Mit ihrer Rolle im Ukraine-Krieg könnte die Europäische Union ihre eigene politische Zukunft riskieren

von Michael von der Schulenburg und Hans-Joachim Funke*

Die für den Westen sich verschlechternde militärische Lage in der Ukraine und der zunehmende Rückzug der USA aus diesem Krieg haben eine Situation entstehen lassen, in der die EU nun aufgerufen ist, eine Führung bei der Lösung dieses Krieges zu übernehmen. Wohl zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hätte somit die EU die Möglichkeit, unabhängig von geopolitischen Überlegungen der USA, das Schicksal Europas in einer so entscheidenden Frage wie Krieg und Frieden auf europäischem Boden in eigener Verantwortung mitzubestimmen. Man sollte erwarten, dass sich hier die EU und ihre Mitglieder aus ihren ureigensten Interessen heraus als das europäische Friedensprojekt beweisen würden, als welches es bei seiner Gründung einmal gedacht war.

Erschreckenderweise ist dem aber nicht so. Im Gegenteil! Während sich im amerikanischen politischen Establishment Rufe nach Verhandlungen mit Russland verdichten, gehen regierende Politiker der EU und fast aller ihrer Mitgliedsstaaten genau den umgekehrten Weg und verfangen sich in immer schrilleren Kriegsaufrufen und immer irrationaleren und sinnloseren militärischen Drohgebärden. Die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung der dem Krieg zugrunde liegenden Probleme wird dabei nicht einmal in Erwägung gezogen. 

Die grosse niederländische Zeitung NRC, die wie auch die etablierten deutschen Medien bisher eine Befürworterin der Fortsetzung des Krieges war, publizierte vor einigen Tagen warnend einen Bericht unter dem Titel «Die Niederlande rutscht schlafwandelnd in einen neuen Weltkrieg hinein». Eine solche Warnung gilt sicherlich auch für die gesamte EU. Riskiert eine politische Elite in der EU aus einem falschen Selbstgerechtigkeitsgefühl heraus Europas Niedergang? 

Die USA verabschieden sich vom Ukraine-Krieg

Seine diesjährige Rede zur Lage der Nation begann Präsident Biden wieder einmal damit, der Ukraine seiner uneingeschränkten Unterstützung zu versichern. Nur, dieses Mal blieben es leere Worte. Viel entscheidender waren wohl zwei andere Bemerkungen in seiner Rede: Zum einen betonte er, dass er in keinem Falle amerikanische Soldaten in den Krieg auf ukrainischen Boden schicken werde und dass nur die Ukraine Russland stoppen könne. Wie die Ukraine das nach zwei Jahren eines bereits mit einem hohen Blutzoll und Zerstörungen ihres Landes bezahlten Krieges tun soll, hat Biden nicht erwähnt, auch nicht, wie die Unterstützungen der USA aussehen würden. Es ist daher gut zu verstehen, warum die Frau des ukrainischen Präsidenten die Einladung Präsident Bidens, bei seiner Rede demonstrativ im US-Kongress zu sitzen, ablehnte. Die Ukrainer – und insbesondere Präsident Selenskyj – müssen sich von den USA verraten fühlen. 

Denn, während ukrainische Streitkräfte immer stärkere Verluste hinnehmen müssen, haben die USA schon seit sechs Monaten ihre finanziellen und militärischen Unterstützungen für die Ukraine weitestgehend eingestellt. Im US-Repräsentantenhaus gibt es keine Mehrheit mehr dafür. Auch in dem mit Bidens Rede fast gleichzeitig verabschiedeten US-Notbudget für die kommenden 6 Monate, wird eine Unterstützung für die Ukraine mit keinem Wort erwähnt. Dieses Notbudget überbrückt den US-Haushalt bis kurz vor den Präsidentschaftswahlen, in denen inzwischen ein Donald Trump die besseren Chancen hat, erneut Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Von allem, was wir von ihm wissen, könnte er über die Köpfe der Ukrainer und auch über die Köpfe der Europäer hinweg mit dem russischen Präsidenten Putin ein Ende des Ukraine-Krieges aushandeln.

Und es ist nicht nur Trump, auch im politischen Anti-Trump-Establishment der USA hat sich inzwischen die Einsicht durchgesetzt, dass dieser Krieg für die Ukraine nicht mehr gewonnen und nur noch über Verhandlungen mit Russl­and – ohne Vorbedingungen – beendet werden kann. So hat die aussenpolitisch einflussreiche Zeitschrift Foreign Affairs gerade einen Leitartikel von Charap (RAND Corporation) und Shapiro (European Council on Foreign Relations) unter dem vielsagenden Titel «How to pave the way for diplomacy to end the war in Ukraine» publiziert. Bereits im Januar hatte Foreign Affairs einen Artikel von Shapiro und Kimmage unter dem Titel «The Myths That Warp How America Sees Russia – and Vice Versa: How Mutual Misunderstanding Breeds Tension and Conflict» veröffentlicht. 

Das Washingtoner Quincy Institut brachte im Februar dieses Jahres einen Artikel von Beebe und Lieven unter dem Titel «The diplomatic path to a secure Ukraine». In diesem Artikel schreiben die Autoren sogar, dass Waffenstillstandsverhandlungen überaus dringlich für die Ukraine wären, da «der Krieg zu keiner stabilen Pattsituation an der Front, sondern zu einem Kollaps der Ukraine führen würde». Bereits im letzten Jahr hatten Haass (damals noch Präsident des US-Council on Foreign Relations) und Kupchan, einer der einflussreichsten amerikanischen aussenpolitischen Berater der Regierung, in ihrem Artikel «The West needs a new strategy for Ukraine: from the battlefield to the nego­tiating table» für eine Verhandlungslösung appelliert. Auch General Milley hatte bereits im letzten Jahr – damals noch als Generalstabschef aller US-Streitkräfte – wiederholt davor gewarnt, den Krieg fortzusetzen, und vorgeschlagen, mit Waffenstillstandsverhandlungen zu beginnen. 

In diesem Zusammenhang muss auch der unerwartete Rücktritt von Victoria Nuland als Unterstaatssekretärin für politische Angelegenheiten des amerikanischen Aussenministeriums gesehen werden. Mit ihr verlässt eine der Hauptverantwortlichen für die desaströs gescheiterte US-Politik der Ausweitung der Nato in die Ukraine und nach Georgien und eine der lautstärksten Anti-Russland-Advokaten die politische Bühne Washingtons. Ihr grösster intellektueller Beitrag zur Diplomatie bestand wohl in ihrer Aussage «Fuck the EU».

Die Europäische Union reagiert kopflos auf den Ukraine-Krieg

Dies hätte die Stunde der Europäischen Union sein sollen, indem sie gerade jetzt Verantwortung übernimmt, um einen friedlichen Weg aus dem Ukraine-Krieg aufzuzeigen. Es waren doch ungelöste Konflikte in Europa, die die Menschheit bereits zweimal in Weltkriege versinken liess. Das sollte Europa nicht wiederholen. Denn trotz allem Gerede von einer Zeitenwende darf das nicht von den ungeheuerlichen Gefahren ablenken, die durch den Ukraine-Krieg erneut vom europäischen Boden für die Menschheit ausgehen. 

Und doch ist heute die Sprache des Krieges das Einzige, was die Mehrheit der europäischen Regierungen und die etablierten Medien verbindet. Dennoch gibt es keine gemeinsame EU-Strategie zum Ukraine-Krieg, keine gemeinsamen Vorstellungen darüber, was man wie erreichen könne. So erklärte der polnische Ministerpräsident, dass Europa bereits im Vor-Krieg, ja vielleicht schon im Krieg sei, und Schwedens Ministerpräsident fordert schwedische Familien dazu auf, sich auf einen Krieg vorzubereiten. Der EU-Kommissionspräsidentin fällt nichts anderes ein, als immer mehr Gelder, mehr Waffen und mehr Munition sowie eine Umstellung Europas auf Kriegswirtschaft zu fordern. Sogar ein Kanzler Scholz, dem wir immerhin verdanken, die Entsendung von Taurus Raketen bisher verhindert zu haben, spricht nur davon, dass Russland den Krieg nicht gewinnen darf. Wäre es nicht sinnvoller, wenn er und seine europäischen Kollegen darüber nachdächten, wie ein Frieden in Europa wieder hergestellt werden könnte?

Wie verbissen und unversöhnlich die EU-Haltung zu Russland weiterhin ist, wird insbesondere in Deutschland an den jeweiligen Entschliessungsanträgen der Regierungs- und Oppositionsparteien im Bundestag zum 2. Jahrestages des Ukraine-Krieges deutlich. Diese Anträge lesen sich eher wie deutsche Kriegserklärungen an Russland, in denen zum Teil höchst fragwürdige Argumente mit unrealistischen Maximalforderungen und gleichzeitigen Drohungen verbunden werden. Für Kompromisse ist kein Platz gelassen. Jeder Versuch von Verhandlungen wird so von vornherein unmöglich gemacht. Nach zwei Jahren Krieg kommt das einer Realitätsverweigerung gleich. Es ist eine Politik des Festhaltens an einer Weiterführung des Krieges, wohl wissend, dass es keine realistische Hoffnung auf einen ukrainischen Siegfrieden geben wird.

Das dürfte auch erklären, warum sich einzelne EU-Mitgliedsländer in einer Art Hilflosigkeit in unverantwortlichen Aktionismus stürzen. Dazu gehören Frankreichs Vorschläge, Nato-Truppen in die Ukraine entsenden zu wollen, und Pläne, in Moldau französische Einheiten zu stationieren, während in Deutschland politische Hardliner wieder einmal an Wunderwaffen glauben und darauf bestehen, der Ukraine Taurus-Raketen zur Verfügung zu stellen. Solche Pläne scheinen undurchdacht und damit potenziell brandgefährlich zu sein. Sie beruhen auf einer Selbstüberschätzung. Denn die EU verfügt weder über die militärischen Möglichkeiten noch über die Unterstützung in der Bevölkerung, um sich in solch abenteuerliche Unternehmungen als Einzelstaaten oder als Gemeinschaft einzulassen. Am Kriegsverlauf würden sie sowieso nicht viel ändern, aber zu einem weiteren Töten und Zerstören in der Ukraine führen. 

Hingegen laufen derartige Pläne Gefahr, zu einer Eskalation des Ukraine-Krieges zu führen, die sich letztlich zu einem gesamteuropäischen oder sogar einem nuklearen Krieg entwickeln könnte. Wenn ein französischer Präsident dazu meint, dass solche Überlegungen nur Feigheit seien und uns deutsche Grünen-Politiker erklären, dass es ein nukleares Risiko gar nicht gebe und wir Moskau ruhig angreifen könnten, spielen sie mit unser aller Überleben. Und wofür? Nur, weil wir uns nicht eingestehen wollen, dass nur noch Verhandlungen diesen Krieg beenden können. 

Die EU könnte am Ukraine-Krieg zerbrechen

Im besten Fall macht sich die EU mit ihrer Ukrainepolitik nur unglaubwürdig; im schlechtesten Fall könnte die EU an dieser Ukrainepolitik zerbrechen. Während die politischen Eliten der EU uns weiterhin weismachen wollen, dass dieser Krieg mit immer stärkeren Waffen oder gar mit einer direkten militärischen Intervention noch zu gewinnen sei, verlieren sie die Unterstützung einer wachsenden Mehrheit der europäischen Bevölkerung und damit an Bodenhaftung und Glaubwürdigkeit. Durch die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen dieses Krieges, könnten sich immer mehr Menschen Europa-feindlichen Parteien zuwenden.

Auch wird die Zeit in einer anderen Hinsicht knapp für die EU. Denn schon in einigen Monaten könnte sich das politische Verhältnis zu den USA durch einen Präsidenten Trump dramatisch verändern. Es gibt erhebliche Unterschiede dazu unter den EU-Mitgliedsstaaten, und es ist zu befürchten, dass ein politischer Erdrutsch in den USA die EU-Mitgliedsstaaten eher spalten wird als sie näher zusammenzubringen. Mit ihrer kompromiss­losen Pro-Krieg- und Anti-Russland-Politik wird sich die EU auch weiter von den meisten Nicht-Nato-Staaten in der Welt isolieren. Dort wird es kein Verständnis dafür geben, weiterhin militärisch zu eskalieren und gleichzeitig Verhandlungen ohne Vorbedingungen mit Russ­land zu verweigern.

Mit dem jetzt eingeschlagenen Weg, ausschliesslich auf eine militärische Lösung und Sanktionen zu hoffen, wird die EU scheitern. Die Europäische Union braucht also aus eigenem Interesse dringend einen Strategiewechsel und der muss auf eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung hinauslaufen, die auch die Ukraine und Russland einschliesst. Die Wahlen zum Europäischen Parlament wären daher eine Gelegenheit für uns Europäer, einen solchen Strategiewechsel herbeizuführen, indem wir am 9. Juni für Frieden wählen. 

Quelle: https://michael-von-der-schulenburg.com/mit-ihrer-rolle-im-Ukraine-Krieg-konnte-die-europaische-union-ihre-eigene-politische-zukunft-riskieren/

* Michael von der Schulenburg ist ehemaliger Assistant Secretary-General der Vereinten Nationen und hat über 34 Jahre in vielen Kriegsgebieten der Welt in leitender Funktion in Uno-Friedensmissionen gearbeitet.
Hans-Joachim Funke ist emeritierter Professor der Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und Autor von «Ukraine – Verhandeln ist der einzige Weg zum Frieden». (Berlin 2023)

Dieser Artikel steht auch in französischer https://www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/fr/newspaper-ausgabe-fr/articles-traduits-en-francais.html#article_1661
und in englischer Sprache https://www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/en/newspaper-ausgabe-en/article-translated-in-english.html#article_1662 zur Verfügung.

veröffentlicht 27.März 2024

Die Uno-Charta verlangt die Ächtung des Krieges und eine friedliche Konfliktlösung

von Thomas Kaiser

Die Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine beherrschen seit Monaten die Politik und die Berichterstattung in den Medien, während andere Konflikte in den Hintergrund getreten sind. Doch auch dort sterben Menschen abseits der medialen Aufmerksamkeit. Auffallend ist, dass der Westen in die meisten Kriege verwickelt ist, politisch, aber auch militärisch, mit Waffen, mit Militärberatern, mit Militärlogistik und mit Soldaten. 

Menschen verhungern vor den Augen der Weltöffentlichkeit

Der Wunsch nach Frieden wird zwar von allen westlichen Regierungen besonders hervorgehoben, aber die Realität spricht dieser Aussage Hohn. Im Gaza-Krieg liefern sie Waffen an Israel und unterstützen die Regierung bei ihrem Zerstörungskrieg. Die humanitäre Katastrophe, die Israel durch seine Kriegsführung anrichtet, wird zwar zunehmend auch von westlicher Seite kritisiert,¹ denn inzwischen ist das menschliche Elend so gross, dass man es kaum noch ignorieren kann. Die NZZ vom 22. März titelt: «Nun verhungern die Menschen in Gaza.» Damit hat der Westen je länger, je mehr ein Rechtfertigungsproblem. 

Auch dem Selbstverteidigungsrecht, auf das sich Israel beruft und darin vom Westen unterstützt wird, werden durch die Uno-Charta Grenzen gesetzt, doch die Waffenlieferungen halten unvermindert an. Damit geht der Krieg mit unveränderter Härte weiter. Die humanitäre Lage verschärft sich zunehmend. Es gelingt nur selten, den Hungernden Nahrungsmittel von aussen in den Gaza-Streifen zu bringen. Diesen Part haben internationale Hilfsorganisationen und andere Staaten übernommen.² Israel, das gemäss der vierten Genfer Konvention als Besatzer dafür verantwortlich ist, die Zivilbevölkerung mit genügend Nahrungsmitteln zu versorgen, überlässt es anderen, die es dabei noch behindert. 

Eigenen Friedensplan verworfen

Das Friedensforschungsinstitut SIPRI in Schweden hält fest, dass die Rüstungsausgaben 2022 gegenüber dem Vorjahr weltweit um 3,7 Prozent gestiegen sind.³ Knapp 2,2 Billionen Dollar wurden 2022 in die Rüstung gesteckt, etwa 40 Prozent davon entfallen auf die USA.⁴ An vorderster Front der Rüstungsexporte liegen zwei Nato-Staaten, USA und Frankreich. Letzteres hat Russland vom zweiten Platz verdrängt. 

Wenn man diese Zahlen sieht und weiss, wie es in manchen Gegenden der Welt aussieht und welches Elend diese Waffen anrichten, fällt es schwer, die Fassung zu behalten. 

Der Westen brachte bisher für nahezu 200 Milliarden Dollar Waffen in die Ukraine.⁵ Hätte er ihr keine Waffen versprochen und geliefert und sie ihren eigenen Friedensvorschlag, der von Russland positiv entgegengenommen wurde, umsetzen lassen, wäre der Krieg nach vier Wochen zu Ende gewesen.⁶ Mehrere Hunderttausend Menschen wären noch am Leben. Wieviel menschliches Elend, Leid, Trauer und Verzweiflung wären Ehefrauen, Grosseltern, Eltern und Müttern, Kindern, deren Väter nur noch tot zurückgekommen sind, erspart geblieben? Die meisten Toten sind wie in jedem Krieg junge Menschen – gestorben, bevor sie richtig gelebt haben. In die Schlacht gejagt, gegen einen Gegner, der völlig überlegen und zu Friedensverhandlungen bereit ist. Der Westen hat das verhindert und die schwerwiegenden Folgen zu verantworten.

Aus, vorbei – die Waffen schweigen! 

«Der Ukraine gehen die Soldaten aus», war in verschiedenen Medien zu lesen.⁷ Das klingt wie: «Mir geht das Geld aus» – mechanisch und ohne Mitgefühl. Es geht um Menschen, die nicht mehr am Leben sind oder schwer verletzt in Krankenhäusern liegen. Die Verluste auf Seiten der Ukraine müssen immens sein, auch wenn Selenskyj von ungefähr 31 000 Gefallenen spricht – wovon jeder einer zu viel ist –, werden es Hunderttausende sein, die ihr Leben verloren haben, und die Zahl wird weiter steigen.⁸ 

«Derzeit aber leidet die Ukraine immer stärker am Mangel an Munition und Waffen.» ist in der NZZ vom 18. März zu lesen. Die Ukraine hat also «Mangel an Waffen» und ihr «gehen die Soldaten aus». Damit ist der Zeitpunkt gekommen, den Krieg endgültig zu beenden. Aus, vorbei – die Waffen schweigen! Es wird sich ohne Vorbedingungen an den Verhandlungstisch gesetzt. 

Von Granaten zerfetzt und von Minen zerrissen

Die westlichen Kriegstreiber haben keinen Funken an Mitgefühl und sind die Totengräber der Ukraine. 500 000 Männer müssen neu rekrutiert werden, damit sie die vom Westen gelieferten Waffen bedienen und die Lücken durch die Gefallenen füllen bzw. die ausgelaugten Soldaten ersetzen können.⁹ Waffen sollen weiter geliefert werden, so dass noch mehr Ukrainer sterben: von Granaten zerfetzt, von Minen zerrissen oder von Maschinengewehrkugeln durchlöchert. Was behauptete Annalena Baerbock, naive und ungebildete Kriegstreiberin der ersten Stunde, arrogant in einem Interview: «Unsere Waffen schützen Leben.» Die Aussage findet sich auf der Homepage des Auswärtigen Amts.10 Jeder, der einen Toten zu beklagen hat, wird diese Aussage als zynisch empfinden – zu Recht.

Da der US-Kongress das milliardenschwere Hilfspaket für die Ukraine gestoppt hat,11 springen die Europäer in die Bresche. Charles Michel, EU-Ratspräsident sagte gemäss der NZZ vom 22. März, die EU müsse zu einer Kriegswirtschaft übergehen – das hatten die Deutschen doch schon einmal: unter dem «Gröfaz».

Wie soll das enden?

Was sowohl im Gaza- als auch im Ukraine-Krieg den einzigen Weg aus der Misere ebnen wird, sind ehrliche Friedensverhandlungen ohne Vorbedingungen über einen Waffenstillstand und über einen ausgewogenen Friedensplan zur Lösung der bestehenden Konflikte. Nur so wird ein dauerhafter Frieden möglich sein. Wenn die Konfliktparteien sich nicht einigen können, müssen andere Staaten zu Hilfe eilen und sich konsequent für den Frieden einsetzen. So wie es die Schweiz früher anbieten konnte oder wie es die Türkei bei den Friedensgesprächen in Istanbul übernahm. Konflikte werden nie durch Krieg gelöst, im Gegenteil, er verstärkt den Konflikt und wird das Verhältnis der verfeindeten Staaten für Jahrzehnte verderben. Die Menschen wollen keinen Krieg, weder Russen noch Ukrainer, noch Schweizer, noch Deutsche, noch, noch, noch …

Werte unserer abendländischen Kultur

Der Schweizer Henri Dunant war es, der nach der Schlacht von Solferino im Jahre 1859 mit seinem verzweifelten Ruf: «Tutti fratelli» in Anbetracht der unendlich vielen Schwerverwundeten und Sterbenden beider Kriegsparteien, den Grundstein für das humanitäre Völkerrecht legte. Beachtet man die Grundsätze der vierten Genfer Konvention, ist kein Krieg mehr führbar.12

Auch die Uno-Charta verlangt die Ächtung des Krieges und eine friedliche Konfliktlösung. Dabei bilden das Selbstbestimmungsrecht der Völker und das friedliche Zusammenleben, wie in der Präambel der Charta festgeschrieben, unverrückbare Prinzipien. Die Menschen haben Instrumente geschaffen, um Kriege sofort zu beenden oder sie zu verhindern. Wenn es heisst, die Uno ist gescheitert, dann klingt das abstrakt. Die Uno kann nur so viel erreichen, wie konsequent sich die 193 Mitgliedsstaaten an die Charta halten. Versagt haben die Menschen, die die Uno-Charta ignorieren.

Wenn wir in ein paar Tagen Ostern feiern, werden wir es mit einer gewissen Beklemmung tun. Aber die Tage bieten auch die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was das Fundament unseres Zusammenlebens bestimmt: Frieden, Versöhnung, Barmherzigkeit, Bescheidenheit, Nächstenliebe … Das sind Werte unserer abendländischen Kultur, die nicht zuletzt im Christentum begründet sind. 

¹ www.deutschlandfunk.de/borrell-kritisiert-israel-wegen-notlage-im-gazastreifen-protest-von-aussenminister-katz-100.html
² www.swissinfo.ch/ger/usa-wollen-hilfsg%C3%BCter-%C3%BCber-gaza-abwerfen/73239123
³ www.tagesschau.de/ausland/europa/sipri-bericht-militaerausgaben-2022-101.html
www.tagesschau.de/ausland/europa/sipri-bericht-militaerausgaben-2022-101.html
de.statista.com/infografik/27275/ruestungs-und-waffenhilfezusagen-von-regierungen-an-die-ukraine/
zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-15-vom-26-oktober-2023.html#article_1574
www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/ukraine-gehen-soldaten-aus-die-meisten-freiwilligen-sind-entweder-verletzt-erschoepft-oder-tot_id_259662179.html
www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/selenskyj-zahl-toter-soldaten-ukraine-krieg-russland-100.html
9 www.deutschlandfunk.de/ukraine-krieg-mobilisierungsplaene-100.html
10 www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/interview-aussenministerin-baerbock-sz/2557862
11 www.tagesschau.de/ausland/amerika/us-senat-milliardenhilfen-migration-ukraine-israel-100.html
12 www.fedlex.admin.ch/filestore/fedlex.data.admin.ch/eli/cc/1951/300_302_297/20140718/de/pdf-a/fedlex-data-admin-ch-eli-cc-1951-300_302_297-20140718-de-pdf-a.pdf

 

Präambel
Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, 

künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,

unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob gross oder klein, erneut zu bekräftigen,

Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können,

den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in grösserer Freiheit zu fördern, und für diese Zwecke

Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben,

unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren,

Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und

internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern – haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.

Quelle: unric.org/de/charta/#praeambel

 

veröffentlicht 27. März 2024

Ukraine / Israel / Palästina: «Aus unserer Unfähigkeit, Krisen zu verstehen, resultiert die Unfähigkeit, sie zu lösen»

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild thk)
Jacques Baud (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus In den Mainstream-Medien wird erzählt, dass Russland in der Ukraine militärisch nur langsam vorwärtskomme. Auch gibt es Berichte, die davon sprechen, dass die Russen grosse Verluste hätten. Dann liest man, was man schon seit dem Beginn des Krieges hört, dass die Russen keine Munition mehr hätten, ganz viele Panzer verlören und so weiter. Was wissen Sie über die aktuelle Lage?

Jacques Baud Zuerst möchte ich eine Bemerkung machen. Wenn wir in den Medien lesen und hören, was Sie gerade erzählt haben, und Macron und die Nato dagegen behaupten, Russland würde Europa angreifen, dann ist das völlig widersprüchlich. Politiker und Medien sollten einmal ihr logisches Denken analysieren. Was uns erzählt wird, ist nicht einmal Propaganda, es ist reine Desinformation. Propaganda kommt aus dem Lateinischen und bedeutet, etwas hervorzuheben, was es wert ist, hervorgehoben zu werden. Propaganda kann Schlechtes oder Gutes hervorheben, aber es bezieht sich auf Dinge, die irgendwo existieren. Das haben wir hier nicht. Es werden bewusst Aussagen kreiert mit dem Ziel, das Bedrohungsbild zu verfälschen. Die Kommunikationsstrategie des Westens besteht darin, zu sagen, dass Russland schwach sei und es nur einer kleinen Anstrengung bedürfe, um es in eine Niederlage zu stürzen. Um die Vorstellung von dieser Schwäche zu verstärken, wird behauptet, dass Russland nicht in der Lage sei, seine Ziele zu erreichen, die es – in Wirklichkeit – nie erklärt hat, sondern die ihm vom Westen unterstellt werden. 

Heute haben wir jedoch ein anderes Bild von der Situation, da die Realität mit unserem Narrativ kollidiert. Das bedeutet zwei Dinge.Zum einen, dass wir nicht in der Lage waren, die tatsächlichen Fähigkeiten Russlands und der Ukraine einzuschätzen. Mit anderen Worten: Unsere Geheimdienste haben uns eindeutig ein falsches Bild vermittelt.

Zum anderen haben die westlichen Politiker Öffentlichkeit und – was noch schlimmer ist – Selenskyj selbst eindeutig belogen. Ich hatte in Ihrer Zeitung bereits über die völlige Unkenntnis unseres Botschafters bezüglich der Lage in der Ukraine berichtet.

Ende Februar erklärte Selenskyj selbst, dass der Westen ihm nur 30 Prozent der für 2023 versprochenen Artilleriemunition bis Ende März 2024 geliefert habe. Es wird (erst jetzt) deutlich, dass die westlichen Rüstungsproduktionskapazitäten unzureichend sind.

Wenn man dann noch die Krise an der Spitze der ukrainischen Streitkräfte, den Mangel an Soldaten, die in den Kampf ziehen können, und das Zögern des US-Kongresses, die Finanzierung der Ukraine fortzusetzen, hinzunimmt, stellt man fest, dass der Westen ein böses Erwachen erlebt hat.

Die westliche Rhetorik musste zur Realität zurückkehren. So sagt Emmanuel Macron nicht mehr, dass «die Ukraine gewinnen wird» oder dass «Russland nur verlieren kann», sondern dass man «Russ­land daran hindern muss, zu gewinnen». Es geht also nicht mehr um die Niederlage Russlands, sondern es darf nicht gewinnen. 

Ich glaube, dass der Schwerpunkt von Macrons Äusserungen nicht in der Ukraine, sondern in Frankreich liegt. Wie alle europäischen Länder beginnt Frankreich zu verstehen, dass seine Entscheidungen, insbesondere die Sanktionen gegen Russland und seine Unterstützung für die Ukraine, allmählich teuer werden. Die Inflation ist seit zwei Jahren explodiert, das zweite Jahr in Folge musste Wirtschaftsminister Bruno Le Maire das Wachstum nach unten korrigieren und kündigte einen Sparplan in Höhe von 10 Milliarden Euro an.

In den letzten Monaten gab es in Frankreich erhebliche soziale Unruhen, die Regierung musste mehrere unpopuläre Gesetze per Dekret durchsetzen, die Unsicherheit wächst, und das Land ist tief gespalten. Es ist daher nicht überraschend, dass der Präsident versucht, die nationale Einheit um die Regierung herum wieder herzustellen, indem er einen möglichen Krieg heraufbeschwört. Ganz Eu­ropa leidet unter der gleichen Situation. Hinzu kommt die Befürchtung, dass Donald Trump im November gewählt wird und beschliessen wird, jegliche Unterstützung für die Ukraine oder sogar für die Nato einzustellen. Das erklärt, warum die baltischen Staaten, Polen oder Deutschland die Gefahr einer Invasion heraufbeschwören. Dies ist jedoch nur eine Form von Verschwörungstheorie, die durch keinerlei Fakten gestützt wird. Es ist dabei nicht wirklich ersichtlich, was das Ziel Russlands sein könnte.

Jetzt zur aktuellen Lage. Seit letztem Jahr rückt Russland vor. Wie die Russen schon im Oktober 2022 gesagt haben: Das Ziel ist nicht, Gelände zu gewinnen oder die Ukraine zu zerstören, sondern die Zerstörung des ukrainischen Militärpotentials. Die Russen wollen also nicht unbedingt vorrücken, aber sie zerstören konsequent das Potential, das vor ihnen steht. Und der Westen spielt dabei mit. Macron hat nicht angegeben, wie die französischen Truppen in der Ukraine eingesetzt werden sollen. Es gibt zwei mögliche Szenarien: die Ersetzung ukrainischer Soldaten in nicht-kämpfenden Funktionen durch französische Soldaten oder die Ersetzung ukrainischer Einheiten durch französische Einheiten in weniger gefährdeten Gebieten, zum Beispiel an der Grenze zu Belarus.

Das Problem für die Ukraine besteht seit langem darin, Soldaten zu finden. Sie haben keine. Die Washington Post berichtet, dass die Männer aus ukrainischen Dörfern verschwunden sind. Aus politischen Gründen sind die Städte noch nicht von diesem Phänomen betroffen. In dieser Situation würde Frankreich die Zerstörung der ukrainischen Armee nur beschleunigen. Das ist genau das, was dem russischen Kriegsziel entgegenkommt. Es wäre auch denkbar, dass französische Truppen in Gebieten wie Kiew oder Odessa eingesetzt würden, um als «menschliche rote Linie» zu fungieren und eine russische Offensive zu verhindern.

Wie sind denn die «Erfolge» der Ukraine bei einzelnen Aktionen zu bewerten?

Ja, sie haben Aktionen im Schwarzen Meer und im Grenzgebiet von Russland, im Raum Belgorod und Kursk durchgeführt. Bei diesen Einzelaktionen sieht man keine operativen Ziele. Sie haben auch keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Krieges. Im Schwarzen Meer haben sie Schiffe beschädigt, und es sind auch welche gesunken, aber eigentlich sind das kosmetische Resultate. Es handelt sich in der Ukraine um einen Landkrieg und keinen Seekrieg. Das sind kleine Erfolge, die innenpolitische und aussenpolitische Wirkung zeigen, die Propagandawirkung haben. Die aktuellen Aktionen im Gebiet um Belgorod hatten sehr wahrscheinlich einen Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen in Russland. Es ging darum, zu zeigen, dass das Land nicht sicher ist, die Regierung nicht über das Land herrscht, der Krieg sogar das russische Territorium betrifft. Diese Aktionen werden von rechtsextremen (und sogar neonazistischen) Gruppen durchgeführt, die an der Seite der Ukraine kämpfen. Das ist sehr interessant, weil es zeigt, dass die Opposition gegen Putin zum Teil Neonazis sind. Umgekehrt zeigt es, dass wir solch eine Opposition unterstützen.

Diese Gruppen führen lediglich terroristische Aktionen durch, die keinen Einfluss auf die Durchführung von Operationen in der Ukraine selbst haben.

Kommt Nawalny nicht auch aus dieser politischen Ecke?

Ja, zum Teil, aber es ist etwas komplizierter. Er war kein Neonazi. Er gehörte zu einer Opposition, die sich aus extrem-Linken und extrem-Rechten zusammensetzt, aber es ist eine marginale Opposition in Russland. Das ist der Grund, warum Nawalny nie eine richtige Partei hatte bilden können. Ihre einzige Gemeinsamkeit ist, dass sie gegen die Regierung Putin sind. Es gibt kein Programm, es gibt keine Vision, es gibt kein Engagement für Russland. Aufgrund dessen hat er sehr wenig Unterstützung und sehr wenig Resonanz in der russischen Gesellschaft.

Sie haben vorhin erwähnt, dass das Ziel der Russen nicht der Geländegewinn sei. Besteht nicht auch das Ziel, die Oblaste, die von Russland als russisches Staatsgebiet anerkannt sind, bis zu den jeweiligen Grenzen zu erobern?

Man kann sehen, dass im März 2022, als Selenskyj einen Vorschlag zur Lösung des Konflikts an Russland übermittelt hatte, Russland mit dem Vorschlag einverstanden war und bereit, diese Oblaste an die Ukraine zurückzugeben. Lawrow hat das Abkommen als zielführend bewertet. Es waren nur die zwei Republiken im Donbas und die Krim, über die man noch verhandeln musste, um eine einvernehmliche Lösung zu finden, und da sah der Vertrag einen Zeitrahmen vor. Dabei ging es nur um Gebiete, die Russland schon vor dem 24. Februar 2022 als territoriale Erweiterung anerkannt hatte.

Die Russen waren also damals mit der Rückgabe dieser Gebiete einverstanden, im Gegenzug hatte Selenskyj vorgeschlagen, dass die Ukraine neutral bleiben sollte.

Frankreich und Deutschland forderten Russland daraufhin auf, als Zeichen des guten Willens seine Truppen aus dem Kiewer Sektor abzuziehen, was es auch tat. Diese beiden Länder waren also in die Verhandlungen involviert. Kaum hatte Russland seine Truppen abgezogen, forderte der Westen Selenskyj auf, seinen Vorschlag zurückzuziehen. Aus diesem Grund hat Wladimir Putin heute nicht nur kein Vertrauen in die westlichen Länder (insbesondere Frankreich und Deutschland), sondern wird bei neuen Verhandlungen auch nicht mehr die Zugeständnisse machen, die Selenskyj im März 2022 abgelehnt hatte!

Nach der verlorenen Offensive gab es im Westen eine Ernüchterung, dass der Krieg nicht zu gewinnen sei. Die Hoffnung stieg, dass es doch noch zu Verhandlungen kommen könnte. Aber in den letzten Wochen beobachtet man wieder eine stärkere Mobilisierung, um den Krieg weiterzuführen. Macron, Scholz und Tusk signalisieren Einigkeit und wollen weiter Waffen an die Ukraine liefern. Können Sie das auch feststellen?

Letztes Jahr, als sich die ukrainische Offensive als Misserfolg herausgestellt hatte, wollte man das in Europa zunächst nicht wahrnehmen. Die Bemühungen seitens des Westens sind gescheitert. Die Bevölkerung, besonders in Deutschland und Frankreich, realisiert immer mehr, dass die wirtschaftliche Lage schlimmer ist als erwartet. Im Westen hiess es immer, «unserer Wirtschaft geht es prächtig», «den Russen geht es schlecht», «Europa ist auf einem guten Weg» und so weiter. Langsam wird jetzt durch verschiedene Aussagen offiziell, dass das Gegenteil der Fall ist. Russ­land hat sich entwickelt, hat viele Verbindungen zu anderen Staaten und eine wirtschaftliche Zusammenarbeit aufgebaut. Der Wirtschaft geht es gut. Im Westen haben wir genau das Gegenteil. Dazu kommen die Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Öl und Gas. Die westlichen Länder realisieren, dass ihre Strategie ihnen selbst schadet. In den USA sieht es so aus, dass Donald Trump wahrscheinlich die Wahlen gewinnt. Er wird eine wirtschaftliche Rechnung machen und feststellen, dass es keinen Sinn hat, in die Ukraine zu investieren, und wird daraus seine Schlüsse ziehen. Die Europäer stehen dann im Regen. Langsam beginnt man die Flucht nach vorne. Europa hat nie eine Strategie gehabt. Es hat Aktionen durchgeführt ohne Kohärenz, ohne vertieftes Überlegen, ohne darüber nachzudenken, was am Ende erreicht werden soll. Es ist gefangen in diesem kurzfristigen Denken. Der Westen muss irgendwie reagieren, und er macht das mit einer Flucht nach vorne.

Welche Bedeutung muss man dem letztens abgehörten Telefonat beimessen?

Bevor man das einordnen kann, müsste man den Kontext genauer kennen. Für Russland wirkt es so, dass westliche Länder einen Angriff auf das Land vorbereiten. Dass ist nicht neu. In meinem letzten Buch, und das war bereits letztes Jahr, habe ich einen Auszug aus einem Vortrag des englischen Nachrichtendienstes über die Zerstörung der Kertsch-Brücke zitiert. Der Westen ist schon lange in den Krieg miteinbezogen. Das ist auch durch die Aussagen von Scholz bestätigt, dass die Franzosen und die Engländer Leute in der Ukraine haben. Für die Bedienung von SCALP beziehungsweise Storm Shadow und für die Zielerfassung sind Franzosen und Engländer bereits in der Ukraine. In Frankreich läuft die Debatte über die Beteiligung am Krieg gegen Russland darauf hinaus, dass die Lieferung von Waffen nicht gleichbedeutend mit einer Beteiligung ist. Das Problem ist, dass die westlichen Länder (Frankreich, Deutschland, Grossbritannien und die Vereinigten Staaten) nicht nur Waffen liefern, sondern auch bei deren Einsatz helfen, indem sie Geheimdienstdaten über den Aufenthaltsort russischer Truppen liefern und in die Logistikkette für die Wartung und Reparatur von im Kampf beschädigten Waffen eingebunden sind. Sie haben an der polnischen Grenze eine Reparaturwerkstätte eingerichtet. Ob diese zwei Kilometer oder nur 200 Meter von der ukrainischen Grenze entfernt ist, spielt keine Rolle. Sie ist Teil der logistischen Kette, auch wenn die Werkstätte auf polnischem Boden steht. Deutschland ist faktisch am Konflikt beteiligt, Frankreich auch. Es funktioniert für die Kevlar-Kanonen nach demselben System. Es existiert eine Werkstätte an der polnischen Grenze. Wenn man jetzt noch Truppen schickt, dann ist Frankreich vollständig im Krieg.

Ich möchte nochmals auf den Abzug der Russen aus Kiew zu sprechen kommen. Drei Tage, nachdem die russische Armee sich zurückgezogen hatte, geschah das Ereignis von Butscha. Hat Butscha nicht gedient, um zu zeigen, dass es richtig war, den Friedensvorschlag der Ukrainer mit den Russen nicht weiter zu verhandeln?

Nein, der Entscheid, die Diskussion über den Friedensplan einzustellen, wurde vor dem Ereignis in Butscha gefällt. Man hat das zwar als Vorwand genommen, aber der Entscheid ist schon vorher gefallen. Dafür gibt es klare Indizien. Ich weiss nicht, wer für Butscha verantwortlich ist. Aber ein ukrainischer Parlamentarier hatte damals gesagt, dass Butscha das Resultat der Zusammenarbeit zwischen dem ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU und dem britischen Geheimdienst gewesen sei. Dieser Parlamentarier der sozialistischen Partei wurde vor einigen Monaten ermordet. Natürlich hat das niemand aufgegriffen. Wenn man auf den Bildern gesehen hat, dass die Mehrheit der Leute, die dort getötet wurden, gefesselte Hände und weisse Armbinden hatten, dann wird die offizielle Version zweifelhaft. Nach der Ankunft der russischen Truppen im März 2022 trugen ukrainische Bürger, die ihre Neutralität markieren wollten, weisse Armbinden. Das Problem ist, dass die ukrainischen Behörden (und die westlichen Länder) die Neutralität als pro-russisch ansehen. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum diese unglücklichen Menschen erschossen wurden.

Davon abgesehen beschuldigen die westlichen und ukrainischen Erklärungen zwar – ziemlich logisch – Russland, aber die konkreten Hinweise, Zeugenaussagen und der Zeitpunkt der Ereignisse tendieren dazu, die Schuld bei der Ukraine zu sehen. Wir wissen es also nicht. Nur eine internationale, unparteiische und unabhängige Untersuchung kann die Umstände dieser Tragödie ermitteln. Die Weigerung der ukrainischen Behörden und des Westens, eine solche Untersuchung durchzuführen, deutet für mich tendenziell darauf hin, dass die Ukraine etwas zu verantworten hat.

Die Berichterstattung über den Krieg Israels gegen den Gaza-Streifen weist meines Erachtens einige Parallelen zu derjenigen in der Ukraine auf. Sie geschieht nur aus der Sicht des Westens und andere Betrachtungsweisen werden nicht zugelassen.

Ja, das ist so. Der Westen hat Israel immer als einen Vorposten im Nahen Osten gesehen. Man hatte am Anfang den Eindruck, Israel habe eine ähnliche Denkweise wie der Westen. Nicht direkt Sozialdemokratie, aber in diese Richtung. Das unterstützte man, denn es entsprach mehr oder weniger den Werten, die man in Europa hatte. Heute hat man eine rechtsextreme Regierung und unterstützt sie dennoch. 

Was die Berichterstattung betrifft, ist sie bei beiden Konflikten gleich. Es gibt die gleiche Zensur bei allem, was nicht der offiziellen Berichterstattung entspricht. In beiden Fällen entsteht ein falsches Bild über den Konflikt. Sowohl für Israel als auch für die Ukraine hat unser falsches Bild des Konflikts dazu beigetragen, sie in eine strategische Niederlage zu treiben. Trotz einer unverhältnismässig hohen Zahl ziviler palästinensischer Opfer haben die Israeli keinen Teil von Gaza unter Kontrolle. Der palästinensische Widerstand, nicht nur der Hamas, sondern auch anderer Gruppen, kooperiert und dominiert das Gebiet. Es ist möglich, dass Israel letztlich den palästinensischen Widerstand zerschlagen wird, aber das wird auf Kosten seiner strategischen Lage gehen. Die politische Unterstützung für Israel ist überall gesunken, sogar in den USA. Die Bevölkerung, die tendenziell für Israel war – inklusive der jüdischen Gemeinschaft in verschiedenen Ländern — weigert sich, Israel zu unterstützen. Der Untertitel meines neusten Buchs heisst: «Die Niederlage des Siegers.» Das ist der gleiche Titel wie bei meinem Buch über die «Asymmetrische Kriegsführung» (Die Niederlage des Siegers). In jenem Buch ging es vor allem um die zweite Intifada. Heute, 20 Jahre später, haben wir das gleiche Muster, die gleiche Art und Weise, wie die Israeli vorgehen. Es ist die Bestätigung meiner Beobachtung, die ich vor 20 Jahren gemacht habe.

Eine Krise ist wie ein Baum. Sie hat Wurzeln, von denen jede eine Bedeutung für ihre Entwicklung hat. Wenn wir sie beherrschen wollen, müssen wir jede ihrer Wurzeln berücksichtigen. Das ist die ganzheitliche Art, eine Krise zu bewältigen. Das Prinzip ist in der Medizin wohlbekannt, in der Geopolitik jedoch völlig unbekannt. Unsere Medien ignorieren die Ursachen, die sie stören, um ihre Sicht der Dinge durchzusetzen. Wenn man die Gaza-Krise am 7. Oktober 2023 oder die Ukraine-Krise am 24. Februar 2022 beginnen lässt, ignoriert man die Faktoren, die sie hätten verhindern können. Auf diese Weise werden Krisen falsch behandelt, obwohl man sie hätte vorhersehen können. Ich begann mein Buch über die Gaza-Krise im September 2023 zu schreiben, etwas mehr als drei Wochen vor dem Angriff der Hamas. Das Problem ist, dass wir im Westen im Allgemeinen, aber insbesondere bei unseren Journalisten, Politikern und sogar Akademikern nicht über die intellektuellen Ressourcen verfügen, um Krisen anzugehen.

Wir behandeln Probleme oberflächlich, basierend auf Vorurteilen, ohne die Ursachen der Krise zu integrieren. Deshalb machen wir systematisch Fehler. Es ist durchaus ernst zu nehmen, dass selbst unsere Nachrichtendienste nicht in der Lage sind, ein realistisches Bild der Krisen zu zeichnen. Dies ist im Krieg in der Ukraine oder im Gaza-Krieg offensichtlich, aber es war auch im Irak, in Libyen, in Syrien, in Mali undsoweiter der Fall. Aus unserer Unfähigkeit, Krisen zu verstehen, resultiert die Unfähigkeit, sie zu lösen. Wir glauben immer noch, dass es ausreicht, Wladimir Putin, Hamas, Bashar al-Assad, Saddam Hussein oder Muammar al-Gaddafi zu hassen, um auf eine Situation die richtige Antwort zu geben. Dies ist niemals der Fall. Diejenigen, die dies tun und scheitern, indem sie sich in eine noch schlimmere Situation begeben, verdienen kein Mitgefühl.

Herr Baud, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschul­institut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete unter anderem für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

 

veröffentlicht 27. März 2024

Hart wie Kruppstahl

Mehrere Staaten des Globalen Südens arbeiten auf eine Verhandlungslösung für den Ukraine-Krieg hin. Berlin lehnt eine solche ab und dringt auf die Fortsetzung des Krieges, obwohl die Ukraine immer mehr in die Defensive gerät.

Während mehrere nichtwestliche Staaten, darunter solche aus dem Globalen Süden, nach Chancen für eine Verhandlungslösung für den Ukraine-Krieg suchen, weist die Bundesregierung allein schon den Gedanken daran zurück.

Am gestrigen Mittwoch [20. März] hat Indiens Premierminister Narendra Modi in Telefongesprächen mit Russlands Präsident Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj für einen Waffenstillstand geworben. Zuvor hatte sich Südafrikas Aussenministerin Naledi Pandor ebenso dafür stark gemacht wie der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan oder auch ein Sondergesandter der chinesischen Regierung. Aussenministerin Annalena Baerbock hingegen kommentierte den Vorschlag, über ein «Einfrieren» des Krieges nachzudenken, mit der Äusserung, alle, die «darüber reden, dass man jetzt irgendwie auch genug hätte von der Unterstützung der Ukraine», sollten sich stattdessen mit russischen Kriegsverbrechen befassen. Die Fortsetzung des Krieges, die Baerbock verlangt, während andere nachdrücklich für einen Waffenstillstand und für Verhandlungen plädieren, fügt der Ukraine und ihrer Bevölkerung tagtäglich neue irreparable Schäden zu.

Vermittlungsbemühungen

Nach Möglichkeiten für Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine Beendigung des Ukraine-Kriegs hat am gestrigen Mittwoch Indiens Premierminister Narendra Modi in zwei getrennt geführten Gesprächen mit Russlands Präsident Wladimir Putin und dem Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, gesucht. Zunächst gratulierte Modi Putin telefonisch zu seinem Wahlsieg. Dann habe man sich über einen Ausbau der «speziellen und privilegierten strategischen Partnerschaft» zwischen beiden Ländern ausgetauscht, bevor man sich mit dem Ukraine-Krieg befasst habe, teilte Indiens Ministerpräsident mit.¹ Anschliessend telefonierte Modi mit Selenskyj. Beide hatten Möglichkeiten im Blick, die Kooperation zwischen ihren Ländern zu stärken, wobei Modi zudem Optionen thematisierte, den Ukraine-Krieg zu einem baldigen Ende zu bringen.² Einen Tag zuvor hatte Südafrikas Aussenministerin Naledi Pandor sich vor einem Publikum in Washington dafür stark gemacht, endlich Gespräche über einen Waffenstillstand mit Russland zu führen. Der Krieg könne, zumal beide Seiten ernste Sicherheitsbedenken hätten, lediglich mit Verhandlungen beendet werden, erklärte Pandor.³ Südafrika unterhalte gute Beziehungen sowohl zu Russland wie auch zur Ukraine – und es unterstütze jegliche Vermittlung.

«Einen Friedensgipfel abhalten»

Bereits am 8. März hatte der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, Selenskyj zu Gesprächen über einen Ausbau der bilateralen Handelsbeziehungen empfangen und diesen Anlass genutzt, um sich gleichfalls für Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine stark zu machen. Erdoğan wies darauf hin, dass die Türkei sich seit je als Vermittlerin zwischen beiden Seiten betätigt; ihr war etwa das Zustandekommen des ersten Abkommens über die Öffnung des Schwarzen Meeres für ukrainische Getreideexporte zu verdanken. Der türkische Präsident erklärte, er sei «bereit, einen Friedensgipfel abzuhalten», an dem freilich Russ­land beteiligt werden müsse.⁴ Selenskyj verweigert das bisher. Auch China hat seine Vermittlungsbemühungen wieder gestartet. Anfang März reiste sein Sondergesandter für eurasische Angelegenheiten, Li Hui, nach Moskau, Kiew, Warschau, Berlin, Paris und Brüssel, um dort jeweils Verhandlungsoptionen zu eruieren. Darüber hinaus traf er sich mit Vertretern des Schweizer Aussenministeriums: Zur Zeit ist ein Friedensgipfel in der Schweiz im Gespräch. In Berlin traf Li mit dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt Thomas Bagger zusammen. Der Austausch mit ihm, der sich auch um den Ukraine-Krieg drehte, wurde als «offen» und «ausführlich» charakterisiert.⁵

Den Krieg einfrieren

Während der Globale Süden einmal mehr bemüht ist, Wege zu einer Verhandlungslösung für den Ukraine-Krieg zu finden, erweist sich selbst die blosse Debatte darüber in Deutschland als nahezu unmöglich. In der vergangenen Woche hatte Rolf Mützenich, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, öffentlich die Frage gestellt: «Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?»⁶ Genau jener Gedanke – einen Waffenstillstand zu erreichen, um damit den Frontverlauf vorläufig einzufrieren und anschliessend Friedensverhandlungen einzuleiten – ist im vergangenen Jahr Gegenstand von Diskussionen gewesen, die in den Vereinigten Staaten bzw. in US-Medien geführt wurden. So wurde etwa im Mai 2023 in Washington intensiv darüber nachgedacht, den Ukraine-Krieg nach dem Modell des Korea-Kriegs einzufrieren, in dem seit Juli 1953 immerhin die Waffen schweigen, wenngleich er bis heute nicht mit einem Friedensvertrag beendet ist.⁷ Im November rieten US-Experten in der US-Fachzeitschrift Foreign Affairs der Ukraine dringend dazu, «einen Waffenstillstand auszuhandeln», um die militärische Niederlage der Ukraine zu vermeiden.⁸

Verhandlungen? «Verrat!»

Derlei Vorschläge haben in Deutschland zur Zeit keine Chance. So äusserte beispielsweise Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen), Vizepräsidentin des Bundestages, über den Vorstoss des SPD-Fraktionsvorsitzenden: «Wer wie Rolf Mützenich den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine ‹einfrieren› will, gibt dem Aggressor nach.»⁹ Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, warf Mützenich «Appeasement-Politik» vor.10 Aussenministerin Annalena Baerbock wiederum tat den Vorschlag, über ein Ende des Tötens und Sterbens in der Ukraine auch bloss nachzudenken, verächtlich ab: «All diejenigen, die derzeit darüber reden, dass man jetzt irgendwie auch genug hätte von der Unterstützung der Ukraine», sollten «mal einen Blick in den jüngsten Bericht der Vereinten Nationen» zu russischen Kriegsverbrechen werfen. Wer das tue, werde «nicht wieder darüber sprechen, dass man vielleicht den Konflikt einfrieren soll».11 Erst kürzlich hatte Oberst a. D. Wolfgang Richter, ein präziser Analytiker des Ukraine-Kriegs, konstatiert, in den USA werde «die Lage weitaus nüchterner diskutiert als in Deutschland, wo das Moralisieren über die Realpolitik triumphiert und Verhandlungen als ‹Mission impossilbe› oder gar als ‹Verrat› diffamiert werden».12

Bis alles in Scherben fällt

Dabei verschlechtert sich die Lage der Ukraine kontinuierlich. Wie Richter detailliert belegt hat, wäre im Frühjahr 2022 ein Waffenstillstand erreichbar gewesen, bei dem das Territorium der Ukraine bis auf die Krim und das Donbas intakt geblieben wäre; er scheiterte massgeblich daran, dass die westlichen Staaten der Regierung in Kiew davon abrieten (german-foreign-policy.com berichtete13). Seither sind Hunderttausende zu Tode gekommen; Russland ist nach eigenen Angaben zwar zu Verhandlungen bereit, doch nicht mehr dazu, die mittlerweile annektierten Territorien zurückzugeben. Und während Berlin immer noch darauf dringt, die Kämpfe fortzusetzen, spitzt sich die militärische Lage der Ukraine immer weiter zu. Den ukrainischen Streitkräften fehlen neben Munition vor allem Soldaten; neue Vorschriften, die es ermöglichen sollen, eine erhebliche Zahl junger Menschen auf den Kriegsdienst zu verpflichten, sind in der Bevölkerung unpopulär. Demografen weisen schon lange darauf hin, dass es nach Kriegsende nicht möglich sein wird, die schweren Verluste an Menschen vor allem in den jüngeren Generationen halbwegs auszugleichen.14 US-Verteidigungsminister Lloyd Austin konstatierte am Dienstag: «Das Überleben der Ukraine ist in Gefahr.»15 

¹ PM Modi speaks to Russia’s Putin, stresses on dialogue in resolving Ukraine conflict. indianexpress.com 20.03.2024.
² PM Modi holds talks with Ukraine’s Volodymyr Zelensky, conveys India’s ‘consistent support’ amid war with Russia. livemint.com 20.03.2024.
³ Carien du Plessis: South Africa to push for Russia to join Ukraine peace talks. theafricareport.com 20.03.2024.
⁴ Turkey’s Erdogan offers to host Ukraine-Russia peace talks. euronews.com 09.03.2024.
⁵ Aussenministerium informiert über die 2. Runde der Pendel-Diplomatie von Li Hui. german.cri.cn 11.03.2024.
⁶ Mützenich will nicht von umstrittenen Aussagen abrücken. spiegel.de 19.03.2024.
⁷ S. dazu «Der Korea-Krieg als Modell».
⁸ Richard Haass, Charles Kupchan: Redefining Success in Ukraine. A New Strategy Must Balance Means and Ends. foreignaffairs.com 17.11.2023. S. dazu «Die Strategie der Eindämmung».
⁹ Peter Carstens: Mützenich sieht in Taurus-Streit «niedere Beweggründe» am Werk. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.03.2024.
10 Strack-Zimmermann (FDP) wirft SPD «Appeasement-Politik» vor. deutschlandfunk.de 20.03.2024.
11 Pistorius gegen Überlegungen zum Einfrieren des Ukraine-Kriegs. Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.03.2024.
12 Thomas Fasbender: Militärexperte Richter: «In den USA ist man sehr wohl bereit, mit Russland zu verhandeln». berliner-zeitung.de 12.03.2024.
13 S. dazu «Kein Wille zum Waffenstillstand».
14 S. dazu «Ein irreversibler demographischer Schock» 
15 Lolita C. Baldor: US defense chief vows continued aid to Ukraine, even as Congress is stalled on funding bill. apnews.com 20.03.2024.

Quelle: www.german-foreign-policy.com/news/detail/9519erschienen am 21. März 2024

Wir danken GERMAN FOREIGN POLICY für die Abdruckgenehmigung.

veröffentlicht 27. März 2024

«Nur eine Verhandlungslösung wird im ganzen Nahen Osten Entspannung und Frieden bringen»

Interview mit Karin Leukefeld, freie Journalistin und Nahost-Expertin

Karin Leukefeld (Bild thk)
Karin Leukefeld (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Der Fokus unserer Medien liegt vor allem auf dem Süden des Gaza-Streifens und dem bevorstehenden Angriff auf Rafah. Der Norden ist aus deren Blickfeld verschwunden. Um so mehr interessiert es, was mit den Menschen dort geschieht. Es lebt immerhin noch eine grosse Anzahl dort.

Karin Leukefeld Wenn man etwas über die Lage erfahren möchte, dann kann man das vor allem durch die Berichte von Uno-Organisationen wie dem Uno-Nothilfeprogramm, dem Welternährungsprogramm (WFP), dem Palästinenserhilfswerk UNRWA, der WHO, die noch immer versuchen, dort aktiv zu sein. Nach ihren Angaben gibt es zwischen drei- bis fünfhunderttausend Menschen, die noch im Norden des Gaza-Streifens leben. Das WFP spricht von einer halben Million Menschen. Dazu muss man wissen, dass das WFP seine Hilfslieferungen in den Norden von Gaza eingestellt hat.

Warum vollzieht man solch einen Schritt in der ausweglosen Situation der Menschen?

Der konkrete Auslöser war, dass ein LKW mit Hilfsgütern vom Meer aus mit Raketen beschossen worden war. Damit wären die Transporte einem hohen Risiko ausgesetzt, wenn sie weiterhin Güter in diese Region brächten. Die Strassen sind durch die Bombardierungen zerstört. Die Kommunikation ist schwierig, weil Israel zeitweise die Internet- und Telefonverbindungen abstellt. Durch die israelischen Angriffe auf die Verteilstrukturen der Uno findet die Verteilung von Nahrungsmitteln kaum noch in geordneten Bahnen statt. Die Menschen sind unglaublich wütend und verzweifelt. Sie haben versucht, die LKWs mit Hilfsgütern zu plündern. Da Israel keine Sicherheit garantieren will oder kann, stellte das WFP Ende Februar die Hilfslieferungen ein. Am 5. März bekam das Welternährungsprogramm erneut die Genehmigung, wieder mit einem Konvoi von 14 LKWs in den Norden von Gaza fahren zu können. 

Ist das nicht aufgrund des grossen Mangels ein Tropfen auf den heissen Stein … ?

Das auf alle Fälle. Von der Menge her nicht der Rede wert. Mehr war ihnen nicht zugesagt worden. Die israelische Armee liess den Konvoi an einem Check-Point südlich von Gaza-Stadt drei Stunden warten und schickte die LKWs wieder zurück. An diesem Beispiel sieht man, wie schwierig es für die Uno-Organisationen ist, die Menschen dort noch zu unterstützen.

Eine Zeitlang stand das Al Shifa Krankenhaus im Zentrum der Berichterstattung. Wie ist die Lage bei der Gesundheitsversorgung?

Die WHO bekam Anfang März die Zusage, drei Krankenhäuser im Norden von Gaza besuchen zu können, um dort Hilfsgüter hinzubringen. Die Delegierten der WHO waren seit dem Oktober nur in wenigen Spitälern gewesen, das letzte Mal Anfang Januar im Norden des Gaza-Streifens. Anfang März, zwei Monate später, waren sie im Al Shifa Krankenhaus, dem Kamal-Adwan-Hospital, einem weiteren Krankenhaus in Gaza, und dem Al-Ahli-Krankenhaus. Insgesamt funktionieren noch 4 Krankenhäuser. Sie berichteten, dass die Zustände jedoch schrecklich seien. Dem Al Shifa Krankenhaus lieferten sie Treibstoff, damit sie die Generatoren laufenlassen können. Sie brachten Grundmedikamente für 150 Patienten und für die Versorgung von 50 Kindern, die schwer unterernährt waren. Sie lieferten auch Impfstoff. Die Menschen haben keinen Zugang zu frischem Wasser. Die Versorgung mit Trinkwasser ist zusammengebrochen, die Abwasserentsorgung funktioniert nicht mehr. Die hygienischen Verhältnisse und alles, was damit zusammenhängt, sind äusserst schlecht. Dennoch ist es gelungen, das Al Shifa Krankenhaus und das Kemal Adwan Krankenhaus im Norden von Gaza zu erreichen. Dort war seit dem 7. Oktober noch kein einziger Hilfskonvoi. 

Was hatte das für Folgen für die Patienten?

Auf der Kinderabteilung sind zehn Kinder gestorben. Sie sind verhungert und dehydriert, weil kein Wasser und zu wenig Nahrung zur Verfügung stand. Die Klinik war überfüllt von Patienten. Aber man konnte ihnen nicht helfen. Ein Sprecher der Delegation sagte, es seien furchtbare Zustände gewesen.¹ Um Spitäler in so einer Situation weiter betreiben zu können, muss natürlich der Nachschub gewährleistet sein. Es fehlt an Treibstoff, an frischem Wasser, genügend Nahrungsmitteln, an Sauerstoffgeräten, an entsprechenden Instrumenten und Apparaturen und Medikamenten für die Anästhesie. Diejenigen, die bis zu dem Spital vorgedrungen sind, sprachen von katastrophalen Zuständen. Ich halte es für sehr wichtig, dass man etwas darüber erfährt, aber in unseren Medien liest und hört man nichts. Es ist keine Zeile wert. Am ehesten findet man etwas in den englischsprachigen Medien oder in Uno-Berichten.

Wie verhalten sich die israelischen Streitkräfte?

Es wird alles von den israelischen Streitkräften kontrolliert. Sie nahmen unheimlich viele Menschen fest, verhörten und folterten sie. Ich weiss von jemandem aus Beirut, dass der Leiter des Shifa-Krankenhauses von den Israeli mitgenommen wurde sowie weitere Ärzte und medizinisches Personal. Es gibt Leute, die aufgrund der Folter gestorben sind. Das ist die Realität, die die Menschen tagtäglich erleben. Es gab ein Ereignis – davon gibt es auch ein Video –, dass die Menschen aufgefordert wurden, das Haus zu verlassen und Richtung Süden zu gehen. Dann läuft eine alte Frau mit einer weissen Fahne und wird erschossen. Es ist menschenverachtend und zynisch, und es gibt in der westlichen Welt keine Öffentlichkeit darüber. 

Damit verstösst das Vorgehen der israelischen Armee gegen alle Grundsätze des humanitären Völkerrechts?

Ja, massiv. Alle Hilfsorganisationen oder Abgesandten der Uno bestätigen, dass Israel gegen das humanitäre Völkerrecht verstösst. Die Bilder sprechen auch Bände. Es waren in der letzten Zeit einige Experten der Uno auch im Norden des Gaza-Streifens, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Der Beauftragte für Ernährung und der Sonderberichterstatter für das Recht auf Wohnen haben sich die Lage vor Ort angeschaut. Letzterer hat die Situation kommentiert, dass es schlimmer sei als im Zweiten Weltkrieg. Das Ausmass der Zerstörung sei schlimmer als in Aleppo und Mariupol oder in Dresden und Rotterdam im Zweiten Weltkrieg. Die Häuser sind zu 80 Prozent zerstört oder unbewohnbar. Alles, was damit zusammenhängt, die Arbeit, die Kultur, die Schulen, die Krankenhäuser, Kirchen und Moscheen sind zerstört. «Alles ist hier platt» (dem Erdboden gleichgemacht), so wird der Sonderbeauftragte für das Recht auf Wohnen zitiert

Wie gehen die Menschen, die das alles tagtäglich erleben, damit um?

Nach dem, was man hört, essen sie Gras, sie essen das, was die Tiere essen. Wann immer ein LKW mit Mehl oder Reis auftaucht, wird er geplündert. Es ist eine Situation, in der die gesellschaftliche Ordnung zusammenbricht. Es gibt sehr viele Kinder, die von ihren Eltern getrennt leben oder deren Eltern getötet wurden. Man geht davon aus, dass noch 7000 Menschen unter den Trümmern der zusammengestürzten Häuser liegen. Die Menschen leben in den Trümmern. Sie haben kein Trinkwasser und holen das Wasser aus dem Meer, das natürlich sehr salzig ist. Sie haben keinen Brennstoff, um das Wasser abzukochen. Das wiederum führt zu Durchfallerkrankungen. Die Personen vor Ort beschreiben die Situation schlimmer als im Mittelalter. Tatsächlich korrespondiert die Lebenslage mit der Äusserung der israelischen Führung, die von den Menschen im Gaza-Streifen von «menschlichen Tieren» gesprochen hat.

Wie verhalten sich die Soldaten, die das Elend auch wahrnehmen?

Dazu muss man sagen, dass die israelischen Soldaten zum Teil vor den Trümmern der Häuser oder wenn eine Bombe oder Rakete in ein Haus einschlägt, Selfies mit ihren Handys machen. Es ist erschütternd, wes Geistes Kind sie sind. Es existiert eine grosse Verachtung gegenüber den Menschen, die sie getötet oder vertrieben haben. Das Erschütternde ist, dass sie diese Fotos ins Netz stellen, zum Beispiel auf Instagram, und das noch lustig finden. Das sind junge Leute, die völlig von dieser Situation unberührt sind. Mir fehlen die Worte, um das zu kommentieren.

Ist es verwunderlich, wenn Mitglieder der Regierung von «menschlichen Tieren» sprechen, dass die Hemmschwelle gegenüber menschlichem Leben fällt?

Ja, das ist richtig. Es gibt aber noch mehr Ursachen. Die Schulbildung zum Beispiel ist in den letzten Jahrzehnten geprägt worden von antipalästinensischen und antiarabischen Tönen. Die jungen Leute in der Armee sind damit gross geworden. Es findet auch innerhalb der israelischen Gesellschaft keine oder so gut wie keine Auseinandersetzung darüber statt. Es gibt jährlich einen Flaggenmarsch, bei dem junge Leute durch Jerusalem ziehen, auch durch das arabische Viertel, und die dort lebenden Palästinenser aufs übelste beschimpfen. Es ist unglaublich, und das sind alles junge Leute, die unempfindlich sind gegenüber dem Recht, dem Respekt und der Würde der palästinensischen Bevölkerung.

Es gibt aktuell Blockaden von jungen Israelis vor den Checkpoints, durch die Hilfslieferungen nach Gaza gelangen sollten. Sie stehen auf der Strasse und tanzen und beten, lachen und singen und rufen: «Keine Hilfsgüter für die Hamas.» Es gibt auf dem Netz sogar einen Film darüber. Für diese jungen Menschen ist auch ganz klar, dass ganz Palästina ihr Land ist und alle Palästinenser, die hier leben, verschwinden oder getötet werden müssen.

Wir haben jetzt über den Norden gesprochen. Wenn wir den Süden ins Auge fassen, kann man sich gar nicht vorstellen, dass es noch schlimmer sein kann.

Es kam gerade die Meldung, dass die israelische Luftwaffe ein Verteilzentrum der Uno in Rafah bombardiert habe. Die Folge waren fünf Tote und Dutzende von Verletzten. Es gibt Bilder davon, die ich mir nicht angeschaut habe. Auch im Westjordanland wurden am gleichen Tag fünf Palästinenser getötet, darunter waren zwei Kinder. Bisher gab es im Westjordanland 400 Tote, davon 100 Kinder.

Die Kräfteverhältnisse sind sehr ungleich. Die Möglichkeiten, die Guerilla-Kämpfer haben, sind begrenzt. Sie können nur mit den Mitteln kämpfen, die ihnen zur Verfügung stehen. Sie kennen ihr Land besser als die Israelis, aber sie riskieren ihr Leben für die Befreiung ihres Volkes. Dabei darf man nicht vergessen, dass die jetzigen Kämpfer der Hamas praktisch nur unter der Blockade und Unterdrückung aufgewachsen sind. Sie kennen nichts anderes. Diese Hintergründe werden im Allgemeinen nicht dargestellt und folglich nicht in die Beurteilung im Kontext miteinbezogen.

Was wäre denn eine angemessene Reaktion gewesen?

Nach dem, was am 7. Oktober passiert ist, hätte man innehalten müssen. Was sich dort abgespielt hatte, war furchtbar. Man hätte sagen müssen: Wir müssen einen anderen Weg einschlagen. Diese Möglichkeit hätte es gegeben. Angehörige aus den überfallenen Dörfern, die Familienmitglieder verloren haben, sagten, dass die Getöteten nie gewollt hätten, dass es solch einen Krieg gibt. Sie hätten dafür geworben, dass man miteinander auskommt. Solche Stimmen haben bisher kein Gehör.

Wie ist die Lage für die Menschen in Rafah?

Am 13. März gab es nochmals eine Diskussion in der Knesset, bei der es um die Erhöhung des Kriegshaushalts ging. Diese wurde knapp angenommen. Und Netanjahu liess in der Debatte durchblicken, dass er seinen «Job zu Ende bringen» werde. Das heisst, Israel wird Rafah angreifen. Die Uno spricht von 1,7 Millionen Menschen, die geflohen sind. Die meisten von ihnen halten sich in und um Rafah auf. Davon sind mehr als die Hälfe Kinder. Sie leben in Zelten oder sind bei Verwandten im Flüchtlingslager untergekommen. Ein Teil wohnt in den halb zerstörten Häusern. Die Israelis gehen immer gleich vor. Sie sagen, die Menschen sollen aus einer bestimmten Gegend verschwinden, um sich in Sicherheit zu bringen, und dann greifen sie genau diese Zone an, in die sie geflüchtet sind. Diese sogenannten sicheren Zonen sind genauso wie alle anderen den Angriffen ausgesetzt, auch die Einrichtungen der Uno. Dass Verteilstellen der Uno attackiert werden, ist absolut inakzeptabel. Sie greifen schon längere Zeit in und um Rafah an. Am vergangenen Wochenende (9. März) bombardierten sie ein Hochhaus, das einzige in Rafah, mit 12 Stockwerken.³ Es steht nahe an der Grenze zu Ägypten, und nennt sich auch Turm der Ägypter, Burj al Masri. Die Einwohner des Hauses wurden aufgefordert, das Gebäude zu verlassen. Dafür gab man ihnen eine halbe Stunde Zeit. Es gab keinen Strom. Kein Aufzug fuhr. Die Menschen mussten die Treppe hinunterrennen. Ungefähr 300 Menschen lebten in dem grossen Gebäude und mussten so schnell wir nur möglich fliehen. Sie konnten kaum etwas von ihren Habseligkeiten aus ihren Wohnungen mitnehmen. Kurze Zeit später bombardierte Israel das Hochhaus und beschädigte es schwer. Natürlich ist das ein Kriegsverbrechen. Als Begründung heisst es dann immer, darin sei eine «Hamas-Kommando-Zentrale» versteckt gewesen. Beweise für die Behauptung gibt es keine.

Israel will also Rafah erobern. Wie will es das machen? Dort halten sich 1,7 Millionen Menschen – Zivilisten – auf. Das gibt ein zweites Dresden.

Israel hat die Macht der Bomben, und es wird sich den Weg freibomben und treibt dabei die Palästinenser vor sich her. Man will sie über die Grenze Ägyptens in den Sinai verfrachten. Das ist wohl das Ziel. Es ist unklar, wo die Menschen hingehen, wenn tatsächlich die Offensive beginnt. Die Äusserungen von Washington, dass man einen Evakuierungsplan vor dem Angriff vorlegen muss, prallt an der Führung Israels ab. Die Regierung argumentiert, da, wo Menschen seien, sei die Hamas. Es wird ein Gemetzel geben. Das wird auch dem US-Präsidenten im Wahlkampf schaden. Sie versuchen jetzt, Israel in einem anderen Bereich zu entlasten, indem sie spezielle Hilfsgüter aus der Luft abwerfen oder über den Seekorridor dort hinbringen. Damit signalisieren sie Israel, Menschen weiter in den Norden lassen zu können, wenn sie Rafah einnehmen wollen. Damit wird signalisiert, dass aus humanitären Gründen nichts gegen eine Offensive spricht, denn die USA und andere Verbündete –auch Deutschland – können humanitär helfen. Die Waffenlieferungen aus den USA deuten klar darauf hin, dass die USA Israels Vorgehen nicht stoppen werden.

Steht in diesem Zusammenhang der etwas sonderbare Vorschlag von Joe Biden, einen provisorischen Hafen zu bauen? Ist das ein Trojanisches Pferd?

Es gibt ein Projekt, einen Hafenpier zu bauen. Das hat Joe Biden bei seiner Rede «State of the Union» aus dem Hut gezaubert. Die Idee, mit Schiffen Hilfsgüter nach Gaza zu bringen, ist Ende letzten Jahres bereits von Zypern eingebracht worden. Vor einigen Jahren waren kleine Schiffe von Zypern aus nach Palästina aufgebrochen, um die seit 2006 bestehende Blockade zu durchbrechen. Zypern wollte auch diesmal Hilfsgüter dort hinbringen, aber Gaza hat keinen Hafen mehr. Die Idee ist von der EU-Kommission aufgegriffen worden, und Frau von der Leyen erkannte die Möglichkeit, dass sie ihren Ruf verbessern könnte, wenn sie die ersten Schiffe mit Hilfsgütern vorbereitet. Tatsächlich war auch Ende letzten Jahres in Absprache mit Israel ein Schiff losgeschickt worden. Das Schiff sollte in einem israelischen Hafen landen, dort gelöscht und die Hilfsgüter auf dem Landweg nach Gaza transportiert werden. Als das Schiff ankam, verhinderte Israel das Anlegen. Man verhandelte mit Israel, und schliesslich musste das Schiff nach Malta ausweichen. Dann ist es zu einem ägyptischen Hafen gefahren. Dort wurde es entladen und die Güter auf dem Landweg nach Rafah gebracht. Es war keine geglückte Operation, um nicht zu sagen für die Kommissionspräsidentin eher nachteilig. Diese Idee wurde jetzt wieder in Absprache mit den USA und Grossbritannien aufgegriffen. Alle, die Waffen liefern, haben sich hingestellt und gesagt: Wir machen jetzt eine humanitäre Brücke über den neuen Hafen, und bis der fertig ist, werden wir Hilfsgüter aus der Luft abwerfen. Die deutsche Luftwaffe soll sich jetzt auch am Abwurf von Hilfsgütern beteiligen. Es ist eine zivile militärische Operation, und Israel freut sich und hat allem zugestimmt …

… weil es sich selbst nicht mehr darum kümmern muss?

Damit sind die Israelis tatsächlich die Verantwortung los, weil sie als Besatzungsmacht für die Versorgung der Bevölkerung zuständig wären. Man nimmt ihnen dies ab, obwohl sie nach dem humanitären Völkerrecht die volle Verantwortung für ihr Vorgehen tragen. Doch die USA und EU haben ihre eigenen Regeln. Sie nehmen das Israel ab und halten der israelischen Armee (IDF) den Rücken frei, um den Krieg weiterzuführen. Es ist keine Rede mehr von Waffenstillstand. Es werden weiter Waffen an Israel geliefert.

Wie beurteilen das die Palästinenser?

Diejenigen, mit denen ich gesprochen habe, sind sehr misstrauisch. Einer gab zur Antwort, wir brauchen eure Hilfe nicht, wenn ihr dafür sorgt, dass keine Waffen mehr geliefert werden, können wir uns selbst helfen. Sie verweisen darauf, dass in den letzten Jahren alles unternommen wurde, die Palästinenser von der übrigen Welt abzuschotten. Missionen wie diese kleinen Schiffe, beladen mit Hilfsgütern, wurden ständig von Israel angegriffen. Menschen, die das Elend der Palästinenser lindern wollten, wurden angegriffen und gestoppt. Israel hat den Hafen von Gaza und den Flughafen zerstört. Es hat alles getan, damit sich das Gebiet nie zur Welt hin öffnen kann. Wenn das jetzt auf einmal gewünscht ist, hat das wohl eher ein anderes Ziel. 

Was denken die Menschen, welches Ziel der Hafen haben soll?

Es wird viel in arabischen und palästinensischen Medien darüber diskutiert. Die einen sagen, das könnte zur möglichen Evakuierung von Palästinensern nach Europa dienen, also eine Vertreibung auf die sanfte Tour. Das werden sie mit humanitärer Argumentation verkaufen, so dass es den Anschein macht, dass die Leute in Sicherheit gebracht werden. Ein weiteres Argument ist, dass die USA in Gaza einen Stützpunkt errichten wollen, zum einen, um Israel zu stabilisieren, und zum anderen, um die ganze Region im Blick zu haben, auch angesichts der Öl- und Gasvorkommen. Es gibt ein sehr grosses Gasfeld vor der Küste des Gaza-Streifens, das den Palästinensern zusteht. Es gehört zum palästinensischen Festlandsockel und dürfte, falls es einen palästinensischen Staat gibt, nur von diesem ausgebeutet werden. Das sind so die Gedanken, die den Palästinensern kommen. Wenn man alles zusammennimmt – auch die wiederholten Vetos der USA im Uno-Sicherheitsrat, aber auch den Widerstand in der Generalversammlung, die einen Waffenstillstand gefordert hat – dann muss man sich schon fragen, worum es wirklich geht. Die USA haben ihren Widerstand immer mit fadenscheinigen Begründungen erklärt, weil gerade Verhandlungen geführt würden, die man nicht stören dürfe, oder man bemüht das Selbstverteidigungsrecht Israels, mit dem alles gerechtfertigt wird. – Das ist doch alles sehr widersprüchlich. 

Was heisst das allgemein für den Gaza-Streifen?

Es ist unglaublich, wie nach fünf Monaten nahezu 80 Prozent der Häuser zerstört oder unbewohnbar sind. Es wird Jahre dauern, bis man das alles wieder aufgebaut hat, auch wenn man sofort den Krieg beendet und mit dem Wiederaufbau beginnt. Die Forderung der Hamas in den Gesprächen ist ein sofortiger Waffenstillstand. Die Menschen müssen in ihre Häuser zurückkehren können, mit provisorischen Häusern, mit Zelten, mit Unterstützung für den Aufbau. Sie haben einen sehr konkreten Plan vorgelegt. Israel hat alles abgelehnt. Es zeigt kein Interesse daran, dass die Palästinenser in diesem Gebiet alles wieder aufbauen. 

Was mich in diesem Zusammenhang wundert, ist übrigens auch das Verhalten der Schweiz. Sie hat die Zahlungen an die UNRWA eingestellt. Bisher hatte die Schweiz immer einen anderen Ruf. Der Chef der UNRWA ist doch auch ein Schweizer. Das ist sehr erstaunlich und für mich nicht verständlich, dass man hier nur aufgrund unbewiesener Behauptungen die wichtigste Einrichtung für die Palästinenser nicht mehr unterstützt. 

Nur eine Verhandlungslösung wird im ganzen Nahen Osten Entspannung und Frieden bringen, alles andere wird die Konflikte nur anheizen.

Frau Leukefeld, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ Richard Peeperkorn www.emro.who.int/opt/who-representative/index.html
² Mr. Balakrishnan Rajagopal (USA) www.ohchr.org/en/special-procedures/sr-housing/mr-balakrishnan-rajagopal
³ www.aljazeera.com/gallery/2024/3/9/israel-hits-landmark-residential-tower-in-rafah-as-gaza-truce-talks-stall

veröffentlicht 27. März 2024

Die manipulierte Wahrheit

von Reinhard Koradi

Es ist schon eigenartig, dass zahlreiche offene Fragen, die uns alle betreffen, nicht aus entgegengesetzten Positionen aufgegriffen und öffentlich diskutiert werden. In den letzten Jahren wurde die öffentliche Debatte weitgehend durch die Meinungsdiktatur der Regierungen, transnationaler Organisationen und deren verlängertem Arm, den Massenmedien, ausgeschaltet. Mich erstaunt dabei, dass die Übernahme der Meinungsbildung durch eine kleine elitäre Minderheit ohne massiven Widerstand aus der Bevölkerung, den Medienschaffenden und vor allem auch seitens der Wissenschaft einfach hingenommen wird.

Gewalt stützt die Aufrechterhaltung der Meinungsdiktatur 

So einfach hingenommen haben die Menschen den Verlust der freien Meinungsbildung und der freien Meinungsäusserung wohl nicht. Aber es gelang nicht, einen organisierten Widerstand aufzubauen. Wo sind in diesem Zusammenhang die politischen Parteien geblieben? Sie müssten doch ein ernsthaftes Interesse haben, die öffentlichen Debatten, unterschiedliche Meinungen zu verteidigen, wollten sie ihren demokratischen Verpflichtungen wirklich nachkommen. Diese doch eher unübliche Passivität muss einen bedenklichen Hintergrund haben. Die selbsternannten Meinungsmacher haben einen «Brandbeschleuniger» eingesetzt. Mit Gewalt wurden und werden Organisationen oder Menschen zum Schweigen gebracht. Wer nicht mitmacht, wird diffamiert, ausgegrenzt oder gar ins Nichts verschoben. Die elitäre Politik hat längst die Psychologie entdeckt und dabei Mittel und Wege gefunden, die Menschen einzuschüchtern und gefügig zu machen. 

Investitionen in die Unterdrückung der Meinungsfreiheit «lohnen» sich

Bricht der Widerstand gegen aufoktroyierte Meinungen und Verhaltensweisen, öffnen sich Wege zur Bereicherung. Die durch die Meinungsdiktatoren besetzten Felder sind dann auch kommerziell sehr attraktiv. Sowohl die Pharma- als auch die Rüstungsindustrie generieren massive Gewinnsteigerungen durch die gezielte Verunsicherung der Bevölkerung. Die Corona-Pandemie mit den sie begleitenden Zwangsmassnahmen und die Propaganda rund um den Konflikt in der Ukraine brechen den Widerstand der Menschen gegen die vom Staat verordneten Massnahmen (Impfungen oder Aufrüstung). Die Pharmakonzerne profitieren von der steigenden Nachfrage nach Impfstoffen und die Rüstungsindustrie von der stark ansteigenden Nachfrage nach Waffen. Die bereits massiv überschuldeten Staaten stocken ihre Budgets auf, um ihre Armeen für einen kommenden Konflikt kampfbereit zu machen. Dass dieser voraussichtliche Waffengang ein Konstrukt der eigenen Regierungen und ihrer Bündnisse (Nato) ist, müsste die Menschen im Westen erschaudern lassen. Indem die westlichen Mächte gezielt und mit Falschinformationen aufgebläht, das Feindbild gegenüber Russland schüren, erzwingen sie vom eigenen Volk die Freigabe von Milliarden und fordern gleichzeitig Einschränkungen und Verzicht der Bevölkerung, wenn es um soziale Ausgaben, Bildung oder das Gesundheitswesen geht. 

Das Verhalten der Westmächte ist verantwortungslos und kann die Welt in einen dritten Weltkrieg stürzen. Diese Verantwortung haben sie allerdings propagandistisch derart umgeleitet, dass Putin der Kriegstreiber ist. Würde man sich mit der Geschichte Russ­lands auseinandersetzen und die Reden Putins genau analysieren, dann käme ein ganz anders Bild über Russland und seinen Präsidenten zustande. Die Aggressoren sitzen in Washington, in London und Paris und vielleicht in Brüssel und Berlin. Diesen Leuten muss das Handwerk gelegt werden. Aber dazu braucht es einen offenen ehrlichen Dialog und Freiheit die Dinge beim Namen zu nennen. Solange diese Freiheit eingeschränkt ist, fehlen Transparenz, Aufrichtigkeit und wahrheitsgetreue Aufarbeitung der Sachverhalte. 

Durch Unterdrückung und Manipulation der Wahrnehmungen gelingt es einer Minderheit, sich auf Kosten der Allgemeinheit Milliardenbeträge in drei- bis vierstelligem Bereich einzuverleiben. Die Themen, die durch die Meinungsdiktatur besetzt sind, versprechen nämlich beinahe unbegrenzte Möglichkeiten zur Bereicherung, Ausbeutung und Beeinflussung der politischen Ausrichtungen. Die involvierten Akteure wissen ganz genau, welche blühenden Perspektiven ihre Zukunft hat, wenn sie entgegengesetzte Meinungen gezielt unterbinden und die Menschheit auf eine einheitliche Spur des Denkens und Verhaltens lenken. Hinter dem Klimawandel, der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg stehen enorme wirtschaftliche Interessen (Deindustrialisierung, Pharma- und Rüstungsindustrie) wie auch geopolitische Ziele. Für die selbsternannten, ohne demokratische Legitimation agierenden «Führer» sind die Ziele vielversprechend. Ihre grosszügigen Investitionen in Institutionen, die der Manipulation und Förderung einer Einheitsmeinung dienen, werden eine kleine Elite viel reicher machen und die Mehrheit der Menschen in die Armut treiben.

Warum hüllt sich die Wissenschaft in Schweigen?

Aus meiner Sicht sind Klimawandel, Pandemien und auch Kriege grundsätzlich Themen, die mit Recht aus unterschiedlichsten Perspektiven analysiert und beurteilt werden müssten. Eine differenzierte Beurteilung schafft Raum für unterschiedlichste Lösungsalternativen. Die lapidare Behauptung «es gibt keine Alternativen» zeugt von Kurzsichtigkeit, Überheblichkeit und Fantasielosigkeit. Die Alternativlosigkeit ist das Resultat von Voreingenommenheit und fehlender wissenschaftlicher Analysen, Diagnosen und Lösungen. Die Stimme der Vernunft, der Ausgewogenheit ist untergetaucht. Warum wohl? Wir finanzieren das Bildungswesen, die Universitäten und in der Schweiz auch die Empa (Eidgenössische Materialprüfungsanstalt) in mehrfacher Milliardenhöhe durch die Steuerzahler. Warum sollen wir Bürger von diesen Milliardeninvestitionen nicht einen «return on investment» im Sinne von klaren wahrheitsgerechten und wissenschaftlich fundierten Darstellungen der Sachverhalte bekommen?

Es gibt zahlreiche kontroverse Aussagen über Klima oder Infektionen durch Covid. Doch wissenschaftliche, auf Fakten beruhende Erkenntnisse werden nicht publik gemacht. Schon in den 80er Jahren war ein Grossverteiler in der Schweiz in der Lage für Verpackungen eine exakte Oeko-Bilanz vorzulegen. Warum sollen in der Zwischenzeit keine Fortschritte und neue Erkenntnisse – wissenschaftlich belegt – in der Beurteilung des Klimawandels und der Ausbreitung von gefährlichen Viren und deren Bekämpfung erzielt worden sein? Gibt es eventuell ein Verbot, eine vorgegebene Richtung der Forschung oder ganz einfach einen Maulkorb, um zu verhindern, dass anderslautende Erkenntnisse öffentlich werden? Und wo sind die Stimmen der Historiker, die die Geschichte Russlands und die Brandstifter vielzähliger kriegerischer Auseinandersetzungen ans Tageslicht bringen? Warum schweigen die Psychologen, deren Wissenschaft längst von Regierungen und Meinungsmachern in Beschlag genommen wurde? Es wäre doch angebracht, die Manipulationspraktiken aufzudecken und die Bevölkerung gegen solche Machenschaften zu immunisieren. 

Der freien Meinungsäusserung zum Durchbruch verhelfen 

Manipulation ist der Feind der Demokratie. Daher dürfen wir nicht zulassen, dass wir über die Massenmedien auf eine Einbahnstrasse geführt werden, die uns alle ins Chaos und Unglück stürzen wird. Wir müssen dagegenhalten und mit aller Vehemenz der Meinungsdiktatur entgegentreten. Es braucht bestimmt etwas Mut, aber wenn wir als freie Bürger diesen Mut nicht aufbringen können, wer soll es dann tun?

Vielleicht müssen wir auf die Strasse gehen, Mahnwachen aufstellen oder unsere Volksvertreter mit Briefen überschütten. Ich bin überzeugt, wenn wir 100 und mehr Briefe an die Bundesbehörden oder an das Rektorat der Eidgenössischen Hochschulen und Universitäten schreiben, wird Bewegung in die Unterdrückung der Meinungsfreiheit kommen. Der Einsatz für Freiheit und Selbstbestimmung ist meines Erachtens dringender denn je. Menschen, die in Freiheit leben und eigenständig denken und handeln, bilden ein Bollwerk gegen die aufkeimenden Kriegsgelüste und fordern stattdessen eine nachhaltige Friedenspolitik.

veröffentlicht 27. März 2024

Leserzuschrift: «Ah, die Schweizer, das freieste und wehrhafteste Volk der Welt!»

Es war in der U-Bahn in Beijing in den frühen 1980er Jahren. Die Wagons waren zum Brechen voll. Ein neben dem Verfasser stehender Passagier fragte ihn, woher er sei. Als er es erfuhr, rief er laut den Satz imTitel aus. So wurden wir bis damals weltweit gesehen und von den Medien der Welt beschrieben.

Auch auf seinen Geschäftsreisen in aller Welt wurde der Verfasser immer wieder auf unsere als so stark gesehene Armee angesprochen. Einmal musste er sogar vor allen pakistanischen Offzieren, ab Major aufwärts, einen Vortrag über sie halten. Aber auch in den internationalen Medien, von den USA über Indien bis nach Australien, herrschte damals diese positive Sicht.

2003, Jahre später in Beijing, lud ihn ein Direktor eines der grossen chinesischen Konzerne zum Nachtessen ein. Wir diskutierten über dies und das, als der chinesische Gastgeber ganz unerwartet fragte: «Können Sie mir erklären, warum die Schweiz ihre Armee abgeschafft hat?» Der Verfasser wusste nicht, was er antworten sollte. 

Heute befindet sich unser Land in der Wohlstandsdekadenz, während sich die Welt fundamental wandelt. China, Russland, dann auch Indien, sind neue, laufend stärker werdende Grossmächte, die die lange westliche Vorherrschaft immer mehr in Frage stellen. Ein weiterer grosser Krieg ist denkbar, ein westlicher Sieg nicht mehr garantiert.

Den Bundesrat, eigentlich zuständig, scheint das alles nicht sonderlich zu beschäftigen. Er unternimmt nichts, um unsere Armee wieder so stark zu machen, dass unser Land vom Einbezug in den nächsten Krieg verschont bleibt wie seit 200 Jahren, arbeitet aber am schleichenden Anschluss an die Nato und der Aufgabe der Neutralität. Dagegen wird der Chef der Armee dafür gemassregelt, dass er – zu Recht – darauf hinweist, dass unsere Armee nicht für einen künftigen Krieg bereit ist. Ihm müsste unser Volk dafür dankbar sein und seine Forderung nach mehr Mitteln zur Aufrüstung unterstützen. Oder wollen wir endlich auch mal in Ruinen leben?¹ 

Gotthard Frick

¹ Der Verfasser besuchte nach dem Zweiten Weltkrieg total zerstörte Grossstädte, um sich über die Wirkung von Luftangriffen zu informieren.

veröffentlicht 27. März 2024

Weisser Montag – für den Frieden

von Dr. Stefan Nold

«Ich denke, dass der stärker ist, der die Situation erkennt, der an das Volk denkt und den Mut hat, die weisse Flagge zu schwenken und zu verhandeln.» Das sagte Papst Franziskus kürzlich an die Adresse der Ukraine. Medien, Politik und auch die Kirchen schrien auf – wutentbrannt.

Soldaten und Sportler haben eines gemeinsam: Sie wissen, dass man gewinnen – aber auch verlieren kann. Ein Sieg lässt sich nicht herbeireden. Je mehr man die Niederlage hinauszögert, desto schlechter das Ergebnis. So dachten die Militärs um Oberst Graf von Stauffenberg beim Attentatsversuch auf Hitler am 20. Juli 1944. Auch im Ersten Weltkrieg wusste der radikale Nationalist Erich Ludendorff in der Obersten Heeresleitung, wann der Krieg aussichtslos geworden war, und forderte im Herbst 1918 die Regierung zu Waffenstillstandsverhandlungen auf. Man muss kein Pazifist sein, um die weisse Fahne zu hissen. Man braucht nur Einsicht und Verstand. Der totale Krieg ist keine Lösung.

Der erste Weisse Montag für den Frieden. (Bild mit freundlicher Genehmigung von Franky.)

Der erste Weisse Montag für den Frieden. (Bild mit freundlicher Genehmigung von Franky.)

 

Beharrlicher ruhiger Protest

Papst Franziskus hat recht. Wir sollten den Ball, den er ins Spielfeld geschlagen hat, aufnehmen, zum Beispiel jeden Montag um 18 Uhr. Als man uns das Recht auf körperliche Unversehrtheit nehmen und uns zwangsimpfen lassen wollte, sind wir jeden Montag in ganz Deutschland auf die Strasse gegangen, in Dörfern, Städten ja auch in einzelnen Stadtteilen. Diese Spaziergänge waren etwas Besonderes. Es gab keine Reden; Menschen haben sich kennengelernt und miteinander gesprochen, anstatt stumm den Matadoren mit den grossen Mikrophonen zuzuhören. Dieser beharrliche, ruhige Protest jede Woche an tausenden Orten im ganz Land hatte am Ende Erfolg.

Vor kurzem schickte mir mein Freund Ernst eine Rede, die er auf einer Demo für «Demokratie und Menschenrechte» für seinen DGB-Ortsverband gehalten hatte. Es waren schöne Worte, wirklich mitreissend – aber trotzdem ohne Zündstoff. Als ich ihn darauf ansprach, antwortete er: «Im Vorfeld war vereinbart worden, dass die gegenwärtigen Kriege und das Thema Frieden aussen vor bleiben sollten.» Wie bitte? Der Krieg hat die Ukraine «in einen Friedhof verwandelt», die Krankenhäuser sind «voll von gebrochenen Menschen, die Schlachtfelder mit Leichen übersät.»¹ In Gaza sind über eine Million Kinder durch Bombardierungen, Mangelernährung und Erkrankungen bedroht.² Da darf man sich doch keinen Maulkorb umbinden!

«Gegenseitige Hilfe» statt Kriegspropaganda

Auf lokaler Ebene lassen sich die Bürger nicht den Mund verbieten. Da wird engagiert und konstruktiv diskutiert; jeder ist bereit mitzutun und zu helfen. Peter Kropotkin hat 1902 ein grossartiges, leider vergessenes Werk über diese Bereitschaft zur «gegenseitigen Hilfe» geschrieben.³ Aber wenn es um die grossen Themen geht, lassen wir uns ins Bockshorn jagen.

Hans, ein anderer Freund, berichtete neulich, wie sein achtjähriger Enkel die Nachrichten kommentierte: «Der Putin, das ist doch der Chef vom Krieg.» Kindermund bringt die Botschaft, die uns die Propaganda täglich in die Köpfe hämmert, auf den Punkt. Ein guter Freund und Nachbar hat zum Jahrestag des Kriegsbeginns eine ukrainische Fahne aus dem Fenster gehängt. Mein Gott Matthias, das ist Krieg und keine Weltmeisterschaft! 

Meine Grossmutter hat einmal erzählt, ihre kleinere Schwester Grete habe 1914, als die Türkei an der Seite Deutschlands in den Krieg gezogen ist, gerufen: «Ein Hoch auf die edlen Türken!» Diese massakrierten dann die Armenier zu Hunderttausenden. Auch wir sind heute so naiv wie das Deutschland von 1914, von der kleinen Grete bis zu Ludwig Thoma und Th. Th. Heine, den Machern des Simplizissimus, die damals ihr Satireblatt entweder einstellen oder die Kriegspolitik unterstützen wollten.⁴

Konkretes Handeln

«Los, Ihr Bürger. Auf geht’s» hatte ich kürzlich geschrieben. Leser «Abbe» antwortete: «Sie haben Recht mit Ihren Argumenten» und fuhr fort: ‹Auf geht’s› bewirkt leider gar nichts … Wohin? mit welchem, zeitnah realisierbarem Ziel?!»⁵ Ja, mit Texten allein kommt man nicht weiter. Deshalb trafen wir uns am 18. März zum ersten Montagsspaziergang für den Frieden auf dem Löwenplatz, dem Zentrum unseres Stadtteils in Darmstadt-Arheilgen. Wir alle hatten etwas Weisses an, ein weisses T-Shirt, einen weissen Schal, eine weisse Armbinde oder ein weisses Stirnband. Einer trug eine weisse Fahne; ich hatte ein Plakat mit 12 Geboten für den Frieden um den Hals. Sabine, eine Teilnehmerin, wies mich darauf hin, dass es in Hessen bereits meldepflichtig ist, wenn sich zwei (!) Personen zu einer «kollektiven Meinungsäusserung» treffen – kulturelle, sportliche, religiöse oder gewerbliche Veranstaltungen sind ausgenommen.⁶ Um die Verkehrssicherheit geht es also nicht. In Zukunft werden wir unsere Zusammenkunft als «Weisse Montagsandacht für den Frieden» abhalten. Zunächst wird jeder die Gelegenheit haben, spontan zu sagen, was ihr oder ihm zum Thema Frieden auf dem Herzen liegt. Dann wird ein kurzer spiritueller oder religiöser Text verlesen, und dann werden wir wie gehabt unseren Spaziergang machen und uns unterhalten.

Den Mut nicht verlieren – aktiv werden!

Die Montagsdemonstrationen – auch unter dem biblischen Symbol «Schwerter zu Pflugscharen» (Micha 4,3; Jesaja 2,4) – waren der Anfang vom Ende der DDR. So grosse Hoffnungen habe ich nicht, manchmal bin ich sogar ziemlich verzweifelt, wenn ich sehen muss wie Menschen zu Zehntausenden sterben und gute Freunde die Mitschuld des Westens einfach leugnen, obwohl es dafür viele Beweise aus erster Hand gibt.⁷

In Artikel 1 des Nordatlantikvertrags haben sich die Unterzeichner verpflichtet, «jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Frieden, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist.»8 Als «Bürger in Uniform» haben wir das damals zusammen mit dem Grundgesetz bekommen; es war die Grundlage unseres Dienstes an der Waffe. Heute sucht der Westen die Entscheidung auf dem Schlachtfeld⁹ und torpediert alle diplomatischen Bemühungen. Die Nato ist von einem dem Frieden verpflichten Verteidigungsbündnis zu einer todbringenden, menschenverachtenden Kriegskoalition geworden. Damit zerstören sich die Nato-Staaten selbst, militärisch, wirtschaftlich und moralisch. Sie erodieren die Werte, die ihre Gesellschaften stillschweigend zusammenhalten. Der Mainstream klatscht, der Rest nimmt es hin. Das ist traurig. 

Erwin, der schon bei den Corona-Spaziergängen dabei war, machte mir Mut: Das ist «wie bei Forrest Gump, einer läuft los und dann sind’s auf einmal Tausende.»10 Vielleicht bewahren wir auf diese Weise unsere Kinder und Enkel vor einem grossen, blutigen Krieg, an dessen Ende sogar die Bombe stehen kann. Der «Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft» (Phil. 4,7) und die Friedensbotschaft der Bücher Jesaja und Micha bis hin zum Wirken von Jesus können den Glauben an den Frieden stärken, aber auch buddhistische und andere Weisheitslehren. Wir müssen loslaufen. Jetzt! Wir sollten trommeln, telefonieren, mailen, posten, organisieren, beten. Es bringt nichts, wenn der Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet.» (Jesaja 58, 5) Ein beharrlicher, stiller, gewaltfreier, dezentraler und selbstorganisierter Protest an tausenden Orten im ganzen Land wäre wirkungsvoll. Die Eliten würden merken, dass ihnen langsam die Kontrolle entgleitet und sie allein sind, ohne Rückhalt im Volk; ihre Kassen sind leer, die Zukunft düster. International haben sie nur sich selbst. Jeder ausserhalb der Medienblase weiss, dass der Krieg für den Westen verloren ist.11 Wenn die USA und die EU ihr grosses freiheitliches Erbe erhalten und Hunderttausende vor dem sicheren Tod erretten wollen, müssen sie jetzt einlenken, sonst ist alles, wirklich alles hin.

Deshalb: Machen wir ab jetzt jeden Montag (zu Ostern gibt es stattdessen die Ostermärsche) zu einem Weissen Montag für den Frieden! 

¹ MacGregor, Douglas: Make peace you fools! America’s proxy war with Russia has transformed Ukraine into a graveyard. www.theamericanconservative.com/make-peace-you-fools/ (01.08.2023) The American Conservative. The American Ideas Institute: Washington D.C.
² Kahmann, Christine: Bombardierungen, Mangelernährung und Krankheiten bedrohen rund 1,1 Millionen Kinder im Gaza-Streifen. www.unicef.de/informieren/aktuelles/presse/-/kinder-in-gaza-bedroht/346652 (05.01.2024) Pressemitteilung. Deutsches Komitee für UNICEF e.V: Köln. 
³ Kropotkin, Peter (1902): Mutual Aid. A Factor of Evolution. Verwendete Ausgabe: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Übersetzung: Gustav Landauer, Seitenangaben im Text. Alibri: Aschaffenburg.
⁴ Roth, Eugen (1954): Simplizissimus. Ein Rückblick auf die satirische Zeitschrift. S. 42–44. Fackelträger: Hannover.
⁵ Nold, Stefan: Flugzeugkatastrophe von Ramstein oder: Das Durchstossene Herz https://overton-magazin.de/top-story/flugzeugkatastrophe-von-ramstein-oder-das-durchstossene-herz/ (13.3.2024) Buchkomplizen GmbH: Köln
https://digitales-rathaus.darmstadt.de/kategorien/dienstleistungen/demonstrationen-versammlungen
⁷ a) Chalyj, Oleksandr (ehemaliger Stv. Aussenminister der Ukraine), in: Breaking the Stalemate to Find Peace: The Russia-Ukraine War – A Geneva Security Debate. www.youtube.com/watch?v=t2zpV35fvHw (Minute 24:30 – 29:40) (05.12.2023). Geneva Centre for Security Policy, Genf
⁷ b) Bennett, Naftali: Interview mit Hanouch Daum (Hebräisch mit englischen Untertiteln) https://www.youtube.com/watch?v=qK9tLDeWBzs ab Stunde 2:53:58. (4.2.2023) Naftali Bennett: Youtube Kanal.  
⁸ Nato Nordatlantikvertrag (04.04.1949):  Artikel 1. Übersetzung aus Bundesgesetzblatt 1955, II. 293. zitiert nach: Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) (1977). Grundgesetz, Nordatlantikvertrag, Wehrgesetze (Auszüge). Herausgegeben in der Schriftenreihe Innere Führung Fü S I5. BMVg: Bonn.
⁹ Borrell, Josep: «Krieg wird in der Schlacht um den Donbass entschieden.» Tagesspiegel: Berlin. www.tagesspiegel.de/politik/eu-aussenbeauftragter-halt-waffen-fur-wichtiger-als-sanktionen-8140408.html (09.04.2022)
10 Zemeckis, Robert (1994): Forrest Gump (Drehbuch: Eric Roth) Laufszene: www.youtube.com/watch?v=QgnJ8GpsBG8 Produzenten: Wendy Finerman, Steve Starkey und Steve Tisch. USA.
11 Mearsheimer, John: Ukraine‘s Dangerous Last Gasp. Interview mit Andrew Napolitano. https://www.youtube.com/watch?v=IxoWXV0Uk8Q (14.3.2024) Youtube Kanal Judging Freedom mit Andrew Napolitano

 

12 Gebote für den Frieden

1. Alles ist ohne den Frieden nichts. (Willy Brandt, 1981)

2. Du sollst nicht töten! (2. Moses 20, 13)

3. Selig sind die, die Frieden stiften. (Jesus, Mt 5,9 )

4. Ehrfurcht vor dem Leben! (Albert Schweitzer, 1919)

5. All we are saying is, give peace a chance. (John Lennon, 1969)

6. Der ist stärker, der den Mut hat, die weisse Fahne zu schwenken. (Papst Franziskus, 2024)

7. Zuhören, verstehen und miteinander reden sind die ersten Schritte zum Frieden.

8. Liebet Eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen. (Jesus, Mt 5,44)

9. Krieg ist Leiden und Tod; Krieg nimmt Leben und Brot. 

10. Jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom
Feuer verzehrt. (Jesaja 9,4)

11. Schwerter zu Pflugscharen!  (Micha, 4,3)

12. Suche Frieden und jage ihm nach! (Psalm 34,15)

 

zu 1: Rede zur Festveranstaltung anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Verlags J.H.W. Dietz Nachf. in Bonn: Der Frieden ist nicht alles aber alles ist ohne den Frieden nichts.» Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung: Berlin. https://www.willy-brandt-biografie.de/wp-content/uploads/2019/09/WB_BerlinerAusgabe_05.pdf#page=363 

Zu 2, 3, 8, 10, 11, 12: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Rev. Fassung von 1984. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

zu 4: Die Ehrfurcht vor dem Leben. Predigt zu St. Nicolai, Strassburg aus: Albert Schweitzer: Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus 5 Jahrzehnten. Walter Bähr (Hrsg) (1966). 9 Aufl. 2008, S. 32. Beck, München.

zu 5: Lennon, John, Yoko Ono et al.: Give peace a chance. «Bed in», Queen Elizabeth Hotel, Montreal.

zu 6: Meldung (9.3.2024) Bruni: «Der Papst ruft zum Mut zu Verhandlungen für die Ukraine auf» Stellungnahme zu einem Interview des Papstes mit Lorenzo Buccella. Papst Franziskus: «Ich denke, dass der stärker ist, der die Situation erkennt, der an das Volk denkt und den Mut hat, die weisse Flagge zu schwenken und zu verhandeln.» https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2024-03/papst-franziskus-ukraine-verhandlungen-pressesprecher-erklaerung.html (Vatican News: Città del Vaticano)

Stefan Nold, 23.03.2024

 

veröffentlicht 27. März 2024

Nein, unsere Söhne und Töchter geben wir nicht!

von Susanne Lienhard

Wenn die EU-Kommission unter Leitung von der Leyens die Länder aufruft, auf Kriegswirtschaft umzustellen, die Produktion europäischer Rüstungsgüter massiv anzukurbeln, um wettbewerbsfähig zu werden,1 und wenn für die Transformation des «Friedensprojektes EU» zum Kriegsbündnis eigens ein EU-Kommissar für Verteidigung ernannt werden soll, gibt es nur eins: Sag NEIN!

Wenn auch die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im deutschen Bundestag, Strack-Zimmermann, für den Umbau der EU vom Wirtschafts- zum «Verteidigungs» bündnis mit gemeinsamer Aussen- und «Verteidigungs»politik plädiert, und die deutsche Bildungministerin Stark-Watzinger von Lehrerinnen und Lehrern verlangt, dass sie ihre Schüler auf Krieg vorbereiten, dann gibt es nur eins: Sag NEIN!

«Dann gibt es nur eins!»

1947, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, hat der deutsche Schriftsteller Wolfgang Borchert ein letztes Mal zur Feder gegriffen und in einem aufrüttelnden Manifest mit dem Titel «Dann gibt es nur eins!» alle Menschen dazu aufgerufen, nein zu sagen, wenn von ihnen verlangt wird, sich in den Dienst des Krieges zu stellen:

«Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen – sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! […]

Du. Mutter in der Normandie und Mutter in der Ukraine, du, Mutter in Frisko und London, du, am Hoangho und am Missisippi, du, Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo – Mütter in allen Erdenteilen, Mütter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären, Krankenschwestern für Kriegslazarette und neue Soldaten für neue Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins: Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN! […]»²

Auf dem Marktplatz in Hamburg-Eppendorf befindet sich diese Tafel mit einem Auszug aus «Dann gibt es nur eins!» Bild: Claus-Joachim Dickow, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5505446

Wolfgang Borchert wusste, wovon er sprach, er hatte die Folgen des Krieges vor Augen: Tod, Elend und Zerstörung. Zahlreich sind solche Zeugnisse in Literatur und Kunst: Erich Maria Remarque beschreibt im Roman «Im Westen nichts Neues» aus der Perspektive eines jungen Soldaten, die nackte Realität des Krieges: 

ISBN 978-3-462-04633-5

 

 

«Ich bin jung, ich bin zwanzig Jahre alt; aber ich kenne vom Leben nichts anderes als Verzweiflung, den Tod, die Angst und die Verkettung sinnlosester Oberflächlichkeit mit einem Abgrund des Leidens. Ich sehe, dass Völker gegeneinander getrieben werden und sich schweigend, unwissend, töricht, gehorsam, unschuldig töten. Ich sehe, dass die klügsten Gehirne der Welt Waffen und Worte erfinden, um das alles noch raffinierter und länger dauernd zu machen. Und mit mir sehen das alle Menschen meines Alters hier und drüben, in der ganzen Welt, mit mir erlebt das meine Generation. Was werden unsere Väter tun, wenn wir einmal aufstehen und vor sie hintreten und Rechenschaft fordern? Jahre hindurch war unsere Beschäftigung Töten – es war unser erster Beruf im Dasein. Unser Wissen vom Leben beschränkt sich auf den Tod. Was soll danach noch geschehen? Und was soll aus uns werden?» ³

ISBN 978-3-8353-3723-7

 

Ernst Toller, der als Freiwilliger begeistert in den Ersten Weltkrieg zog, bekennt in seiner Autobiographie «Eine Jugend in Deutschland»: «Der Krieg liess mich zum Kriegsgegner werden, ich hatte erkannt, dass der Krieg das Verhängnis Europas, die Pest der Menschheit, die Schande unseres Jahrhunderts ist.»⁴

Und wer kennt nicht das Plakat «Nie wieder Krieg!» der Künstlerin Käthe Kollwitz, mit dem sie 1924 an die Gräuel des Krieges erinnert. 

Wollen von der Leyen, Strack-Zimmermann und Stark-Watzinger allen Ernstes und wider besseres Wissen Europa in den nächsten grossen Krieg führen? 

Gefragt ist Zivilcourage – zwei Beispiele

«Im Sommer 1944 umstellen deutsche Soldaten die griechische Ortschaft Distomo und richten unter der Dorfbevölkerung ein Massaker mit 218 Toten an. Dank der Zivilcourage eines Soldaten überlebt der vierjährige Argyris Sfountouris mit seiner älteren Schwester. Als der Soldat die beiden Kinder entdeckt, bedeutet er ihnen wortlos – nur mit seinen Augen – sie sollen sich verstecken. Das rettete den beiden das Leben. Das Massaker sowie der kurze Augenkontakt mit dem deutschen Soldaten gaben dem weiteren Leben von Sfountouris den Kompass. Er hat den Glauben an den Menschen nicht verloren und setzt sich bis heute für die Würde des Menschen ein. Am 50. Jahrestag zum Massaker von Distomo sagte er: «Es gab Überlebende damals in Distomo, weil es unter den Deutschen Menschen gab, die den Befehl der inneren Stimme höher stellten als den von Mördern ausgestellten Befehl zum Morden.»⁵ 

«Man schreibt das Jahr 1999. Der völkerrechtswidrige Krieg der Nato gegen Jugoslawien ist beendet, und die serbischen Truppen haben Pristina, die Hauptstadt des Kosovo, soeben verlassen. 200 russische Soldaten sind im Flughafen von Pristina einmarschiert, um die Landung weiterer russischer Truppen einzuleiten. Der amerikanische Oberbefehlshaber der Nato-Truppen, Wesley Clark, will die Landung weiterer russischer Truppen verhindern. Darum befiehlt er dem Oberbefehlshaber der englischen Nato-Truppen, Sir Michael Jackson, die Landebahnen des Flughafens von Pristina zu blockieren. Der Brite weigert sich, den Befehl auszuführen. «I’m not going to start the Third World War for you.» – «Ich werde für Sie nicht den Dritten Weltkrieg beginnen.»⁶

Die beiden Beispiele zeigen, dass es auf jede und jeden von uns ankommt. Ein einzelner Mensch kann den Gang der Geschichte verändern, wenn er den «aufrechten Gang» gelernt hat. 

Aufgabe der Schule: Vorbereitung aufs Leben – Erziehung zum Frieden

Im Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Uno ist in Worte gefasst, was in der menschlichen Natur angelegt ist und von frühester Kindheit an in der zwischenmenschlichen Beziehung entwickelt, gefördert gestärkt und gefestigt werden kann und muss: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.» Aufgabe von Elternhaus und Schule ist es, mit den Kindern und Jugendlichen den Weg zum «aufrechten Gang» zu gehen, so dass sie wie der Soldat in Distomo oder der Oberbefehlshaber der englischen Natotruppen einst den Mut haben, NEIN zu sagen, wenn die Menschenwürde in Gefahr ist. 

Zivilcourage fällt nicht vom Himmel, sie muss in der zwischenmenschlichen Beziehung entwickelt werden. Kinder und Jugendliche brauchen Vorbilder und Erwachsene, die ihnen zeigen, wie Konflikte ohne Gewalt gelöst werden können. Das Bilder- und Sachbuch «Wer ist Henry Dunant. Zwei Kinder entdecken die Geschichte Henry Dunants und des Roten Kreuzes» von Lisette Bors⁷ eignet sich zum Beispiel zum Vorlesen oder Erzählen in Familie, Kindergarten und den ersten Schuljahren. Und das Internationale Komitee des Roten Kreuzes stellt Unterrichtsmaterialien zum Humanitären Völkerrecht zur Verfügung,⁸ die sich hervorragend für den Unterricht an der Oberstufe eignen. Die Jugendlichen lernen anhand historischer Fallbeispiele die Grundregeln des humanitären Völkerrechts. Sie lernen, einander zuzuhören, andere Standpunkte zu verstehen und zu respektieren und die eigene Meinung zu begründen. Es ist das erklärte Ziel des IKRK, «die Schüler zu ermutigen, in alltäglichen Situationen das anzuwenden, was sie über die Notwendigkeit Leben und menschliche Würde zu schützen, gelernt haben.» 

Wenn nun die deutsche Bildungsministerin Lehrerinnen und Lehrer auffordert, ihre Schülerinnen und Schüler auf den Krieg vorzubereiten und die Jugend kriegstauglich zu machen, dann gibt es nur eins: Sagt NEIN!

Und wenn die EU-Kommission will, dass die Schweiz ihre Unabhängigkeit aufgibt und endlich im Kriegsbündnis mitmarschiert, dann gibt es nur eins: Sagt NEIN! 

¹ Gemäss dem EU-Papier «Strategie für die EU-Rüstungsindustrie» soll die gemeinsame Beschaffung von Waffen die Regel sein. Bis 2030 sollen mindestens 40 % der Rüstungsgüter gemeinsam beschafft werden und mindestens 50% der Rüstungsgüter bei europäischen Rüstungsfirmen gekauft werden. Dafür soll ein neues EU-Gremium eingerichtet werden, bestehend aus der Kommission, dem Aussenbeauftragten, dem Chef der Europäischen Verteidigungsagentur und den Mitgliederstaaten.
² Wolfgang Borchert: Dann gibt es nur eins!,  www.deutschelyrik.de/dann-gibt-es-nur-eins.html
³ Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. Köln 1998. ISBN 3-462-02721-2 , S. 177

⁴ Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. 
⁵ Patric Seibel: Ich bleibe immer der vierjährige Junge von damals. Das SS-Massaker von Distomo und der kampf eines Überlebenden um Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 2016. ISBN 978-3-86489-144-1

⁶ «Im not going to start Third World War for you», Jackson told Clark. The Guardian vom 02/08/1999, zitiert in Henriette Hanke Güttinger: Zivilcourage entwickeln und stärken – eine grundlegende Aufgabe von Erziehung und Bildung. In: Zeitgeschehen im Fokus 14/15, 23/12/2016.
⁷ Lisette Bors: Wer ist Henry Dunant. Zwei Kinder entdecken die Geschichte Henry Dunants und des Roten Kreuzes. ISBN 9783909234080 
⁸ Entdecke das Humanitäre Völkerrecht. Unterrichtsmodule für Jugendliche. Genf 2002. (leider vergriffen, das Schweizerische Rote Kreuz stellt  aber auf seiner Webseite eine digitale Kurzfassung zur Verfügung: www.redcross.ch/de/unser-angebot/aus-und-weiterbildung/ideen-und-unterlagen-fuer-den-schul-unterricht

 

«Nein, meine Söhne geb’ ich nicht!
Ich habe sie die Achtung vor dem Leben
Vor jeder Kreatur als höchsten Wert –
Ich habe sie Erbarmen und Vergeben
Und wo immer es ging, lieben gelehrt!
Nun werdet ihr sie nicht mit Hass verderben
Kein Ziel und keine Ehre, keine Pflicht
Sind’s wert, dafür zu töten und zu sterben –
Nein, meine Söhne geb’ ich nicht!»

Auszug aus Reinhard Meys Lied «Nein, meine Söhne geb’ ich nicht!» https://www.youtube.com/watch?v=e0qPsYTBCtQ oder https://www.youtube.com/watch?v=h8XX5ibmX8I

veröffentlicht 27. März 2024

Zurück