«Der Iran fühlt sich von europäischen Staaten im Stich gelassen»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Die Auseinandersetzung um das Atomabkommen mit Iran hat sich in den letzten Wochen verschärft, vor allem seit die USA es gekündigt haben. Wie schätzen Sie das ein?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Das ist auf jeden Fall ein erschütternder Vorgang, weil man mit diesem Abkommen versucht hat, Spannung aus der Region zu nehmen. Aber es ist nicht nur der Ausstieg der USA, sondern die gleichzeitigen Sanktionsdrohungen gegen europäische Unternehmen, die mit dem Iran Handel treiben, und die Durchsetzung dieser Drohungen. Am Ende haben die Firmen ganz nüchtern berechnet und den Schluss gezogen und beschlossen, ihr Investment aus dem Iran zurückzuziehen. Denn am Ende kommt sie das weniger teuer zu stehen als Sanktionen und damit verbunden der Verlust des amerikanischen Marktes. 

Was bedeutet das für den Iran?

Dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die es zwischen den Europäern und dem Iran gegeben hat, wieder zum Erliegen kommt. Der Iran hat darauf reagiert und bringt zum Ausdruck, dass er sich nicht mehr an den Vertrag so gebunden fühlt. Das schwelt schon seit längerem. 

Hat sich das jetzt nicht noch zugespitzt?

Die Anschläge auf die japanischen Öltanker im Golf von Oman und der Abschuss der US-Drohne hat die Welt an den Rand eines Krieges geführt. Es war bereits 12 Uhr, als wohl Trump in letzter Minute den schon vorbereiteten Militärangriff gegen den Iran gestoppt hat. Es ist offensichtlich, dass Trumps Berater wie u. a. John Bolton scharf auf einen Krieg sind, während man es bei Trump nicht so genau weiss. Man hat den Eindruck, dass er in der Kriegsfrage nicht so direkt auf Krieg aus ist wie sein Umfeld. 

Wie schätzen Sie den Vorfall mit der Drohne ein?

Der Iran sagt, es sei über seinem Luftraum passiert und die USA sagen, es sei im internationalen Luftraum geschehen. Es ist natürlich immer schwierig, das nachzuweisen. Die Plausibilität spricht für die iranische Darstellung. Welches Interesse sollte denn der Iran an so einer Situation haben? Das Ganze erinnert einen sehr an den Tonkin-Zwischenfall im Vietnamkrieg, die Massenvernichtungswaffen im Irak-Krieg und ähnliche Kriege, die mit einer Lüge begonnen wurden. Jahre später wird dann zugegeben, dass das alles nicht gestimmt hat, dass es eine Lüge war. Jetzt sollen wir das alles glauben. Da habe ich sehr, sehr grosse Fragezeichen. 

Haben Sie irgendeine Vermutung, wer die Attacken auf die Tanker durchgeführt haben könnte?

Da gibt es viele Möglichkeiten. Ich will auch nicht spekulieren, aber es können Staaten aus der Region ein Interesse haben, diesen Krieg zu provozieren, vielleicht Saudi-Arabien, auch Israel. Das ist alles denkbar. Da operieren Dutzende Geheimdienste, die wiederum daran ein Interesse haben. Da kann man nur spekulieren, aber ich halte es für weniger wahrscheinlich, dass es der Iran selbst gewesen ist.

Die USA haben weitere Sanktionen gegen den Iran verhängt …

…  Der Sanktionswahnsinn nimmt leider kein Ende. Es wird in der internationalen Politik immer schlimmer. Einem Staat passt etwas nicht, dann wird nach Sanktionen geschrien. 

Mit welchem Ziel?

In dem Zusammenhang stellt sich doch die Frage, was haben Sanktionen überhaupt gebracht. Man müsste das einmal evaluieren, z. B. die Wirtschaftssanktionen gegen Russland oder die fast schon kriminellen Sanktionen der USA gegen Venezuela. Die USA will sogar Firmen sanktionieren, die am Transport der Hilfslieferungen für Venezuela beteiligt sind. Davon ist u. a. eine norddeutsche Reederei betroffen. Es wuchert immer weiter, auf Probleme in der Welt mit Sanktionen zu reagieren. Die Argumentation ist, das sei besser als Krieg. Tatsächlich ist es eine Form von Wirtschaftskrieg, der immer mehr überhandnimmt. Man sollte wirklich einmal darüber sprechen, was Sanktionen bewirkt haben. Bei den Sanktionen im Irak in den neunziger Jahren spricht man von 500 000 Toten als Folge davon. US-Ökonomen wie Geoffry Sachs und Mark Weisbrot, renommierte Ökonomen, sprechen von über 40 000 Toten in Venezuela durch die Sanktionen bis Ende 2018. Das kann doch keine Lösung sein. Ich hoffe, dass diesem Treiben Einhalt geboten wird. 

Wie ist die Haltung der EU gegenüber dem Iran?

Die EU ist tatsächlich zurückhaltender. Sie sind zwar kein Vertragspartner. Das sind die grossen Staaten, Russland, Indien, China und einzelne europäische Staaten wie England, Frankreich, Deutschland. Aber die europäischen Staaten waren viel zurückhaltender in diesem Abkommen und haben lange Zeit versucht, es zu retten, waren aber nicht wirklich bereit, mit den USA in die Auseinandersetzung zu gehen. Iran fühlte sich deswegen auch im Stich gelassen.

Was wäre denn hier sinnvoll von Seiten der Europäer gewesen?

Die europäischen Staaten hätten ganz klar machen müssen, dass es im Falle eines Angriffs auf den Iran keinerlei Unterstützung militärischer Art geben wird. Natürlich keine Beteiligung, aber auch keine zur Verfügungstellung von Militärbasen oder Erteilung von Überflugrechten. Ramstein in Deutschland ist die grösste Militärbasis ausserhalb der USA. Es muss ganz klar sein, wenn ihr den Iran bombardiert, dann wird hier der Luftraum für die USA geschlossen. Ramstein können die USA dafür nicht nutzen. Das wäre meine Forderung, und deshalb werde ich mich auch an den Protesten gegen Ramstein beteiligen. 

Was denken Sie zur Rolle des Iran?

In Bezug auf das Abkommen will der Iran aus meiner Sicht keine Aufrüstung und befindet sich eher in einer defensiven Haltung.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

Drohnen-Abschuss: Iran ist im Recht

von Dr. phil. Helmut Scheben*

Ein Flugzeug, das sich dem territorialen Luftraum nähert und sich nicht zu erkennen gibt, kann abgeschossen werden.

Donald Trump sagt, er habe auf einen «Vergeltungsangriff» gegen Iran verzichtet, als ein General ihm sagte, man müsse bei dem geplanten Angriff mit 150 Toten rechnen. Möglicherweise waren es aber nicht nur seine militärischen, sondern vor allem seine juristischen Berater, die ihm von Militärschlägen abrieten.

Iran gibt an, die Drohne sei innerhalb des iranischen Luftraums abgeschossen worden. Die US-Regierung erklärt, der Abschuss sei ausserhalb erfolgt.

Laut Militärpiloten und Experten in internationalem Recht spielt es aber keine Rolle, ob die Drohne schon in den Luftraum eingedrungen war oder dies zu erwarten war.Die Rechtsprofessorin Marjorie Cohn, ehemalige Präsidentin der liberalen US-Anwaltsorganisation National Lawyers Guild, erklärt, dass es internationale Rechtspraxis sei, von Flugobjekten, die sich dem territorialen Luftraum nähern, eine Identifkation zu verlangen. Falls dieser Aufforderung nicht nachgekommen wird, kann ein Abschuss erfolgen. Cohn zitiert unter anderen den ehemaligen US-Militärpiloten H. Bruce Franklin, welcher schreibt: «Es ist das unbestreitbare Recht des Iran, von jeglichem Flugobjekt, welches so nah an seinen Luftraum kommt, eine Identifikation zu fordern.»

Die USA hätten bis 200 Meilen vor ihren Grenzen eingegriffen

In den USA erstrecke sich diese «Identification Zone» auf eine Breite von 200 Meilen oder 322 Kilometer von der Küste. Dringt ein Flugzeug in diese Zone ein, ohne sich zu identifizieren, so wird es von US-Kampfjets abgefangen.

Die US-Regierung sagt, ihre Drohne sei in einer Entfernung von 17 Kilometern von der iranischen Küste abgeschossen worden. Das sei so nah, dass ein Abschuss nicht mehr auszuschliessen sei, stellt Franklin fest: «In den USA würde jede unidentifizierte Drohne, die so nah am US-Territorium ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit abgeschossen.»

Der iranische Uno-Botschafter Majid Takht-Ravanchi erklärt in einem Schreiben an den UN-Sicherheitsrat, die US-Drohne sei erst abgeschossen worden, nachdem mehrere Aufforderungen zur Identifikation nicht beantwortet worden seien.

US-Kongress sollte über Krieg und Frieden entscheiden

Laut US-Verfassung ist dem Kongress das Recht vorbehalten, einen Krieg zu erklären. Aufgrund der «War Powers Resolution» darf der Präsident ein anderes Land ohne vorherige Billigung durch den Kongress nur angreifen, wenn die USA angegriffen werden oder wurden und somit ein «nationaler Notstand» vorliegt. In einem solchen Fall darf der Verteidigungskrieg nur fortgesetzt werden, wenn der Kongress innerhalb von zwei Monaten den Krieg erklärt oder eine spezielle Ermächtigung verabschiedet hat.

Fünf Tage nach dem Terroranschlag von 9/11 hat der Kongress allerdings ein Gesetz verabschiedet, das den Präsidenten bevollmächtigt, gegen Terroristen rund um den Globus ohne vorherige Kongress-Bewilligung militärisch vorzugehen («Authorization for Use of Militäry Force Against Terrorists» AUMF vom 14. September 2001). Nach diesem Kongressbeschluss kann der Präsident «jegliche nötige und geeignete Gewalt» anwenden gegen alle, die am Anschlag von 9/11 direkt oder indirekt beteiligt waren. Namentlich gegen die «Al-Kaida und andere militante Gruppen» kann der Präsident seither ohne vorherige Bewilligung des Kongresses militärische Gewalt anwenden.

Die Begründung zum Erteilen der AUMF-Ermächtigung des Präsidenten war bereits nach 9/11 an den Haaren herbeigezogen, denn die USA waren nicht von einem fremden Staat angegriffen worden, gegen den man Krieg führen könnte, sondern von einer Terrorgruppe, die fast ausschliesslich aus Saudis bestand. Obwohl die Taliban operativ nicht das Geringste mit den Terroristen von 9/11 zu tun hatten, begannen die USA zusammen mit der Nato einen Krieg gegen Afghanistan.

In den vergangenen 18 Jahren begründeten US-Präsidenten militärische Angriffe mehrmals mit jener zweifelhaften AUMF-Ermächtigung von 9/11 und umgingen damit die Kompetenz des Kongresses, einen Krieg zu erklären: So beispielsweise 2011 bei der Bombardierung Libyens (Obama) sowie 2017 beim Einsatz von Marschflugkörpern gegen Syrien (Trump). Vor den Kriegen gegen Afghanistan und gegen den Irak hatte es zustimmende Resolutionen des Kongresses gegeben.

Jetzt versuchen US-Aussenminster Mike Pompeo und Sicherheitsberater John R. Bolton noch einmal diese juristische Akrobatik, indem sie versuchen, eine Verbindung zwischen dem Iran und Al Kaida herzustellen. Das wird von den meisten Nahost-Experten als Nonsens bezeichnet. Gleichzeitig hat US-Präsident Trump die Iranischen Revolutionsgarden, also die Eliteeinheit der iranischen Streitkräfte, Mitte April als «Terroristen» eingestuft. Damit ist ein weiterer Vorwand geschaffen, um den Kongress bei Kriegshandlungen gegen den Iran zu umgehen.

* Helmut Scheben studierte Romanistik und promovierte 1980 zum Dr. phil. an der Universität Bonn. Von 1980 bis 1985 war er als Presseagentur-Reporter und Korrespondent für Printmedien in Mexiko und Zentralamerika tätig. Ab 1986 Redaktor der Wochenzeitung (WoZ) in Zürich, von 1993 bis 2012 Redaktor und Reporter beim Schweizer Fernsehen SRF, davon 16 Jahre bei der Tagesschau.

Uruguay verlässt OAS-Treffen und lehnt Guaidó-Vertreter ab

Uruguayische Delegierte verliessen das OAS-Treffen in Kolumbien und lehnten die Anwesenheit der venezolanischen Opposition ab und kritisierten die Führung der OAS, weil sie diese zum Treffen zuliess, was Uruguay als illegal erachtete.

Uruguay zog sich von einem Treffen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zurück, das am Donnerstag, den 27. Juni in Medellin, Kolumbien, stattfand, um gegen die Vertreter von Juan Guaidó bei diesem Treffen zu protestieren. Guaidó ist der selbsternannte Interimspräsident Venezuelas, dessen verschiedene Putschversuche gegen die Regierung von Präsident Nicolás Maduro von den Vereinigten Staaten unterstützt wurden.

Die Delegierten Uruguays sagten auf dem OAS-Treffen, dass die Guaidó-Vertreter, Gustavo Tarre und Julio Borges, nicht legitimiert seien.

«Uruguay betrachtet dies als Versuch, die Anerkennung dieser Delegation als legitime Vertreter Venezuelas durchzusetzen – es ist nicht mehr und nicht weniger als eine Unterjochung der Legalität der OAS», sagte Uruguays stellvertretender Aussenminister Ariel Bergamino während des Treffens. «Wir haben keine andere Wahl, als gegen einen solchen Akt zu sein.»

«Wir ziehen uns aus diesem Treffen zurück, aber nicht aus der OAS», fügte Bergamino hinzu.

Uruguay unterstützt seit langem die gewählte Regierung von Nicolás Maduro, indem es an seiner Amtseinführung im Januar letzten Jahres teilnahm und zusammen mit Mexiko die Verhandlungen zwischen dem Präsidenten und den Oppositionsführern in den letzten Monaten führte.

Venezuela zog sich am 27. April dieses Jahres offiziell aus der amerikanischen Organisation zurück.

Mexiko, Bolivien, Trinidad und Tobago und andere OAS-Mitglieder lehnten Tarres Teilnahme als vermeintlichem venezolanischem Delegierten während des zweitägigen Treffens in Kolumbien ab und warfen der Führung der Organisation unter Generalsekretär Luis Almagro vor, Bündnisse mit der venezolanischen Opposition einzugehen.

Almagro hat sich in den letzten Monaten mehrmals auf die Seite von US-Präsident Donald Trump gestellt und gesagt, dass eine militärische Intervention in dem ölreichen südamerikanischen Land eine Option sei. Im Mai bezeichnete er die in Norwegen stattfindenden Gespräche zwischen Maduro und Oppositionellen als «den falschen Weg».

Unterdessen hat der uruguayische Präsident Tabare Vasquez stets den Frieden in Venezuela als Wegweiser hervorgehoben.

«Wir sind nicht neutral, denn als wir uns zwischen Frieden und Krieg entscheiden mussten, haben wir uns für Frieden entschieden, und als viele die Kriegstrommeln schlugen und die bereits bestehende Gewalt in Venezuela verstärkten, hat sich unsere Regierung für den Dialog und für einen friedlichen und demokratischen Ausweg entschieden», sagte Vasquez im März letzten Jahres.

Mexikanische Delegierte wiesen auf der OAS-Sitzung darauf hin, dass die von der Oppositionsdelegation vorgelegten Mandate nicht den für die Zulassung zur Versammlung erforderlichen Normen entsprächen, während Bolivien sagte, dass es sich das Recht vorbehalte, das, was während der Sitzung genehmigt werde, aufgrund der Anwesenheit der Delegation nicht anzuerkennen.

Mehrere karibische Länder, die Maduro unterstützen, zeigten sich ebenfalls bestürzt über die Anwesenheit der Oppositionsdelegation, während Länder wie das rechtsgerichtete Argentinien die Vertreter anerkannten.

Venezuela, das die grössten Ölreserven der Welt beherbergt, wurde durch Sanktionen der Trump-Regierung stranguliert, was direkt zum Tod von mindestens 40 000 Menschen im Land führte, die keinen angemessenen Zugang zu Nahrung und Medikamenten hatten, so eine Studie des Center for Economic and Policy Research (CEPR) vom Mai.

Die Delegierten Uruguays sagten, dass sie am ersten Tag der Veranstaltung nicht an den Sitzungen teilnehmen würden, sondern erst am Freitag.

Quelle: https://www.telesurenglish.net/news/Uruguay-Walks-Out-of-OAS-Meeting-Rejecting-Guaido-Reps-20190627-0016.html, 27.6.2019

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

Die Sommersession der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

thk. Die Sommersession der Parlamentarischen Versammlung des Europarats war dominiert von einer Verfahrensänderung, die es ermöglichen sollte, Russland in den Europarat zurückzubringen. Im Jahre 2014, im Nachgang der Ukrainekrise, war der russischen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung das Stimmrecht entzogen worden, woraufhin die Delegation an den Sessionen der Versammlung nicht mehr teilnahm und ab 2017 die Zahlungen an den Europarat einstellte. 

Die Sanktionierung Russlands stellte sich als Verstoss gegen die eigenen Statuten des Europarats heraus. Aufgrund dieser bitteren Erkenntnis waren beide Gremien, die den Europarat bilden – das ist zum einen der Ministerrat und zum andern die Parlamentarische Versammlung – bestrebt, die Sanktionen gegen Russland aufzuheben und das Sanktionsverfahren grundsätzlich zu reformieren.

Zu Beginn der Sommersession stellte die belgische Delegierte der Parlamentarischen Versammlung, Petra De Sutter, einen Resolutionsentwurf vor, der das Sanktionsregime neu definieren und Russland die Rückkehr in die Parlamentarische Versammlung ermöglichen sollte. Trotz heftiger Versuche seitens der Ukraine und konservativer britischer Abgeordneter, die Resolution zu verhindern, ist es gelungen, Russland als vollwertiges Mitglied wieder zurück in die Parlamentarische Versammlung zu bringen. Die russische Delegation nahm dann auch sogleich wieder an den Sitzungen teil. So wie aus informierten Kreisen zu vernehmen war, hat Russland bereits eine erste Tranche der ausstehenden Zahlungen überwiesen. Welche Hintergründe die ganze Auseinandersetzung hatte und wie der ganze Ablauf zu verstehen ist, darüber geben die folgenden drei Interviews von Delegierten der Parlamentarischen Versammlung Auskunft.

«Der Europarat beendet einen rechtswidrigen Zustand»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, Deutschland

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie muss man die Sitzung von gestern abend bzw. nacht einordnen?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Es ging am Montagabend um die Verabschiedung eines Berichtes, den die Parlamentarierin Petra De Sutter ausgearbeitet hatte. Darin geht es um die teilweise Neustrukturierung der Arbeitsweise der Versammlung. Der bisherige Sanktionsmechanismus, wie er gegen Russland angewendet wurde, kann somit nicht mehr durchgesetzt werden. Es gab bekanntlich Sanktionen gegen die russische Delegation, die dazu führten, dass die Russen weder die Richter hier am Gerichtshof noch den Generalsekretär wählen konnten. Das war alles rechtswidrig. 

Wer hat das festgestellt?

Das hat der Rechtsdienst des Europarats vor knapp einem Jahr festgestellt. Dennoch hat man die Sanktionen weiter aufrechterhalten. Mit diesem Bericht von Petra De Sutter sollen die Sanktionen aufgehoben werden, damit die russische Delegation zurückkommt. Das wird heute der Fall sein.

Was ist konkret der Inhalt des De-Sutter-Berichts?

Es geht darum, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarats nicht mehr so vorgehen kann, wie sie es im Falle der russischen Delegation gemacht hat, nämlich das Stimmrecht oder auch Repräsentationsrechte zu entziehen. Hier hat sich das Verständnis durchgesetzt, dass man politisch sehr wohl unterschiedliche Ansichten haben kann. Aber es darf nicht sein, dass einem demokratisch legitimierten Parlament, das zu einer interparlamentarischen Versammlung gehört, von anderen Parlamentariern praktisch die Grundrechte entzogen werden können wie zum Beispiel die Wahl der Richter etc. 

Seit wann war Russland sanktioniert?

Seit 2014, im Zuge der Ukraine-Krise und der Aufnahme der Krim in die Russische Föderation. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hat in diesem Fall jedoch ihr Mandat weit überdehnt. Die damals gegen die russische Parlamentsdelegation beschlossenen Sanktionen führten dazu, dass diese der Versammlung fernblieb. Ich fand die Sanktionen damals falsch und habe deshalb gegen sie gestimmt. Russland hat sich seitdem zwar noch auf der Ministerebene getroffen, aber nicht mehr auf der parlamentarischen. Was jetzt geschieht, ist die Korrektur eines rechtlichen und politischen Fehlers, und den muss man jetzt eingestehen. 

Es gibt Stimmen, die sagen, der Europarat schwäche sich damit selbst.

Nein, das ist nicht richtig. Er beendet einen rechtswidrigen Zustand. Der Fehler war eine Schwächung der Institution, nicht seine Korrektur. Dieser wurde 2014 begangen, indem rechtswidrige Sanktionen beschlossen und fast fünf Jahre lang durchgehalten wurden. Der Fehler ist erst jetzt korrigiert worden, was für eine solche Organisation nicht schön ist, aber es war notwendig.

Der Abstimmung, die eine Annahme der Resolution bedeutete, ging eine lange Debatte voraus. Es wurden sehr viele Änderungsanträge gestellt. Wie muss man das einordnen?

Der Tag hatte schon eine historische Dimension. So etwas habe ich noch nie erlebt. Wir hatten neun Stunden, von vier Uhr nachmittags bis ein Uhr nachts, ohne Pause Debatten über die Anträge. Es gab 222 Änderungsanträge zum Bericht von Petra De Sutter, der eigentlich sehr kurz ist. 

Was wollte man mit diesen Anträgen erreichen?

Man wollte filibustern, das heisst, die Debatte über den Bericht so in die Länge ziehen, damit darüber nicht mehr abgestimmt werden kann. Die Versammlung war unglaublich diszipliniert. Bis ein Uhr nachts war bei den Abstimmungen über die Einzelanträge die grosse Mehrheit von 120 zu 40 Stimmen für den vorgelegten Antrag stabil. Am Ende ist der Bericht mit 118 zu 62 Stimmen, also mit grosser Mehrheit, angenommen worden. Die Opposition bildeten vornehmlich die britischen Konservativen und die ukrainischen Nationalisten.   

War es deren Ziel, eine Rückkehr Russlands in den Europarat zu verhindern?

Wenn das gelungen und die Debatte noch deutlich mehr in die Länge gezogen worden wäre, hätte man die Beglaubigungsschreiben der russischen Abgeordneten nicht annehmen können. Jetzt kann die russische Delegation mit allen Pflichten und Rechten in den Europarat zurückkehren. 

Was heisst das für die Arbeit im Europarat?

Der Europarat hat zwei besondere Dimensionen. Zum einen ruht er auf den Säulen Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte. Bei der Europäischen Union hingegen spielen zum Beispiel ökonomische Faktoren eine ganz entscheidende Rolle. Zum zweiten spielt das Paneuropäische, das Gesamteuropäische mit Staaten wie Russland, Ukraine, Georgien, Aserbaidschan, der Türkei etc. eine ganz grosse Rolle. Der Raum von Wladiwostok bis Lissabon ist institutionell abgebildet. Diese Breite ist jetzt wieder erreicht. Gerade in Zeiten, in denen die Gesprächskanäle zwischen Ost und West so reduziert sind, ist die Entscheidung von gestern ein sehr positives Signal in Richtung Entspannung, auch auf anderen Ebenen. 

Die Ukraine hat gedroht, dass sie jetzt ihrerseits den Europarat verlassen will. Wie ist das zu bewerten?

Das sind Drohungen, die einzelne Abgeordnete im Eifer der Debatte gemacht haben. Sie werden das nicht tun. In der Ukraine hat sich in den letzten Wochen sehr viel verändert. Während fünf Jahren hat Poroschenko die Fäden gezogen. Er hat auch den Krieg im Osten des Landes geführt, obwohl er 2014 als Friedenspräsident angetreten ist. Poroschenko ist mit gigantischem Erdrutsch abgewählt worden. Er hat in der Stichwahl noch ein Viertel der Stimmen bekommen. Ein Schauspieler hat 75 Prozent bekommen. Das zeigt, wie gross die Unzufriedenheit mit der Regierung Poroschenkos war. 

Welche Hoffnungen ruhen auf dem neuen Präsidenten?

Jetzt öffnet sich wieder ein Fenster in der Ukraine. Aber Selenskyj, der neu gewählte Präsident, hat keinerlei Unterstützung im Parlament. Das System ist ähnlich wie in Frankreich. Die Parlamentswahlen in der Ukraine wären eigentlich im Herbst und sind jetzt auf Juli vorgezogen worden. Ich wäre gerne dort hingefahren und würde mir das für den Europarat anschauen. Aber nach der Rückkehr der russischen Delegation hat der Präsident des Parlaments der Ukraine die Einladung zur Wahlbeobachtung durch den Europarat zurückgenommen. 

Die Partei von Selenskyj nennt sich «Diener des Volkes». Sie schwankt bei einem Stimmenanteil von 40 bis 50 Prozent. Die Partei von Poroschenko, sie hiess «Block-Poroschenko», heute «Europäische Solidarität», liegt nur noch bei etwa 8 Prozent.

Was heisst das jetzt für die Arbeit im Europarat?

Diejenigen aus der Ukraine, die hier zusammen mit den englischen Tories das Theater aufgeführt haben, werden nach den Wahlen nicht mehr dabei sein. Das heisst, bei der Session im Oktober werden wir eine ganz andere Situation haben. 

Spürt man in der Politik von Selenskyj schon einen Stimmungswandel?

Das ist gerade das Problem. Es lastet ein unglaublicher Druck auf ihm. Es gibt ein Papier von Dutzenden US-gesteuerten Nichtregierungsorganisationen, die 20 bis 30 harte rote Linien für Selenskyj formulieren. Das betrifft zum Beispiel die Änderung des Sprachengesetzes oder die Einführung direktdemokratischer Elemente zur Situation im Osten wie ein Referendum über den Donbass etc. Das wird alles als rote Linien definiert, bei deren Überschreitung Selenskyj mit Unruhen rechnen müsste. Ihm wird regelrecht gedroht. Das zeigt aber auch, dass die USA verhindern wollen, dass Selenskyj einen anderen Kurs fahren könnte als Poroschenko.

Das heisst im Klartext?

«Du machst so weiter wie Poroschenko, andernfalls bekommst du Ärger». Das heisst, auf Seiten der USA ist die Sorge vorhanden, dass er etwas anderes anstreben könnte. Positiv gewendet heisst das, dass eine Hoffnung besteht, dass er etwas anderes machen könnte. Aber wie es am Ende herauskommt, kann man schlicht nicht wissen. Wir werden es sehen. 

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

Russland unterstellt sich dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Interview mit Senator Tiny Kox*, Niederlande

Senator Tiny Kox, Socialist Party (NL) (Bild thk)
Senator Tiny Kox, Socialist Party (NL) (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Was hat sich am Montagabend in der Parlamentarischen Versammlung abgespielt?

Senator Tiny Kox Wir hatten eine sehr ernsthafte Diskussion. Meiner Meinung nach haben wir viel zu viel Zeit damit verbracht, uns mit Änderungsanträgen zu befassen, die keine echten Änderungsanträge unserer guten Kollegen aus Grossbritannien und der Ukraine waren und die einen langen Entscheidungsprozess sabotierten. Aber am Ende haben wir eine Entscheidung getroffen, und die Entscheidung war klar. Eine grosse Mehrheit stimmte für die Annahme einer Entschliessung, die es Delegationen, die hier noch nicht vertreten sind, ermöglicht, ihr Beglaubigungsschreiben vorzulegen, wie es das russische Parlament heute morgen getan hat. Leider wurde dieses von Bosnien und Herzegowina nicht vorgelegt, und ich als Ko-Berichterstatter für Bosnien und Herzegowina werde nun versuchen, auch dieses Parlament davon zu überzeugen, dass es so sein muss.

Wie muss man die Entwicklung einschätzen?

Und natürlich war dies, wie der Berichterstatter gestern und auch heute Morgen sagte, das Ende eines Prozesses, der mit der Annahme meines Berichts im April begann, in dem wir sagten, dass wir von nun an nicht mehr länger eine Cafeteria seien, in der man auswählen kann. Die Russen sind seit fünf Jahren nicht mehr dabei, aber sie wollen ein vollwertiges Mitglied des Ministerrats sein. Das gilt ebenso für Bosnien und Herzegowina. Das macht keinen Sinn. Glücklicherweise wurde mein Vorschlag auch vom Ministerrat angenommen, so dass sie verpflichtet sind, in beiden Organen mitzuwirken. 

Damit sollte Russland wieder vollwertiges Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung sein. Aber das gefällt nicht allen Abgeordneten.

Wenn man jemanden zwingt, hier zu sein, muss man auch die Tür öffnen, damit er hereinkommen kann, und man kann nicht sagen, komm her, aber die Tür ist geschlossen. Dies war die Endphase dieses Prozesses, und Teil dieses Prozesses ist auch, sich nicht auf einseitige Sanktionen zu verlassen, die sich als völlig wirkungslos erwiesen haben – sie haben Russland überhaupt nicht geschadet – und nur der Versammlung und der Organisation als Ganzes.

In welcher Beziehung?

Wir konnten unsere Berichterstatter nicht mehr nach Russland schicken, Russland hat seinen Beitrag nicht geleistet, unsere Menschenrechtskommission konnte nicht nach Russland gehen. Das sind alles sehr negative Entwicklungen. Von nun an können wir das überwinden, und es wird einen neuen gemeinsamen Mechanismus geben, um auf Mitgliedsstaaten zu reagieren, die eklatant gegen die Konvention oder das Statut verstossen. Und das gibt der Versammlung weitaus mehr Befugnisse, als wir früher hatten. Es war nicht einfach, diese neuen Befugnisse zu erlangen, aber der Ministerrat erkannte, dass sie diesmal die Versammlung brauchen, um strukturelle und institutionelle Probleme zu lösen. Am Ende des Prozesses – wenn das Ende des Prozesses darin besteht, dass die Russen hier sind und hoffentlich auch die Bosnier – dann können wir wieder mit der Arbeit beginnen, für die der Europarat erfunden wurde, und uns um die Menschenrechte vor Ort und die Demokratie zu kümmern.

Warum ist Bosnien nicht in der Parlamentarischen Versammlung vertreten?

Bosnien hat Wahlen gehabt, und es konnte zu keinem Schluss kommen, wen es nach Strassburg schicken sollte. Natürlich weiss ich als Ko-Berichterstatter für Bosnien, wie komplex die Strukturen dort sind. Aber auch Bosnien ist verpflichtet, eine Delegation hierher zu entsenden. Sie müssen auch erkennen – die Politiker und die Kollegen dort – dass es nicht mehr kostenlos ist. Wenn man im Ministerrat teilnimmt, muss man auch in der Versammlung teilnehmen.

Sie waren also bisher im Ministerrat vertreten, aber nicht in der Parlamentarischen Versammlung.

Ja. Sie denken, dass der Europarat eine Cafeteria sei, in der man das eine nehmen könne, das andere aber nicht brauche.

Es liegt also nicht daran, dass das bosnische Parlament nein gesagt hat, sondern man konnte sich nicht einigen, wer nach Strassburg entsandt werden soll?

Bosnien sagt, wir müssten verstehen, wie komplex die Situation ist. Ich habe in der heutigen Debatte gesagt, dass man, wenn man einen einfachen Job haben will, kein Politiker hätte werden dürfen. Bosnien ist verpflichtet, eine Delegation zu entsenden. Wenn nicht, verstösst es gegen die Regeln dieser Organisation. Es muss sich dessen bewusst sein, und die Tatsache, dass es schwierig ist, ist kein Argument, um nicht zu entsenden. Für die Russen war es auch schwierig.

Warum ist es für Russland schwierig?

Es gab viele Menschen und Politiker in Russland, die sagten: «Warum sollten wir in den Europarat gehen, warum sollten wir unter dessen Gerichtsbarkeit stehen? Die Vereinigten Staaten stehen auch nicht unter der Gerichtsbarkeit, China ist nicht unter der Gerichtsbarkeit, wir sind die einzige Supermacht, die einzige grosse Macht, die unter dieser Gerichtsbarkeit steht, zusammen mit Malta und Monaco.» Aber glücklicherweise denke ich, dass der russische Präsident, sein Aussenminister und die Mehrheit der Volksvertretung entschieden haben, dass es für Russ­land besser ist, das zu tun, was es versprochen hat, nämlich Teil des Europarates zu sein und alle Bürger Russlands zu schützen. Das war auch nicht einfach. Auch Bosnien kann sich also nicht die Ausrede erlauben, dass das Leben schwierig sei. Das gehört dazu.

Herr Senator Kox, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

* Tiny Kox ist ein niederländischer Politiker, der der Sozialistischen Partei angehört. Seit 2003 sitzt er im Senat, dem niederländischen Parlament. In der Parlamentarischen Versammlung des Europarats gehört er der Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken an.

 

«Es wurde ein Ausweg aus der Sackgasse gefunden»

Interview mit Bundesrat Stefan Schennach, Österreich

Bundesrat Stefan Schennach, SPÖ (Bild thk)
Bundesrat Stefan Schennach, SPÖ (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Welche Bedeutung hat der gestrige Abend für die weitere Entwicklung des Europarats?

Bundesrat Stefan Schennach Für den Europarat war es immanent, einen Ausweg aus einer Sackgasse zu finden. Erstens ist es gelungen im Jahr des 70jährigen Bestehens eines der wichtigen und grossen Länder, natürlich ein Sorgenkind, im Europarat zu behalten. Das ist sehr wichtig. Zweitens ist dadurch gesichert, dass für 150 Millionen Menschen der Weg zum Europäischen Menschrechtsgerichtshof offen ist. Das dritte ist, dass wieder ein Stück Normalität eingekehrt ist, indem man nicht länger über jemanden spricht, sondern mit ihm. Bisher war es für alle einfach, selbst hinter allen Problemen Russland zu vermuten. Da es nicht anwesend war, konnte es sich nicht dagegen wehren. Viertens, der hier inszenierte Kalte Krieg ist langsam am Einbrechen.

In der aktuellen medialen Berichterstattung konnte man lesen oder hören, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarats vor Russland eingeknickt sei. Können Sie sich dieser Einschätzung anschliessen?

Ehrlich gesagt, wenn man die Resolution von Petra De Sutter liest, dann sieht man, dass es eine Resolution der Stärke und nicht der Schwäche ist. Wir Parlamentarier haben nichts an Rechten verloren. Das sieht man daran, dass Parlamentarier nach wie vor die Möglichkeit haben, gegen die russischen Beglaubigungsschreiben aufzutreten. Es ist ein Zeichen der Stärke, die Rechtsordnung wurde nicht geändert. Die Rechte der Parlamentarier wurden nicht geschwächt, aber es wurde mit dem Ministerrat ein Ausweg aus der Sackgasse gefunden. Petra De Sutter hat es in ihrer Wortmeldung heute morgen formuliert. Ein Vogel braucht zwei Flügel, um balanciert fliegen zu können. Der eine ist die Parlamentarische Versammlung, der andere ist der Ministerrat. Und der Ministerrat hat die Sanktionen der Parlamentarischen Versammlung nicht einmal zur Kenntnis genommen.  

Eine Stärkung ist es doch auch, weil ein Dialog wieder stattfinden kann. 

Es ist eine Stärkung für die Georgier, denn sie können mit den Russen direkt über Abchasien und Ossetien sprechen, wenn sie das nicht woanders tun. Es ist eine Chance für die Moldawier, für die Ukrainer, wenn sie die Chance darin sehen. Wenn sie hier nur Propagandaschlachten führen wollen – und ich verstehe die gestrige Aktion als eine Propagandaschlacht – werden sie zu nichts kommen. Jeder Abgeordnete wollte der «wildeste Hund» sein, denn am 21. Juli sind Wahlen in der Ukraine, und sonderlich gut sieht es für die Poroschenko-Gruppe nicht aus. 

Wie ordnen Sie den gestrigen Ablauf ein?

Wir hatten über 200 Änderungsanträge. Diese Anträge kamen aus zwei Händen, von den Ukrainern und den Briten. Das waren alles nur Filibustergeschichten, ein Abänderungsantrag, um einen Beistrich zu verändern, oder sie haben das Lexikon genommen, Wörter gesucht, die eine ähnliche Bedeutung hatten, nur um das Ganze in die Länge zu ziehen. In Wirklichkeit gab es 5 oder 6 substantielle Anträge, die allerdings keine Chance hatten, weil die Abgeordneten nichts mehr ändern wollten. Es gab noch zwei Anträge, die es verdient hätten, mehr diskutiert zu werden, aber diese sind untergegangen. 

Herr Bundesrat Schennach, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

EU-Postengeschacher ist ein Trauerspiel und führt zu weiterer Militarisierung 

Pressemitteilung

«Das Postengeschacher auf EU-Ebene ist ein wahres Trauerspiel und sinnbildlich für den Zustand der EU. Zunächst werden den Bürgerinnen und Bürgern im Wahlkampf Spitzenkandidaten als vermeintlich zukünftige Kommissionspräsidenten verkauft, dann aber auf Regierungsebene intransparente Deals ausgehandelt», kommentiert Andrej Hunko, europapolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag die Diskussion um die Spitzenämter der EU.

«Dass ausgerechnet Ursula von der Leyen im letzten Moment als vermeintlicher Kompromiss für den mächtigen Posten als Präsidentin der EU-Kommission aus dem Hut gezaubert wurde, ist ein Denkmal für die Dominanz Deutschlands in der EU. Sie trägt nicht nur ihre Zensurambitionen als Familienministerin und den Skandal um die Beraterverträge im Verteidigungsministerium im Gepäck. Sie steht auch wie wenige andere für forcierte Militarisierung und Aufrüstung sowie Konfrontationspolitik gegenüber Russland. Mit ihr an der Spitze wäre nicht nur eine Fortsetzung dieser Politik zu erwarten, sondern eine Forcierung auf EU-Ebene.

Im Europäischen Parlament kommen indessen auch Fragen in Bezug auf dessen Legitimität auf. Drei gewählte katalanische Abgeordnete wurden durch juristische Tricks der spanischen Behörden davon abgehalten, ihr Mandat anzutreten. Dadurch wurden sie auch gehindert, ihr demokratisches Recht auszuüben, an der Wahl des EP-Präsidenten teilzunehmen. Dies ist ein undemokratischer Skandal.»

Quelle: Pressemitteilung vom 4. Juli 2019, https://www.andrej-hunko.de/presse/pressemitteilungen

Wo bleibt hier die Demokratie?

Kommentar

thk. Das Gezerre um die Besetzung der höchsten EU-Posten führt den Menschen inner- und ausserhalb der EU vor Augen, wie weit sich dieses Gebilde von seiner Bevölkerung, die es repräsentieren will, entfernt hat. Von Demokratie weit und breit keine Spur. Es geht um Macht, und die wird vor allem von Deutschland und Frankreich ausgeübt. Wenn ein Parlament, das in seinen Legislativrechten sehr begrenzt ist, mit ca. 750 Parlamentariern den politischen Willen von 500 Millionen Menschen vertreten soll, ist die demokratische Mitbestimmung des einzelnen äusserst gering. Verbindliche Abstimmungen über einzelne Sachfragen sind für die Menschen in der EU überhaupt nicht vorgesehen. 

Die Besetzung der Posten des Rats­präsidenten oder des Aussenbeauftragen werden nicht vom Parlament entschieden. Das Parlament kann dem vom EU-Rat vorgeschlagenen Kommissionspräsidenten bzw. der -präsidentin zustimmen oder sie auch ablehnen. Einen Vorschlag darf es nicht machen. Die neu besetzten Posten wurden mehr oder weniger von Deutschland und Frankreich bestimmt, es seien angebliche Kompromisskandidaten, die Frage ist nur: Kompromiss für wen? Die europäischen Völker können sich dazu nicht äussern. Wo bleibt hier die Demokratie?

Für ein Land wie die Schweiz sind das alles sehr befremdliche Vorgänge. Dass die Bevölkerung in der gesamten Auseinandersetzung nicht einmal eine Randnotiz wert ist, gehört zum Alltag der EU. Für uns in der Schweiz ist so etwas undenkbar. Reine Machtpolitik, wie sie in der EU an der Tagesordnung ist, ist nicht kompatibel mit unserer direkten Demokratie, bei der der einzelne Mensch mit Wahlen und Abstimmungen direkt politisch mitbestimmen kann. Daher ist bei einer vertraglichen Annäherung an die EU, wie sie mit dem Rahmenabkommen geplant ist, höchste Vorsicht geboten, denn die EU ist es gewohnt zu befehlen und die eigenen Interessen durchzusetzen. Verständnis für unsere demokratischen Abläufe gibt es kaum. 

Rahmenabkommen: «Über die grossen Fragen wird das Volk nicht mehr entscheiden können»

Nationalrat Lukas Reimann, SVP (Bild thk)
Nationalrat Lukas Reimann, SVP (Bild thk)

Interview mit Nationalrat Lukas Reimann

Zeitgeschehen im Fokus Wie muss man die Entscheidung des Bundesrates, drei Punkte beim Rahmenabkommen zu klären, bewerten?

Nationalrat Lukas Reimann Die Entscheidung des Bundesrats ist reine Vernebelungs- bzw. Verschleierungstaktik, um die Stimmbevölkerung hinters Licht zu führen.

Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Wenn man die Medienmitteilung der EU liest – was im übrigen sehr spannend ist – kann man feststellen, dass sie die Antwort des Bundesrats bejubelt hat. Sie schreiben, dass das ein Durchbruch sei und sie dem Bundesrat dazu gratulierten. 

Wie hat sich denn der Bundesrat dargestellt?

So, als wenn er für Schweizer Interessen kämpfen würde. Er will verhandeln über Punkte, bei denen es nichts mehr zu verhandeln gibt. Hier gibt es nur ein Ja oder ein Nein. Das heisst, entweder unterwerfen wir uns oder wir lehnen das Ganze ab.

Wie sollte der Bundesrat reagieren?

Das Ganze zurückweisen, denn ein Land, das seit Hunderten von Jahren demokratisch ist, macht bei solch einem Vertrag nicht mit. Man könnte in der Nach-Junker-Ära einen Neuanfang wagen, anstatt jetzt diesen Vertrag durchzuboxen.

Was wäre denn ein gangbarer Weg?

Wir können in jedem einzelnen Bereich, wenn es sinnvoll ist, etwas mit der EU aushandeln, was für beide Seiten von Vorteil ist, aber wir wollen nicht von der EU gefesselt werden. Denn das ist der Sinn eines solchen Rahmenabkommens, damit die Rechtsordnungen zwischen der EU und der Schweiz kompatibel sind. Das wollen wir gerade nicht in der Schweiz. Wir haben ein anderes Verständnis von Demokratie, auch weil wir nicht EU-Durchschnitt sein wollen. Die Taktik, die der Bundesrat hier anwendet, ist unheimlich gefährlich.

Wo liegt das Hauptproblem bei diesem Rahmenabkommen? 

Das Hauptproblem ist die Unterwerfung unter die EU und damit verbunden ein Verlust an Souveränität. Man schafft nicht gleich die Demokratie ab, aber einen grossen Teil der Demokratie. Das Volk darf dann noch im Dorf über das Parkticket abstimmen oder wie hoch die Parkgebühr sein darf. Über die grossen Fragen wie Steuern, Finanzen, Verkehr, Militär oder Neutralität wird das Volk nicht mehr entscheiden können.

Warum nicht?

Weil die Schweiz über den Rahmenvertrag an die EU gebunden ist. Das ist für mich der schwerwiegendste Punkt. Hier wird die staatliche Souveränität massiv beschnitten. Ich gebe aber zu, dass es sich für die Bevölkerung etwas anders darstellt, obwohl sie im Endeffekt nichts mehr zu sagen hat. Den Stimmbürger wird der Lohnschutz beschäftigen, die Arbeitsplätze. 

Wird das im Rahmenabkommen gelöst?

Nein. Das ist nicht das Problem des Rahmenabkommens. Das Problem besteht wegen des Personenfreizügigkeitsabkommens, und das Rahmenabkommen zementiert das Ganze. Wir müssen zu einer neuen Art von Einwanderung kommen, die gerechter ist und die den einheimischen Arbeitnehmer mit einem echten Inländervorrang schützt.

Wie ist das Verhalten des Bundesrats zu bewerten?

Das Gemeine an der Kampagne ist, dass bürgerlich wirkende Bundesräte vorne hingestellt werden wie z. B. Karin Keller-Suter. Sie ist wahrscheinlich eine sehr aktive Kraft bei solchen Plänen. Die Bevölkerung glaubt ihr, dass sie nicht in die EU will und es für unser Land gut meint. Ich habe das auch geglaubt. Um so schwieriger ist es, der Bevölkerung klar zu machen, dass das Rahmenabkommen nicht positiv für die Schweiz ist. 

Wem würde denn das Rahmenabkommen etwas bringen?

Da müssen wir einmal Klartext sprechen, denn das macht niemand mehr in unserem Land: Es sind die multinationalen Konzerne. Es sind nicht einmal die Bürokraten in Brüssel. Es sind die ganz grossen Konzerne, die die Economiesuisse finanzieren, die alle grossen Abstimmungskampagnen finanzieren, die weite Teile der Parteien in diesem Land finanzieren und die das Sagen haben. Diese Konzerne mögen zwar den Sitz in der Schweiz haben, und wir haben das Gefühl, es sei eine Schweizer Firma, aber das Sagen haben Blackrock oder andere Multimilliardäre. Die Konzerne haben natürlich nicht die gleichen Interessen wie die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Ich vertrete die Interessen der hart arbeitenden Bürgerinnen und Bürger und nicht derjenigen, die Riesengewinne generieren. 

Das Rahmenabkommen ist doch eine Fortführung der Expansionspolitik der EU?

Ja, es ist der Vorteil für die multinationalen Konzerne. Ein Gross­konzern hat in Europa Interesse an gleichen Regeln und Gesetzen und geringen Währungsschwankungen, damit er möglichst einfach seine Produkte an den Mann bringen kann. Der Bürger hat aber eine Heimat, in der er sich zu Hause fühlt und in der er auch in Zukunft leben möchte. Daran glaube ich, daran glauben wir und deshalb wollen wir nicht, dass die ganze Welt gleichgemacht wird. 

Damit wird offensichtlich, es zählt nicht mehr der demokratische Weg, sondern der Weg der Wirtschaft.

Ja, die Frage ist, zählt jeder Kopf eine Stimme oder zählt jeder Franken eine Stimme. Als Demokrat ist die Antwort für mich klar, aber die Firmenbosse, die in ihrem Leben alles kaufen können, was sie wollen, die stört das, wenn ein paar aufmüpfige Bürgerinnen und Bürger mit der EU, wie sie sich heute präsentiert, nicht einverstanden sind und finden, es müssten andere Regeln herrschen. Diejenigen, die sich gegen den Demokratieabbau stellen, denen müssen wir den Rücken stärken. All denjenigen, die mit den Entwicklungen in ihren Ländern nicht einverstanden sind, dient die Schweiz als Hoffnungsschimmer, als Beweis, dass man demokratisch erfolgreich mitten im Herzen von Europa gut leben und arbeiten kann. Das stört sie am meisten. 

Hinter all dieser Politik steht doch ein Ziel. Was denken Sie, worum geht es?

Es geht, wie schon angedeutet, darum, dass die multinationalen Konzerne ihre Geschäfte machen können, und das geht am besten, wenn man den Nationalstaat abschafft. Dahinter steht auch die Argumentation, die sagt, dass man gegen China und die USA nur bestehen kann, wenn man selbst ein riesiges Konstrukt ist, wie es China oder die USA sind. Aber das Gegenteil ist der Fall. Europa war zum stärksten Kontinent in der Welt geworden durch seine Vielfalt. Europa ist heute viel zu wenig innovativ und das hängt mit der allgemeinen Nivellierung zusammen. Alles wird vereinheitlicht, die Länder, das Recht, die Presse. Dazu kommt noch, dass es für Grossstaaten viel schwieriger ist in 20 Staaten Fuss zu fassen als in einem Einheitsstaat. 

Herr Nationalrat Reimann, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern

Rahmenabkommen mit der EU – ein Abkommen mit Zeitzünder

von Rudi Berli, Sekretär Uniterre*

Die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU sollen mit dem im Dezember 2018 unterbreiteten Vertragsvorschlag neu geregelt werden. 

Verträge zu Personenfreizügigkeit, Luft- und Landverkehr, Landwirtschaft, technischen Handelshemmnissen sowie zukünftige Verhandlungen in anderen Sektoren (z. B. Strom) wären betroffen. Dieser Vertrag soll den Handel vereinfachen und vergangenen und zukünftigen Verträgen übergeordnet werden. Wettbewerbsverfälschung und Handelshindernisse sollen aus dem Weg geräumt und Herkunftskriterien für Waren weiter ausgeschlossen werden. Darunter sind mehr Konkurrenz und die Aushebelung öffentlicher Interessen zu verstehen. Die Landwirtschaft und die Ernährungspolitik sind in grossem Masse von dieser Weichenstellunge betroffen. Heute regeln das Freihandelsabkommen von 1972 und der Landwirtschaftsvertrag von 1999 die Handelsbeziehungen. Schon jetzt leidet die bäuerliche Landwirtschaft der Schweiz unter dem wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Dumping aus der EU. Doch dem Bundesrat ist es noch nicht genug. Im vorgelegten Rahmenabkommen soll die demokratische Einflussnahme weiter eingeengt werden. Die Entscheidungsmacht soll im Streitfall über Verhältnismässigkeit von Gegenmassnahmen dem Europäischen Gerichtshof übertragen werden. Damit verschärft sich die Tendenz, ernährungspolitische Entscheide auf eine juristische Ebene zu verlagern. Dies nachdem auch in der täglichen Arbeit in der landwirtschaftlichen Produktion die bürokratische Kontrolle ständig steigt!

Druck der EU

Auch in der EU ist die Situation der Landwirtschaft katastrophal. Unter dem Konkurrenzdruck durch die Marktöffnung sinken die Produzentenpreise, die Betriebe werden industrialisiert und die bäuerliche Landwirtschaft systematisch zerstört. Alle drei Minuten verschwindet in der EU ein Bauernhof. Dabei fehlt im Moment trotz der politischen Krise in Europa noch der demokratische Spielraum, um die lokale, nachhaltige Produktion zu schützen und zu entwickeln. Dies ist aber nicht nur angesichts der Klimabedrohung eine dringend notwendige Massnahme. Die liberale Plattwalze unter der Führung der EU-Kommission und einem Teil der Schweizer Regierung will jetzt eine rasche Ratifizierung des Rahmenabkommens erzwingen.

Was steht konkret auf dem Spiel?

Sofern das Abkommen zustande kommt, würden mit dem einheitlichen Rechtsraum nichttarifäre Handelshemmnisse abgebaut und künftig laufend aufdatiert. Das bedeutet eine dynamische Übernahme des europäischen Rechtes. Die Übernahme des Cassis-de-Dijon-Prinzipes hat gezeigt, was das bringt. Das Rahmenabkommen stellt eine eigenständige Schweizer Agrarpolitik in Frage und bedroht die Ernährungssouveränität. Das Direktzahlungssystem oder gleichwertige öffentliche Massnahmen, wie zum Beispiel das Gentechverbot, können als Handelshemmnisse erklärt werden und Anlass zu rechtlichen Schritten der EU werden. Tatsächlich steht in einer Fussnote im Abkommen, es würden Verhandlungen zur Frage von gentechnisch verändertem Saatgut geführt. Bisher gilt, dass die Schweiz den Import von genetisch verändertem Saatgut aus der EU verbieten darf. Doch Brüssel weigert sich, dies auch im geplanten Rahmenabkommen zu garantieren. 

Auf dem Spiel steht auch der Lohn- und Einkommensschutz für die ganze Schweiz. Dabei geht es nicht nur um die Acht-Tage-Regel, sondern auch um die Kautionspflicht, das Schweizer Sanktionssystem, die Zahl der Lohnkontrollen und das System der allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträge. Das Abkommen läuft auf einen Abbau der Schutzmassnahmen bei Entsendungen hinaus. Die Entsenderichtlinie hat in Europa bereits zu einem allgemeinen Lohndumping geführt. Zudem wäre jede künftige Anpassung des Schweizer Lohnschutzes von der Zustimmung der EU abhängig.

Das ganze Projekt eines umfassenden Rahmenvertrages ist zu bekämpfen. Die Schweiz hat bis anhin gut getan, Wirtschaftsverträge sektoriell abzuschliessen. Es gibt keinen Grund, sich von Bundesrat oder gar der EU mit Drohungen erpressen zu lassen. 

Quelle: «Die unabhängige bäuerliche Zeitung»  Nr.3, Juli 2019

www.uniterre.ch

Pressemitteilung: Mercosur-Abkommen: Nicht um jeden Preis

von Rudi Berli, Sekretär Uniterre*

Die Schweizerische Vereinigung für einen starken Agrar- und Lebensmittelsektor (SALS)fordert den Bundesrat auf, die Interessen der Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft und der Schweizer Konsumenten zu berücksichtigen. Der Europäischen Union darf nicht blind gefolgt und ein Freihandelsabkommen mit dem Mercosur nicht um jeden Preis abgeschlossen werden.

Am Freitag, 28. Juni 2019, haben die Europäische Union und die Mercosur-Staaten nach über 20-jährigen Verhandlungen ein Freihandelsabkommen abgeschlossen. Die Schweiz versucht über die Europäische Freihandels­assoziation EFTA ebenfalls ein Abkommen abzuschliessen. Die SALS erinnert daran, dass die Exporte in Mercosur-Staaten nur gerade 1,5 % der gesamten Schweizer  Ausfuhren entsprechen. Die Mercosur-Staaten, insbesondere  Brasilien und Argentinien, sind Schwergewichte in der weltweiten Lebensmittelproduktion. Brasilien ist der weltweit grösste Exporteur von Geflügelfleisch, Zucker und Soja. Die Landwirtschaft und die Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft können mit derartigen Konkurrenten, die über deutlich grössere Strukturen verfügen und viel weniger strenge Anforderungen bezüglich Tierwohl und Umwelt haben als wir, nicht mithalten. Die SALS weist darauf hin, dass nicht nur die 52 000 Landwirtschaftsbetriebe in der Schweiz, sondern auch der Verarbeitungssektor auf dem Spiel steht. Es dürften vermehrt teilweise verarbeitete Lebensmittel eingeführt werden, wodurch langfristig Arbeitsplätze in diesem Bereich betroffen wären. Ein Freihandelsabkommen mit dem Mercosur würde nicht dazu beitragen, die Produktionskosten in der Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft zu senken.

Die SALS fordert den Bundesrat auf, den geschützten geografischen Angaben gebührende Bedeutung beizumessen. Der Europäischen Union ist es mit dem Mercosur-Abkommen gelungen, verschiedene geografische Angaben zu schützen. Die Schweiz muss zwingend dasselbe für ihre 37 AOP und IGP tun. Ausserdem gilt es im Hinblick auf die sensiblen Produkte, insbesondere Rind- und Pouletfleisch, Getreide, Ölsaaten und Zucker, äusserst wachsam zu bleiben.

Das Volk will einen Übergang zu einer nachhaltigeren, umweltfreundlicheren Wirtschaft. Daher stellt sich die Frage, ob Freihandelsabkommen wie jenes zwischen der EU und dem Mercosur noch aktuell sind. Ein Freihandelsabkommen mit mehr Transport und mehr Sojaflächen zulasten des tropischen Regenwaldes würde die Klimaerwärmung weiter anheizen. Die SALS erinnert daran, dass Artikel 104a unserer Bundesverfassung vorsieht, dass die grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen zur nachhaltigen Entwicklung beitragen müssen. Sollte ein Abkommen zwischen der EFTA, welcher die Schweiz angehört, und dem Mercosur diese Bedingungen nicht erfüllen, ist dieses abzulehnen.

Bern, 2. Juli 2019

Auskunft: Hans Jörg Rüegsegger, Präsident SALS-Schweiz, Riggisberg, 079 393 87 50

David Rüetschi, Generalsekretär SALS-Schweiz, Lausanne , 079 677 82 12

Es gibt keinen autoritäreren «Lehrer» als ein Computerprogramm

von Dr. phil. Alfred Burger, Erziehungswissenschaftler

Von der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz verspricht man sich heute wahre Wunder. In den Medien häufen sich Artikel, die uns eine nie für möglich gedachte Zukunft beschreiben: autonome Autos, Roboter, die Kunden empfangen und beraten, Roboter in Spitälern und Altersheimen, Roboter in Schulen, um Lehrer zu ersetzen, Programme, mit denen Kinder punktgenau und individuell geschult werden und so weiter und so fort.

Neben der Frage, ob das alles wünschbar ist und was das eigentliche Ziel hinter diesen ganzen Bestrebungen sein soll, bleibt auch die Frage, ob das alles realisierbar ist, was uns die Computerindustrie verspricht.

Was der Computer kann …

Die Anwendungsgebiete sind riesig und überall, wo maschinelles Lernen, d.h. das Erkennen von Mustern wichtig ist, ist der Computer dem Menschen haushoch überlegen. So werden Rechner mit allen vorliegenden Daten von Kunden gefüttert. Auf der Basis des Kaufverhaltens Tausender von Kunden findet der Computer Verhaltensmuster heraus, die künftige Kaufentscheidungen ganz gut voraussagen lassen. Maschinelles Lernen heisst also Erkenntnisgewinn durch statistische Zusammenhänge anstelle von logischen Schlussfolgerungen. Algorithmen spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie sollen beispielsweise erkennen, wenn ein Schüler bei der Lösung von Aufgaben am Computer überfordert ist, und führen ihn dann automatisch zu Aufgaben, die seinem Können angepasst sind. Sie stellen ihm Prüfungsaufgaben zusammen und führen ihn Schritt für Schritt zu einem höheren Niveau. So der Computer, der sein «Wissen» aus Tausenden von Daten anderer Kinder hat, die alle von einem Menschen interpretiert und eingegeben worden sind. Diese rein maschinell erworbenen und angewendeten Daten sollten nun in einem hohen Masse auf das einzelne Kind, das vor dem Computer sitzt, zugeschnitten sein. 

Was der Computer nicht kann …

Aber ist das Kind wirklich überfordert? Vielleicht hatte es keine Lust? Ein Kind hat Freude an Herausforderungen, ein anderes macht lieber das, was es schon kann. Oder eines lernt besser, wenn es zuhören kann und nicht selber machen muss. Es gibt so viele Erklärungen, wie es Kinder gibt. Kein Kind ist wie das andere, keines lernt gleich wie das andere, es ist auch nicht ein Durchschnitt von Tausenden anderer Kinder. Es ist eine Individualität, die es nur einmal auf der Welt gibt. Darum hat das Lernen am Computer mit Lernen im umfassenden Sinne nichts zu tun. Es ist rein mechanisch und einem normalen Kind wird das alles ziemlich bald verleiden. Auch wenn der Computer über die Kamera mit Gesichtserkennung z. B. Unlust oder Freude erkennen will, jedes Kind gibt solchen Gefühlen auf mannigfaltige Weise Ausdruck. Dann hat das Kind wechselnde Stimmungen, die jedes Kind wieder auf verschiedene Weise zeigt. Dann wieder ist es mit dem Streit beschäftigt, den es in der Pause mit der Nachbarin gehabt hat. Kein Computer kann hinter Handlungen und hinter der Mimik eines Kindes die wirklich zugrundeliegenden Motive erkennen, auch wenn das die Industrie verspricht. Vor allem wird der Computer die Logik von Gefühlen nicht erkennen können. Das kann nur der Mensch, der sich in andere einfühlen kann. 

Was es zum Lernen braucht

Es braucht eine Lehrerin oder einen Lehrer, der die Kinder in ihrer Individualität kennt und weiss, wie sie «ticken». Ein Lehrer, der anleitet, erklärt und die Kinder zu guten Schülern erzieht, weiss, dass der eine immer schaut, wo der andere steht und nie zu seiner Sache kommt. Er spricht mit ihm und überzeugt ihn, dass er auch lernen kann. Einem anderen Kind, das gerade aufgibt, wenn ihm der Buchstabe nicht so gut gelungen ist, macht er vor, wie viel Übung es braucht, bis man ein Meister ist. Einen Dritten, der nur glücklich ist, wenn er der Schnellste und Beste von allen ist, leitet er an, einem schwächeren Kind zu helfen. Ein solcher Lehrer weiss aus Erfahrung, wie gewichtig sein erzieherischer Einfluss auf die Kinder ist, weil sie nämlich von Natur aus auf die Lehrerin oder den Lehrer ausgerichtet sind. Das alles kann der Computer nicht leisten, er bietet keine Beziehung an, er erkennt kein zugrundeliegendes Motiv, und was am schlimmsten ist: er trimmt die Kinder auf eine Art zu lernen, die irgend jemand als richtige Art erkannt und den Computer dementsprechend programmiert hat. Von Vielfalt und Individualität keine Spur! Die Schulbehörden und hinter ihr die Computerindustrie versprechen individuelles Lernen – in Wirklichkeit gibt es keinen autoritäreren «Lehrer» als das Computerprogramm. 

Die Computerindustrie wird schon wissen, dass die Lehrer unersetzlich sind, aber ein Geschäft mit dem Verkauf von Computern kann man allemal machen, wenn die Politiker mitmachen. Schon heute warnen Fachleute vor deren zu frühem Einsatz, weil die Kinder damit viel schlechter lernen. 

Dann stellt sich auch die Frage, was man mit der Digitalisierung will, wie sie heute nicht nur in den Schulen, sondern praktisch überall vorangetrieben wird. Sollen wir Menschen abgeschafft werden? 

Zurück