimische Ressourcen respektive deren Vernachlässigung rächt sich an unserem Selbstverständnis und kann – erfolgt keine rechtzeitige Korrektur – zur Auflösung unserer Nation führen.

Die Corona-Krise als Weckruf?

In den vergangenen Monaten haben wir hautnah miterlebt, dass Fehler aus der Vergangenheit bei plötzlich auftretenden Engpässen nicht einfach ausradiert werden können. Es braucht Vorbereitungszeiten und vor allem die Einsicht «Vorsorge ist besser als Nachbesserung.» Übertragen auf die aktuelle Situation bedeutet dies: Wer seine Aufgaben vor der Krise vernachlässigt hat, steht in der Krise vor leeren Lagerbeständen und ist weitgehend handlungsunfähig. Diese Handlungsunfähigkeit hat sich im Zusammenhang mit den Schutzmasken mit ätzender Brisanz bestätigt. Allerdings geht es um mehr als Schutzmasken. Fehlende Impfstoffe, Engpässe an Spitalbetten usw. sind nur ein paar Beispiele, die klar aufdecken, dass die Vorsorge nicht mit dem notwendigen Verantwortungsbewusstsein wahrgenommen wurde. Geradezu schonungslos wurde uns aufgezeigt, dass auf freundlich gesinnte Nachbarn in der Krise überhaupt kein Verlass ist. Versorgungssicherheit gibt es nicht über Aussenbeziehungen. Sicherheit setzt voraus, dass Kontrolle und Ausführung in den eigenen Reihen gehalten werden. Produktionsstätten und das notwendige Wissen müssen im eigenen Land vorhanden sein. (Lebensmittel, Gesundheitsdienste, Medikamente, medizinische Hilfsmittel usw.). Die zweitbeste Alternative ist eine ausreichende Vorratshaltung. Gerade auch bezüglich der Vorratshaltung liess sich die Schweiz durch wirtschaftliche Argumente in die Irre leiten. Sie wurde aus «Kostengründen» sträflich vernachlässigt. Die Landesversorgung wurde mit der Begründung, offene Märkte garantieren den Zugriff auf Mangelwaren jederzeit, geradezu verantwortungslos kahlgeschlagen. Hier braucht es ein Umdenken auf allen involvierten Stufen bis hin zum Volk. Sollten die Volksvertreter und die Verwaltung, die notwendigen Korrekturen nicht schleunigst an die Hand nehmen, muss das Volk aktiv werden.

Vorsorge muss dem Anspruch auf Souveränität und Schutz eigener Werte gerecht werden

Jede Organisation und damit auch jeder Staat orientiert sich an bestimmten Werten. Auf die Schweiz bezogen geht es um Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung, Eigenverantwortung sowie Eigenleistung. Wir haben uns zudem die direkte Demokratie und das genossenschaftliche Prinzip als Grundlagen für die Staatsführung zu eigen gemacht. Als Staat wollen wir unsere Grenzen schützen, Sicherheit und den inneren Zusammenhalt gewährleisten. Ebenso soll die Grundversorgung für alle Bewohner, auch in den Randregionen, sichergestellt sein. Die Schweiz will auch als neutraler Staat einen Beitrag zur Friedenssicherung und zu Konfliktlösungen leisten (gute Dienste) und verpflichtet sich zu einem grenzüberschreitenden humanitären Engagement. 

Als souveräner Staat entwickelt und fördert die Schweiz Standort- und Wettbewerbsvorteile (Werkplatz) um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können und gleichzeitig das Allgemeinwohl unter der einheimischen Bevölkerung zu fördern. 

Wer sich in unserem Land Gedanken zur Versorgungssicherheit macht respektive entsprechende Konzepte entwickelt, darf sich nicht allein mit Wirtschaftsgütern beschäftigen. Er muss auch die Konsequenzen seiner Versorgungsstrategie auf die übergeordneten staatspolitischen Rahmenbedingungen (Werte, Zweck und Ziele) auf den Tisch legen. Verlassen wir beispielsweise das Prinzip «Versorgungssicherheit durch Eigenleistungen» kann dies zu unerwünschten Abhängigkeiten führen, die sowohl die Souveränität der Schweiz verletzen wie auch einer glaubwürdigen Neutralitätspolitik schaden. 

Vorsorge bedingt Investitionen der öffentlichen Hand in die Infrastruktur

Zweckbestimmung und die Realisierung von Zielen erfordern Massnahmen. In erster Linie geht es um Infrastrukturaufgaben. Wer Sicherheit und Grenzschutz will, braucht eine einsatzbereite Armee. Wollen wir einen möglichst hohen Selbstversorgungsgrad durch einheimische Nahrungsmittel, benötigen wir die dazu notwendigen Produktionsmöglichkeiten. Ohne Existenzsicherung für die landwirtschaftlichen Betriebe gibt es keine nachhaltige Inlandversorgung. Dazu gehören Programme zur Strukturerhaltung der dezentral angesiedelten bäuerlichen Familienbetriebe verbunden mit einem angemessenen Einkommen für die Bauernfamilien über faire Produktepreise wie auch nachhaltige, effiziente Produktionsmethoden. Ebenso sind Investitionen der öffentlichen Hand in die Energie- und Wasserversorgung, in das Bildungs- und Gesundheitswesen, in die Verkehrsinfrastruktur Voraussetzung für eine intakte Versorgung der Bevölkerung. Dies immer unter dem Aspekt, dass auch dann, wenn Krisen eine erhöhte Verfügbarkeit der existenziell notwendigen Güter erfordern, eine optimale Versorgung gewährleistet werden kann. Die Vorsorge darf zwar an ihrer Effektivität gemessen werden. Jedoch ist bei deren Aufbau und Sicherstellung die Orientierung, grösstmögliche Sparpotenziale auszuschöpfen, fehl am Platz. Es geht also primär nicht, wie bis anhin angestrebt, um Aufwandsreduktion, (Einsparungen durch Einschränkungen und Auslagerung), sondern viel mehr um einen staats-, und sicherheitspolitischen Vorgang.

Schlussfolgerung

Eine nachhaltige und zukunftsfähige Landesversorgung mit lebensnotwendigen Gütern baut auf drei Säulen auf. Die erste Säule umfasst die Entwicklung, Förderung und Nutzung der im eigenen Land vorhandenen Ressourcen. In der Regel sind diese Ressourcen knapp und müssen daher sehr verantwortungsvoll eingesetzt werden. Für die Schweiz gibt es vor allem eine hervorragende Quelle von «Bodenschätzen»: Die einheimische Bevölkerung mit ihrem Wissen und deren Leistungsfähigkeit bildet ein tragfähiges Fundament zur Bewältigung einer Versorgung durch Eigenleistung.

Die zweite Säule stützt sich auf die nationalen Werte und Ziele. Je mehr Unabhängigkeit und Selbstbestimmung ein Land für sich beansprucht, umso mehr ist eine auf nationale Ressourcen abgestimmte Strategie zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit gefordert. Durch die Bereitschaft, Sicherheit durch Eigenleistung aufzubauen und zu schützen, bekräftigen Staat und Bürger den Willen, Souveränität, Freiheit und Selbstbestimmung eigenständig zu regeln.

Die Investitionen in eine intakte Versorgungsinfrastruktur bildet die dritte Säule. Dabei gilt auch die Sorgfaltspflicht. Bestehende Infrastrukturen müssen unterhalten und vor Überbeanspruchung geschützt werden. Es bestehen natürliche Kapazitätsgrenzen. Am sichtbarsten werden diese Grenzen beim Boden. Weder verzeiht der Boden den Raubbau, noch kann er beliebig erweitert werden. Ähnlich ist es bei den Bildungseinrichtungen, den Einrichtungen im Gesundheitswesen und der Verkehrsinfrastruktur. Zur Vermeidung von Versorgungsengpässen gehört demgemäss auch die Sorgfaltspflicht gegenüber den im eigenen Land verfügbaren Produktionsfaktoren und die Einsicht, dass diese nicht endlos erweitert werden können. In diesem Zusammenhang drängt sich auch die Frage nach der Belastbarkeit der vorhandenen Infrastruktur auf. So beeinflusst die steigende Wohnbevölkerung die Versorgungssicherheit direkt. Es ist nicht wegzudiskutieren. Mit der Bevölkerungszunahme wächst die Belastung. Bei einer Überbelastung kann die Versorgungssicherheit massiv einschränkt werden. Irgendwann werden die natürlichen Ressourcen ausgeschöpft und die Aufrechterhaltung einer angemessenen Selbstversorgung unmöglich sein. Eine verantwortungsvolle Versorgungspolitik hat sich daher auch nach den natürlichen Wachstumsgrenzen auszurichten. Werden diese Grenzen ignoriert, ist dies eine Missachtung unserer staatspolitischen Grundausrichtung, unserer Identität und als Aufgabe der eigenen Souveränität zu verurteilen. Bei der Versorgungspolitik geht es um weit mehr als um die Vorratshaltung in Form von Pflichtlagern und strategischen Reserven. Vorsorgen bedeutet eben, die Grundlagen unserer Freiheit und Selbstbestimmung wirkungsvoll zu schützen.

 

Die zentrale Bedeutung der Schuldenbremse

rk. Am 2. Dezember 2001 hat das Schweizer Volk mit 85 % Ja-Stimmen die Schuldenbremse durch die Annahme des Verfassungsartikel 126 in der Bundesverfassung verankert. Die Details sind im Finanzhaushaltgesetz geregelt (Artikel 13–18; SR 611.0). 

Durch die Schuldenbremse soll die Verschuldung des Bundes verhindert werden. Innerhalb eines Konjunkturzyklus (Auf- und Abschwungphase der wirtschaftlichen Entwicklung) soll der Finanzhaushalt des Bundes im Gleichgewicht gehalten werden. Erreicht wird dieses Gleichgewicht durch eine antizyklische Fiskalpolitik. In der Hochkonjunktur werden Rechnungsüberschüsse generiert, die dann bei konjunkturbedingten Defiziten zum Ausgleich der Bundesfinanzen verwendet werden.

Die Corona-Pandemie hat den Bundesrat zu rigorosen Griffen in die Bundeskasse verführt. Mit einem umfassenden Massnahmenpaket will er die wirtschaftlichen Folgen der Krise abfedern. So werden für Überbrückungskredite an die Unternehmen und zur Deckung der durch Kurzarbeit und den COVID-Erwerbsersatz verursachten Lohnkosten aus der Bundeskasse insgesamt 40 Milliarden Franken zur Verfügung gestellt.

Dank der Schuldenbremse in den vergangenen Jahren kann dieser Raubzug auf den Bundesfinanzhaushalt noch relativ schadlos überstanden werden. Grossen Schaden würde jedoch die Forderung, die Schuldenbremse zu lockern oder völlig ausser Kraft zu setzen, anrichten. Kennen Sie das Märchen vom goldenen Esel? Wir sind gerade dabei in die Märchenwelt einzudringen. Der Staat als goldener Esel? Mit unverantwortlicher Grosszügigkeit werden heute weltweit staatliche Konjunkturförderungspakete in vierstelliger Milliardenhöhe geschnürt und den Bürgern (Steuerzahler und Sparer) als Wohltat untergejubelt. Um die Sache noch schmackhafter zu machen, schreibt man einfach die Haushaltsregeln für den Staat neu. Staaten können nie in Konkurs gehen, schreibt man heute. Das stimmt bedingt. Die Bürger, die ja letztlich den Staat bilden, werden jedoch in die Pflicht genommen. Sie allein begleichen die Defizite über Steuererhöhungen, Inflation respektive Negativzinsen und Beschränkungen im Bargeldverkehr. Die Bürgen der Staatsschulden sind die Bürger mit ihren Vermögen, und sie werden bestimmt nicht vom Konkurs verschont. Darum keine Lockerung in der Finanzhaushaltsdisziplin. Wer die Schuldenbremse liquidieren will, lanciert den Raubzug auf das Volksvermögen und ruiniert damit sein Volk. 

Quelle: www.efd.admin.ch/efd/de/home/covid19-ueberbrueckungshilfe/infos.html

 

Die Schweiz braucht neue Kampfflugzeuge – aber ohne Nato-Anbindung

von Thomas Kaiser

Die Schweiz steht im militärischen Bereich vor einer wichtigen Weichenstellung, über die das Volk im September entscheiden soll. Dabei geht es um die grundsätzliche Frage der staatlichen Souveränität. Konkret steht der Kauf neuer Kampfflugzeuge zur Selbstverteidigung an. Bereits 2014 ging es um die Ersatzbeschaffung für den in die Jahre gekommenen F/A-18.

Damals hatte das Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) den schwedischen Gripen favorisiert und als ein für die Schweiz angemessenes Kampfflugzeug evaluiert. Doch an der Urne scheiterte das Projekt, nicht zuletzt durch die massive Stimmung von linker Seite, die insbesondere von der Sicherheitspolitikerin und damaligen SP-Nationalrätin Evi Allemann ausging. Sie argumentierte, dass der Gripen zu wenig leistungsfähig sei und den Anforderungen der Schweiz nicht Genüge tun würde. In einer Arena-Sendung liess sie die Katze aus dem Sack und verriet, was ihre wirkliche Intention war. Sie empfahl doch tatsächlich, die Schweiz solle ihren Luftraum von der Nato überwachen lassen. Hand in Hand mit der imperialen Kriegsmacht? Tatsächlich war der Gripen ein Flugzeug aus einem neutralen Land ohne Verbindung zur Nato und vom Preis her sehr attraktiv. Jetzt sind wir sechs Jahre weiter und die Frage, wie die Schweiz auch in Zukunft eigenständig und unabhängig ihren Luftraum schützen kann, ist dringlicher denn je. 

US-Kampfjet?

Inzwischen ist der Gripen kein Thema mehr. Die Diskussion, welches Kampfflugzeug in Frage kommt, soll nicht mehr in einer öffentlichen Debatte ausgetragen werden, sondern nur über die Höhe des Kredits darf abgestimmt werden. Interessant ist die Argumentationslinie der Gegner dieses Projekts. Die zur Auswahl stehenden Kampfflugzeuge seien zu teuer und zu luxuriös, es gebe billigere Varianten.¹ Interessant ist, dass die SP als Gegner dieser Vorlage heute diametral entgegengesetzt argumentiert wie noch vor 6 Jahren. Hätten wir damals den Gripen gekauft – zum einen wäre es ein europäisches Flugzeug gewesen ohne Verbindung zur Nato und zum anderen finanziell in einem vernünftigen Rahmen mit attraktiven Kompensationsgeschäften –, wäre das Problem schon lange vom Tisch. 

Heute stehen zwei US-amerikanische Flugzeuge, die auch von der Nato verwendet werden, und zwei europäische zur Auswahl. 

Hoheit über die Software

Ob der Kredit über 6 Milliarden Franken in der Referendumsabstimmung eine Chance hat, ist offen. Tatsächlich hinterlässt die Vorstellung, dass die Schweiz einen US-Kampfjet kauft und sich damit in die Abhängigkeit von der Militärmacht USA begibt, ein schlechtes Gefühl. Vor allem, wenn man weiss, dass die USA die Hoheit über die Software und damit jederzeit einen Zugriff auf das entsprechende Fluggerät hat. Was zusätzlich beunruhigen muss, ist die Möglichkeit, dass der neue F/A-18 mit Atombomben bestückt werden kann (vgl. Interview mit A. Hunko, S. 5). 

Auch wenn die Bevölkerung «nur» über den Kredit abstimmen kann, wäre es doch ratsam, das mit einer Diskussion über den angestrebten Flugzeugtyp zu verbinden. Denn mit dem Kauf eines US-Flugzeuges, sich mit den USA und der Nato ins gleiche Bett zu legen, ist eines souveränen Staates unwürdig und ein Verstoss gegen das Gebot der Neutralität, einmal ganz abgesehen vom ethischen Standpunkt. 

Luftraum souverän schützen

Neben den verbleibenden westeuropäischen Herstellern wäre es vielleicht auch eine Option, ein russisches Kampflugzeug ins Auge zu fassen. Diese sollen günstig und technisch hervorragend sein, erzählt man sich in Fachkreisen hinter vorgehaltener Hand. Die Schweiz braucht Kampfflugzeuge, damit das Land seine Grenzen und den Luftraum souverän schützen kann. Heute von günstigeren Varianten zu sprechen, nachdem man diese Möglichkeit bei der letzten Abstimmung torpediert hat, ist nicht aufrichtig. Dass dieselben Akteure, die beim Kampfjet sparen wollen, jetzt darauf drängen, die Schuldenbremse zu lockern, ist irritierend und wohl kaum an der Sache orientiert. 

Debatte muss ehrlich geführt werden

Für eine offene und ehrliche Debatte über die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge wäre es bestimmt dienlich, die Typenfrage in die Diskussion mit einzubringen. Bei der Nato-Freundlichkeit von SP und FDP wäre es durchaus möglich, dass wir am Ende ein Nato-kompatibles Kampfflugzeug kaufen, was unseren staatlichen Grundlagen entgegensteht und die neutrale Schweiz näher an die Nato heranführen würde. 

1 www.sp-ps.ch/de/publikationen/medienmitteilungen/sp-bekampft-luxus-kampfjets-fur-6-milliarden-mit-referendum

«Die Deutschen trainieren Abwurf von Atombomben»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, Deutschland

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Spätestens seit der einseitigen Kündigung des INF-Vertrags¹ mit Russland durch Donald Trump ist die nukleare Bewaffnung und die Entwicklung neuer Atombomben wieder häufiger auf der politischen Agenda anzutreffen. In diesem Zusammenhang fällt immer wieder der Begriff der «nuklearen Teilhabe». Diese betrifft auch unser Land, denn Deutschland als direkter Nachbar ist an der sogenannten nuklearen Teilhabe beteiligt. Das heisst, trotz Atomwaffensperrvertrag kann die Luftwaffe der BRD US-amerikanische Atombomben im Falle eines Krieges an der Seite der USA bzw. Nato einsetzen. Ein mögliches Szenario, das von der deutschen Bundesregierung verstärkt wird, weil sie neue Kampfjets in den USA kaufen will, die mit den neu entwickelten Atomwaffen bestückt werden können. Widerstand regt sich.

Aufgrund der immer noch existierenden Atomwaffenarsenale haben sich Staaten an der Uno verstärkt für ein Verbot von Atomwaffen eingesetzt.² Über 100 Länder, und das ist ein positives Zeichen, haben bis jetzt diesem Vertrag zum Verbot von Atomwaffen gestimmt. 

Neben den Staaten gibt es auch Städte, die diese Initiative für das Verbot von Atomwaffen (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons ICAN) unterstützen. In der Schweiz haben sich Bern, Genf, Luzern, St. Gallen und Zürich dieser Forderung angeschlossen. Bis heute hat die Schweiz diesen Vertrag jedoch nicht unterzeichnet, was nicht nur Irritationen im Inland ausgelöst hat. Obwohl es für die Schweiz keinen ersichtlichen Grund gibt, sich nicht für ein Verbot der Atomwaffen einzusetzen, hat der Bundesrat sich nicht dazu durchringen können, diesen Vertrag zu unterschreiben.³ Sowohl der Ständerat als auch der Nationalrat hatten bereits 2018 einer Motion des damaligen Nationalrats und heutigen Ständerats Carlo Sommaruga zugestimmt, doch der Bundesrat weigert sich bis heute, diese Motion umzusetzen und den Vertrag zu unterzeichnen bzw. zu ratifizieren.⁴ Wenn 50 Staaten diesen Vertrag unterschrieben haben, kann er in Kraft treten. Es würde Herrn Cassis als Vorsteher des Departements für auswärtige Angelegenheiten besser anstehen, in einer so entscheidenden Frage Nägel mit Köpfen zu machen, als sich um einen unnötigen Sitz im Uno-Sicherheitsrat zu bewerben. Im folgenden Interview legt der deutsche Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko die Bedeutung der Initiative International Campaign to Abolish Nuclear Weapons, die auch einen Ableger in der Schweiz hat, dar.

Zeitgeschehen im Fokus Was hat es mit der «nuklearen Teilhabe» in Deutschland auf sich?

Bundestagsabgeordneter ­Andrej Hunko In den letzten Wochen ist das verstärkt Thema gewesen. Ich wehre mich gegen den Begriff der «nuklearen Teilhabe», denn das ist ein unsäglicher Euphemismus. Es geht um Atombombenbeteiligung im Rahmen der Abschreckungspolitik der Nato. Teilhabe ist so ein freundlicher Begriff. Das ist eine Politik, die einige Staaten betreiben, und damit sind sie an den US-Atombomben und deren möglichen Einsatz beteiligt. In Europa betrifft das Italien, Deutschland, Belgien, die Niederlande und die Türkei. Dort lagern auch Atombomben. In Büchel, das ist ein Ort in der Eiffel und etwa 100 Kilometer von Aachen entfernt, trainieren die Deutschen den Abwurf von Atombomben. 

Habe ich das richtig verstanden: Deutsche Piloten üben dort Atombombenabwürfe?

Das Gelände ist unter der Kontrolle der USA, und deutsche Tornados üben dort mit deutschen Piloten den Abwurf von Atombomben für einen Kriegseinsatz. Wenn es tatsächlich zu einem Krieg käme, dann würden die deutschen Tornados die US-Atombomben über einem feindlichen Land abwerfen. Die Anzahl der Bomben wird mit 20 angegeben, und sie lagern in Büchel in der Eiffel. 

Warum ist das jetzt in den Medien ein Thema?

Die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer möchte neue Kampfflieger für diesen Zweck kaufen. Diese Kampfflieger kommen aus den USA, das sind F/A-18, und der Betrag für die Beschaffung bewegt sich im zweistelligen Milliardenbereich. Das ist eine grosse militärische Investition mit dem Ziel, Flugzeuge zu kaufen, die diese Atomwaffen abwerfen können. Das hat sie vor zwei Monaten in der Öffentlichkeit kundgetan. 

Gab es Reaktionen darauf? 

Es gab Proteste. Seit vielen Jahren ist die grosse Mehrheit von bis zu 80 Prozent der Deutschen gegen die Lagerung von Atomwaffen in ihrem Land und für deren Abzug. Es ist eine stabile Mehrheit, die sich gegen diese Politik stellt, aber die Forderungen werden von der Regierung nicht umgesetzt. Nach dem Vorstoss, die Kampfflugzeuge zu kaufen, und das mitten in der Corona-Krise, in der man vielleicht andere Prioritäten setzen müsste, hat sich in Deutschland eine Debatte entwickelt. Das hängt auch damit zusammen, dass der Fraktionschef der SPD im Bundestag, Rolf Mützenich, verlauten liess, er möchte die «nukleare Teilhabe» beenden. Vor allem plädierte er für eine Diskussion darüber, was sehr bemerkenswert ist. 

Wie wurde seine Einstellung aufgenommen?

In der eigenen Partei sind ihm einige in den Rücken gefallen, so auch der Aussenminister Heiko Maas. Aber es gibt zumindest eine Debatte darüber. Das ist die Situation in Deutschland. Die LINKE fordert bereits seit Jahren den vollständigen Abzug der Atomwaffen aus Deutschland. Als fast zeitgleich die Meldung kam, die USA wollten einen Teilabzug ihrer Soldaten aus Deutschland vornehmen, hat unsere Partei in dem Zusammenhang auch den Abzug der Atomwaffen gefordert. 

Ist das rechtlich und mit dem Grundgesetz vereinbar, dass Deutschland Atomwaffen einsetzen kann?

Es ist umstritten. Es gibt Studien, die betonen die Völkerrechtswidrigkeit. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages, der häufig sehr kritische Stellungnahmen abgibt, hat das nicht so gesehen. Aber unabhängig davon, wie das jetzt rechtlich zu betrachten ist, ist es politisch notwendig, hier endlich den Willen der Bevölkerung umzusetzen. Es gibt eine klare politische Mehrheit dagegen.

Gab es in der Vergangenheit nicht einmal einen Vorstoss, die Atomwaffen aus Deutschland zu entfernen?

Im Koalitionsvertrag von 2009 wurde auf Betreiben Guido Westerwelles, der in der schwarz-gelben Koalition Aussenminister war, diese Forderung aufgenommen, dass die Atomwaffen abgezogen werden sollen. Das stand also im Koalitionsvertrag. Dazu kam es 2010 zu einem Bundestagsbeschluss, der von allen Fraktionen unterstützt wurde, die Atomwaffen abzuziehen. Trotzdem wird das nicht umgesetzt. 

Gibt es nicht auf internationaler Ebene Anstrengungen für ein Verbot von Atomwaffen?

Sehr wichtig ist die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), die 2017 wegen ihres Engagements für eine atomwaffenfreie Welt mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. ICAN hat massgeblich den Atomwaffenverbotsvertrag der Uno vorangetrieben, der im Juli 2017 mit 122 Stimmen angenommen wurde. Bislang haben 81 Staaten den Vertrag unterzeichnet und 38 ihn ratifiziert. 90 Tage nach der 50. Ratifizierung wird er in Kraft treten. Dadurch entsteht noch einmal ein Druck, diese Atomwaffen komplett zu verbieten, zu ächten, wie die Landminen oder die Chemiewaffen. 

Wie hat sich Deutschland verhalten?

Es müsste eigentlich dieses Anliegen unterstützen. Leider hat Deutschland dagegen gestimmt und beteiligt sich nicht daran. Kein einziger Nato-Staat hat das unterstützt und auch China und Russ­land nicht. Dennoch finde ich es richtig, dass es diesen Prozess gibt. Man sollte alle Regierungen auffordern, das zu unterstützen.

Wer hat die Initiative eingebracht? 

Sie wurde von Österreich und Irland eingebracht und von anderen Staaten unterstützt. Zwei neutrale Staaten in Europa haben sich dafür starkgemacht, die europäischen Nato-Staaten haben das abgelehnt. Es ist die weitestgehende Initiative in der Uno gegen Atomwaffen. Enttäuscht hat mich hier die Schweiz, dass sie als klassisches neutrales Land den Antrag in der Uno zwar unterstützte und dafür stimmte, ihn aber später nicht unterschrieben hat. In Deutschland gibt es eine starke Initiative von Städten und Gemeinden, die sich dafür einsetzen, dass Deutschland den Vertrag ebenfalls unterzeichnen sollte. In meiner Stadt Aachen ist das auch geschehen. Auf Antrag der Linken ist die Initiative angenommen worden. 

Wieviele Städte haben sich dafür engagiert?

Es sind über 100 Städte, die jetzt einen Appell gemacht haben. Das liegt in der Kompetenz der Städte. Das hat natürlich eine besondere Bedeutung für uns in Aachen, weil wir direkt drei Stützpunkte im Umkreis von 100 Kilometern haben: Büchel in der Eiffel, Klein Brogel in Belgien und Volkel in den Niederlanden. Aus diesem Grund gibt es hier ein besonderes Interesse, dass diese Waffen abgezogen werden. 

Die drei Stützpunkte werden von den USA geführt?

Alle drei Stützpunkte sind US-amerikanische und werden für die «nukleare Teilhabe» genutzt. Im Bundestag hat sich ein Arbeitskreis von verschiedenen Fraktionen gebildet, dem ich auch angehöre, um sich auf Parlamentsebene für den Abzug der Atomwaffen in Deutschland einzusetzen. 

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das ­Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ Abrüstungsvertrag zwischen der USA und der Sowjetunion/Russland von 1987
² www.icanw.de/wp-content/uploads/2017/07/a-conf-229-17-8.pdf
³ www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-71821.html
www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=43414

 

Der ICAN-Städteappell: Den Druck kommunal verstärken!

Um den Druck auf die Regierungen weltweit zu erhöhen, dem Atomwaffenverbotsvertrag beizutreten, ruft die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) Städte und Gemeinden dazu auf, die Unterstützung des Atomwaffenverbotsvertrags zu beschliessen und die Bundesregierung zur Unterzeichnung des Vertrags aufzufordern:

«Unsere Stadt/unsere Gemeinde ist zutiefst besorgt über die immense Bedrohung, die Atomwaffen für Städte und Gemeinden auf der ganzen Welt darstellen. Wir sind fest überzeugt, dass unsere Einwohner und Einwohnerinnen das Recht auf ein Leben frei von dieser Bedrohung haben. Jeder Einsatz von Atomwaffen, ob vorsätzlich oder versehentlich, würde katastrophale, weitreichende und lang anhaltende Folgen für Mensch und Umwelt nach sich ziehen. Daher begrüssen wir den von den Vereinten Nationen verabschiedeten Vertrag zum Verbot von Atomwaffen 2017 und fordern die Bundesregierung zu deren Beitritt auf.» 

(ICAN-Städteappell 2019)

Bundesländer, die den ICAN-Städteappell bisher unterzeichnet haben: 

Bremen, Berlin, Rheinland-Pfalz und Hamburg

Landeshauptstädte in Deutschland, die den ICAN-Städteappell bisher unterzeichnet haben: 

Mainz, Wiesbaden, Potsdam, München, Bremen, Schwerin, Düsseldorf, Hannover, Berlin, Kiel, Saarbrücken, Magdeburg, Erfurt, Hamburg, Stuttgart und 81 weitere deutsche Städte.

Quelle: www.icanw.de/ican-staedteappell/

 

Der ICC* hat wegen möglicher Kriegsverbrechen der USA in Afghanistan eine Untersuchung eingeleitet 

Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Professor Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Professor Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Was bereits unter Bill Clinton begann, findet in der Politik Donald Trumps seinen vorläufigen Höhepunkt: die Aufweichung und Missachtung des Völkerrechts. 

Bereits 1993 hat die US-Regierung unter Bill Clinton in einem Dokument das Verhältnis zur Uno und damit zum Völkerrecht festgelegt. Folgender Satz bringt es auf den Punkt: «Mit der Uno, wenn möglich, ohne sie, wenn nötig».1 Im Klartext heisst das: Die USA lassen sich durch das Völkerrecht nicht einschränken und halten sich nur an das, was ihnen passt. Und so handeln sie auch.

Der Krieg gegen Serbien im Jahre 1999 gilt als Präzedenzfall für diese Einstellung.² Es war ein Angriffskrieg, wie er von der Uno-Charta nicht legitimiert wird, also eine bewusste Verletzung des Völkerrechts. 

Als George W. Bush nach den Ereignissen des 11. Septembers eine Anpassung des Völkerrechts verlangte, um die geplanten Rechtsbrüche zu legitimieren, warnten namhafte Völkerrechtler vor einer Aufweichung und Verluderung der internationalen Rechtsordnung. In Tat und Wahrheit hätte das die Einführung des Faustrechts bedeutet. Insbesondere die vier Genfer Konventionen, aber auch die Bestimmungen der Uno-Charta sollten geändert werden. 

Während die USA eine Rechtsbeugung anstrebten, wollten andere Staaten mit der Schaffung eines internationalen Strafgerichts mehr Verbindlichkeit in die internationale Rechtsordnung bringen. Vor allem Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sollten von dieser Instanz verfolgt und bestraft werden können. «Die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs ist auf die schwersten Verbrechen beschränkt, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren.»³ 

Mit den schwersten Verbrechen sind gemeint: «das Verbrechen des Völkermords, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, das Vergehen der Aggression.»⁴

Mit dem Römer Statut von 1998 wurde der ICC aus der Taufe gehoben und nahm im Juli 2002 seine Arbeit auf. Die Grossmächte, allen voran die USA, aber auch Russland und China unterzeichneten das Römer Statut nicht. Bisher hat der ICC vor allem Afrikaner an den Pranger gestellt und verurteilt. Besondere Glaubwürdigkeit hat er dadurch kaum erlangt. Mit der heutigen Chefanklägerin Fatou Bensouda, die seit 2012 das Amt bekleidet, hat sich der Wind im ICC etwas gedreht. 

Sanktionen gegen den ICC

Sie packt in letzter Zeit verschiedene heisse Eisen an. So möchte sie das Verhalten der US-Truppen und ihrer Verbündeten im Afghanistankrieg, der 2001 begonnen hat, untersuchen. Schon damals munkelte man, dass die Briten und die USA verschiedene Kriegsverbrechen begangen hätten, doch es kam zu keiner juristischen Untersuchung. Auch die Flüge angeblicher oder mutmasslicher Terroristen in bestimmte Länder, die mit Folter an Informationen herankommen und sie den US-Geheimdiensten weiterleiten sollten, erregten damals Aufsehen. Der Tessiner Rechtsanwalt und ehemalige Ständerat, Dick Marty, hat damals im Auftrag des Europarats diese «Folterflüge» untersucht. 

Dass sich Frau Bensouda mit ihren Untersuchungen nicht nur Freunde machen wird, kann man sich vorstellen. Als erste Reaktion auf diese Ankündigung hat Donald Trump den Gerichtshof und seine Mitarbeiter mit Sanktionen belegt.⁵ Die US-Regierung scheint mit allen Mitteln verhindern zu wollen, dass ihre Verbrechen ans Tageslicht kommen.

Das folgende Interview mit dem Völkerrechtler und ehemaligen Uno-Mandatsträger, Professor Alfred de Zayas, gibt einen Einblick in die Politik der USA und wie sie mit dem ICC verfahren.

Zeitgeschehen im Fokus Was für ein Verhältnis hat die USA zum Internationalen Strafgerichtshof?

Professor Alfred de Zayas Die USA haben die Jurisdiktion des Gerichts nicht anerkannt, auch Russland und China nicht. Zwar hatten die USA das Statut von Rom 1998 unterzeichnet, aber dann hat im Jahre 2002 George W. Bush diese Unterschrift zurückgenommen und sofort damit angefangen, die Arbeit des Gerichtshofs zu diffamieren und zu unterminieren. Im Unterschied zu den USA arbeiten die Russen und Chinesen nicht gegen den Gerichtshof und geben gelegentliche positive Lippen-Bekenntnisse ab. Die meisten europäischen Staaten wie Deutschland, Frankreich und die Schweiz anerkennen die Kompetenz des Gerichtes, aber bisher ist kein einziger Europäer angeklagt oder verurteilt worden. Der ICC ist allerdings nicht identisch mit dem «Specialist Chamber to investigate war crimes in Kosovo», das 2015 in Den Haag als ad hoc Tribunal etabliert wurde.6 Am 24. Juni 2020 erhob der Chefankläger der Specialist Chamber Anklage gegen den heutigen Präsidenten Kosovos, Hash­im Thaci, und neun weitere Kosovaren. 

Was hat die USA unternommen, um den ICC zu destablisieren?

Die USA führen seit 2002 eine aktive Politik gegen das Gericht. Es ist nicht nur eine Politik der Nichtkooperation, sondern eine Politik der Unterminierung und des Abbaus, indem sie den Gerichtshof als politisiert, unprofessionell, nicht objektiv und antidemokratisch diffamieren. Es findet eine regelrechte Dämonisierung des ICC statt.

Was soll damit erreicht werden?

Es geht darum, die Menschen geistig so zu vergiften, damit niemand in den USA respektiert, was bei einer Untersuchung herauskommt. Das ist natürlich eine völlige Verdrehung dessen, was der US-Chef-Ankläger beim Nürnberger Tribunal 1945, Robert Jackson, in seiner Eröffnungsrede festgehalten hat: Dieses Tribunal hat nur Bestand, wenn wir, die wir hier als Richter sitzen, die gleichen Massstäbe gegenüber uns selbst anwenden, jetzt und in Zukunft.

Das ist ein hohes Ethos, das Signalwirkung hätte haben können.

Ja, aber die USA haben das nicht eingehalten. Die Rhetorik 1945 war, das Völkerrecht neu zu begründen, was natürlich auch für die USA gelten sollte. Die USA unter Trump und George W. Bush hatten und haben aber eine ex­zeptionalistische Haltung: Die USA sind vom Völkerrecht gelöst. Die USA stehen sozusagen über dem Völkerrecht, und sie bestimmen es. Das hat nichts mehr mit der Idee des Rechtsstaates zu tun, nichts mit der Rechtsgleichheit, die für alle gelten soll. Kein Staat ist privilegiert. 

Was kann der ICC jetzt im Fall von Afghanistan tun?

Auch wenn man einen einzelnen US-Bürger nicht vor Gericht ziehen kann, steht einer Dokumentation über die Verbrechen, die verübt wurden, nichts im Wege. Wenn die Dokumente stichhaltig sind, werden sie beweisen, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit begangen wurden. Diese Dokumentation wird jetzt entstehen und hat auch, ohne dass jemand vor Gericht gestellt wird, eine ungeheure Bedeutung und muss unterstützt werden. 

Welche Bedeutung hat das?

Die Verurteilung der Kriegsverbrecher damals in Nürnberg ist das eine. Das andere ist, dass wir eine riesige Dokumentation haben, die die Hintergründe und die Vorgehensweisen in dieser Zeit verständlich macht. Man erfährt, wer was gesagt und getan hat. Das ergibt das ein ganz anderes Bild und erhellt die Zusammenhänge. Es zeigt, wer z. B. etwas über die Verbrechen wusste und wer nicht. 

Was heisst das jetzt für die Situation in Afghanistan? 

Wir werden erfahren, wer Befehle erteilt, wer Verbrechen angeordnet und zu verantworten hat usw. Die Dokumentation wird es erlauben, eine sehr grosse Anzahl von Briten und Franzosen, Polen, Rumänen usw. zu identifizieren, jene Politiker und Militärs, die bei den US- und Nato-Verbrechen kooperiert haben. Alle Staaten, die es in irgendeiner Weise ermöglicht haben, die Nato-Verbrechen – namentlich Mord und systematische Folter – zu begehen, sind dann anklagbar. 

Was sind die Vorwürfe gegen diese Staaten?

Ich denke da insbesondere an die «extraordnary rendition» (ausserordentliche Auslieferung). Das Kidnappen von Individuen, die bei Nacht und Nebel in verschiedene Gefangenenzentren verschleppt worden sind, z. B. nach Guantanamo oder in fünf weitere Staaten, die mit den USA kooperiert haben, war häufige Praxis. Folterstätten waren in Polen, Rumänien, Litauen, Jordanien und Djibouti. Gemäss dem Uno-Sonderberichterstatter Ben Emmerson, der einen Bericht über «extraordenary rendition» verfasste, haben weltweit 54 Staaten mit den USA kooperiert, um vor allem Mitglieder der Taliban unter Folter verhören zu lassen. Es war eine systematische Folterpolitik. 

Was hat die USA zu dieser Zusammenarbeit mit den genannten Staaten veranlasst?

Sie waren wohl der Meinung, dass es effektivere Folterer gab, als sie selbst sind. Sie haben das Problem sozusagen in diese Länder ausgelagert, man nannte das «outsourcing». Die Verbrechen von all diesen Staaten können untersucht werden, denn sie sind Mitglieder des Römer Statuts. 

Hat Syrien damals die USA unterstützt?

Ja, im Zusammenhang mit dem 11. September hat Syrien an der Verfolgung von Taliban und Terrorismus-Verdächtigten teilgenommen und im Auftrag der USA gefoltert. Es gibt den Fall von Maher Arar.⁷ Er ist ein Kanadier und besitzt die syrisch-kanadische Doppelnationalität. Er hat Ferien mit seiner Familie in Tunesien gemacht, musste aber zu seinem Arbeitgeber in Kanada zurückfliegen. Er flog nicht direkt von Zürich nach Montreal, sondern wollte über New York fliegen, doch er wurde im Kennedy Airport verhaftet. Drei Tage war er ohne Essen und Trinken von der CIA festgehalten und verhört worden. Danach war er ein Jahr lang in Syrien und wurde dort gefoltert. Nach einem Jahr haben sie ihn zurückgeschickt. Es war der «falsche Mann», der mit all den Verdächtigungen nichts zu tun hatte. Er bekam 10 Millionen kanadische Dollar von der kanadischen Regierung als Entschädigung, von den USA bekam er nichts. Die kanadische Regierung hat ihre Verantwortung anerkannt. Die kanadische Polizei leitete den Namen an die USA weiter, weil er als Araber in Montreal mit anderen Arabern Kontakt hatte, ohne dass er sich in irgendeiner Weise schuldig gemacht hätte. Rein auf Verdacht hin und ohne Indizien wurde er also in den USA verhaftet.

Ist Kanada Mitglied des ICC?

Kanada hat das Statut von Rom unterzeichnet und damit den Gerichtshof anerkannt. Wenn man Verbrechen in Bezug auf Afghanistan feststellen kann, seien es direkte Kriegsverbrechen, Folter oder Ähnliches, dann können Kanadier wie Polen oder Rumänen usw. vor das Gericht gezogen werden. Die USA wollen das verhindern, und sie werden alles Mögliche tun, um die Untersuchung zu unterminieren, was ihnen aber nicht gelingen wird. Aber was sie zunächst erreichen konnten, war, dass, obwohl die Chefanklägerin des ICC, Fatou Bensouda, die Untersuchung durchführen wollte, drei Richter in erster Instanz ihr keine Genehmigung dafür erteilten, diese einzuleiten. Das war im April 2019. 

Wie hat Frau Bensouda darauf reagiert?

Sie hat gegen die Entscheidung der drei Richter appelliert. Die Appellinstanz waren fünf Richter, die die erste Entscheidung aufgehoben und Bensouda damit direkt berechtigt haben, diese Untersuchung durchzuführen. Bemerkenswert ist, dass die Richter selbst entschieden und den Fall nicht an die niedrigere Instanz zurückgewiesen haben. 

Was kann man von der Untersuchung erwarten?

Ich erwarte viel davon. Es werden eine Reihe von Verbrechen ans Tageslicht kommen. Aber nicht nur die USA werden sich verantworten müssen, sondern ganz sicher auch Deutschland. Die Deutschen schickten Bodentruppen nach Afghanistan und flogen Luftangriffe. Dabei wurden etliche Zivilisten getötet. Zwar hat die Presse selten darüber berichtet, aber die Deutschen haben hier eine Mitverantwortung für viele Verbrechen, die in Afghanistan begangen wurden. Diese Verbrechen können identifiziert und vor den ICC gebracht werden. Das ist auf alle Fälle positiv zu bewerten

Donald Trump will Sanktionen gegen das Gericht erlassen. 

Das ist ein Angriff auf das Völkerrecht, gegen die Uno-Charta und gegen das Statut von Rom. Die USA haben eine Verpflichtung, sich an die Uno-Charta zu halten und das Völkerrecht zu unterstützen und jedenfalls nicht zu unterminieren. Was hier geschieht, ist, wie die meisten Rechtsprofessoren anerkannt haben, ein Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit, die Rechtssicherheit und auf die Nürnberger Prinzipien, die von der Generalversammlung 1950 feierlich angenommen wurden8 und bis heute Gültigkeit besitzen. Was Trump macht, ist letztlich völlig inkompatibel mit den Nürnberger Prinzipien. Dazu gehört auch das Folterverbot, das sich als jus cogens, als zwingendes Völkerrecht, etabliert hat und für alle Staaten verbindlich ist. Es ist ein universelles Verbot, und es besteht eine universelle Jurisdiktion. Das heisst, jeder Staat kann jemanden, der nachweislich gefoltert hat, nach dem Prinzip der universellen Jurisdiktion strafrechtlich verfolgen. 

Wie sieht das konkret aus?

Wenn ein Kommandant des Gefangenenlagers von Guantanamo in die Schweiz reist, kann er für seine Taten belangt werden. Alle wissen, dass in Guantanamo systematisch gefoltert worden ist. Ein Lagerleiter trägt die Verantwortung für alles, was in seinem Lager geschehen ist. 

Was kann Trump mit den Sanktionen erreichen?

Es gibt Sanktionen, die haben einen schlechten Stil oder sind unfreundlich, aber nicht völkerrechtswidrig. Wenn man ausländische Personen mit einem Reiseverbot belegen will, so ist das möglich, denn es gibt keine vertragliche Vereinbarung, die einen Staat verpflichtet, die Mitarbeiter des ICC einreisen zu lassen. Anders ist es, wenn von Mitarbeitern des ICC z. B. die Bankkonten in den USA eingefroren werden oder wenn das Eigentum der Betroffenen in den USA beschlagnahmt werden sollte. Das wäre völkerrechtswidrig. 

Ein Einreiseverbot auszusprechen, liegt also in der Kompetenz eines Staates …

Ja, auch wenn die Einreise verweigert werden kann, ist das dennoch im Zusammenhang mit einer Sanktions-Politik gegen den ICC ein Verstoss gegen Geist und Buchstabe der Uno-Charta. Denn die Kooperation der Staaten liegt auch in der Aufdeckung von Verbrechen. Die Reaktion von Trump ist natürlich ein Affront und eine Beleidigung des Gerichts und Frau Fatou Bensoudas. 

Wie reagierten die Alliierten, sprich die Nato-Staaten, auf die Reaktion Trumps?

Grossbritannien, Deutschland Frankreich und andere haben das kritisiert. Sie sind zwar nicht viel besser als die USA. Denn die Nato-Staaten haben bisher den ICC instrumentalisiert und nur Afrikaner oder Serben verfolgen lassen. Weil der ICC erfolgreich gegen EU-Gegner eingesetzt werden kann, möchten die EU-Staaten dieses Instrument nicht ausschalten. Sie versprechen sich davon, ihre Gegner wie z. B. in der Ostukraine hier vor Gericht ziehen zu können. Die europäischen Staaten und die EU denken, sie könnten den ICC zu ihren Gunsten «weaponisieren». Die USA hingegen meinen, sie haben den ICC absolut nicht nötig. Sie wissen, dass sie Verbrechen begangen haben und noch weiter begehen werden. So ist es mehr eine Gefahr als eine Waffe, die man gezielt einsetzen könnte. Die USA haben immer adhoc-Tribunale unterstützt. Das Jugoslawientribunal war ein adhoc-Tribunal, nur um die Gegner der USA, die Serben, zu verurteilen, so wie das Tribunal für Ruanda oder für Sierra Leone. So besteht für die USA nie eine Gefahr, dass sie einmal wegen ihrer Kriegsverbrechen belangt werden können. 

Der Schritt von Frau Bensouda, die Kriegsverbrechen in Afghanistan, – auch die der USA – zu untersuchen, ist doch bemerkenswert. 

Auf alle Fälle. Auch wenn die Regierung in den USA nicht belangt werden kann, ist es dennoch eine Möglichkeit, durch dieses Tribunal, das Vorgehen der USA und ihre Kriegsverbrechen genau zu dokumentieren. Was natürlich möglich ist, ist die Komplizen vor Gericht zu bringen. Wenn Tony Blair wegen der vielen Verbrechen in Afghanistan und im Irak belangt werden könnte, hätte das eine starke Wirkung. Die Glaubwürdigkeit des ICC steht und fällt mit seinen Untersuchungen von den Verbrechen, die durch die Grossen, die USA und die Nato-Staaten, begangen wurden. Erst dann, wenn ein Bürger Grossbritanniens oder Frankreichs für die Verbrechen belangt wird, die durch die Nato angeordnet wurden, wird das Gericht eine gewisse Glaubwürdigkeit erlangen. Wenn Menschen aus diesen Ländern für ihre Verbrechen vor Gericht stehen, dann wird der ICC als eine rechtsstaatliche Institution wahrgenommen werden. 

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ Es begann mit einer Lüge; www.youtube.com/watch?v=ZtkQYRlXMNU
² www.youtube.com/watch?v=ABs4N8do_MA
³ www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20002381/index.html#id-1
⁴ ebenda

www.nzz.ch/international/icc-trump-verhaengt-sanktionen-und-diffamiert-den-internationalen-ld.1560930?reduced=true
6 www.scp-ks.org/en
7 ebenda

8 legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/draft_articles/7_1_1950.pdf

Trumps «Deal of the Century» 

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Im Januar 2020 wurde der amerikanische Plan «Peace to Prosperity A Vision to Improve the Lives of the Palestinian and Israeli People» veröffentlicht, der als «Deal of the Century» durch die Presse ging. 

Nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 hatte der Uno-Sicherheitsrat in der Resolution 242¹ den «Rückzug der israelischen Streitkräfte aus [den] Gebieten, die während des jüngsten Konflikts besetzt wurden» gefordert, was für die Westbank, für Ostjerusalem und die syrischen Golanhöhen bis heute Gültigkeit hat. Der amerikanische Plan lehnt das ab: «Der Staat Israel und die Vereinigten Staaten glauben nicht, dass der Staat Israel rechtlich gebunden ist, den Palästinensern Folgendes zu übergeben, 100 Prozent des Territoriums vor 1967.»² 

Quelle: Karte aus Trumps «Deal of the Century»

Quelle: Karte aus Trumps «Deal of the Century»

Die USA versprechen den Palästinensern die Schaffung eines souveränen Staates. Das Gebiet westlich des Jordan, wo ein zerstückelter Staat Palästina geplant ist, der jedoch weiterhin vom israelischen Militär auf dem Boden und in der Luft kontrolliert werden soll. Das Jordantal mit seinen Wasserreserven und Ressourcen, seit Jahrhunderten von palästinensischen Bauern, viele von ihnen Beduinen, kultiviert, wird Israel zugeschlagen: «Das Jordantal, das für die nationale Sicherheit Israels entscheidend ist, wird unter israelischer Souveränität stehen.» Zudem wird Israel westlich des Jordan «die Souveränität über die Hoheitsgewässer behalten».³

Jerusalem mit seinen heiligen Stätten soll «die souveräne Hauptstadt des Staates Israel bleiben».⁴ Palästina werden als Hauptstadt Aussenquartiere Ost-Jerusalems zugewiesen – jenseits der Mauer. 

Der Staat Palästina soll keine Armee haben, so der amerikanische Plan, da die israelische Armee für seine Verteidigung zuständig sein wird. Israel soll auch «eine Frühwarnstation im Staat Palästina unterhalten» mit ungehindertem Zugang für das israelische Militär. Zudem wird sich «Israel zu Sicherheitszwecken auf Luftschiffe, Drohnen und ähnliche Luftausrüstung stützen, um den israelischen Sicherheitsrückstand innerhalb des Staates Palästina zu verringern.»⁵ Über die Einreise von Personen und Gütern nach Palästina soll der Staat Israel an den Grenzübergängen bestimmen. Gemäss dem amerikanischen Plan soll Israel auch über das politische System im Gazastreifen bestimmen. Der Bau eines Hafens im Gazastreifen wird Palästina auf absehbare Zeit nicht zugestanden. Zudem soll die «überwiegende Mehrheit» der israelischen Siedlungen auf palästinensischem Boden «in angrenzendes israelisches Territorium»⁶ eingegliedert werden.

Auch in der Flüchtlingsfrage setzen sich die USA über die Bestimmungen der Uno hinweg. Mit der Resolution 194 (III) hat die Uno-Generalversammlung am 11. Dezember 1948 das Recht der Palästinenser auf Rückkehr in ihre Heimat festgeschrieben und für die, die das nicht wollen, die Entschädigung für ihren Besitz. Der amerikanische Plan widerspricht. Für die palästinensischen Flüchtlinge soll es weder ein Recht auf Rückkehr noch Entschädigung geben. 

Wenn das palästinensische Volk in Verhandlungen mit Israel dem Plan zustimmt, versprechen die USA mit einem Wirtschaftsplan im künftigen Staat Palästina «über einen Zeitraum von zehn Jahren mehr als 50 Milliarden Dollar an neuen Investitionen zu ermöglichen».⁷

Von einem Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser ist im Plan nicht die Rede. Damit steht der amerikanische Friedensplan in diametralem Gegensatz zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, wie es von der Uno-Generalversammlung in Artikel 1 der Uno-Sozialcharta festgelegt worden ist:

Artikel 1

(1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung. 

¹ Resolution 242 (1967) vom 22. November 1967
² Peace to Prosperity A Vision to Improve the Lives of the Palestinian and Israeli People, January 2020, S. 11 f.
³ Peace to Prosperity, S. 13
⁴ Peace to Prosperity, S. 17
⁵ Peace to Prosperity, S. 23
⁶ Peace to Prosperity, S. 12
⁷ Peace to Prosperity, S. 19

 

Rückzug aus den besetzten Gebieten

Vereinte Nationen S/RES/242 (1967)

Resolution 242 (1967) vom 22. November 1967 (…) 

i) Rückzug der israelischen Streitkräfte aus (den) Gebieten, die während des jüngsten Konflikts besetzt wurden;

 

Die Resolution 194 sichert das Rückkehrrecht der palästinenischen Flüchtlinge

Resolution 194 (III), 11. Dezember 1948

Die Generalversammlung,

nach weiterer Erörterung der Lage in Palästina

(…)

11. beschliesst, dass denjenigen Flüchtlingen, die zu ihren Wohnstätten zurückkehren und in Frieden mit ihren Nachbarn leben wollen, dies zum frühestmöglichen Zeitpunkt gestattet werden soll und dass für das Eigentum derjenigen, die sich entscheiden, nicht zurückzukehren, sowie für den Verlust oder die Beschädigung von Eigentum, auf der Grundlage internationalen Rechts oder nach Billigkeit von den verantwortlichen Regierungen und Behörden Entschädigung gezahlt werden soll.

Trumps «Deal des Jahrhunderts» – nach dem Vorbild der südafrikanischen Apartheid 

von Dr. Alon Liel*

Der «Deal des Jahrhunderts», der im Januar 2020 veröffentlicht wurde, verändert die Realität des israelisch-palästinensischen Konflikts, auch wenn der Plan selbst nie umgesetzt wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein künftiger israelischer Regierungsführer in der Lage sein wird, der israelischen Öffentlichkeit weniger als die 30 % des Westjordanlandes anzubieten, die Premierminister Benjamin Netanjahu von Präsident Donald J. Trump so grosszügig gewährt wurden, erscheint unrealistisch. Ebenso scheint die Aussicht, dass irgendein Palästinenserführer den Plan akzeptieren wird, ausgeschlossen zu sein.

Folglich wird der Plan kaum zur Gründung eines palästinensischen Staates führen – trotz der Verwendung dieses Begriffs. Darüber hinaus könnte sich der «Deal des Jahrhunderts» als der diplomatische Todesstoss für die Zwei-Staaten-Lösung erweisen. Selbst wenn er teilweise umgesetzt werden sollte, wird er 40 Jahre nach dem südafrikanischen Modell kommen. Als jemand, der in den 1990er Jahren als israelischer Botschafter in Südafrika diente und dort vor und nach seiner Amtszeit an vielen Arbeitsbesuchen teilgenommen hat, ist mir der Begriff Bantustan (ein Staat für die Eingeborenen) persönlich vertraut. Das Apartheidregime in Südafrika hatte geplant, 11 solcher Marionettenstaaten auf seinem Territorium zu errichten. Eine ähnliche Anzahl von Bantustans war für das Gebiet vorgesehen, das schliesslich Namibia wurde. Tatsächlich wurden nur vier solcher Staaten gegründet: Bophuthatswana, Venda, Ciskei und Transkei. Fast niemand erinnert sich mehr an die Namen der anderen, die aus dem Gedächtnis verschwunden sind. Südafrika war das einzige Land der Welt, das die Bantustans offiziell anerkannte. Die wichtigen Entscheidungen darüber, was in ihnen vor sich ging, wurden ausschliesslich in Pretoria getroffen.

Der Grund für die Errichtung der Bantustans war sehr einfach: In den frühen 1980er Jahren begann der Westen das Ausmass der Grausamkeit der Apartheid zu begreifen und begriff schnell das grundlegendste Problem: Nicht-Weisse hatten kein Wahlrecht. Der Slogan der Anti-Apartheid-Kämpfer «One Man One Vote» (ein Mann – eine Stimme) wurde auf der ganzen Welt warmherzig aufgenommen – heute würde er «One Person One Vote» heissen. Das Apartheidregime seinerseits konnte sich eine nicht-weisse Stimme nicht erlauben, weil die demographische Entwicklung dies automatisch in einen Verlust an politischer Macht übersetzt hätte.

Rassistischer Einfallsreichtum

Der rassistische Einfallsreichtum des Apartheidregimes führte daher zur Erfindung vieler nicht aneinandergrenzender Enklaven auf dem Gebiet Südafrikas, die eine fiktive Unabhängigkeit erlangten und deren Bewohner an den Wahlen für die «Regierungen» des Marionetten-Enklavenstaates teilnehmen konnten, nicht aber an den allgemeinen Wahlen in Südafrika. Eine Zeit lang ermöglichte es diese Idee Südafrika, sich gegen den Vorwurf des Westens, es gebe kein Wahlrecht, zur Wehr zu setzen, und siehe da, es dauerte nicht lange, bis in der ganzen Welt Bilder von schwarzen Bewohnern der Bantustans in Umlauf gebracht wurden, die für «ihre Führung» stimmten. Es dauerte noch ein paar Jahre, bis der Westen diesen zynischen Trick verstand und seinen Kampf gegen die Bantustans begann.

Dank der damals demonstrierten Entschlossenheit der internationalen Gemeinschaft prägte sich zumindest eine wichtige historische Lektion tief ein: Der Versuch, ein unterdrückendes und diskriminierendes Regime durch die Schaffung fiktiver «autonomer» Territorien zu beschönigen, in denen Massen von Untertanen ohne wirkliche politische Rechte konzentriert waren, hatte in Südafrika keinen Erfolg – und es schien, dass er nirgendwo anders auf der Welt funktionieren würde. 

Israels beschämende Rolle

In den Jahren, in denen ich im Aussenministerium für das Südafrika-Referat zuständig war, und in den Jahren, in denen ich als Botschafter in Südafrika diente, habe ich zu meiner Schande gelernt, dass kein Land der Welt (mit Ausnahme Südafrikas) mehr zur Wirtschaft der Bantustans beigetragen hat als Israel. Israelis bauten in diesen südafrikanischen Marionettenstaaten Fabriken, Wohnviertel, ein Krankenhaus und sogar ein Fussballstadion und eine Krokodilfarm. Israel erlaubte dem grössten der Bantustans, Bophuthatswana, eine diplomatische Vertretung in Tel Aviv einzurichten, und sein Führer, Lucas Mangope, der von der ganzen Welt geächtet wurde, war hier ein häufiger Gast.

Während also der Rest der Welt die Vorspiegelung falscher Tatsachen in den Bantustans boykottierte, eilten die Israelis dem Apartheidregime zu Hilfe und setzten sich für dessen Förderung ein. Die Sicherheitszusammenarbeit mit der Apartheid war natürlich der Anreiz für Israels Unterstützung dieser Marionettenstaaten.

Gegenwärtig strebt Israel mit der aktiven Unterstützung der führenden Supermacht der Welt und ihrem «Deal des Jahrhunderts» die Entwicklung und Kultivierung eines Modells der gleichen illegitimen Praxis für das 21. Jahrhundert an.

Der «Deal des Jahrhunderts» schlägt eine neue Bantustan-Karte vor

Der Kern der Horrorshow, genannt «Deal des Jahrhunderts», die im Januar im Weissen Haus stattfand, war die neue Bantustan-Karte. Trump überreichte seinem guten Freund Netanjahu ein weiteres Geschenk und präsentierte im Vorfeld der israelischen Wahlen und in Anwesenheit von nur einer Seite, den Plan, den seine Abgesandten in den letzten Jahren ausgearbeitet hatten. Seine Einzelheiten sowie die Rhetorik in den Reden der beiden Führer machten deutlich, dass es sich dabei nicht um einen «Deal» handelte, sondern vielmehr um die Verwirklichung von Netanjahus langjährigem Plan, die israelische Kontrolle über das Westjordanland zu vertiefen, ohne dass seine Bewohner wirkliche Freiheit oder politische Grundrechte geniessen.

Trump strebt jedoch nicht nur danach, seinem Freund fast ein Drittel des Territoriums des Westjordanlandes zu übergeben, sondern auch – und vielleicht am wichtigsten – ihm dabei aber die Illusion eines internationalen Konsenses zu vermitteln. Damit signalisiert Trump, wie schon bei der Anerkennung der israelischen Souveränität über die Golanhöhen durch die USA und der Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem, seine Möglichkeit und Absicht, die langjährige Politik der internationalen Gemeinschaft zunichte zu machen und durch seine eigene zu ersetzen. Er masst sich das Recht an, Änderungen des politischen Status von Gebieten, in denen Konflikte stattfinden, für gültig zu erklären.

Das sind schlechte Nachrichten nicht nur für Palästinenser und Israelis. Seit Jahren haben die Vereinten Nationen in ihren verschiedenen Rahmenwerken erklärt, dass die Teilung des Landes in zwei unabhängige Staaten die einzig gerechte und realisierbare Lösung ist. Diese Lösung geht von dem Konzept aus, dass alle 14 Millionen Menschen, die heute zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben, das Recht auf Unabhängigkeit, Gleichheit und Würde haben, und dass der Weg hin zur Gewährleistung von «einer Stimme für jeden Menschen», die Beendigung von mehr als einem halben Jahrhundert israelischer Besatzung und die Teilung des Landes auf der Grundlage der Grenzen von 1967 bedeutet. Wichtige und führende Institutionen wie die Europäische Union und die Arabische Liga haben wiederholt ihre Unterstützung und ihr Engagement für dieses Modell zum Ausdruck gebracht, ebenso wie frühere US-Regierungen – sowohl republikanische als auch demokratische. Das rhetorische Bekenntnis der internationalen Gemeinschaft zur Zweistaatenlösung hat sie jedoch nicht dazu veranlasst, wirklich zu handeln. So sind Netanjahu und Trump offenbar zu dem Schluss gekommen, dass der Weg frei ist, um ihre Vision von Annexion und Apartheid voranzubringen.

Dementsprechend verlangt die dem «Deal des Jahrhunderts» beigefügte Karte zwei Mal angeschaut zu werden: Auf israelisch-palästinensischer Ebene ist sie eine Imitation des Bantustan-Modells (vgl. S. 10), bei dem die verschiedenen palästinensischen Gebiete von israelisch regierten Gebieten umgeben sind und die Tunnel und Brücken, die den Verkehr zwischen den verschiedenen Segmenten des «Staates Palästina» ermöglichen sollen, ebenfalls von Israel kontrolliert werden. Auf politischer Ebene ist der Plan eine Erklärung, dass der US-Präsident sich auf das Ansehen der internationalen Gemeinschaft beruft und signalisiert, dass es in seiner alleinigen Macht und Autorität liegt, die Schaffung eines neuen Modells der Apartheid zu legitimieren.

Es ist jedoch sowohl möglich als auch notwendig, eine durchschlagende Antwort auf diese arrogante Machtdemonstration zu geben.

Eine weitere Idee, die im «Deal des Jahrhunderts» enthalten ist, schlägt die Umsiedlung einer Viertelmillion israelisch-arabischer Bürger in das Gebiet der palästinensischen Enklaven vor. Auch dies erinnert an die grausame Umsiedlungspolitik, durch die Zehntausende schwarze Südafrikaner aus ihrer ursprünglichen Heimat in die über das Land verstreuten Bantustans umgesiedelt wurden.

Die Stimme der internationalen Gemeinschaft muss gehört werden

Vor etwas mehr als drei Jahren verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UNSC) mit überwältigender Mehrheit die Resolution 2334, die besagt, dass die Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten illegal sind und dass keine Grenzveränderungen der Waffenstillstandslinie von 1967 anerkannt werden, ausser den von den Parteien selbst vereinbarten. Als Reaktion auf die einseitigen Schritte, die Trump und Netanjahu unternommen haben, und angesichts der Ankündigung von Trump und Netanjahu, in den kommenden Monaten Teile des Westjordanlandes annektieren zu wollen, obliegt es heute der internationalen Gemeinschaft, ihre Stimme laut und deutlich zu erheben. Sie darf dem neuen Apartheidplan und der perversen Idee der Bantustans, die ein integraler Bestandteil dieses Plans ist, nicht ihre Zustimmung geben, auch nicht durch ihr Schweigen. Dies wäre nicht nur ein Verrat an Millionen von Menschen, die hier leben, sondern auch an dem Erbe des internationalen Widerstands gegen die südafrikanische Apartheid und an dem Präzedenzfall, den er geschaffen hat.

© 2020 Palestine-Israel Journal. Alle Rechte vorbehalten. Artikel, Auszüge und Übersetzungen dürfen ohne schriftliche Genehmigung in keiner Form wiedergegeben werden.

https://pij.org/articles/2005/trumps-deal-of-the-century-is-modeled-on-south-african-apartheid

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

* Dr. Alon Liel ist Vorsitzender von Global Code LTD, einer privaten Beratungsgruppe und Dozent an der Universität Tel Aviv und am IDC in Herzliya. Er ist ehemaliger Generaldirektor des israelischen Aussenministeriums und ehemaliger israelischer Botschafter in Südafrika. 

 

Konflikt im Nahen Osten: Haltung der Schweiz

Die Schweiz setzt sich für einen auf dem Verhandlungsweg erzielten, gerechten und dauerhaften Frieden zwischen Israelis und Palästinensern ein. Sie anerkennt den Staat Israel innerhalb seiner Grenzen von 1967 und engagiert sich für einen lebensfähigen, zusammenhängenden und souveränen Staat Palästina auf der Grundlage der Grenzen von 1967 und mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Nach Auffassung der Schw<eiz gelten alle von Israel kontrollierten Gebiete, die ausserhalb der Grenzen von 1967 liegen, gemäss humanitärem Völkerrecht als besetzte Gebiete. Die Schweiz ist der Ansicht, dass die israelischen Siedlungen gegen das humanitäre Völkerrecht verstossen und zudem ein grosses Hindernis für den Frieden und für die Umsetzung einer Zweistaatenlösung darstellen.

Engagement für eine umfassende und dauerhafte Lösung des Nahostkonflikts

Ihrer Tradition der guten Dienste und der Förderung des Völkerrechts verpflichtet, engagiert sich die Schweiz seit mehreren Jahren für einen verhandelten, gerechten und dauerhaften Frieden zwischen Israelis und Palästinensern.

Sie ist der Ansicht, dass die Lösung des Nahostkonflikts folgenden Kriterien genügen muss:

Verhandelter und dauerhafter Frieden in der ganzen Region auf der Grundlage des Völkerrechts, einschliesslich zwischen Israel und dem Libanon und zwischen Israel und Syrien

Anerkennung des Grundsatzes «land for peace» und den Resolutionen 242, 338, 497 und 1515 des Uno-Sicherheitsrats

Umsetzung der auf dem Verhandlungsweg herbeigeführten sogenannten Zweistaatenlösung, die namentlich im Einklang mit der Friedensinitiative der Arabischen Liga steht

Anerkennung des Existenzrechts Israels innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen

Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes, namentlich des Rechts, einen lebensfähigen, zusammenhängenden und souveränen Staat Palästina auf der Grundlage der Grenzen von 1967 zu errichten mit Ostjerusalem als Hauptstadt

Wiederherstellung einer geografischen, politischen und sozialen palästinensischen Einheit, die auf einem alle einschliessenden Versöhnungsprozess beruht

Gerechte, umfassende Verhandlungslösung für die Frage der palästinensischen Flüchtlinge

Umfassende verhandelte Regelung über den endgültigen Status von Jerusalem in Übereinstimmung mit der Resolution 478 des Uno-Sicherheitsrats, die die Rechte und Forderungen aller interessierten Parteien wahrt

Umfassende verhandelte Vereinbarung für alle weiteren Fragen zum endgültigen Status: Wasser, Sicherheit, Gefangene

Gebiet Israels, die besetzten arabischen Gebiete und das besetzte palästinensische Gebiet

Gemäss Resolution 242 des Uno-Sicherheitsrats erkennt die Schweiz den Staat Israel auf der Grundlage der Grenzen vor dem Sechstagekrieg vom 5. bis 10. Juni 1967 an (Grüne Linie).

Die Organe der Vereinten Nationen, einschliesslich Internationaler Gerichtshof und Sicherheitsrat, haben immer wieder darauf hingewiesen, dass alle von Israel kontrollierten oder annektierten Gebiete, die ausserhalb der Grenzen von 1967 liegen, gemäss humanitärem Völkerrecht als besetzte Gebiete gelten.

Zu den besetzten arabischen Gebieten gehören:

das besetzte palästinensische Gebiet

die Golanhöhen

Zum besetzten palästinensischen Gebiet gehören:

das Westjordanland, inklusive Ostjerusalem

der Gazastreifen

Da kein internationales Abkommen über den endgültigen Status von Jerusalem vorliegt, hat die Schweiz wie die Mehrheit der internationalen Gemeinschaft ihre Botschaft in Tel Aviv.

In Übereinstimmung mit dem Vorangehenden, wird die Schweiz keine Änderung der Grenzen von 1967 anerkennen – dazu gehört auch Jerusalem – solange dies nicht das Ergebnis eines durch die Parteien verhandelten Abkommens ist. Diese Position wurde insbesondere auch in der Resolution 2334 des Uno-Sicherheitsrates bestätigt.

Geltendes Recht im besetzten palästinensischen Gebiet

Die Schweiz ist der Auffassung, dass das humanitäre Völkerrecht, namentlich die vierte Genfer Konvention vom 12. August 1949 (SR 0.518.51), und die internationalen Menschenrechtsnormen auch in den besetzten arabischen Gebieten Gültigkeit haben.

Die vierte Genfer Konvention bezieht sich auf den Schutz der Zivilbevölkerung und präzisiert die Rechte und Pflichten Israels als Besatzungsmacht. Die Schweiz weist regelmässig darauf hin, dass die vierte Genfer Konvention vollumfänglich und unter allen Umständen eingehalten werden muss. Sie ruft alle Konfliktparteien dazu auf, ihre Verpflichtungen im Bereich des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte wahrzunehmen. Sie fordert zudem alle Konfliktparteien dazu auf, auf Gewalt und jegliche andere Handlung zu verzichten, die die Friedensbemühungen beeinträchtigen könnten.

Israelische Siedlungen

Die israelischen Siedlungen (Siedlungen) sind gemäss dem humanitären Völkerrecht illegal (Artikel 49(6) der vierten Genfer Konvention). Sie verletzen die Menschenrechte der palästinensischen Bevölkerung, insbesondere ihre bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte und ihr Recht auf Selbstbestimmung, in schwerwiegender Weise. Die Schweiz ist der Ansicht, dass die Siedlungen auch ein grosses Hindernis für den Frieden und für die Umsetzung einer Zweistaatenlösung darstellen. Diese Position wurde insbesondere auch in der Resolution 2334 des Uno-Sicherheitsrates bestätigt.

Wirtschaftliche und finanzielle Aktivitäten im Zusammenhang mit den Siedlungen in den besetzten arabischen Gebieten werden von der Schweiz in keiner Weise unterstützt.

Finanzielle Transaktionen, Investitionen, Käufe, Übernahmen und alle weiteren wirtschaftlichen Aktivitäten, die im Zusammenhang mit den Siedlungen durchgeführt werden oder ihnen zugutekommen, können mit rechtlichen und wirtschaftlichen Risiken verbunden sein, da die Siedlungen unter Verletzung des Völkerrechts erstellt und ausgebaut werden. Dies kann insbesondere zu Streitigkeiten in den Bereichen Land, Wasser, Rohstoffe und andere natürliche Ressourcen führen, wo Käufe oder Investitionen getätigt werden können. Bürgern und Unternehmen, die private wirtschaftliche oder finanzielle Aktivitäten im Zusammenhang mit den Siedlungen erwägen, wird empfohlen, vorgängig ein Rechtsgutachten eines privaten Beraters einzuholen.

Sperranlage

Der Bau der Sperranlage widerspricht internationalem Recht, sofern sie von der «Grünen Linie» abweicht («Rechtliche Konsequenzen des Baus einer Mauer im besetzten palästinensischen Gebiet», Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 9. Juli 2004). Die Schweiz ist folglich gegen einen solchen Bau im besetzten palästinensischen Gebiet sowie gegen jegliche Enteignungs- und Abbruchmassnahmen zu diesem Zweck.

Konsequenzen für die Schweiz

Die Schweiz betrachtet folglich den Bau von Siedlungen und die bereits bestehenden Siedlungen in den besetzten arabischen Gebieten als unrechtmässig. Folglich

Erkennt sie Israels Autorität ausserhalb der Grenzen von 1967 nicht an.

Kann sie keine Verträge mit Israel abschliessen, die israelisches Gebiet ausserhalb der Grenzen von 1967 betreffen.

Wendet sie bestehende bilaterale Verträge zwischen der Schweiz und Israel nicht ausserhalb der Grenzen von 1967 an.

Unterhält sie mit Israel ausserhalb seiner Grenzen von 1967 keine offiziellen Beziehungen, dies betrifft namentlich die Errichtung von diplomatischen Missionen und die Entsendung von konsularischem Personal, aber auch Aktivitäten und Besuche in Begleitung von israelischen Behörden in den besagten Gebieten.

Rät sie natürlichen und juristischen Personen davon ab, sich in irgendeiner Form an der Besiedlung zu beteiligen. 

Quelle: https://www.eda.admin.ch/countries/israel/de/home/vertretungen/botschaft/konflikt-im-nahen-osten--haltung-der-schweiz.html

Lernen ist ein Bergaufprozess

Lernen sei etwas Leichtes, suggerieren IT-Konzerne. Lernen sei anstrengend, betonen Bildungsforscher. Wir folgen einem erprobten Lehrer und Kinderbuchautor auf dem stotzigen Weg zum «Bärenberg».

Lernen kennt keine Autobahnen, keine asphaltierten Schnellstrassen und keine abgekürzten Routen oder gar Überholspuren. Da gelten Feldwege und da gehören Bergpfade dazu. Steile und oft steinige! Manchmal auch Unterholz und Dickicht. Und natürlich Irrwege und Umwege. Da gilt das Gelb der Wanderwege – und nicht das giftige Grün der Autobahnen.

Lernen ist harte Arbeit – das ist sein simples Geheimnis

Lernen erfordert Einsatz und Eifer, Energie und Ausdauer. Lernen ohne Disziplin und Durchhaltewillen geht nicht. Das wissen wir aus zahlreichen Studien in ganz unterschiedlichen Disziplinen. Man sehe sich beispielsweise ein Kleinkind an, wenn es laufen lernt. Immer und immer wieder fällt es hin. Das Baby versucht’s erneut. Unermüdlich. Bis es eines Tages stehen und gehen kann. Lernen ist harte Arbeit und anstrengend. Ohne dieses simple Geheimnis führt Lernen nicht zum Ziel. Es gilt fürs Physisch-Technische, es gilt fürs Geistig-Kreative.

Heute muss alles leicht gehen – und spielerisch. So propagieren es viele; so verkündet es auch die Digitalindustrie. Der Glaube ans Einfache und Leichte von Lernprozessen hält sich wie ein hartnäckiger Mythos. Die Suggestivkraft des Leichten wirkt verführerisch. Gerade junge Lehrerinnen und Lehrer erliegen nicht selten diesen ideologischen Sirenenklängen. Lernen so zu gestalten, dass es möglichst einfach geht und von den Kindern wenig fordert, so folgern sie fälschlicherweise. Das ist verhängnisvoll. Jedes kindliche Cerebrum will gefordert sein. Nur so entwickelt es sich. 

«Kinder in Anspruch nehmen» und sie herausfordern

Lernen hat mit dem Ausloten des eigenen Potenzials zu tun und mit der Frage, wo die eigenen (Leistungs-)Grenzen sind. Erfahrene Lehrerinnen und Lehrer wissen um diese Zusammenhänge. Sie wollen die «Kinder in Anspruch nehmen», wollen sie herausfordern und so fördern, genau wie es der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger der Schule und den Lehrern ans Herz legte.

Zu diesen Pädagogen zählte auch der bekannte Schweizer Kinderbuchautor Max Bolliger (1929-2013). Geradezu sinnbildlich kommt dies in seiner Geschichte «Der Bärenberg» zum Ausdruck.¹ Das Bilderbuch erzählt vom Aufbrechen und Weiterkommen, beleuchtet Zweifel und Zwiespalt, zeigt Zögern und Zaudern, widerspiegelt Wille und Widerstand – und das Glücksgefühl nach dem Durchhalten und der Ankunft auf dem Gipfel des Bärenbergs.

Bärenkräfte mobilisieren – gegen innere und äussere Widerstände

Die Geschichte geht so: Am Fuss eines hohen Berges stehen drei kleine Bären. Der Gipfel strahlt im Sonnenlicht. Die Sehnsucht packt sie. «Da hinauf wollen wir klettern!», sagen sie zueinander und ziehen zügig los. Unterwegs trennen sie sich. 

Der erste Bär geht voraus. Er kommt über lichte Wiesen und durchquert dunkle Waldpassagen. Der Weg wird steiler und steiler. Der Schweiss rinnt ihm von der Stirn. Doch er hält durch. Der Gipfel rückt näher; die Sicht aufs Ziel macht Kräfte frei. Da versperrt ihm ein Wolf den Weg. Er fletscht mit den Zähnen und faucht: «Was willst du hier?» «Ich will auf den Gipfel», antwortet der kleine Bär. «Auf den Gipfel?», höhnt der Wolf. «Nur wenn du stärker bist als ich!» Der Bär fürchtet sich vor dem Wolf. Doch Umkehren kommt für ihn nicht in Frage; das Ziel liegt so nahe. Er stellt sich dem wilden Wolf. Je länger er mit ihm kämpft, desto mehr spürt er seine Bärenkräfte wachsen. Der kleine Bär gibt nicht nach, bis er den Wolf besiegt und er auf dem Rücken liegt. Nun ist der Weg zum Gipfel frei.

Durchhalten lohnt sich

Der zweite Bär kommt ebenfalls behände voran. Da versperrt ihm ein Tiger den Weg. Auch er ringt mit dem robusten Tier, mobilisiert seine Bärenkräfte und kämpft sich so den Pfad zur Bergspitze frei. Der dritte Bär aber sieht den Tiger von Weitem. Angst überkommt ihn; er kehrt um und rennt zurück.

Der erste und zweite Bär treffen sich auf dem Gipfel. Beide haben durchgehalten, ihr Ziel nie aus den Augen verloren und die Strapazen ausgehalten. Sie umarmen sich und staunen über das Panorama. Die Aussicht ist weiter und schöner, als sie es sich erträumt haben. «Wir werden dem kleinen Bären erzählen, wie wunderbar es hier ist und dass sich der steile, strenge Weg gelohnt hat», sagen sie zueinander.

Eine Haltung des Durchhaltens vermitteln

Durchhalten im Ungewohnten, Durchstehen im ganz gewöhnlichen Schul- und Lebensalltag, Überwinden von Widerständen – Dazu braucht es Kraft und Ausdauer. Lernen ist anstrengend; gerade darum macht es zufrieden.

Konsequenterweise besteht eine der wichtigsten Aufgaben der Lehrerinnen und Lehrer darin, eine positive Haltung gegenüber der Anstrengung vorzuleben, dies mit bewusstem Blick auf den Lernprozess ihrer Schülerinnen und Schüler. Gleichzeitig müssen sie diese Haltung den Lernenden auch vermitteln – nicht zuletzt als Kontrapunkt zur ständigen Botschaft der Technikkonzerne, dass die Digitalisierung das Lernen leichter mache. 

Lernen möglichst herausfordernd gestalten

Diese Leichtigkeitsthese klingt schön, doch sie erweist sich als Illusion. Lern- und Verstehensprozesse lassen sich nicht wie eine Produktion lenken oder übers GPS steuern. Lernen ist kein linearer Ablauf; es verläuft divergent. Bildung im Allgemeinen und Lernen im Besonderen schreiten über Umwege und Irrwege voran. Lernen ist ein Bergaufprozess, teilweise auf verschlungenen Pfaden. Das aber will die vermeintliche Modernität des Digitalen nicht wahrhaben.

Darum kann es im Bildungsbereich nicht darum gehen, Lernen möglichst leichtzumachen.² Es muss darum gehen, Lernen möglichst herausfordernd zu gestalten. Die beiden Bären wissen, was das heisst. 

1 Der Bärenberg (1987). Eine Geschichte von Max Bolliger und illustriert von Józef Wilkon. Zürich: Bohem Press.
2 Klaus Zierer (2018), Die Grammatik des Lernens, in: FAZ, 04.10.2018, S. 7.

*Carl Bossard, Dr. phil., dipl. Gymnasial­lehrer, war Rektor des Nidwaldner Gymnasiums in Stans, Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Heute leitet er Weiterbildungen und berät Schulen. Sein Hauptinteresse gilt bildungspolitischen und gesellschaftlich-historischen Fragen. Publikationen unter www.carlbossard.ch.

 

 

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