Woher nimmt Trump das Recht, in Syrien Militärbasen einzurichten?

Warum greifen wir die Syrer an, die gegen den IS kämpfen?

von Ron Paul*

Gerade als man dachte, die Syrienpolitik Amerikas könne nicht mehr schlimmer werden, wurde sie letzte Woche schlimmer. Das US-Militär hat von einer in Syrien illegal errichteten Militärbasis aus zweimal Streitkräfte der syrischen Regierung angegriffen. Laut Pentagon waren die Angriffe auf die syrischen Streitkräfte «defensiv», da syrische Kampfflieger sich einer von den USA selbst deklarierten «Schutzzone» innerhalb Syriens genähert hatten. Die syrischen Streitkräfte verfolgten in der Gegend den IS, aber die USA griffen trotzdem an.

Die USA trainieren eine weitere Rebellengruppe, die von dieser Basis aus operiert, die nahe der irakischen Grenze bei al-Tanf liegt. Sie behaupten, dass die syrischen Streitkräfte eine Bedrohung für die US-Militärpräsenz dort darstellten. Aber das Pentagon hat eines vergessen: Es hat in erster Linie gar kein Recht, in Syrien zu sein! Weder der US-Kongress noch der UN-Sicherheitsrat hat eine US-Militärpräsenz in Syrien genehmigt.

Was gibt also der Trump-Administration das Recht, ohne Erlaubnis der dortigen Regierung Militärbasen auf fremdem Boden einzurichten? Warum verletzen wir die Souveränität Syriens und greifen dessen Militär an, wo es doch gegen den IS kämpft? Warum behauptet Washington, dass seine primäre Mission in Syrien sei, den IS zu besiegen, und unternimmt gleichzeitig militärische Aktionen, von denen der IS profitiert?

Das Pentagon gab eine Erklärung ab, dass seine Anwesenheit in Syrien notwendig sei, weil die syrische Regierung nicht stark genug sei, den IS alleine zu besiegen. Die von den Syrern, den Russen, den Iranern und den Türken vereinbarten «Schutzzonen» haben jedoch zu einer Verringerung der Kampfhandlungen und zu einem möglichen Ende des sechsjährigen Krieges geführt. Es ist zwar wahr, dass das syrische Militär geschwächt ist, dies ist jedoch auf den sechsjährigen Kampf gegen die von den USA gesponserten Rebellen zurückzuführen, die die syrische Regierung zu Fall bringen wollen.

Worum geht es wirklich? Warum hat das US-Militär diese Basis in Syrien? Es geht zum Teil darum, die Syrer und Iraker daran zu hindern, sich im Kampf gegen den IS zusammenzutun. Ich denke aber, dass es vor allem um den Iran geht. Wenn sich die Syrer und Iraker zusammentun und mit Hilfe der mit dem Iran alliierten Schiiten-Miliz gegen den IS kämpfen, glauben die USA, dass dies den Einfluss des Iran in der Region stärken würde. Präsident Trump ist vor kurzem von einer Reise nach Saudi-Arabien zurückgekehrt, wo er geschworen hatte, dass er genau das nicht zulassen werde.

Aber ist diese Politik wirklich in unserem Interesse, oder machen wir nur das, was unsere Nahost- «Verbündeten» von uns verlangen, die unbedingt einen Krieg mit dem Iran wollen? Saudi-Arabien exportiert seine radikale Form des Islams weltweit, seit kurzem auch in moderate muslimische asiatische Länder wie Indonesien. Iran tut das nicht. Das heisst nicht, dass der Iran perfekt ist, aber macht es Sinn, sich in den Sunniten/Shiiten-Konflikt auf welcher Seite auch immer einzumischen? Die Syrer zusammen mit ihren russischen und iranischen Verbündeten sind dabei, den IS und al-Qaida zu besiegen. Wie der Kandidat Trump sagte, was ist daran so schlimm?

Uns wurde gesagt, dass, wenn man der syrischen Regierung erlaube, Aleppo von al-Qaida zu befreien, Assad Tausende töten würde, die dort gefangen seien. Doch das Gegenteil traf ein: Das Leben in Aleppo normalisiert sich. Die christliche Minderheit feierte dort seit vielen Jahren zum ersten Mal wieder Ostern. Sie sind dabei, die Stadt wiederaufzubauen. Können wir die Syrer nicht einfach in Ruhe lassen?

Wenn man an den Punkt kommt, wo die eigenen Aktionen eigentlich dem IS helfen, ob beabsichtigt oder nicht, ist es vielleicht an der Zeit, inne zu halten. Es ist längst überfällig für die USA, ihre gefährliche und kontraproduktive Syrienpolitik aufzugeben und einfach die Truppen nach Hause zu holen.

Quelle: http://www.informationclearinghouse.info/47231.htm, 13. Juni 2017.

Übersetzung «Zeitgeschehen im Fokus»

* Ronald Ernest «Ron» Paul (geboren am 20. August 1935 in Green Tree, Pennsylvania) ist ein US-amerikanischer Arzt und Politiker. Er ist Mitglied der Republikanischen Partei und war zwischen 1976 und 2013 (mit Unterbrechungen) Abgeordneter im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten. Paul war bei der US-Präsidentschaftswahl 1988 Kandidat der Libertären Partei und hatte sich um die republikanische Kandidatur für die US-Präsidentschaft 2008 und 2012 beworben.

Abschuss des syrischen Kampfjets durch die USA – ein Völkerrechtsbruch

Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas

Alfred de Zayas  (Bild thk)
Alfred de Zayas (Bild thk)
Zeitgeschehen im Fokus Die USA haben über fremdem Territorium ein syrisches Flugzeug abgeschossen, ohne dass sich Syrien im Krieg mit den USA befindet. Wie ist das völkerrechtlich zu beurteilen?

Professor de Zayas Natürlich ist das ein Kriegsakt und eine Aggression gegen einen souveränen Staat, ein Bruch des Artikels 2(4) der Uno-Charta und stellt das Verbrechen der Aggression dar, gemäss dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court), das die Vereinigten Staaten allerdings bisher nicht ratifiziert haben. Das Abschiessen eines Regierungsflugzeugs ist wie eine Kriegserklärung, eine illegale Anwendung von Gewalt gegen die legitime Regierung eines Landes, die dabei ist, eine legitime Aktion gegen Terroristen durchzuführen. Der Angriff gegen die syrische Drohne war ebenfalls völkerrechtswidrig. Übrigens bin ich wie der ehemalige US-Parlamentarier Ron Paul auch der Meinung, dass die USA in Syrien nichts zu suchen haben.

Was wird das für Konsequenzen haben?

Die sind nicht absehbar, denn selbstverständlich hatten die Russen und die USA eine Abmachung gehabt, um Konflikte zwischen russischen und US-amerikanischen Flugzeugen oder Landtruppen zu vermeiden. Aber die USA haben diese Vereinbarung gebrochen. Wenn man ein syrisches Flugzeug, das einen legitimen Kriegsakt ausführt, abschiesst, ist das nicht nur eine Verletzung des Völkerrechts, sondern es ist auch ein Kriegsverbrechen.

Das heisst, man kann die USA dafür belangen?

Nein, das wird man nicht tun. Das wissen wir schon im vornherein. Wie ich bereits beim Raketenangriff der USA auf Syrien dargelegt hatte, ist das Völkerrecht sehr klar in Sachen Bürgerkrieg, und fremde Staaten dürfen sich nicht beteiligen (Prinzip der Nicht-Einmischung, Resolutionen 2625 und 3314 der Generalversammlung). Aber da ist kein Mechanismus, um die USA dafür zu belangen.

Das bedeutet?

Wenn ein Bürgerkrieg entsteht, sind die anderen Staaten verpflichtet, sich neutral zu verhalten. Wenn sie sich nicht neutral verhalten wollen, dann müssen sie eine Kriegserklärung abgeben, was in dieser Situation einem Völkerrechtsbruch gleich käme. Denn ein Drittstaat, hier die USA, der in keiner Weise von Syrien bedroht ist, darf sich nicht einmischen, indem er die Aufständischen unterstützt.

Wenn man es dennoch tut?

Als die USA in den 1980er Jahren in Nicaragua militärisch intervenierten und die Contras gegen die legitime Regierung Ortegas finanzierten und sonstwie unterstützten, wurde dies vor dem Internationalen Gerichtshof als Völkerrechtsbruch verurteilt. Die USA haben natürlich das Urteil ignoriert.

Die USA begründen diesen Abschuss damit, dass das syrische Kampfflugzeug ihre Verbündeten angegriffen habe. Ist das ein Argument?

Nein, natürlich nicht, denn die USA können hier keine Verbündeten haben. Ein Drittstaat darf sich nur dann in einem Bürgerkrieg beteiligen, wenn die legitime Regierung des Staates ihn darum ersucht. Die Intervention Russlands folgte einer Einladung der Regierung Syriens und ist darum völkerrechtskonform. Wenn ein Staat sich ohne Einladung einmischt, bedeutet das einen Bruch der Souveränität, wie z. B. als Hitler und Mussolini die Aufständischen in Spanien 1936–39 während des spanischen Bürgerkrieges unterstützten oder als im Jahre 1999 die USA Serbien bombardierte, um die Aufständischen in Kosovo zu unterstützen.

Das bedeutet doch im Falle der USA …

… dass sie gar keine Verbündeten in Syrien haben können. Was sie machen, ist gegen das geltende Völkerrecht und eine Verletzung von verschiedenen Artikeln der Uno-Charta. Es liegt auf der Hand, wenn eine Resolution gegen die USA in den Sicherheitsrat käme, würden die USA selbst ein Veto einlegen. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass eine Mehrheit im Sicherheitsrat erkennen müsste, dass hier ein Völkerrechtsbruch begangen worden ist. Aber so, wie der Sicherheitsrat funktioniert, genügt es, dass ein Staat sein Veto einlegt, und die USA geniessen wie so oft Immunität.

Warum wurde das Vorgehen der USA im Falle Nicaraguas vor den IGH gebracht?

Die USA sind in den 1980er Jahren vor den IGH gekommen, weil sie eine Erklärung gemäss Artikel 36, Absatz 2, des Statuts des IGH abgegeben hatten, die automatisch die Kompetenz des Gerichts anerkannte. Diese Erklärung haben aber nur 72 Staaten abgegeben und die USA haben sie inzwischen widerrufen. Die USA können aus diesem Grund nicht vor den IGH kommen. Es sei denn, sie willigen darauf ein. Sie können natürlich sagen, für diesen Fall sind wir einverstanden und akzeptieren die Kompetenz des Gerichtshofes. Aber das ist eher unwahrscheinlich.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Das Gespräch entspricht der persönlichen Meinung von Professor de Zayas und wurde nicht offiziell in seiner Eigenschaft als unabhängiger Experte an der Uno geführt. Siehe auch www.alfreddezayas.com und http://dezayasalfred.wordpress.com

Den Palästina-Flüchtlingen im Libanon ein Zeichen geben, nicht ganz vergessen zu sein

Interview mit Heide Mutschler vom Verein «Flüchtlingskinder im Libanon», Pfullingen (D)

Angeregt durch die Berichte in «Zeitgeschehen im Fokus» Nr. 5 über die Jahrestagung der Schweizer Humanitären Hilfe und das Interview mit Pierre Krähenbühl, Chef der UNRWA, in «Zeitgeschehen im Fokus» Nr. 6, gingen wir der Frage nach, welche konkreten Hilfen es für die in den Lagern im Libanon lebenden Palästina-Flüchtlinge gibt, und sprachen mit Frau Heide Mutschler, ehemalige Lehrerin und Mitglied im Pfullinger Verein «Flüchtlingskinder im Libanon». Dieser Verein engagiert sich seit über 20 Jahren in verschiedenen Palästinenser-Flüchtlingslagern im Libanon, wo er neben der UNRWA und vielen anderen NGOs in verschiedene Projekte investiert, vom Freizeitprojekt für Kinder, über Kindergartenplätze, Nachhilfekurse oder Fortbildung von Sozialarbeiterinnen und Erzieherinnen bis hin zu Zahnarztpraxen und psychologisch-therapeutischen Zentren. Heide Mutschler hatte schon vielfach die Gelegenheit, die Projekte in den einzelnen Flüchtlingslagern zu besuchen. Vor kurzem erst ist sie aus dem Libanon zurückgekehrt und schildert ihre Eindrücke.
 
Zeitgeschehen im Fokus Was war Ihre Motivation, die Arbeit des Vereins «Flüchtlingskinder im Libanon» zu unterstützen?

Heide Mutschler Als ich 1998 zum ersten Mal in den Libanon reiste, lernte ich ein von einem 15-jährigen Bürgerkrieg gezeichnetes Land mit grosser kultureller Vergangenheit kennen. Vom Massaker im Beiruter Palästinenserlager von Sabra und Shatila hatte ich gewusst, jedoch nicht geahnt, in welch drangvoller Enge die Menschen hier leben müssen. Schnell war klar, dass ich hier etwas tun wollte, und ich übernahm eine Patenschaft für ein Kind beim Verein «Flüchtlingskinder im Libanon».

Wie müssen wir uns das Leben in einem solchen Lager vorstellen? Welche Bewohner leben dort? Wie ist die Lebenssituation für diese Menschen?

Immer wieder besuchte ich meine Patenkinder, so auch dieses Jahr an Ostern. Ich war beim libanesischen Militär gemeldet, das die Zugänge zu Lagern wie Bourj e-Shemali bei Tyre sichert, eines der ruhigsten Lager. Abu Wassim vom Zentrum der NGO NISCVT (National Institution of Social Care an Vocational Training) holte mich ab und begleitete mich durch das Labyrinth der engen maroden Strassen mit kleinen Lebensmittelläden und Werkstätten. Grosse Familien leben oft in 1 bis 2 Zimmern. Da die Regierung neue Landflächen verweigert, wachsen die Häuser in die Höhe und blockieren den Lichteinfall in die Gassen. 1948 landlos gewordene Bauern und städtische Arme fanden in den Flüchtlingslagern der UNRWA Unterschlupf, aber auch arme Libanesen und Arbeitssuchende, z. B. aus Bangladesh.

Die Flüchtlingslager befinden sich im Libanon. Wer verwaltet diese Lager, und wie sind sie organisiert?

Rund 450 000 registrierte palästinensische Flüchtlinge leben in zwölf offiziellen Lagern, die von der UNRWA verwaltet werden. Der Libanon behandelt die Flüchtlingslager wie exterritoriales Gebiet. Die meisten Bewohner sympathisieren mit der Fatah, die zusammen mit bewaffneten Splittergruppen das «Volkskomitee» bildet, das die Lager verwaltet.

Sie und Ihr Verein arbeiten vor allem für und mit Kindern. Welche Möglichkeiten haben die Kinder in diesen Flüchtlingslagern?

Mehr als die Hälfte der Bewohner ist unter 18 Jahren. Wenn die Schule aus ist, sieht man die Kinder in den engen Gassen mit einem Fussball oder Plastikreifen spielen. Mein Patenkind verbringt den Samstag bei den Pfadfindern, eines der vielen Freizeitangebote von NISCVT für Kinder und Jugendliche.

Kindergärten werden von verschiedenen Hilfsorganisationen, auch von NISCVT, angeboten. Mütter werden einbezogen und kommen zum monatlichen Müttertreffen, bei denen sie sich unter anderem über Fragen der Erziehung und der Gesundheit austauschen. Die Kindergärten bieten die Vorschulerziehung, die der Lehrplan voraussetzt.

Welche Perspektiven ergeben sich für die Jugendlichen in den Lagern? Haben sie Aussicht auf Arbeit nach ihrer Ausbildung?

Drei meiner Patenkinder haben die Schule zwar nicht abgeschlossen, aber trotzdem Arbeit gefunden. Die Klassen sind hoffnungslos überfüllt. Viele Schulen arbeiten schichtweise. Ausserdem werden ab der 7. Klasse die Naturwissenschaften in englischer Sprache unterrichtet. Für die 40 000 Schülerinnen und Schüler gibt es nur zwei berufliche Ausbildungszentren. Deshalb bietet NISCVT 4 bis 6-monatige Ausbildungskurse in handwerklichen Berufen an. Studienplätze an den libanesischen Hochschulen sind nur für wenige bezahlbar.

Wie steht es um die Arbeitsplätze der Erwachsenen? In welchen Bereichen haben sie Arbeit in den Lagern oder ausserhalb?

Der Alltag ist bestimmt von vielen Einschränkungen. Die Arbeitslosenrate ist sehr hoch, weil palästinensische Ärzte oder Juristen nur innerhalb des Lagers arbeiten dürfen. Wer dann nicht in der Landwirtschaft oder beim Bau Arbeit findet, ist auf die Hilfe von Verwandten im Ausland oder von der UNRWA angewiesen. Nicht nur der Zugang zum Arbeitsmarkt ist beschränkt, sondern auch das Recht der Menschen auf Einbürgerung, auf Bewegungsfreiheit, auf den Erwerb von Eigentum und auf den Zugang zu staatlichen Dienstleistungen. Der Grund für die Beschränkungen ist die Angst, die mehrheitlich sunnitischen Palästinenser könnten die konfessionelle Zusammensetzung im Libanon verändern.

«Flüchtlingskinder im Libanon» finanziert zurzeit die Fortbildung von Sozialarbeiterinnen und drei Gehälter von Sozialarbeiterinnen, ohne deren engagierten Einsatz die erfolgreiche Sozialarbeit in den Flüchtlingslagern unmöglich wäre. Falls sie denn nach ihrer Heirat dabei bleiben, ist das eine Chance für Frauen.

Welche Konflikte ergeben sich, wenn Menschen auf solch engem Raum zusammenleben?

Der beengte Lebensraum und die Arbeitslosigkeit suchen häufig ein Ventil in häuslicher Gewalt oder im Drogenmissbrauch. Verschiedene NGOs versuchen hier, mit ihren Programmen zu helfen.

Welche Hilfen werden durch die UNRWA und die NGOs geleistet? Wie verhält sich der libanesische Staat?

Neben der materiellen Unterstützung von Familien, die über kein Einkommen verfügen, ist die UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, für die schulische und medizinische Versorgung und für die Infrastruktur in den Lagern zuständig. Die UNRWA ist abhängig von freiwilligen Zuwendungen der Staatengemeinschaft. Neben der UNRWA und dem Palästinensischen Roten Halbmond versucht eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen, in den Bereichen soziale Betreuung, Kindergärten, Gesundheitsversorgung, Frauenarbeit und Berufsbildung zu helfen. Dazu gehört auch NISVCT, unterstützt von «Flüchtlingskinder im Libanon» und anderen NGOs aus aller Welt. Den palästinensischen Flüchtlingen, vor allem den Kindern, eine Perspektive zu geben, ist das Ziel. Der libanesische Staat betrachtet die Anwesenheit der Palästinenser als Sicherheitsrisiko und will deshalb die Lager aufrechterhalten.

Aus aktuellem Anlass kommen ja immer mehr palästinensische Flüchtlinge aus Syrien. Wo leben diese?

Offiziell sind die Grenzen für syrische Flüchtlinge seit 2014 dicht. Auch Palästinenser aus Syrien sind vor dem Krieg geflohen. Viele sind illegal im Land, weil sie ihre Visa nicht bezahlen können. Viele haben Zuflucht gesucht in den bereits überfüllten Palästinenserlagern. Jede registrierte Familie erhält von der UNRWA Geld für Unterkunft und Verpflegung, soweit Spendengelder vorhanden sind.

Wie sehen Sie die Zukunft der Menschen in den Flüchtlingslagern? Wie sehen die Menschen diese für sich selbst?

«I will travel to you!» Darin steckt der Wunsch der Mutter meines Patenkindes, der Armut und Beschränktheit ihres Lebens zu entkommen. Ohne Hoffnung zu leben, das geht nicht. So träumt man von der Rückkehr in die Heimat der Vorfahren, allgegenwärtig in den Bildern vom Felsendom. Doch bei den Autonomie-Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern bleiben die 48er-Flüchtlinge aussen vor. Resignation und Verzweiflung wachsen und damit auch der Einfluss fundamentalistischer Gruppierungen. Da ein Kurswechsel der libanesischen Regierung nicht in Sicht ist, gibt es auch von dieser Seite wenig Anlass zur Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Palästinenser. Meine Besuche – ein Tropfen auf den heissen Stein – sie geben aber doch ein Zeichen dafür, nicht ganz vergessen zu sein.

Frau Mutschler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch und wünschen Ihnen und Ihrer Organisation weiterhin viel Kraft und Erfolg.

Interview Judith Schlenker

 

Das Land soll dem Leben dienen, nicht dem Profit

hhg. «Brot für alle», «Fastenopfer» und «Partner sein» haben für das Jahr 2017 das Problem «Landgrabbing» zum Anlass genommen, ein umfassendes Nachdenken über die Bedeutung der fruchtbaren Erde für die menschliche Existenz anzuregen. «Das Land soll dem Leben dienen, nicht dem Profit», so der Kerngedanke, nachvollziehbar in den Worten von Nokwanele Biko aus Südafrika: «Ich lebte 30 Jahre lang auf der Sandawana Farm (…). Hier werden Zitronen und Orangen angebaut. Damals stellte mich der Grossgrundbesitzer ein. Dann verkaufte er die Farm im Juni 2014. Der neue Besitzer wollte das ganze Land zum Anbau nutzen, auch das, wo unser Haus drauf steht. Alle Angestellten wurden daraufhin vertrieben. Jetzt wohnen wir im Haus meiner Schwester. Wir haben keinen anderen Ort, wo wir hingehen können. Wenn wir unser eigenes Stück Land hätten, wäre uns das nicht passiert.»

Ein besonderes Anliegen der Hilfswerke ist es, Kindern und Jugendlichen – der künftigen tragenden Generation – die Bedeutung unserer fruchtbaren Erde für die menschliche Existenz näherzubringen und sie in ihrem Gefühl für Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit zu stärken. In der Broschüre «lernen 2017» findet man dazu geeignete Unterrichtsmaterialien und für Kindergarten, Unter-, Mittel- und Oberstufe dem Alter entsprechende Vorschläge für den Unterricht. So erfahren und erleben schon die Kleinen, dass Lebensmittel, die ihre Mütter im Laden kaufen, gute Erde brauchen, um gedeihen zu können. Damit alle Kinder genug zu essen haben, braucht es für alle Menschen auf unserer Welt einen guten Boden. Altersentsprechend werden Kinder und Jugendliche in die Thematik des Landgrabbing eingeführt und gleichzeitig ermutigt, «das erworbene Wissen einzusetzen und eine konkrete Aktion zugunsten von betroffenen Menschen auf die Beine zu stellen». Während die Jüngeren Samenkugeln für den Basar herstellen, haben die Älteren die Gelegenheit beim Rosenverkauf für die Hilfswerke mit den Passanten über das Thema Landgrabbing ins Gespräch zu kommen – so der Vorschlag in «Lernen 2017». Unseren Kindern und unserer Jugend die Augen über unsere Landesgrenzen hinaus in die Welt zu öffnen, ihr Gefühl der Mitverantwortung für die Fernen und Fernsten zu stärken und ihnen den Mut zum Handeln weiterzugeben ist genau das, was kommende Generationen als Grundlage für ein gutes, erfülltes Leben brauchen werden.

Weltweite Landkäufe nehmen an Ausmass und Umfang zu

Über den Bericht der Land-Matrix-Initiative «International Land Deals for Agriculture. Fresh insights from the Land Matrix: Analytical Report II», 2016*

von Judith Schlenker

In Folge der Welternährungskrise im Jahr 2008 gingen viele Investoren dazu über, in Entwicklungsländern Ackerflächen aufzukaufen und zu bewirtschaften. Seit dem Jahr 2000 sind weltweit 26,7 Millionen Hektar Agrarfläche aufgekauft worden. 70 % der Fläche werden bereits bewirtschaftet. Diese Zahl hat sich allein seit dem Jahr 2012 verdoppelt, und die Produktionsfläche hat sich von 1,7 Millionen Hektar auf 6,4 Millionen Hektar vergrössert. Dabei spielt die Nahrungsmittelproduktion nach wie vor eine grosse Rolle. Die am häufigsten angebauten Pflanzen sind Ölpalmen, Getreide wie Mais und Weizen sowie Rohrzucker. Afrika ist nach wie vor das bedeutendste Zielland (42 % aller Landkäufe mit einer Gesamtfläche von 10 Millionen Hektar), wobei sich die aufgekauften Ländereien entlang grosser Flüsse und in Ostafrika konzentrieren. Die zweitwichtigste Zielregion ist inzwischen Osteuropa geworden, gefolgt von Südostasien. Indonesien, die Ukraine, Russland, Papua-Neuguinea und Brasilien sind hierbei die Top 5 der Zielländer.
 
Weltweite Landkäufe

 

Die Land-Matrix-Initiative sammelt Daten zum Ausmass dieser global stattfindenden «Land Deals», d. h. des grossflächigen Landerwerbs. Sie wird unterstützt von internationalen Organisationen der Entwicklungspolitik und -forschung, darunter die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, die Europäische Kommission, das Französische Aussenministerium und die schweizerische Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA). Die Land-Matrix-Initiative hat es sich zur Aufgabe gemacht, für mehr Transparenz und Nachvollziehbarkeit im Bereich dieser Landkäufe zu sorgen, und arbeitet dazu mit globalen und regionalen Partnern vor Ort zusammen.

Private Investoren profitieren

Das Ausmass dieser Landkäufe ist erschreckend, zumal die Verlierer dieses Griffes nach ihrem Land die örtlichen Bauern sind, für die das fruchtbare Land für immer verloren ist. Aber wo Profit im Vordergrund steht, spielt der Mensch keine Rolle. So ist es auch nicht verwunderlich, dass der Privatsektor die Geschäfte dominiert: 40 % aller abgeschlossenen Landkäufe mit mehr als 45 % der vertraglich vereinbarten Fläche werden von privaten, d. h. nicht börsenkotierten Investoren beherrscht. Diese Investoren interessieren sich vor allem für Land in Afrika sowie Mittel- und Südamerika. Börsenkotierte Unternehmen machen weitere 30 % der Landkäufe aus (mit 32 % der Fläche). Diese konzentrieren sich stärker auf Asien und Osteuropa.

Auf der Seite der Investoren sind die fünf grössten Landkäufer Malaysia, die USA, Grossbritannien, Singapur und Saudi-Arabien. Ihnen gehören 45 % der vertraglich vereinbarten Grundstücke. Westeuropäische Länder (an der Spitze die Länder Grossbritannien, die Niederlande, die Steueroase Jersey und Zypern) mit ihren 315 Landkäufen und einer Fläche von fast 7,3 Millionen Hektar sind die grösste Investorenregion, gefolgt von Südostasien.

Hauptzweck dieser Landkäufe ist bei den Investoren die Nahrungsmittelproduktion. Daneben bauen asiatische Investoren Ölpalmen und Kautschuk an, die britischen und indischen Treibstoffpflanzen. Insbesondere die Staaten mit schlechten landwirtschaftlichen Bedingungen scheinen Land für den Anbau von Nahrungsmitteln zu erwerben, damit die jeweiligen Regierungen in Zukunft die Ernährungssicherheit für ihre eigene Bevölkerung gewährleisten können.

Lokale Bevölkerung benachteiligt

Bei der Auswertung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Auswirkungen dieser Landnahmen zeigt sich oftmals eine Benachteiligung der lokalen Bevölkerung. Auf mehr als 50 % der Fläche wurde vor dem Landkauf von der örtlichen Bevölkerung bereits Ackerbau betrieben. In diesen Gebieten ist auch die Bevölkerungsdichte relativ hoch, was unausweichlich zu einem verstärkten Konkurrenzkampf ums Land, zu vermehrten Konflikten und zum Verlust des Lebensunterhaltes für die ansässigen Gemeinschaften führt. Nicht selten resultiert aus dem Verkauf der Ländereien auch eine «freiwillige» oder erzwungene Vertreibung der örtlichen Bevölkerung. Dort, wo durch Abholzung von Wäldern für kommerzielle Plantagen die Ökosysteme gestört werden, sind die ökologischen Auswirkungen nicht zu unterschätzen.

Fast die Hälfte aller verkauften Gebiete befand sich früher im Besitz von kleinen Gemeinden. Diese erhalten zwar Entschädigungszahlungen, verlieren aber den Zugang zu ihrem Land, das sie seit jeher bewirtschaftet haben. Viele Projekte versprechen bei Abschluss der Verträge zwar eine verbesserte soziale Infrastruktur (Bauen von Schulen und Gesundheitseinrichtungen) und machen Hoffnung auf mehr Arbeitsplätze, was sich aber durch die Zahlen von Land-Matrix nicht bestätigen lässt. Im Gegenteil lassen die Zahlen auf die Vorherrschaft kapitalintensiver Produktionsmethoden und damit auf begrenzte Möglichkeiten zur Schaffung von Arbeitsplätzen auf dem Land schliessen. Was die Auswirkungen auf die Umwelt angeht, ist der Anstieg der Wasserknappheit Grund zu grosser Sorge.

Die Land-Matrix Initiative will in den kommenden Jahren noch enger mit den regionalen Partnern und Netzwerken zusammenarbeiten und Informationen sammeln und bündeln. «Letztlich wollen wir diese Informationen nutzen, um zu gerechteren Entscheidungsprozessen beizutragen, indem wir jene Projektbeteiligten mit einer schwächeren Stimme bei Verhandlungen und Entscheidungsprozessen zum Landerwerb unterstützen», ist das Fazit der Land-Matrix. Man kann nur hoffen, dass diesen Worten auch Taten folgen. Investoren haben viel zu gewinnen, insbesondere in Ländern mit schwachen Regierungen, in denen die Menschen nicht die Möglichkeit haben, ihre Rechte einzufordern. Die lokalen Bauern sind immer die Verlierer. Das Menschenrecht auf Nahrung kann nur mittels gesicherter Landrechte durchgesetzt werden. Diese dienen auch der Armutsbekämpfung sowie dem Schutz natürlicher Ressourcen und der biologischen Vielfalt.

* Eine englische pdf-Version des Berichts gibt es unter www.landmatrix.org

Künftige Schweizer Agrarpolitik: Bundesrat ist auf dem falschen Weg

Pressemitteilung der Schweizerischen Vereinigung für einen starken Agrar- und Lebensmittelsektor SALS

Die Schweizerische Vereinigung für einen starken Agrar- und Lebensmittelsektor wehrt sich vehement gegen die Ideen des Bundesrates zur künftigen Schweizer Agrarpolitik. Der Bundesrat will, ohne jeglichen Druck von aussen, die Liberalisierung des Agrarsektors vorantreiben, indem er den Grenzschutz abbaut. Er bedient sich der Landwirtschaft als blosses Tauschmittel, um Freihandelsabkommen auszuhandeln. Dadurch gewichtet er den Nutzen einiger Industriezweige höher als das kollektive Wohlergehen der Schweizer Bevölkerung.

Angemessener Grenzschutz für den Agrar- und Lebensmittelsektor

Die SALS-Schweiz weist darauf hin, dass sie den Freihandel nicht grundsätzlich ablehnt. Doch aufgrund der Besonderheiten des Agrar- und Lebensmittelsektors ist ein Grenzschutz für diesen Sektor unerlässlich. Die Schweizer Landwirte sind mit weniger günstigen natürlichen Bedingungen konfrontiert: Die Parzellen befinden sich oftmals in Hanglagen, sind von kleiner bis mittlerer Grösse und viele liegen im Berggebiet. Hinzu kommen die hohen Kosten für die Arbeitskräfte und die Infrastruktur. Die Schweizer Landwirte verfügen im Wettbewerbskampf mit ihren ausländischen Kollegen nicht über gleichlange Spiesse. Durch einen angemessenen Grenzschutz können diese ungleichen Kräfteverhältnisse ausgeglichen werden.

Freihandel im Lebensmittelbereich bringt keine Vorteile für die Konsumenten

Bei einigen landwirtschaftlichen Rohstoffen – wie Getreide – haben die Schweizer Landwirte grosse Mühe, ihre Produkte abzugrenzen und sie auf einem liberalisierten Markt zu einem höheren Preis abzusetzen. Für die Herstellung von stark verarbeiteten Produkten sind vor allem die technischen Eigenschaften der landwirtschaftlichen Rohstoffe  massgebend. Dennoch gibt es entscheidende Unterschiede, welche die Konsumenten und die Bevölkerung nicht ausser Acht lassen sollten. Kürzlich zeigte eine vom Waadtländer Bauernverband Prométerre durchgeführte und im Westschweizer Fernsehen vorgestellte Studie, dass Produkte aus Schweizer Getreide keine Rückstände von Glyphosat enthalten – ganz anders sieht es bei ausländischem Getreide aus. In der Schweiz ist der Einsatz von Glyphosat stark reglementiert und der Grenzschutz ermöglicht, Glyphosat-freies Schweizer Getreide zu bevorzugen. Dieses Vorgehen kommt letztlich den Konsumenten zugute, denn sie kommen in den Genuss von Produkten, die höheren Standards entsprechen wie beispielsweise im Bereich des Tierschutzes. Durch Freihandelsabkommen entstehen keine Verbesserungen für die Konsumentinnen und Konsumenten. Der durchschnittliche Schweizer Haushalt gibt  gemäss Bundesamt für Statistik weniger als 7% seiner Ausgaben für Nahrungsmittel aus. Die Schweiz zählt somit weltweit zu den Nationen, die am wenigsten für Nahrungsmittel ausgeben.

Internationale Lage schürt Ungewissheit

Die aktuelle internationale Lage ist geprägt von grosser Ungewissheit. Einige Länder verschreiben sich verstärkt dem Protektionismus, und dies nicht nur in der Landwirtschaft. Es besteht keinerlei internationaler Druck, der die Schweiz zu einer weiteren Liberalisierung des Agrar- und Lebensmittelsektors zwingt. Die internationale Lage mit einer globalen Instabilität sollte den Bundesrat vielmehr dazu antreiben, eine Ernährungssicherheitsstrategie umzusetzen, die in erster Linie auf einer inländischen Produktion basiert, anstatt die Schweizer Landwirtschaft durch Freihandelsabkommen zu gefährden.

Bern, 21. Juni 2017

Auskunft: Hans Jörg Rüegsegger,
Präsident SALS-Schweiz, Riggisberg, 079 393 87 50

David Rüetschi, Generalsekretär SALS-Schweiz, Lausanne,
079 677 82 12

«Wollen wir eine Luftwaffe und damit eine Schweizer Armee, die unsere Unabhängigkeit, Souveränität und Neutralität schützt, Ja oder Nein?»

«Bis 2030 müssen wir die Luftwaffe erneuert haben»

Interview mit Nationalrat Jakob Büchler

Seit der Ablehnung des Kampfflugzeuges Gripen in der Volksabstimmung vom Mai 2014 durch 53,4% der Abstimmenden ist es mit der Luftverteidigung der Schweiz und den luftpolizeilichen Aufgaben schlecht bestellt. Wenn die Schweiz die Lufthoheit über ihr eigenes Territorium behalten möchte und damit weiterhin die Souveränität des Landes aufrechterhalten will, dann braucht sie eine einsatzfähige und für die Erfordernisse der Luftverteidigung ausgerüstete moderne Luftwaffe. Mit dem Nein zum Gripen ist eine gefährliche Lücke entstanden, die der Bundesrat jetzt mit einer Nachrüstung des in die Jahre gekommenen F/A-18 Kampfflugzeugs vorübergehend zu schliessen versucht. Doch das wird kaum reichen. Die Anzahl der Kampfflugzeuge ist zu klein, um lückenlos den Luftraum überwachen und im Notfall auch über einen längeren Zeitraum verteidigen zu können. Die Luftwaffe wird damit zu einer weiteren Schwachstelle in der Armee.

Die vor drei Wochen losgetretene Diskussion über die Beschaffung eines neuen Kampfjets, wenn der F/A-18 endgültig verschrottet werden muss, zeigte, welche Prominenz das Thema geniesst und mit wie viel Unsachlichkeit die Diskussion geführt wird. Nationalrat Jakob Büchler ist ausgewiesener Sicherheitspolitiker, der schon manchen Abstimmungskampf und manche Debatte im Nationalrat erlebt hat. Wie er die Diskussion über ein neues Kampfflugzeug und die Aufrüstung des F/A-18 beurteilt, legt er im folgenden dar.

 

Nationalrat Jakob Büchler (Bild thk)

Nationalrat Jakob Büchler (Bild thk)

 

Zeitgeschehen im Fokus In der zweiten Sessionswoche hat der Nationalrat der Nutzungsverlängerung für den F/A-18 zugestimmt. Ist das aus verteidigungspolitischer Sicht sinnvoll?

Nationalrat Jakob Büchler Diese Verlängerung ist absolut sinnvoll und nötig. Die F/A-18 haben 5000 Flugstunden Lebenserwartung, wenn man es so ausdrücken möchte. Unsere Flugzeuge erreichen jetzt dieses Alter, und wenn wir den F/A-18 jetzt nicht aufrüsten, müsste man ihn früher aus dem Verkehr ziehen, das heisst in etwa drei bis vier Jahren. Ab dem Zeitpunkt wären wir ohne Luftwaffe. Nach dem Nein zum Gripen haben wir ohnehin schon eine geschwächte Luftwaffe, und mit der Nutzungsverlängerung können wir längstens bis 2030 fliegen. Bis dahin müssen wir die Luftwaffe erneuert haben, damit wir die Lücke schliessen können. Das ist ganz wichtig.

Wie lief die Abstimmung im Nationalrat?

Eine klare Mehrheit hat der Nachrüstung zugestimmt. Teile der Linken und Grünen waren dagegen, was zu erwarten war. Aber es ist durchgegangen, und es ist anzunehmen, dass der Ständerat hier ebenfalls zustimmt.

Es ging doch auch noch darum, ob man den F/A-18 für den Erdkampf ausrüstet. Wie war hier der Entscheid?

In der Kommission wurde diese Forderung gestellt, aber in der Botschaft des Bunderats ist davon nichts gestanden. In der Kommission wurde der Zusatz sehr knapp angenommen mit 10 zu 11 Stimmen bei drei Enthaltungen. Im Parlament hatte diese Forderung aber keine Chance gehabt, weil die Umrüstung auf Erdkampftauglichkeit ebenfalls nochmals 8 bis 10 Jahre dauert, und dann ist es zu spät.

Warum braucht das so viel Zeit?

Das bräuchte eine Anpassung der Software, zusätzlich bräuchte es eine umfassende Ausbildung der Piloten. Wenn ein Pilot dafür nicht ausgebildet ist, kann er das nicht einfach. Das muss man erst lernen, dann üben und eintrainieren. Üben könnten wir das nur am Simulator und im Ausland. Der Aufwand wäre also sehr gross.

Hat die Schweiz je Flugzeuge gehabt, die erdkampffähig waren?

Ja, der Hunter war dazu in der Lage. Seit 1994 haben wir kein Kampfflugzeug mehr gehabt, das erdkampffähig gewesen wäre. Der Gripen wäre es gewesen und in diesem Zusammenhang entstand die Idee, man könnte den F/A-18 für den Erdkampf ausrüsten. Das hätte 20 Millionen Franken gekostet. Aber der Ständerat hat bereits signalisiert, diesen Vorstoss nicht zu unterstützen.

Warum wäre es sinnvoll, wenn die Schweizer Kampfflieger erdkampftauglich wären?

Die Diskussion haben wir auch in der Kommission geführt. Viele haben eine falsche Vorstellung darüber, was Erdkampf bedeutet. Da geht es nicht darum, Städte zu bombardieren wie im Zweiten Weltkrieg und diese dem Erdboden gleich zu machen. Man kann mit dem Erdkampfflugzeug gezielte punktuelle Angriffe machen. Man verwendet gezielte Lenkwaffen. Wenn die Schweiz vom Ausland mit Raketen beschossen würde, was theoretisch möglich ist, könnte man diese Abschussrampen nicht mit der Artillerie ausschalten, weil die Distanz zu gross ist, aber mit Erdkampflenkwaffen könnte man sie zerstören.

Der Vorstoss blieb im Parlament chancenlos?

Ja. Das ist aber auch nicht weiter tragisch, schon allein deswegen nicht, weil es 10 Jahre gedauert hätte, bis es möglich gewesen wäre. Grundsätzlich hätte es eine Erhöhung der Feuerkraft der Schweiz bedeutet, da die Artillerie zu schwach ist, und wir in der Schweiz auch keine Möglichkeit haben, das zu üben. Es ist im Moment auch nicht so aktuell. Wichtig ist, dass wir eine Luftwaffe haben, die im Verteidigungsfall zur Verfügung steht und für die luftpolizeilichen Aufgaben eingesetzt werden kann. Nur so kann unsere Armee ihren Verfassungsauftrag erfüllen.

Herr Nationalrat Büchler, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

«Wollen wir unser Land autonom verteidigen?»

Interview mit Nationalrat Jakob Büchler

Zeitgeschehen im Fokus In den letzten Wochen gab es bereits eine heftige Diskussion über die Beschaffung eines neuen Kampfflugzeugs für die Schweizer Armee. Ist diese Diskussion zu diesem Zeitpunkt sinnvoll?

Nationalrat Jakob Büchler Die Diskussion, die hier geführt wird, kommt vier Jahre zu früh. Eine ausserparlamentarische Gruppe hatte einen Bericht abgeliefert. Sie hatte den Auftrag, das Konzept für die Schweizer Luftwaffe zu überdenken. Diesen Auftrag hat sie erfüllt und ihren Bericht vorgelegt. Der umfasst 200 Seiten, ist sehr umfangreich und enthält verschiedene Varianten, wie die zukünftige Luftwaffe zu gestalten sei. Das war für die Presse Grund genug, eine hitzige Debatte loszutreten, obwohl wir noch ganz in den Anfängen dieser Abklärungen stehen. Das Parlament wird die Debatte frühestens im Jahre 2022 darüber führen, ob ein neues Kampfflugzeug eingeführt wird oder nicht. So sieht es zumindest der Fahrplan des Bundesrates vor.

Es ist also völliger Leerlauf, jetzt schon darüber zu diskutieren?

Was im Jahre 2022 wirklich gekauft wird, obliegt zunächst dem Bundesrat. Er muss entscheiden, welcher der diskutierten Flugzeugtypen für unser Land in Frage kommt. Beim letzten Geschäft standen drei zur Auswahl: der Eurofighter, der Raffale und der Gripen. Bundesrat Maurer hat sich damals für den Gripen entschieden. Über die anderen wurde nicht mehr diskutiert. Heute sind wir aber noch lange nicht so weit. Wir sind Jahre davon entfernt.

Wie geht es jetzt weiter?

Jetzt muss das VBS (Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport) die Vorevaluation durchführen. Dafür wurde auch das nötige Geld vom Rüstungsprogramm gesprochen. Diese Vorevaluation muss der Bundesrat durchführen. Er entscheidet dann, welcher Typ in Frage kommt, und nicht das Parlament. Die strategische Aufgabe liegt beim Bundesrat, der muss sagen, welches Kampfflugzeug das geeignetste für die Schweiz ist. Das Parlament und allenfalls das Volk können dann den Vorschlag annehmen oder ablehnen. Darüber zu diskutieren, ob es der Raffale oder ein amerikanischer oder ein schwedischer Flieger ist, ist nicht die Aufgabe des Parlaments.

Das heisst, dass eine Debatte darüber völlig unsinnig ist.

Ja, das VBS muss entscheiden, ob es ein Opel, ein Kia oder ein Toyota sein soll. Wenn der Bundesrat sich für einen Typ entschieden hat, dann reden wir darüber. Jetzt über die einzelnen Typen zu diskutieren ist völlig falsch.

Wie ist das Vorpreschen einzelner Medien in dieser Frage zu verstehen?

Ich werde den Verdacht nicht los, dass sie das Projekt erneut zum Absturz bringen wollen. Man redet es schlecht, man schreibt es schlecht, es sei viel zu teuer oder unnötig. Diese Gefahr besteht. Aber die politische Weltlage hat sich seit der Gripen-Abstimmung zunehmend verdüstert, und ich hoffe, dass die Menschen selbst denken und ihre Schlüsse daraus ziehen.

Was geschieht, wenn der F/A-18 aus dem Verkehr genommen wird?

Dann stehen wir vor der Grundsatzfrage: Wollen wir eine Luftwaffe und damit eine Schweizer Armee, die unsere Unabhängigkeit, Souveränität und Neutralität schützt, Ja oder Nein? Die Gripen-Abstimmung war die Ablehnung dieses Flugzeugtyps. Wenn wir erneut vor dieser Frage stehen, geht es im Grundsatz darum, wollen wir unser Land autonom verteidigen können, Ja oder Nein?

Wenn wir bis 2024 keine Zusage für einen neuen Flieger haben und der F/A-18 verschrottet werden muss, dann ist die Schweiz ohne Luftwaffe.

Wer entscheidet, wann ein Flieger durch den Schredder muss?

Das sagt weder das VBS noch das Parlament, sondern der Hersteller gibt die Garantie. Der Hersteller kann es sich nicht leisten, verantwortlich dafür zu sein, dass wie früher beim Starfighter jeden Monat einer vom Himmel fällt.

Bei der Wahl eines neuen Fliegers sollte man auch einen russischen oder chinesischen ins Auge fassen?

Die Frage ist wichtig, denn die Medien stellen sie. Die Frage zeigt ganz deutlich, dass wir schon bei der Kompetenz des Bundesrates sind. Der Bundesrat muss das sauber darlegen und dann entscheiden, welches Flugzeug für uns in Frage kommt. Man kann für oder gegen die Chinesen sein. Der Bundesrat muss sauber abwägen und auf Fragen dazu eine Antwort geben können. Wir müssen uns darauf verlassen können, dass das sauber geklärt wird.

Wenn das Parlament mitentscheiden würde, gäbe es Endlosdiskussionen, denn die einen wollen diesen, die andern jenen und andere wiederum keinen.

Aber aus der Sicht unseres Landes wäre es doch sinnvoll, dass alle möglichen Typen geprüft werden, damit wir am Schluss den besten für unser Land haben?

Ich würde in dem Sinn eine Einschränkung machen, ob der Anbieter bereit ist, sogenannte Kompensationsgeschäfte für unsere Rüstungsindustrie zu ermöglichen. Ich glaube nicht, dass die Chinesen auf solch einen Handel eingehen. Beim Gripen war es damals ganz klar, es gibt Kompensationsgeschäfte. Diese hat es damals beim F/A-18 auch gegeben und das ist ein ganz wichtiger Faktor für unsere Rüstungsindustrie, aber auch für unsere Industrie ganz allgemein, dass sie so an Aufträge herankommen, die primär nicht Rüstungsgüter sein müssen. Kompensationsgeschäfte sind ein wichtiger Aspekt und müssen gleichmässig im Land verteilt werden, damit es zu keinen Benachteiligungen führt.

Herr Nationalrat Büchler, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Stopp der Schliessung von Drittverkaufsstellen durch die SBB

Interview mit Nationalrat Jakob Büchler

Seit dem Beginn der 90er Jahre wollen gewisse Wirtschaftskreise, besonders in Europa, aber auch in Asien oder Afrika, die Politik vom Segen der Privatisierung überzeugen. Möglichst alles, was noch in staatlicher Hand ist, soll in private Hände gegeben werden. Das beginnt bei der Wasserversorgung und endet beim öffentlichen Verkehr. In manchen Ländern vollziehen sich diese Schritte relativ schnell, weil in parlamentarischen Demokratien nur die Abgeordneten darüber entscheiden und nicht wie bei uns in der Schweiz das Volk auch gefragt werden muss. Aufgrund dieses Umstandes konnte die Bevölkerung einiges verhindern, was sonst nicht mehr in der öffentlichen Hand wäre. Dazu gehören die Stromversorgung oder auch die öffentlichen Verkehrsmittel. Das Beispiel England, das sein Eisenbahnwesen privaten Firmen übergeben hat, die zum Beispiel Schienennetz und Rollmaterial völlig verwahrlosen liessen oder Nebenstrecken stilllegten, um kurzfristig Geld zu sparen und um die Anleger mit einer lukrativen Dividende zufrieden zu stellen, zeigt, wohin dieser Weg führen kann. Auch wenn die Schweiz als direktdemokratisches Land die Möglichkeiten besitzt, unsinnige und rein auf Gewinn ausgerichtetes Vorgehen zu stoppen, ist unser Land leider auch nicht vor unheilvollen Entwicklungen gefeit. Dazu gehören unter anderem die Schliessung kleiner Bahnhöfe und das Ersetzen von Schaltern durch Billettautomaten. Dagegen haben sich einzelne Personen gewehrt, indem sie auf privater Basis in Bahnhöfen Verkaufsstellen weitergeführt und sich in der «Interessensgemeinschaft Stationshalter» organisiert haben. Präsident der IG-Stationshalter ist Nationalrat Jakob Büchler, der mit einer Motion in der letzten Session versucht, die von der SBB angedrohte Schliessung sogenannter Drittverkaufsstellen zu verhindern. Welchen Hintergrund seine Motion hat und wie er versucht, einen weiteren Abbau des Service public zu verhindern, legt er in folgendem Interview dar.

Heute kann man in diesem Kiosk leider keine SBB-Billette mehr erwerben. Es gibt keine Zusammenarbeit mehr mit der SBB. (Bild thk)

Heute kann man in diesem Kiosk leider keine SBB-Billette mehr erwerben. Es gibt keine Zusammenarbeit mehr mit der SBB. (Bild thk)

 

Zeitgeschehen im Fokus Der Nationalrat hat zwei Motionen angenommen, die beide einen Stopp der Schliessung von Drittverkaufsstellen verlangen. Was muss man sich unter Drittverkaufsstellen vorstellen?

Nationalrat Jakob Büchler Es gibt etwa 52 Drittverkaufsstellen in der Schweiz, das sind Migrolino, Avec, usw., die für die SBB-Billette verkaufen. Diesen Verkaufsstellen wollten die SBB diese Möglichkeit entziehen.

Mit welcher Begründung?

Es geht um Sparmassnahmen. Man will damit angeblich Geld sparen. Als Präsident der IG Stationshalter habe ich das genaustens verfolgt und eine Motion eingereicht, die diese Schliessung für 5 Jahre einfriert. Die Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen des Nationalrats (KVF) hat mich unterstützt mit einem zusätzlichen Moratorium, das bis 2020 gelten soll. Drei Jahre dürfen keine Drittverkaufsstellen geschlossen werden. Es ist schlicht zu früh, diese Stellen jetzt zu schliessen. Die SBB läuft schneller, als die Musik den Takt vorgibt.

Wie hat Doris Leuthard darauf reagiert? Die SBB ist doch ihr Ressort.

Ich habe mit ihr gesprochen. Es wurde betreffend den Erhalt der Verkaufsstellen eine Petition eingereicht mit 32 000 Unterschriften. Die Menschen verlangen, dass man diese nicht schliessen soll. 32 000 Unterschriften darf man nicht einfach übergehen. Der ganze Vorgang dieser Schliessungen muss nochmals überdacht werden.

Was ist der Vorteil, wenn diese Verkaufsstellen erhalten bleiben?

Es sind vor allem die älteren Menschen, die gerne einmal in den Zug steigen. Aber das ist doch genau die Generation, die mit der Elektronik wenig vertraut ist. Für diejenigen ist es ganz wichtig, dass sie ihr Billet am Schalter kaufen können und nicht am Billettautomaten scheitern. Im schlechtesten Fall greifen sie aufs Auto zurück und fahren nicht mit dem Zug. Die SBB müsste ein ureigenes Interesse haben, die Drittverkaufsstellen nicht zurückzufahren, da diese ihre Produkte verkaufen. Es ist unverständlich, dass man hier im gleichen Stil wie bei der Poststellenschliessung argumentiert, es rentiere sich nicht, und somit werden die Stellen geschlossen. Das ist etwas kaltschnäuzig.

Der Nationalrat hat also Ihre Motion angenommen …

ja, aber es wurde auch die Kommissionsmotion überwiesen, die immer etwas mehr Gewicht hat als eine Einzelmotion. Da meine Motion ein ähnliches Begehren beinhaltet, sind gerade beide behandelt worden. Die Motionen sind vom Nationalrat angenommen worden, und ich bin froh, dass das Parlament ein Zeichen gesetzt hat und dem Vorgehen der SBB ein Riegel geschoben wird. Jetzt muss der Ständerat darüber befinden.

Wo ist der Unterschied zwischen Ihrer Einzelmotion und der Kommissionsmotion?

Meine Motion hat ein Moratorium von 5 Jahren vorgesehen, die Kommissionsmotion wollte nur 3 Jahre. Ich kann damit leben, denn nach 3 Jahren kann man die Lage wieder neu beurteilen und allenfalls eine Verlängerung ins Auge fassen.

Warum haben wir dieses Vorgehen beim Service public?

Es ist eine allgemeine Haltung, die hier zum Tragen kommt: Rentiert es sich nicht mehr, wird es also abgeschafft. Post und Bahn sind aber Bundesunternehmen. Frau Leuthard hat gesagt, sie könne nicht in das operative Geschehen eingreifen. Das ist schön und gut, aber wenn das Parlament ihr den Auftrag gibt, dann muss sie das umsetzen. Sie soll das machen.

Wenn Frau Leuthard sagt, nur 1 % der Zug fahrenden Bevölkerung würde das Billett noch am Schalter kaufen, dann sollte sie einmal schauen, wie viele Menschen ihre Billette heutzutage noch am Schalter lösen. Die Menschen wollen sich beraten lassen können, welche Strecke die sinnvollste ist. Auch wenn sie es im Internet nachschauen, gehen sie am Ende an den Schalter und lösen dort das Billett.

Was ist das für eine Einstellung, die bei der SBB oder auch bei der Post deutlich wird?

Das ist das reine Wirtschaftlichkeitsdenken, was mich am meisten stört. Es geht nur noch darum, ob es rentiert, der Mensch spielt eine untergeordnete Rolle. Das ist unser Problem und leider nicht nur bei der SBB. Es gibt nur das Schwarz-Weiss-Denken. Entweder gibt es einen Gewinn, und sonst verzichten wir darauf. So kann eine Gesellschaft nicht funktionieren, wenn nicht der Mensch im Vordergrund steht. 

Herr Nationalrat Büchler, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Motion Jakob Büchler

Schliessung von SBB-Ticketstellen auf dem Land

EINGEREICHTER TEXT

Der Bundesrat wird beauftragt, der Bundesversammlung einen Vorschlag für eine Gesetzesänderung zu unterbreiten, die ein fünfjähriges Moratorium für die Weiterführung von Drittstellen der SBB ermöglicht.

Quelle: www.parlament.ch

 

Motion der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen NR

Moratorium für den Serviceabbau
bei den SBB-Drittverkaufsstellen

EINGEREICHTER TEXT

Der Bundesrat wird beauftragt, die SBB zu verpflichten, die Schliessung der 52 SBB-Drittverkaufsstellen aus zeitlichen Gründen bis 2020 auszusetzen. Damit bleibt genügend Zeit, die Strukturanpassungen mit möglichen Alternativen und Weiterführungen der SBB-Drittverkaufsstellen mit Unterstützung von weiteren Partnern der öffentlichen und privaten Hand aufzugleisen. In der kurzen Frist bis Ende 2017 lässt sich für potenzielle Partner sowie die betroffenen Kundinnen und Kunden keine technische Lösung realisieren, die allen Bedürfnissen gerecht wird. Für ein Moratorium spricht auch, dass die SBB einzelnen SBB-Drittverkaufsstellen bereits Entschädigungsangebote gemacht haben, die einen Bruchteil der heutigen Abgeltung ausmachen.

Quelle: www.parlament.ch

«Das Schweizer duale Bildungssystem fasste nach anfänglicher Skepsis in den Ländern immer mehr Fuss»

Pressekonferenz von DEZA und SECO über den Erweiterungsbeitrag für die EU

von Thomas Kaiser

Die Pressekonferenz, gemeinsam gestaltet vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit (DEZA), erlaubte einen Einblick in Fakten und Zahlen über die Verwendung des Erweiterungsbeitrages für die EU-10-Staaten, den die Schweiz in den letzten 10 Jahren zu deren Förderung eingesetzt hat. Dabei wurden insgesamt 210 Projekte umgesetzt. Die Schweiz übernimmt 85 % der dabei anfallenden Kosten, die übrigen 15 % wurden von den jeweiligen Partnerstaaten aufgebracht.

Gemeinsame Pressekonferenz von DEZA und SECO über den Erweiterungsbeitrag für die EU. (Bild thk)

Gemeinsame Pressekonferenz von DEZA und SECO über den Erweiterungsbeitrag für die EU. (Bild thk)

 

Botschafterin Elisabeth von Capeller, Vizedirektorin der DEZA, zeichnete ein überwiegend positives Bild über die Wirkung dieser Projekte. Sie betonte, dass sich der Einsatz sehr gelohnt habe und dass man zur Verbesserung der sozialen Verhältnisse vieler Menschen und zur Stabilität in den jeweiligen Ländern habe beitragen können. Sie sieht darin einen Solidaritätsbeitrag der Schweizer Bevölkerung, die 2006 in einer Volksabstimmung dem Einsatz des Erweiterungsbeitrages zugestimmt hatte.

Botschafter Raymund Furrer, Leiter des Bereichs wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung beim SECO, zog ebenfalls eine positive Bilanz über das Engagement der Schweiz und erklärte, dass die definierten Ziele der Projekte im Einzelfall sogar übertroffen wurden, was ein befriedigendes Gefühl gebe.

In den Bereichen, in denen die Oststaaten grosse Unterschiede zu den alten EU-Ländern aufwiesen, wurden von der Schweiz fünf Projektfelder definiert. Entsprechend einer Prioritätenliste investierte sie 39 % der Mittel in den Umweltschutz, 27 % in das Wirtschaftswachstum und für bessere Arbeitsbedingungen, 16 % in die Erhöhung der sozialen Sicherheit, 9 % in die Verbesserung der öffentlichen Sicherheit und 7 % in die Stärkung der Zivilgesellschaft sowie zur Förderung von Partnerschaften zwischen Schweizer und lokalen Institutionen. Übergeordnetes Ziel war, diese Projekte breiten Bevölkerungskreisen zugute kommen zu lassen.

Grösstes Engagement zeigte die Schweiz in Polen. Als das grösste der unterstützten Länder flossen fast die Hälfte des Betrags in Projekte dort, die breit gefächert waren: Vom Anschluss vieler Liegenschaften an das Kanalisationsnetz besonders in strukturschwachen Regionen – was einen entscheidenden Umweltbeitrag bedeutet – über die Entsorgung von mit Öl und Schwermetall verseuchten Böden, damit die Giftstoffe nicht in das Grundwasser gelangen, und über Ausbildung im Gesundheits- und Pflegebereich bis hin zur Vergabe von Mikrokrediten als Starthilfe für den Aufbau neuer Betriebe.

In verschiedenen Ländern hat sich die Schweiz auch im Bildungsbereich engagiert. Besonders das Schweizer duale Bildungssystem fasste nach anfänglicher Skepsis in den Ländern immer mehr Fuss. (vgl. Interview mit Siroco Messerli)

Bei der Organisation und Durchführung dieser Projekte orientierte man sich an den Grundsätzen Schweizerischer Entwicklungszusammenarbeit. Die Schweiz klärt die Bedürfnisse der Bevölkerung vor Ort ab, die dann auch für die Umsetzung der Projekte verantwortlich sind, und bringt sich dort mit ihren Fähigkeiten ein und gibt Unterstützung. Dadurch wird den Menschen in diesen Ländern ein hohes Mass an Eigenverantwortung übertragen. Im Gegensatz zur EU hat die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit immer ein Büro vor Ort, um die Projekte mit ihrem Know-how zu begleiten. Alle Projekte werden mit der jeweiligen Regierung abgesprochen. Sie ist zunächst für die Finanzierung verantwortlich. Sollte irgendetwas an der Umsetzung des Projektes problematisch sein, kann die Schweiz die Auszahlung verweigern. Bisher hat die DEZA erst in einem Fall wegen Unregelmässigkeiten bei einem Projekt einen Teilbetrag nicht zurückerstattet. Eine Leistungsbilanz, die sich zeigen lässt.

 

Mehr Gleichwertigkeit und weniger Anbiederung an die marode EU

thk. Das Engagement der Schweiz ist beeindruckend und wird von den Menschen in den unterstützten Ländern sehr geschätzt. Um so stossender ist es, wie die Schweiz von der EU häufig behandelt wird. Als nicht Mitglied der EU hat das Land keine Verpflichtung, den Erweiterungsbeitrag zu leisten. Es ist ein Zeichen der Solidarität und der Weltoffenheit, dort beizuspringen, wo es Unterstützung braucht. Man kann sich gelegentlich des Eindrucks kaum erwehren, dass unsere Regierung das vergisst, wenn sie mit Brüssel zu tun hat. Mehr Gleichwertigkeit und weniger Anbiederung an die marode EU wäre dringend geboten, besonders auch im Wissen, was die Schweiz für die EU alles leistet.

 

«Nicht zuletzt ist die duale Berufsbildung ein bewährtes Mittel gegen Jugendarbeitslosigkeit»

Interview mit Siroco Messerli*

Siroco Messerli (Bild thk)
Siroco Messerli (Bild thk)
Zeitgeschehen im Fokus Wie reagieren die Menschen in der Slowakei auf das Schweizer duale Bildungssystem, das sich von ihrem heutigen System unterscheidet?

Siroco Messerli Sie sind sehr interessiert. Ein Systemwandel bringt aber grosse Änderungen und erfordert ein Umdenken. Für private Firmen, und das sind wichtige Partner im dualen Bildungssystem, ist das häufig eine neue Erfahrung. Dass ein Lehrling im Betrieb drei, vier Tage arbeitet und dazu noch einen oder zwei Tage in die Schule geht, ist sehr ungewohnt.

 

 

Wie kann man die Firmen überzeugen?

Das ist die Kunst, wenn die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA-Berufsbildungsprojekte im Ausland umsetzt. Wichtig ist dabei, dass von Beginn an eine Vielzahl von Betrieben überzeugt werden kann, dass die duale Berufsbildung auch direkte Vorzüge für den Unternehmer hat. Sehr hilfreich sind dabei Schweizer Firmen vor Ort, da sie mit der Berufslehre vertraut sind. Das sind ja international tätige Firmen, die wiederum für die Einheimischen eine gewisse Anziehungskraft haben oder eine Vorreiterrolle übernehmen können.

Haben Sie auch Widerstand erlebt?

Ja, besonders bei den Berufsschulen, und das ist eine Altlast aus der Zeit des Kommunismus. Damals hat man vor allem sehr theoretisch unterrichtet und Auszubildende in den Sommerferien in ein Praktikum geschickt, in dem sie meist nur Handlangerarbeit ausgeführt haben. Man hat sie nicht direkt für den Beruf angeleitet. Die Schulen verharren teilweise bis heute noch in dem alten System. Die DEZA konnte aber mit dem Erweiterungsbeitrag in verschiedenen Staaten Osteuropas ein Umdenken auch in den Berufsschulen bewirken.

Wie haben Sie die Menschen überzeugen können?

Wir konnten aufzeigen, dass es für verschiedene Berufsgattungen einen Vorteil bietet, wenn die jungen Menschen möglichst nahe am Arbeitsmarkt ausgebildet werden. Nicht zuletzt ist die duale Berufsbildung ein bewährtes Mittel gegen Jugendarbeitslosigkeit. Das hat bis auf die Ebene der Ministerien das Interesse geweckt, was – wie zum Beispiel in der Slowakei – zu Reformen im Berufssektor geführt hat.

Welche Berufsgattungen waren davon betroffen?

In der Slowakei waren dies vor allem die typischen technischen Berufe wie z.B. das Baugewerbe und die Chemie- und Glas-Industrie, aber auch die Bäckerei- und Coiffure-Berufe. Es gibt sicher Berufe, bei denen die Umstellung einfacher ist. Auch hängt das Ganze von der Struktur des Arbeitsmarktes ab.

Junge Frauen in Ausbildung an der Berufsschule für Lebensmittelverarbeitung und Hoteldienstleistungen in Bratislava, dank dualer Berufsbildung werden die Lehrlinge gut auf den slowakischen Arbeitsmarkt vorbereitet.  © DEZA

Junge Frauen in Ausbildung an der Berufsschule für Lebensmittelverarbeitung und Hoteldienstleistungen in Bratislava, dank dualer Berufsbildung werden die Lehrlinge gut auf den slowakischen Arbeitsmarkt vorbereitet.  © DEZA

Könnten Sie das noch etwas genauer erklären?

Erfahrungsgemäss braucht es Unternehmen, die etwas grösser sind. Bei kleinen Unternehmen ist es teilweise auch in der Schweiz schwierig, sie zu überzeugen, einen Lehrling auszubilden. Grössere Firmen haben mehr Spielraum und können eher den Versuch wagen.

Sie haben nicht nur in der Slowakei die Einführung versucht...

... ja auch in Bulgarien, Kroatien, Rumänien und Zypern. Interessant ist, welche Dynamik entsteht, wenn der Privatsektor entdeckt, dass das ein sehr effizientes Modell ist. Der entscheidende Punkt ist immer der, ob der Privatsektor auch bereit ist, die Lehrlingslöhne zu zahlen. Wenn das akzeptiert wird, hat man es geschafft.

Die Jugendarbeitslosenquote in der Slowa­kei beträgt 20.4% (Stand Dezember 2016) im nationalen Durchschnitt. Viele Branchen bemängeln am Ausbildungs­system, dass es keinen hohen Praxisbezug aufweist und es schwierig ist, gut ausgebildete Arbeitskräfte zu finden. Die Schweiz unterstützt im Rahmen des Erweiterungsbei­trages ein Projekt, dessen Ziel es ist, mit der Bereitstellung von Schweizer Know-How in der Slowakei ein duales Bildungssystem nach schweizerischem Vorbild einzuführen. © DEZA

Die Jugendarbeitslosenquote in der Slowa­kei beträgt 20.4% (Stand Dezember 2016) im nationalen Durchschnitt. Viele Branchen bemängeln am Ausbildungs­system, dass es keinen hohen Praxisbezug aufweist und es schwierig ist, gut ausgebildete Arbeitskräfte zu finden. Die Schweiz unterstützt im Rahmen des Erweiterungsbei­trages ein Projekt, dessen Ziel es ist, mit der Bereitstellung von Schweizer Know-How in der Slowakei ein duales Bildungssystem nach schweizerischem Vorbild einzuführen. © DEZA

 

Inwiefern profitieren Schweizer Firmen von diesem Modell?

Der Vorteil liegt darin, dass man in einer Lehre, die ein strukturiertes Ausbildungsprogramm darstellt, einen Jugendlichen an seine Tätigkeit heranführt. Ein Lehrling der drei, vier Jahre in einer Firma gearbeitet hat, kennt die Interessen eines Unternehmens viel klarer. Er fühlt sich mit dem Unternehmen verbunden und versteht, dass die Qualität seiner Arbeit für die Firma wichtig ist. Ein Berufsschüler, der nur zur Schule geht ohne einen Bezug zu einem Betrieb, hat diesen Horizont nicht.

Wo sehen Sie den Unterschied?

Wenn ein Auszubildender «nur» eine Berufsschule abgeschlossen hat, kann er oder sie vielleicht schweissen, aber es fehlt der Bezug zu einem Betrieb und dessen Arbeit. Er oder sie weiss nicht, was ein Unternehmen ausmacht, das seine Produkte verkaufen will und dazu zufriedene Kunden braucht. Das müssen die jungen Menschen erst lernen. Es ist natürlich ein positiver Effekt für die Schweizer Firmen, welche bereits im Ausland tätig sind, wenn die jungen Menschen diese Einstellung mitbringen.

Der Privatsektor ist das eine, die staatliche Seite ist das andere. Wie funktioniert die Umstellung auf solche Berufsschulen? Hat es viel Überzeugungsarbeit gebraucht?

Ja, es braucht sehr viel Überzeugungskraft. Die Verwaltungen in diesen Ländern sind meist sehr zentralistisch. Die Slowakei bewegt sich hier im Mittelfeld. Es gibt noch Staaten, wo noch mehr Zentralismus herrscht. Dort gibt es häufig mehr Widerstand.

Wie geht man damit um?

Hier ist die Vorgehensweise der DEZA ein grosser Vorteil. Wir schauen die Dinge nicht nur technisch an. Wir schauen dahinter und suchen Menschen, die Veränderungen unterstützen und fördern wollen. Im Berufsbildungssektor muss man insbesondere den Privatsektor stark einbeziehen. Zum Beispiel in Rumänien hat die DEZA runde Tische eingerichtet, wo der Privatsektor und die Schulen an einem Tisch sassen.

Was war das Ziel dieser runden Tische?

Die staatlichen Schulen haben hier zum ersten Mal gehört, was der Privatsektor für Bedürfnisse hat. Das ist unser Prinzip, es kann nicht darum gehen, dass die DEZA sagt, was es braucht. Es gibt aber auch für den Privatsektor Dinge, die neu sind, z. B. dass man den Lehrmeister auch ausbilden muss. Das ist für sie nicht selbstverständlich. Es sind gestandene Berufsleute, die ihre Arbeit beherrschen, aber dass sie die Jugendlichen verstehen müssen und eine gewisse Ahnung von Methodik haben sollten, das ist ihnen neu.

Wie war die Berufsausbildung während des Kommunismus organisiert?

In allen sozialistischen Ländern hat man einmal grundsätzlich sehr gute Berufsschulen gehabt. Alle, die nicht in eine tertiäre Ausbildung gegangen sind, waren in einer Berufsschule. Niemand stand sozusagen am Ende seiner Schulzeit ohne Ausbildung da. Darauf hat man geschaut, das muss man unbedingt positiv anerkennen, sonst werden wir dem damaligen System nicht gerecht. Aber wie gesagt, man sass in der Schule ohne direkten Bezug zur Praxis, ausser in den Praktika.

Hat sich das nach der Wende geändert?

Die jungen Menschen sind häufig ohne Ausbildung in den Arbeitsmarkt eingetreten, zum Teil, weil die Berufsbildung oft ein negatives Image hatte. Für sie ist es heute sehr schwierig, da ihnen die Qualifikationen fehlen. Das muss man angehen, wenn man nicht noch mehr Arbeitslose haben will.

Warum engagiert sich die DEZA so stark im Bildungsbereich?

Berufsbildung ist ein wichtiges Thema, um vor Ort die Lebensperspektiven der jungen Menschen zu verbessern. Wir möchten die Jugendlichen stärken, damit sie einen Beruf ergreifen können. Jugendliche wollen Anerkennung im Leben, sie wollen einen Beruf ausüben, mit dem sie etwas verdienen können, sie möchten eine Familie gründen, und im Grunde genommen möchten sie auch dort leben, wo sie aufgewachsen sind. Um sich dieses Ziel zu erfüllen, ist die Berufsbildung sehr wertvoll.

Herr Messerli, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

*Siroco Messerli ist Chef der Abteilung Neue EU-Mitgliedstaaten bei der DEZA.

Die verbindende Kraft der Musik

von Susanne Lienhard

Am Toggenburger «Fiddlefest» musizierten Kinder und Jugendliche aller Altersstufen mit zwei Gästen aus Venezuela

Wer am 17. Juni den Weg ins Toggenburg fand, wurde mehr als belohnt. Bereits zum zweiten Mal organisierte dort die Musikschule Toggenburg zusammen mit der Kantonsschule Wattwil das «Fiddlefest», das fünf Kinder- und Jugendorchester vereinte. Dieses Jahr waren zwei Gäste aus Venezuela mit von der Partie: der Fagottist Hans Agreda und der Bratschist Alessandro D’Amico. Die rund 90 Kinder und Jugendlichen zeigten unter Anleitung der beiden Musiklehrer Ioan Gramatic und Hermann Ostendarp die Früchte ihrer Arbeit und schlugen beim gemeinsamen Musizieren und im Gespräch mit den Gästen aus Venezuela eine Brücke vom Toggenburg nach Venezuela, wo vor rund 40 Jahren in Caracas das soziale Musikprojekt «El Sistema» gegründet worden war.

Bild sl

(Bild sl)

 

Samstagnachmittag, kurz vor 16 Uhr: In der evangelischen Kirche in Wattwil herrscht lebendiges Treiben. Kinder und Jugendliche stimmen ihre Instrumente und verleihen dem Geigen- oder Cellobogen die nötige Spannung. In den Bänken haben Eltern mit ihren Kindern, Grosseltern mit ihren Enkeln, Gotte und Götti mit ihren Patenkindern und zahlreiche weitere Musikinteressierte Platz genommen.

Plötzlich wird es still, die 90 Kinder und Jugendlichen setzen ihre Bogen an und warten konzentriert auf das Zeichen des Dirigenten. Dann erfüllen die Klänge eines ersten Menuetts von Georg Friedrich Händel den Kirchenraum. Die Jüngsten sind genauso ernsthaft bei der Sache wie die Älteren. Das gemeinsame Ziel ist, miteinander Musik zu machen, das im Einzelunterricht erlernte im Zusammenspiel zu erproben und dabei die Faszination von Rhythmus, Melodie und Harmonie zu entdecken und zu erleben.

«Musik ist wesentlich ein Gemeinschaftserlebnis»

Die beiden Leiter der Jugendorchester sind überzeugt: «Musik ist wesentlich ein Gemeinschaftserlebnis; im Orchester werden spielend Sozialkompetenzen geschult, für die man sonst später Therapien braucht. Bei allem Schönen, was in einer solchen Gemeinschaft entstehen kann, erfahren die Kinder und Jugendlichen auch, was notwendig ist, damit es ein positives Erlebnis wird: Disziplin, gesunder Ehrgeiz, Durchhaltevermögen und einen Sinn für die anderen.»

In seiner Einführung erklärt Hermann Ostendarp, dass es allein in Wattwil fünf Ensembles auf verschiedenen Stufen gebe, von den jüngsten «ABC-Streichern» über das «Intermezzo», das «Allegretto», das «Vivaldissimo» bis hin zum «il mosaico». Der Vorteil dieses Aufbaus sei, dass alle auf ihrem Niveau mittun könnten, niemand ausgeschlossen, aber auch niemand unterfordert werde. Die Älteren unterrichteten die Jüngeren, was sowohl menschlich als auch musikalisch von grossem Wert sei.

Im weiteren Verlauf des Nachmittags wird das Publikum Zeuge dieser sorgfältigen Aufbauarbeit: Von der Anfangsstufe der «ABC-Streicher» bis hin zum Jugendorchester «il mosaico», das zu den besten Jugendorchestern der Schweiz gehört, bieten alle einzeln ihr Können dar.

«Im Orchester lernt man aufeinander zu hören, sich gegenseitig zu respektieren, und man spürt im gemeinsamen Musikerleben, warum es Sinn macht zu üben.» (Bild sl)

«Im Orchester lernt man aufeinander zu hören, sich gegenseitig zu respektieren, und man spürt im gemeinsamen Musikerleben, warum es Sinn macht zu üben.» (Bild sl)

 

Das Musikprojekt «El Sistema» in Venezuela

Nach den ersten musikalischen Kostproben stellen zwei jugendliche Musikerinnen das soziale Musikprojekt «El Sistema»1 vor, aus dem unter anderen auch die beiden anwesenden Musiker aus Venezuela hervorgegangen sind. Mitte der 1970er Jahre hatte der Musiker, Ökonom und Politiker José Antonio Abreu in Caracas dieses soziale Musikprojekt begründet, das nicht nur das Leben hunderttausender Kinder und Jugendlicher veränderte, sondern auch der Musikpädagogik ganz neue Perspektiven eröffnete. In einer Tiefgarage fand mit elf Musikern die erste Probe statt. Heute ist «El Sistema» in ganz Venezuela verbreitet. Die Stiftung zählt 400 Orchester, 342 Chöre, und in 230 Musikschulen unterrichten 4000 Lehrer rund 350 000 Kinder und Jugendliche. Den Kindern wird ab dem Vorschulalter eine solide musikalische Grundausbildung in klassischer Musik angeboten. In jedem grösseren Ort gibt es ein Musikzentrum, Núcleo genannt, das oft der wichtigste soziale Treffpunkt ist. Jedes Kind, das in Venezuela ein Orchesterinstrument lernt, tut dies in der Gruppe, im Ensemble. Niemand übt alleine im stillen Kämmerlein, bis er dann nach drei Jahren auf der Geige endlich so weit ist, dass er im Orchester mitspielen darf. In Venezuela ist Musikmachen von Beginn an ein sozialer Akt. Im Orchester lernt man aufeinander zu hören, sich gegenseitig zu respektieren, und man spürt im gemeinsamen Musikerleben, warum es Sinn macht zu üben.

Ein grosses Problem beim Aufbau dieses grossen Jugendorchestersystems und bei seinem schnellen Wachstum war, geeignete Lehrer zu finden. Die Lösung ist pragmatisch: Jeder Schüler wird nach kurzer Zeit zum Lehrer. Die erfahrenen Schüler geben ihr Wissen an die weniger erfahrenen weiter. Das festigt das Selbstbewusstsein, es fördert die Reflexion und vertieft das soeben selber Gelernte (weil man es erklären muss) und es fördert vor allem die Gemeinsamkeit und das Verantwortungsgefühl. Viele der Kinder kommen aus den schwierigsten sozialen Verhältnissen. In ihren Stadtteilen, den Barrios, gehören Arbeitslosigkeit, Drogen, Gewalt und Verbrechen zum Alltag, und nicht selten bietet ihnen nur die geschützte Welt der Núcleos eine gewisse Sicherheit. Sie treffen dort Menschen, die als Lehrer und Lebensbegleiter ihre Entwicklung fördern und fordern, ihnen vertrauen und sie beschützen, und die aus dem gemeinsamen Musizieren sich eröffnenden Kräfte stärken.

Vom «Núcleo» zur Tonhalle

Der Fagottist Hans Agreda und der Bratschist Alessandro D‘Amico haben beide ihre musikalische Grundausbildung in solchen «Núcleos» bekommen. In der zweiten Hälfte des Konzertnachmittags konnten sich die Zuhörer von der Nachhaltigkeit dieser Musikpädagogik überzeugen.

Hans Agreda und das «Vivaldissimo» spielten ein Konzert für Fagott und Orchester von Antonio Vivaldi. Die dunklen warmen Klänge, die Agreda seinem Kontrafagott entlockte, verzauberten Jung und Alt. Im Gespräch mit Hermann Ostendarp erzählte er, wie seine Musikerkarriere in Venezuela begonnen hatte: «Ich war ein sehr hyperaktiver Junge. Meine Mutter dachte, dass Musik mir vielleicht helfen könnte, meine eigene Mitte zu finden, und ging mit mir zur nächsten Musikschule. Am ersten Tag durfte ich mir ein Instrument aussuchen, das mir kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Ich wählte das Fagott, es war Liebe auf den ersten Blick. Von Anfang an spielte ich mit anderen zusammen, und nach zwei Jahren durfte ich bereits im Simón Bolívar Jugendorchester mitspielen.» Heute ist Hans Agreda Solokontrafagottist des Tonhalle Orchesters Zürich und Dozent für Kontrafagott an der Zürcher Musikhochschule der Künste.

Alessandro d’Amicos Laufbahn verlief ähnlich. Er erzählte, dass die Bratsche allerdings nicht das Instrument seiner ersten Wahl gewesen sei: «Ich wollte Gitarre spielen. Die Musikschule konnte mir jedoch keine zur Verfügung stellen und gab mir stattdessen eine Bratsche. So lernte ich Bratsche spielen. In den Núcleos von El Sistema werden primär Orchesterinstrumente gefördert, da viel Wert auf das gemeinsame Musizieren gelegt wird.» Stolz fügt er an, dass er bereits nach eineinhalb Jahren im Simón Bolívar Jugendorchester mitspielen durfte. Wie Hans Agreda hat auch Alessandro D’Amico sich in Europa, der Wiege der klassischen Musik, perfektioniert und spielt heute im renommierten Merel Quartett.

«El Sistema» nach Wattwiler Art

Über zwei Stunden sind wie im Flug vergangen. Zum Abschluss finden sich nochmals alle Musiker der 5 Ensembles und die Solisten aus Venezuela auf der Bühne ein und spielen zum Zeichen der Verbundenheit mit den Gästen das in Venezuela sehr beliebte Stück «Dama Antanona» von Francisco de Paula Aguirre. Das Publikum dankt mit einem warmen Applaus.

Dieser Nachmittag hat einmal mehr gezeigt, dass die Jugend zu begeistern ist und Hervorragendes leisten kann, wenn sie nur entsprechend angeleitet, gefördert und gefordert wird. In Venezuela haben José Antonio Abreu und seine Mitstreiter mit «El Sistema» ein soziales Musikprojekt geschaffen, das zahlreichen Kindern und Jugendlichen eine Perspektive und einen Sinn im Leben gibt. Im Toggenburg ist mittlerweile auch ein «kleines El Sistema» entstanden. Die Jugendorchesterleiter sind überzeugt, dass sich die Aufbauarbeit gelohnt hat: «Das gemeinsame Musizieren in einem Orchester macht wach, schlau und sozial. Wenn die Kinder und Jugendlichen zur Probe kommen, dann wissen sie, was sie tun und tun es mit Begeisterung – langweilig ist es denen nie. Und wenn es einem schlecht geht, halten alle zusammen.»

¹ cf. Michael Kaufmann und Stefan Piedl: Das Wunder von Caracas. Wie José Antonio Abreu und El Sistema die Welt begeistern. München 2011. ISBN 978-3-424-15079-7
cf. Dokumentarfilm von Paul Smaczny und Maria Stodtmeier: «El Sistema. Musik, die das Leben verändert». Venezuela 2009

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