Grundlagen des Schweizer Staatswesens: Neutralität, Souveränität, direkte Demokratie

von Susanne Lienhard und Thomas Kaiser

Der kürzlich veröffentlichte ETH-Sicherheitsbericht 2018 zeigt es erneut deutlich: Eine überwiegende Mehrheit der Schweizer Bevölkerung möchte keine Annäherung an supranationale Organisationen wie Nato oder EU. Besonders die Erhaltung der Schweizer Neutralität hat seit Jahren eine mehr als 90 %ige Zustimmung; auch in der aktuellen Studie sind es wieder 95 %. 

Umso verwunderlicher ist es, dass sich der neue Bundesrat, Ignazio Cassis, Vorsteher des Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), in seinem aussenpolitischen Vorgehen scheinbar ungern an diesen Vorgaben orientiert. Seine jüngsten Äusserungen betreffend das Uno-Hilfswerk für die Palästinaflüchtlinge, UNRWA, oder seine Ankündigung, gegenüber Venezuela Sanktionen mitzutragen, die einseitig und illegal von der EU und den USA verhängt worden sind, werfen Fragen über die Qualität des Beraterstabs im EDA auf. 

Das Verhalten zeugt weder von diplomatischem Fingerspitzengefühl noch von geschichtlicher und völkerrechtlicher Kenntnis. Völkerrechtlich legitimierte Sanktionen kann weder die Nato noch die EU erlassen. Einzig der Uno-Sicherheitsrat ist befugt, unter ganz bestimmten Umständen solche Zwangsmassnahmen zu ergreifen. Dabei ist die Frage noch nicht diskutiert, wie das mit der Schweizer Neutralität vereinbar ist.

Milizarmee bekommt grösseren Stellenwert

Die neue Sicherheitsstudie zeigt auch, dass die Bevölkerung mit den historisch gewachsenen Grundwerten unseres Staatswesens weitestgehend übereinstimmt und eine klarere Haltung diesbezüglich an den Tag legt als so mancher unserer Politiker, die ja bekanntlich die Bevölkerung repräsentieren sollten. 

Neben der Neutralität will eine grosse Mehrheit die staatliche Souveränität erhalten und unterstützt, dass diese im Ernstfall auch verteidigt werden kann. Damit bekommt die Milizarmee besonders bei der jüngeren Bevölkerung wieder einen grösseren Stellenwert. 

Eigentlich liegt es auf der Hand, dass ein neutraler Staat, der sich keinem Staatenbündnis und schon gar keinem Militärbündnis anschliesst, weder der «Interoperabilitätsplattform» noch irgendeiner anderen Nato-Tarnorganisation, im Ernstfall seine Neutralität verteidigen können muss und dazu eine schlagkräftige, einsatzfähige und -willige Armee braucht. 

Der starke Wunsch nach Bündnisfreiheit und staatlicher Souveränität lässt sich im Bericht besonders deutlich in folgendem Satz erkennen: «Nach wie vor ist das Bedürfnis nach grösstmöglicher wirtschaftlicher und politischer Unabhängigkeit der Schweiz hoch.»

Die Geschichte hat uns gelehrt, dass die integrale Neutralität der Schweiz das Land nahezu 200 Jahre von Kriegshandlungen verschont hat. Es ist nur von Vorteil, wenn man sein eigener Herr und Meister bleibt und als souveräner Staat flexibel nach möglichen Lösungen suchen kann. Damit wird der internationalen Kooperation keine Absage erteilt. Ganz im Gegenteil. Diese Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Schweiz ist die Grundlage für ihr Wirken auf internationaler Ebene. 

Schweiz als Willensnation

Die Studie bestätigt, dass bei der Mehrheit der Bevölkerung die «Guten Dienste» der Schweiz «unter allen Kooperationsformen den höchsten Zuspruch» finden. Als neutrales und unabhängiges Land ist die Schweiz geradezu prädestiniert, Verhandlungen und Friedensgesprächen eine Plattform zu bieten. Dank ihrer Neutralität, ihrer Unabhängigkeit und der damit verbundenen Unparteilichkeit geniesst sie international grosses Vertrauen und wird insbesondere von kleinen Staaten in hohem Masse dafür bewundert und geschätzt.

Eine wichtige Voraussetzung für ein friedliches Miteinander verschiedener Kultur- und Sprachgemeinschaften ist, dass der Schweizer Staat von unten nach oben aufgebaut ist und sich nicht über eine Sprache oder die politische Macht definiert, sondern über den gemeinsamen Willen, unter Wahrung grösstmöglicher Freiheit zusammenzuleben. Die Macht ist daher nicht zentralisiert, sondern durch einen starken Föderalismus fein verteilt. Die direkte Demokratie erlaubt es, den Bürgerinnen und Bürgern auf Bundesebene, Kantons- und Gemeindeebene direkt am politischen Entscheidungsprozess gleichwertig teilzunehmen. Dazu kommt die Bereitschaft zum Kompromiss sowie die Suche nach dem Konsens.

Konkordanzdemokratie statt Parteienkonkurrenz

Die Exekutivmitglieder in den Gemeinden, Kantonen und auf Bundesebene gehören zwar verschiedenen Parteien an, führen die Regierungsgeschäfte jedoch gemeinsam. Es geht nicht um die Machtausübung einer Mehrheit, wie dies in den Konkurrenzdemokratien unserer Nachbarländer der Fall ist, wo sich Regierung und Opposition verbal bekämpfen, aber letztlich die Regierungspartei eine Legislaturperiode lang alles durchsetzen kann, weil sie über die Mehrheit im Parlament verfügt. Bei der Schweizer Konkordanzdemokratie geht es vielmehr darum, im Dialog einen gemeinsamen Nenner und die für das Gemeinwohl bestmögliche Lösung zu finden. Dazu kommt, dass der Souverän, die Schweizer Bürgerinnen und Bürger, nicht nur ihre Vertreter für die nächste Legislaturperiode wählen, sondern mittels Initiative und Referendum die Politik auf allen Ebenen mitgestalten können. Die Bürgerinnen und Bürger unserer Nachbarstaaten können davon leider nur träumen. Die politischen Vorgaben in den EU-Ländern kommen mehrheitlich aus Brüssel, und die Parlamente können nur noch abnicken. Der Bürger ist nicht gefragt.

Friedensfördernde und völkerverständigende Rolle 

Die Schweiz trennen von diesen Systemen (zum Glück) Welten, und wir müssen alles daran setzen, dass es auch so bleibt. Wir dürfen unsere staatliche Eigenheit und Souveränität nie aufs Spiel setzen. 

Wenn wir uns auf das internationale Parket begeben, müssen wir uns dieser Tatsachen immer bewusst sein. Dann können wir unsere konstruktive, friedensfördernde und völkerverständigende Rolle voll und ganz ausfüllen, was von vielen Staaten gewünscht wird. Sanktionen gegen andere Länder – schon gar nicht, wenn sie völkerrechtswidrig sind – zu ergreifen, darf nie die Politik eines neutralen und unabhängigen Staates sein, ganz sicher nicht die der Schweiz. 

«Die Sanktionen gegen Syrien, Venezuela, Iran und Russland sind völkerrechtlich illegal»

Interview mit Nationalrat Luzi Stamm, Mitglied der Aussenpolitischen Kommission

Luzi Stamm, SVP
Luzi Stamm, SVP

Zeitgeschehen im Fokus Es gibt zunehmend Sanktionen, mit denen der Westen versucht, unliebsame Staaten zu bestrafen oder im Extremfall eine Regierung zu stürzen. Erwähnt seien hier Sanktionen gegen Russland, Iran, Syrien, Venezuela etc. Wie sollte sich die Schweiz hierbei positionieren?

Nationalrat Luzi Stamm Sanktionen sind völkerrechtlich nur dann legitim, wenn sie vom Uno-Sicherheitsrat erlassen werden. Im Falle der Sanktionen gegen Syrien, Venezuela, Iran und Russland ist das nicht der Fall. Damit sind die Sanktionen völkerrechtlich klar illegal.

Die USA haben die Sanktionen gegen Russland erhoben. Was sind die Gründe dafür? 

Russland wird wegen der Situation in der Ukraine, wegen eines angeblichen Giftgasangriffs und wegen angeblicher Manipulation bei den US-Wahlen ins Kreuzfeuer genommen. Das ist problematisch genug, solange keine Beweise vorliegen. Noch viel inakzeptabler ist es, wenn reiche Russen und deren Firmen erpresst werden, bei denen nicht das geringste Fehlverhalten nachgewiesen ist, und wenn damit indirekt Länder wie die Schweiz getroffen werden.

Wie meinen Sie das?

Nehmen Sie den «Fall Vekselberg», den russischen «Oligarchen», der in der Schweiz wohnt. Nicht nur ihm persönlich, sondern auch seiner «Renova Group» wurden alle Konten von einem Moment auf den anderen blockiert. Damit nicht genug. Blockiert wurden auch alle Schweizer Firmen, an denen Renova Anteile besitzt/besass (nicht nur «Sulzer», sondern auch die «Oerlikon» und «Schmalz & Bickenbach», ein Milliardenkonzern in Luzern/Zug). Zudem werden die beteiligten Banken (wie die CS) unter gewaltigsten Druck gesetzt. 

Was bedeuten die Boykotte für unser Land?

Wenn Schweizer Firmen sich nicht an die Sanktionsbestimmungen der USA halten, seien diese gegen den Iran oder Russland gerichtet, läuft die betreffende Firma Gefahr, dass ihre Filialen in den USA boykottiert werden. Das ist ein ungeheurer Druck, der hier auf Schweizer Unternehmen und somit auf unser Land ausgeübt wird. Damit wird die Schweiz willkürlich in die Sanktionen mit hineingezogen.

Bundesrat Cassis hat angekündigt, die Sanktionen gegen Venezuela mitzutragen.

Das ist unter mehreren Aspekten unhaltbar. Zum einen sind die Sanktionen, die hier von den USA und der EU ergriffen wurden, völkerrechtlich nicht legitimiert, zum anderen ist es ein Verstoss gegen die Neutralität der Schweiz. Sie müsste sich dringend aus solchen Sanktionen heraushalten. Da wir der Uno beigetreten sind, müssen wir uns an Boykotten beteiligen, wenn sie von der Uno angeordnet werden, auch wenn sogar dies als Einschränkung der Schweizer Handlungsfreiheit betrachtet werden kann.

Was wäre die richtige Haltung der Schweiz?

Anstatt von der EU oder von den USA gesteuerte Strafmassnahmen mitzutragen und damit die eigene Neutralität zu verletzten, sollten wir besser einen Raum für Verhandlungen bieten. Das würde der langen humanitären Tradition der Schweiz entsprechen.

Herr Nationalrat Stamm, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern

Wahlbeobachter in Venezuela

Interview mit Walter P. Suter, ehemaliger Schweizer Botschafter in Venezuela 

Walter P. Suter (Bild thk)
Walter P. Suter (Bild thk)

Der ehemalige Schweizer Botschafter in Venezuela, Walter P. Suter, war vom Nationalen Wahlrat (CNE) zur Wahlbeobachtung nach Venezuela eingeladen. Im folgenden Interview gibt er seine Einschätzung der Situation und straft alle diejenigen Lügen, die nach den Wahlen von Wahlmanipulation oder gar von Wahlfälschung gesprochen haben.

Zeitgeschehen im Fokus Sie sind vor ein paar Tagen aus Venezuela zurückgekehrt. Was entgegnen Sie dem Vorwurf der Wahlfälschung? 

Walter Suter Wie bei allen Wahlen hat man auch diesmal das gleiche System eingesetzt. Es ist erprobt und in der Zwischenzeit auch perfektioniert. Es ist zu 100 % automatisiert und im Vorfeld vom Rat der lateinamerikanischen Wahlexperten (CEELA) begutachtet worden. Auch die verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlage wurde überprüft und die Verfassungsmässigkeit der Wahlen ohne Einschränkungen bestätigt. 

Wie setzt sich dieser Wahlexpertenrat zusammen?

Dieser Rat setzt sich wie schon vor einem Jahr, als ich als Wahlbeobachter vor Ort war, aus leitenden Mitgliedern der Wahlbehörden ihrer Heimatländer zusammen. Politisch stehen diese Vertreter mehrheitlich in der Mitte oder gar auf der rechten Seite. Es gab nur einen Vertreter der Linken. Diese Instanz beurteilt die Wahlen von aussen.

Wie gewährleistet dieser Rat die Korrektheit der Wahlen?

Bereits lange vor der Abstimmung wird sowohl die Rechtmässigkeit der Wahl als auch die Zuverlässigkeit des Wahlsystems untersucht. Es gibt im Vorfeld zu den eigentlichen Wahlen 18 Kontrollschritte, mit denen das einwandfreie Funktionieren des Wahlsystems überprüft wird. Da alles digitalisiert ist, beginnt man bereits früh damit. Am Wahltag selber gibt es noch weitere Schritte, die die Wahlkontrolle betreffen, um jedwelche Manipulationen zu verhindern.

Gibt es ausser den internationalen und nationalen Wahlgremien noch weitere Kontrollinstanzen?

Ja, Vertreter aller Parteien von links bis rechts sind am Wahltag daran beteiligt, den ordentlichen Ablauf der Wahlen zu kontrollieren. Die Mitglieder der rund 33 000 Wahlbüros werden unter den Wahlberechtigten ausgelost. 

Wo waren Sie als Wahlbeobachter eingesetzt?

Ich war im Westen des Landes, im Teilstaat Zulia. Ich habe zehn Wahlzentren gesehen. Neben den 5 Wahlbüro-Mitgliedern, die sich parteipolitisch von links bis rechts zusammensetzen, gibt es noch sogenannte Zeugen. Jede Partei hat das Recht, einen abzuordnen. An den meisten Orten gibt es zwei, drei solcher Zeugen quer durch die Parteien.

Mit diesem System und den vielen Menschen, die daran beteiligt sind, scheint Manipulation nur sehr schwer möglich.

Mit der Beteiligung der Opposition kontrollieren sich die Parteien am Wahltag gegenseitig. Es ist ausgeschlossen, hier zu manipulieren, und andernfalls müsste das von den Wahlbüromitgliedern oder Zeugen sofort gemeldet werden. Es gab aber keine Beschwerden. 

Das widerspricht der Stimmungsmache in unseren Medien.

Ich betone nochmals, das Wahlsystem ist absolut zuverlässig. Fälschung ist ausgeschlossen. Dazu kommt noch, dass die Wahlen verfassungskonform sind. Alles andere ist nicht wahr. Der CEELA hat das ebenfalls festgehalten. 

Wie ist die Wahl zu bewerten? 

Ein Teil der Opposition, das heisst, die harte und die extreme Rechte, die schon beim Putsch 2002 gegen Chávez an vorderster Front gekämpft hatte, rief zum Boykott auf. Ihre Anhänger sind diesem Aufruf weitgehend gefolgt. Es gab aber auch einen Teil der Opposition, der an der Präsidentschaftswahl teilgenommen hat. Der bekannteste der vier oppositionellen Kandidaten war Henry Falcón, der früher Mitglied der Partei von Hugo Chávez war und danach die Seite gewechselt hat. Die Christlich-Soziale Partei COPEI, die vor 1999 Regierungspartei war, hat bei den Wahlen ebenfalls mitgemacht. Sie hat den Boykott abgelehnt und Falcón unterstützt. Die Opposition ist gespalten und keine homogene Gruppierung mehr. Der harte Kern, der zum Boykott aufgerufen hatte, wird finanziell und ideologisch aus den USA unterstützt und leider auch von Europa. 

Warum hat die extreme Rechte diese Wahlen boykottiert?

Weil sie im letzten Jahr bei den drei Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung, der Teilstaaten-Gouverneure und der Bürgermeister massive Verluste erlitten hatte. Sie hat realisiert, dass sie – nach wie vor – über Wahlen schwerlich an die Macht gelangt. Sie schmiedet daher weiterhin Pläne, wie sie Präsident Maduro mit anderen Mitteln von der Macht verdrängen kann, das heisst, sie wird den rechtsstaatlichen Weg verlassen.

Wie viele sind zur Urne gegangen? 

Von ca. 20 Millionen Stimmberechtigten sind über 9 Millionen, also rund 48 % an die Urnen gegangen. Über die gesamten Stimmberechtigten gesehen, haben 31,7 % der Bevölkerung Maduro gewählt. Das sind mehr Stimmenanteile als bei der Wahl von Donald Trump in den USA, als bei Mauricio Macri in Argentinien oder als bei Juan Manuel Santos in Kolumbien. Und dies trotz Aufruf zum Wahlboykott. 

Man liest immer wieder in unseren Medien, dass das Parteienbündnis Mesa Unidad Democrática (MUD) nicht zu den Wahlen zugelassen gewesen sei. Was hat es damit auf sich?

Die MUD selbst ist keine Partei, sondern eine informelle Allianz. Sie setzt sich aus mehreren Parteien zusammen. Deshalb kann die MUD als solche sich beim Nationalen Wahlrat CNE auch nicht in das Register der zu den Wahlen zugelassenen Parteien eintragen lassen. Zur Situation der einzelnen MUD-Parteien: Die grössten von ihnen hätten sich nach dem geltenden Recht vor diesen Wahlen vom 20. Mai erneut ins fragliche Register eintragen lassen müssen, weil sie dieses Recht wegen ihres im letzten Jahr erfolgten Aufrufs zum Boykott der damaligen Wahlen verwirkt hatten. Diese Parteien weigerten sich jedoch, dies zu tun. Damit konnten sie nicht nur keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten nominieren, sondern verpassten ebenso die Gelegenheit, sich mit eigenen Kandidaten an den gleichzeitig stattfindenden Wahlen für die Consejos legislativos (Teilstaaten-Parlamente) zu beteiligen. Diese Tatsachen scheinen allerdings in unseren Medien kein Thema zu sein.

Wie war das Ergebnis bei den Wahlen für die Teilstaaten-Parlamente?

Die Wahlallianz der Linken, der Gran Polo Patriótico (GPP), hat in allen 23 Regionalparlamenten haushoch gewonnen, obwohl hier mehrere Parteien teilgenommen haben. Und zwar hat der GPP von insgesamt 251 zu vergebenden Sitzen deren 232 errungen. Dass auch dieser überwältigende Wahlsieg die Regierung von Präsident Maduro zusätzlich stärkt, ist schwer zu übersehen. Der Vorgang lässt sich mit den Bürgermeisterwahlen im letzten Dezember vergleichen. Hier hatte der GPP 90% der Sitze gewonnen. 

Wie sind die Wahlen abschliessend zu beurteilen?

Zum einen bestätigen sie die Prog­nosen, die das seriöseste Umfra­geinstitut Venezuelas aufgrund einer Befragung im Vorfeld getroffen hatte. Zum anderen haben 6 Millionen Maduro gewählt, und Falcón hat 21 % erreicht, bei 68 % für Maduro. Dieser harte Kern von 6 Millionen Wählern steht trotz allen wirtschaftlichen Schwierigkeiten weiterhin hinter Maduro und der bolivarischen Revolution. Und an diesem harten Kern kommt bisher niemand vorbei.

Herr alt Botschafter Suter, vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Thomas Kaiser, Bern

«Ich bleibe bei der Überzeugung, dass eine demokratische und gerechte internationale Ordnung erreichbar ist»

Interview mit dem Völkerrechtler Prof. Dr. iur. et phil. Alfred M. de Zayas

Alfred de Zayas (Bild thk)
Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Was ist Ihre Erfahrung als Unabhängiger Uno-Experte zur Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung? 

Professor de Zayas Sechs Jahre habe ich mein Bestes getan, um die praktische Umsetzung der Menschenrechte zu fördern, aber auch, die Voraussetzungen für ihre Realisierung zu verdeutlichen, die Hindernisse zu identifizieren und mögliche Lösungen vorzuschlagen. Wichtig dabei war, die richtigen Prioritäten im Auge zu behalten – den Frieden und die Menschenwürde. Als erster Unabhängiger Experte in dieser Funktion bemühte ich mich, Licht in die Doktrin zu bringen, um Begriffe wie Demokratie und Gerechtigkeit zu erschliessen und mich nicht durch die Mode leiten zu lassen. 

Wie haben Sie Ihr Anliegen umsetzen können?

Ich nützte die Gelegenheit, der sechsseitigen Resolution 18/6 des Menschenrechtsrats konkrete Gestalt zu geben und ein gewisses Programm zu entwickeln, um die Konvergenz aller bürgerlichen, ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialen Rechte holistisch zu erfassen. Die Idee einer demokratischen und gerechten Weltordnung existiert seit Jahrzehnten und wurde in etlichen Resolutionen der Uno-Generalversammlung bekräftigt. 

Wie ist dieses Mandat entstanden?

Die Funktion des Unabhängigen Experten ist erst im September 2011 vom Menschenrechtsrat geschaffen worden, und ich wurde vom Rat per 1. Mai 2012 ernannt. Seither habe ich 14 Berichte – 13 thematische und einen zu meiner Mission in Venezuela und Ecuador – verfasst. 

Worauf basiert die internationale Ordnung?

Die internationale Ordnung ist diejenige des Multilateralismus. Die Verfassung der Welt ist die Charta der Vereinten Nationen, und die Prioritäten sind das Leben, der Friede, die Familie, die Kultur, die Entwicklung. Ich bestehe auf der Spiritualität und Immanenz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die vor 70 Jahren angenommen und die in den internationalen Menschenrechtspakten weiterentwickelt wurde.

Was bedeutet für Sie eine «demokratische Ordnung»?

Eine demokratische Ordnung bedeutet die Übereinstimmung des Willens des Volkes mit der Politik – also eine direkte oder halbdirekte Demokratie wie in der Schweiz ist die authentischste. 

Wodurch zeichnet sich die gerechte Ordnung aus?

Eine gerechte Ordnung beinhaltet eine gerechte Verteilung des universellen Gemeingutes der Menschheit, so wie es in der Charta der Vereinten Nationen und in der Erklärung des Rechtes auf Entwicklung vorgesehen ist. 

Welche Funktion hat ein Unabhängiger Experte?

Er ist ein Fachmann, der unparteiisch bleiben, unabhängig beurteilen und versuchen muss, die Menschenrechte mittels Mediation, Verhandlung und konstruktiver Empfehlungen zu fördern. 

Was für Eigenschaften muss ein Unabhängiger Experte mitbringen?

Ein Unabhängiger Experte muss vor allem ein «honest broker», ein ehrlicher Verhandler und Mediator sein, einer, der Lösungsvorschläge macht. Leider erwarten (verlangen!) die Medien und sogar der Rat selber, dass wir eine an­tagonistische / intransigente Haltung gegenüber Staaten einnehmen – die Rolle eines Gladiators spielen. Und noch schlimmer, manchmal erwartet man von uns, dass wir einige Staaten verurteilen, bei anderen aber schweigen. Der Druck ist deutlich spürbar – er geht vom Zeitgeist, den Medien, den Lobbies, aber auch von Nichtregierungsorganisationen mit eigenen Agenden aus. Wir haben jedoch einen Verhaltenskodex und müssen unabhängig von jedem Druck und jeder Einschüchterung handeln. 

Ist das nicht schwierig, weil sehr viele behaupten, sich für die «Menschenrechte» einzusetzen?

Ja, leider, es gibt eine regelrechte «Menschenrechtsindustrie» und einige Berichterstatter, die nicht immer objektiv handeln – die die Menschenrechte für ihre Karrieren instrumentalisieren und sich dabei applaudieren lassen. In den Organisationen der Zivilgesellschaft gibt es diejenigen, die ich «Söldner der Menschenrechte» zu nennen wage, Condottieri des 21. Jahrhunderts.

Führt das nicht zu einem Missbrauch der Menschenrechte?

Ja, ich lehne daher insbesondere die Arroganz jener Berichterstatter ab, die so tun, als sei die magische Lösung der Probleme im Spiel «naming and shaming», «Benennen und Beschämen» zu finden. Das heisst, sie tun so, als ob das einzige, was wir tun müssten, sei, die Schuldigen herauszufinden und sie dann in den Medien blosszustellen, sie zu denunzieren und zu dämonisieren. 

Das wird ja häufig genauso gemacht. Warum wird «naming and shaming» immer wieder angewendet? 

Meiner Meinung nach ist diese Vorgehensweise naiv und kontraproduktiv. Es gibt nichts, was weiter weg ist von der echten Lösung komplexer Menschenrechtsprobleme. Unsere Aufgabe muss es sein, zuzuhören, zu lernen, nach den Ursachen von Problemen zu suchen. Wenn wir uns an den Ergebnissen orientieren, dann lehnen wir diese Idee des «Benennens und Beschämens» ab, weil wir, um in der Lage zu sein, jemanden zu beschämen, selbst über jeden Verdacht erhaben sein müssen. Solange der Staat, den wir «benennen und beschämen», uns nicht als moralische Autorität anerkennt, wird alles, was wir sagen, abgelehnt. Stattdessen müssen wir ergebnisorientiert sein und alles tun, um den Opfern von Menschenrechtsverletzungen zu helfen, Hoffnung zu geben, Anerkennung zu zollen. 

Damit wird das Mandat ein versöhnliches …

Ja, wir müssen uns mit dem Staat und seinen Beamten auf gleicher Ebene zusammentun, horizontal, nicht vertikal vom hohen Ross herunter, sondern in einem Geiste der Kooperation und nicht der blossen Verurteilung.

Wie verlief ihre Mission in Venezuela und Ecuador?

Die Mission war ein Erfolg und zeigt konkrete Resultate – z. B. haben die Organisationen der Uno, die in Venezuela und Ecuador vor Ort sind, ihre Kooperation mit der Regierung intensiviert. Ich denke, dass die Vereinten Nationen den Bevölkerungen dank ihrer Erfahrung, ihrer Beratungsdienstleistungen und ihrer fachlichen Unterstützung viel helfen können. Auch wenn ich kein Super-Berichterstatter bin, so habe ich doch Gesuche an kompetente Kollegen weitergegeben und mich bei Ministern für bestimmte Opfer eingesetzt. 

Das ist ein bemerkenswerter Erfolg. Haben Sie noch weitere Auswirkungen Ihrer Mission gespürt?

In Venezuela sind 80 Gefangene kurz nach meiner Mission freigelassen worden. Mein Bericht ist nun bereit – 57 Seiten inklusive 10 Anhänge und 189 Fussnoten. Er ist bei der letzten Edition und wird von der Uno bald veröffentlicht. 

Sie haben damit ein «heisses Eisen» angefasst, gab es keine Reaktionen darauf? 

Natürlich gab es sie – und was für welche! Vor, während und nach der Mission habe ich Angriffe auf meine Person erlitten – eine vulgäre Einschüchterungs-Kampagne, Belästigungen und Drohungen auf Facebook und von Seiten der «Twitterati». Diese Leute verstehen die Menschenrechte nicht als Ausdruck der Menschenwürde, sondern eher als Kriegswaffe, als Diffamierungs- und Dämonisierungsmethode. Ich nenne das die «weaponization» der Menschenrechte. 

Was für Ziele verfolgen diese Menschen?

Diese Leute wollen keine unabhängige Untersuchung – sie wollen nur die Verurteilung. Ich hingegen will dem venezolanischen Volk helfen. Dafür müssen der Wirtschaftskrieg beendet und die Sanktionen aufgehoben werden, die aufgrund von Mangelernährung und fehlender Medikamente unmittelbar Tote zur Folge haben. Seien Sie sicher: ökonomische Sanktionen töten.

Wie sind die Sanktionen völkerrechtlich zu beurteilen?

Manche Sanktionen, zum Beispiel Waffen­embargos, können legitim sein, wenn das Ziel ist, eine Atmosphäre des Dialogs zu ermöglichen. Ökonomische Sanktionen hingegen, die einen Staat erwürgen wollen und den Tod von vielen Unschuldigen durch Hunger oder Medizinmangel verursachen, sind mit Geist und Buchstabe der Uno- Charta unvereinbar. Bereits 2000 erklärte die Uno-Unterkommission für Menschenrechte in einem ausführlichen Bericht, solche Sanktionen als unvereinbar mit der Menschenwürde. Seit 2015 untersucht ein Sonderberichterstatter, Idriss Jazairy, die Folgen von Sanktionen und die Notwendigkeit, den Opfern Reparationen zu verschaffen.

Wie beurteilen Sie, dass sich die Schweiz diesen Sanktionen gegen Venezuela anschliesst?

Für mich als frischgebackenen Schweizer ist es ein Skandal, und mit dem Neutralitätsgebot der Schweiz völlig unvereinbar! Stattdessen sollte die Schweiz versuchen, zwischen Regierung und Opposition zu vermitteln.

Was empfinden Sie, wenn Sie an die Zeit als Unabhängiger Experte zurückdenken?

Dankbarkeit für die Gelegenheit, der Sache der Menschenrechte zu dienen. Ich danke meinen Assistenten, ich danke so vielen Kollegen, ich danke auch den Medien, die mir hin und wieder eine Plattform gaben. Aber ich werde weitermachen, nicht als Unabhängiger Experte, sondern als Professor an der Geneva School of Diplomacy werde ich weiterhin die Menschenrechte lehren. Ich werde auch immer wieder von verschiedenen Universitäten eingeladen und weiterhin an Uno-Podien teilnehmen. Ich bleibe bei der Überzeugung, dass man seit 1945 grosse Fortschritte gemacht hat und dass eine demokratische und gerechte internationale Ordnung erreichbar ist. Bei den Menschenrechten gilt es Geduld, Beharrlichkeit und Leidenschaft zu beweisen. 

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Interview.

Interview Thomas Kaiser, Genf

Wird der Ausnahmezustand von der türkischen Regierung zum Machterhalt missbraucht?

thk. Am 24. Juni werden in der Türkei der Präsident und das Parlament neu gewählt. Das scheint nur insofern etwas Besonderes, als Präsident Erdoğan den Wahltermin vorgezogen hat, um so die nationale Stimmung ausnützen, die seit der militärischen Aktion gegen die Kurden herrscht. Dennoch muss etwas irritieren: Die Wahl findet unter dem Ausnahmezustand statt, in dem sich die Türkei seit nahezu zwei Jahren befindet und der besonders die politische Opposition massiv einschränkt. Es sind Teile der Verfassung ausser Kraft gesetzt und ein fairer Wahlkampf ist unter diesen Umständen kaum möglich. 

Aber die Türkei ist nicht der einzige Staat in Europa, der sich im Ausnahmezustand befindet. Dazu gehören die Ukraine und bis vor kurzem Frankreich. 

Die Parlamentarische Versammlung des Europarats legte auch den Finger auf die drei Länder und übte Kritik an der langen und extremen Umsetzung dieses Ausnahmezustands. Auch wenn Frankreich inzwischen diesen Zustand beendet hat, so währte er doch mehrere Jahre, ähnlich wie in der Türkei. Die Versammlung zeigte sich denn auch besorgt, dass man diese Massnahme, die zu einer Stärkung der demokratischen Rechte führen sollte, zu politischen Zwecken missbraucht. Stärkste Kritik äusserten türkische Parlamentarier, die in der Türkei der politischen Opposition angehören. In den folgenden Interviews nehmen zwei Vertreter zur aktuellen Situation Stellung. 

«Der Ausnahmezustand als Gelegenheit, die Opposition zu zerstören»

Interview mit Hişyar Öszoy, Abgeordneter (HDP) in der türkischen Nationalversammlung, Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Hişyar Öszoy (Bild thk)
Hişyar Öszoy (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie steht es um den Ausnahmezustand der Türkei?

Hişyar Öszoy Die Regierung erklärte wenige Tage nach dem Putsch im Juli 2016 den Ausnahmezustand. Als sie das tat, sagt sie: «Wir werden den Putsch bekämpfen und dann beenden wir den Ausnahmezustand.» Aber sie hat ihn jetzt sieben Mal verlängert. Sie nutzt ihn als Gelegenheit, die politische Opposition zu zerstören, während sie versucht, ein neues politisches System in der Türkei zu etablieren, d.h. ein Präsidialsystem.

Das gibt es in anderen Ländern auch …

Im Gegensatz zu den Präsidialsystemen in anderen Ländern ist autoritäre zentralistische politische Struktur der Türkei heute sehr ausgeprägt. Letztes Jahr haben wir das Referendum für das Präsidialsystem unter Ausnahmezustand abgehalten. Die Regierung machte es damit der Opposition fast unmöglich, ihre Kampagne durchzuführen.

Was bedeutet das für die Zukunft des türkischen politischen Systems?

Jetzt werden wir die eigentlichen Präsidentschaftswahlen unter dem Ausnahmezustand abhalten, was bedeutet, dass es kein Gesetz gibt, es gibt keine Rechtsstaatlichkeit. Die Regierung hat alle Arten von staatlichen Ressourcen und öffentlichen Mitteln für politische Zwecke verwendet. Das ist eindeutig ein Verbrechen nach der Verfassung und dem Gesetz. Aber in der Türkei gibt es auch keine unabhängigen Gerichtsverfahren. 

Welche Funktion hat der Ausnahmezustand?

Er wird normalerweise erklärt, wenn eine Bedrohung für das Leben einer Nation besteht so lautet der Grundsatz. Aber wir sind der Meinung, dass die Notstandsbefugnisse, die Erdoğan in der Türkei zur Verfügung stehen, nun selbst eine Bedrohung für die demokratische Zukunft des Landes darstellen.

Was ist das Endziel von Erdoğans Politik?

Er baut gerade dieses autoritäre diktatorische System auf, und ich glaube nicht, dass dies nur seinem persönlichen politischen Überleben dient. Es gibt definitiv Überlebensfragen für ihn, weil es so viel Korruption gegeben hat und seine Familie in so viele Verbrechen verstrickt ist. Wenn er die Macht verliert, muss er entweder das Land verlassen oder ins Gefängnis gehen …

… weil er seine Immunität braucht, um seine Straffreiheit zu behalten?

Er wird seine Immunität verlieren, denn so viele Verbrechen wurden begangen. Aber das grössere Problem ist, denke ich, dass er weiter mit dieser ultranationalen Koalition arbeitet. Sie sind offen rassistisch und anti-kurdisch. Was sie tun, ist, eine Art ultranationale Front aufzubauen, um auf die vielfältigen Herausforderungen der Türkei im Nahen Osten, insbesondere in Syrien, zu reagieren.

Dies betrifft insbesondere die Kurden?

Sie haben die Entwicklung der Kurden im Nahen Osten als entscheidenden Akteur im Irak, in Syrien und in der Türkei als existenzielles Problem für die türkische Republik wahrgenommen, und die Frage ist, wie man dagegen vorgehen kann. Anstatt den Kurden einige Rechte einzuräumen und sie in den politischen Prozess einzubeziehen, haben sie beschlossen, den Krieg gegen die Kurden zu eröffnen, und dafür brauchen sie einen stark zentralisierten diktatorischen Staatsapparat. Wenn Erdoğan gewinnt, werden sie definitiv ein höchst autoritäres Staatssystem entwickeln, um alle Macht, alle Behörden und Ressourcen zu zentralisieren, damit sie gegen die Kurden kämpfen können. Ich denke, das ist das Hauptproblem.

Herr Öszoy, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser,
Strassburg

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

«Der Ausnahmezustand ist nicht nur nicht rechtsgültig, sondern auch illegitim in politischer und historischer Hinsicht»

Interview mit Ertuğrul Kürkçü, Abgeordneter (HDP) in der türkischen Nationalversammlung, Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Zeitgeschehen im Fokus Was ist der Grund dafür, dass Präsident Erdoğan den Ausnahmezustand zum siebten Mal verlängert hat? Was ist seine Absicht? 

Ertuğrul Kürkçü Der Ausnahmezustand in der Türkei ist nicht einfach eine Reaktion oder ein Widerstandsakt gegen einen missglückten Staatsstreich, sondern es ist auch ein Werkzeug für Tayyip Erdoğan, um den Boden für seinen Ausnahmestaat vorzubereiten. Daher können wir rechtlich nicht von einem Notfall sprechen. Aber wir sollten das Ganze als politische Angelegenheit verstehen. Der Vorwand für die Ausrufung des Ausnahmezustands wird auch von Tayyip Erdoğan und seiner Regierung fabriziert. 

Woran kann man das erkennen? 

Wir wissen inzwischen, dass sie alle Informationen über die Vorbereitungen eines Staatsstreichs hatten. Deshalb haben sie darauf gewartet, dass etwas passiert, um dann den Ausnahmezustand erklären zu können. 

Mit welcher Absicht? 

Der Ausnahmezustand gibt ihnen das Recht, das Land mittels Dekreten zu regieren und die türkische Verfassung, die Europäische Menschenrechtskonvention und die Übereinkommen der Vereinten Nationen zu umgehen. Sie erlassen Verordnungen, die nicht unmittelbar mit einer drohenden Gefahr zu tun haben, wie sie das Gesetz vorsieht. Sie haben das Land regiert und Verordnungen für jeden Aspekt des sozialen und politischen Lebens erlassen. Daher ist dieser Ausnahmezustand nicht nur nicht rechtsgültig, sondern auch illegitim in politischer und historischer Hinsicht. 

Sie sagten, Erdoğan sei über die Planung des Staatsstreichs informiert worden. Was sind die Beweise für diese Behauptung? 

Zuallererst gibt es Zeugen. Einige russische Journalisten und Politiker haben erklärt, dass sie die türkische Regierung über einen möglichen Staatsstreich informiert hätten, zwei Tage, bevor er passierte. Das wurde nie abgestritten. Die zweite Sache sind die unmittelbaren informellen Erklärungen für das, was im Verlauf der Ereignisse passierte. 

Was waren das für Erklärungen?

Die Regierungsbeamten, die verantwortlich dafür waren, die Regierung vor dem Putsch zu schützen, gaben gegenüber den Abgeordneten im Parlament informelle Erklärungen ab, dass die Situation eine Reaktion der Gülen-Bewegung für die mutmasslichen Säuberungen im Militär, bei der Polizei und in der Justiz sei, wie sie für die jährlichen militärischen Zuweisungen und Beförderungen im August vorgesehen waren. Dies erklärt, warum der Premierminister in den ersten Stunden des Putsches sagte: «Wir sehen uns jetzt einem militärischen Aufstand gegenüber.» Er hat überhaupt nicht in Betracht gezogen, den Begriff «Staatsstreich» zu benutzen.

Gibt es noch weitere Ungereimtheiten? 

Ein anderer, sehr symptomatischer Hinweis ist, dass die erste Mass­nahme der Regierung am Tag nach dem Putschversuch war, 2 700 Richter zu entlassen. Ist nach einem militärischen Aufstand oder einem Staatsstreich das erste, was man tun kann und tun sollte, Richter und Soldaten zu entlassen? Offenbar hatten sie die Vorbereitungen für die Säuberungsaktion bereits gemacht und warteten auf den besten zur Verfügung stehenden Vorwand.

Welche Schlussfolgerung, ziehen Sie in Anbetracht dieser Tatsachen? 

Dies bedeutet und beweist, dass sie Listen von Beamten, fortschrittlichen oder abweichenden Richtern, Offizieren beim Militär, Akademikern usw. angelegt hatten, die sie bereits für die Säuberungsaktionen vorgesehen hatten. Die widersprüchlichen und sich ständig ändernden persönliche Berichte von Tayyip Erdoğan selbst über seinen Aufenthaltsort, über den der Minister und des Premierministers sind ein weiterer Mangel in der Regierungsberichterstattung über die Ereignisse vom 15. und 16. Juli 2016.

Es ist sehr interessant, dass am Freitagabend, 15. Juli keine wichtigen Partei- oder Regierungsvertreter in Ankara waren. Darüber hinaus waren alle obersten Kommandeure zu einer Hochzeit in Istanbul gegangen. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die höchsten Offiziere «etwas» Aussergewöhnliches erwarteten und Massnahmen ergriffen hatten, sich aus dem Geschehen herauszuhalten, um nicht zur Zielscheibe zu werden oder sich aus der Verantwortung zu schleichen, sollte der Coup misslingen.

Gab es auch Aussergewöhnliches bei der weiteren Aufarbeitung des Putschs?

Das letzte Problem ist, dass die Regierung und die Mehrheit im Parlament, die Regierungspartei, der parlamentarischen Untersuchungskommission einen Riegel vorschob, als sie eine parlamentarische Untersuchung über den Anschlag beschliessen wollte. Sie riefen Tayyip Erdoğan nicht dazu auf, vor einer Untersuchungskommission auszusagen. Der Stabschef der Armee erschien nicht vor der Kommission. Der Geheimdienstchef erschien nicht vor der Kommission. Ohne die wichtigsten Akteure anzuhören, verfasste die Kommission einen sehr kontroversen Bericht unter Vorbehalt der HDP und der grössten Oppositionspartei CHP. Der Bericht der Untersuchungskommission verzichtet auf eine Diskussion der Widersprüchlichkeiten von Tayyip Erdoğans persönlichem Bericht. 

Was waren das für Widersprüchlichkeiten?

Er hat seine erste Aussage über den Putsch mindestens viermal geändert. Zuerst sagte er, er habe die Information über den laufenden Putschversuch von «meinem Schwager» bekommen. Dann sagte er: «Die MIT-Führung [militärischer Nachrichtendienst] hat mich informiert.» Dann sagte er: «Ich habe die Informationen vom Stabschef der Armee bekommen.» Alles zu einer anderen Zeit. Wir können zumindest sagen, dass die Schilderungen des Präsidenten nicht konsistent sind und durch Widersprüche und Kontroversen getrübt werden. Dies gibt uns die Möglichkeit, unsere eigene Version zu konstruieren. Und das ist unsere Version.

Was war das Ziel des Staatsstreichs? 

Dieser Staatsstreich ist gescheitert. Das erste, was wir sagen können, ist, dass die Putschisten kein klares Ziel hatten. Sie hatten keine wirksamen Mittel. Sie hatten keine Organisationsstruktur, und das vermittelt uns den Eindruck, dass sie vielleicht sogar zur Inszenierung eines Putsches provoziert wurden. Eine Geschichte ist die, dass der Stabschef der Armee grünes Licht für einen Putsch gegeben hatte und dann aber zurückruderte. Dies ist eines der Szenarien, über das wir sprechen können. Wir können sagen, dass es kein klares Ziel gab. Wenn wir uns ihr Manifest ansehen, ist dies eine Kombination von Sorgen um politische Rechte in Verbindung mit Bedenken in Bezug auf Sicherheitsfragen. Dies hat keine Logik und keinen Rahmen. Es vermittelt uns keine Vorstellung darüber, was sie beabsichtigten. 

Das passt zu dem, was ich dachte, als ich die Fernsehberichte über den Coup von 2016 beobachtete. Das ist nicht professionell, aber was ist das? Ich hatte den Eindruck einer zufälligen Aktion. 

Sowohl als auch. Der Versuch war nicht professionell, und die Reaktion war nicht professionell. Auch 6 Stunden, nachdem sich der Putsch in der ganzen Türkei ausgebreitet hatte, dachte der Stabschef der Streitkräfte nicht einmal daran, seinen Soldaten zu befehlen, in ihren Kasernen zu bleiben. Es begann am Nachmittag, aber erst nach Mitternacht wurde der Armee befohlen, in den Kasernen zu bleiben. Es ist sehr interessant, dass die regierenden AKP-Basisorganisationen eine sehr viel aktivere Reaktion zeigten. 

Inwiefern?

Die Zivilbevölkerung versammelte sich vor den Kasernen der Armee. Fragen Sie mal eine gewöhnliche Person in Istanbul, wo es die erste Kaserne in Istanbul gibt, und er kann es Ihnen nicht sagen. Aber diese AKP-Leute wussten, wo sie hinzugehen hatten. Sie wurden von Polizisten vor die Kaserne geleitet. Die ersten Orte, die sie erreichten, waren die Polizeistationen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft oder in der Umgebung. Dies vermittelt uns den Eindruck, dass die AKP zuvor schon eine Simulation einer Präventivoperation durchgeführt hatte. Das ist meine Meinung. 

Gibt es eine öffentliche Diskussion über die Ereignisse in der Türkei? 

Nein, all das wird in der Türkei nicht öffentlich diskutiert, weil die AKP sowohl in politischer als auch in journalistischer Hinsicht die Opposition unterdrückt und eine öffentliche Diskussion über alternative Versionen des Putschversuchs vermeidet. Man wird diffamiert und ausgegrenzt, so dass die Menschen Angst haben. Aber unter den Leuten herrscht die allgemeine Vorstellung, dass die Ereignisse des 15. Juli ein vorgetäuschter Putsch und ein vorgetäuschter Vorwand waren, um die Notstandsgesetze einzuführen. Dies ist eine sehr weit verbreitete Meinung in der Türkei. 

Für Sie ist es nicht gefährlich, so offen darüber zu sprechen? 

Ja, solche Gefahren gibt es schon. Aber wenn man nicht wagt, die Wahrheit zu sagen, warum ist man dann Politiker geworden? 

Herr Kürkçü, vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Thomas Kaiser,
Strassburg

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

Grundprinzipien des Europarats: Einhaltung und Stärkung der Menschenrechte

thk. In unserer letzten Ausgabe haben wir über die Aufarbeitung der Korruptionsvorwürfe in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats berichtet. Ziel des Europarats ist es, eine gemeinsame Menschenrechtspolitik auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention zu führen. Auch wenn fälschlicherweise die EU häufig mit Europa gleichgesetzt wird, was sie mit ihren noch 28 Mitgliedstaaten auf keinen Fall sein kann, bildet der Europarat mit seinen verschiedenen Gremien eine gesamteuropäische Plattform. Hier hat jeder der 47 Mitgliedstaaten eine Stimme, und das Grundprinzip ist, sich für die Einhaltung und Stärkung der Menschenrechte einzusetzen. Welche Hintergründe die momentanen Auseinandersetzungen in der Parlamentarischen Versammlung haben und welche Bedeutung der Europarat als gesamteuropäisches Gremium hat, legt der deutsche Bundestagsabgeordnete der SPD und Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, Frank Schwabe, in folgendem Interview dar. 

«Der Europarat muss seiner grundsätzlichen Aufgabe gerecht werden»

Interview mit Frank Schwabe, MdB (SPD) und Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Zeitgeschehen im Fokus Geht durch die Korruptionsgeschichte nicht die eigentliche Aufgabe der Parlamentarischen Versammlung verloren?

Bundestagsabgeordneter Frank Schwabe Ich hoffe, dass gerade das Gegenteil der Fall ist und in vielen Ländern jetzt mehr geschaut wird, was wir hier tun. Wir haben in verschiedenen Staaten eine Entwicklung hin zum Autoritarismus, eine Entwicklung weg von den fundamentalen Menschenrechten, auch von den Menschenrechtsinstitutionen. Deswegen braucht es den Europarat, und man braucht eigentlich mehr davon. Er wurde gerade deswegen korrumpiert, weil wir in den Ländern Westeuropas zu wenig hingeschaut haben. Dadurch konnten sich verschiedene Dinge entwickeln, die man jetzt austreiben muss, und da sind wir gerade dabei.

Was sind die Aufgaben der Parlamentarischen Versammlung des Europarats?

Das Allerwichtigste ist der Schutz des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs und der Konvention, denn das ist für viele Menschen im grossen Europa, in den Ländern des Europarats, oft die einzige Chance, Recht bekommen zu können, und wir sind diejenigen, die die Richter wählen. Wir machen Berichte über die Handlungsweise und über die Verbesserung des Gerichtshofs. Diesen müssen wir mit aller Macht schützen.

Das ist eine wichtige Aufgabe. Wie versucht man die Menschenrechtslage in einzelnen Ländern, wo dies nötig ist, zu verbessern?

Wir haben die Möglichkeit, uns zur Menschenrechtslage und zur Demokratie in vielen Ländern zu äussern. Und dabei brauchen wir ungeschönte realistische Berichte, damit wir die Länder damit konfrontieren können. Wir haben viele Institutionen, die helfend gedacht sind, wie die Venedig-Kommission, die eine richtig gute Arbeit macht, die über Jahrzehnte hoch anerkannt war. Heute haben wir viele Länder, die sich davon abwenden und diese Institution als Einmischung in innere Angelegenheiten empfinden. Das geht nicht, wir müssen diese Institution verteidigen. Das haben wir in der vergangenen Zeit zu wenig getan, und jetzt wissen wir, woran es gelegen haben kann. Das müssen wir jetzt ändern. 

Was ist die Ursache für die Entwicklung von autoritativen Systemen?

In Zeiten von Quizshows würde man sagen, das ist die eine-Millionen-Euro-Frage. Wir haben anscheinend in westeuropäischen Staaten eine Form von Zukunftsangst oder eine Form von Überdruss. Das, was uns gegeben, geschenkt oder über Jahrzehnte erarbeitet wurde, scheint nicht mehr so verteidigungswert zu sein. Fast alle osteuropäischen Staaten haben sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks aufgemacht in Richtung Demokratie. Vor ein paar Jahren gab es dann Tendenzen die Institutionen des Europarats nicht mehr so wichtig zu nehmen. Mittlerweile haben wir Regierungen, die sich offensiv gegen die Kontrolle und die Demokratiehilfen wehren.

Was sind die Folgen?

Wir haben eine Entwicklung, die nicht gut ist zur Verteidigung der Menschenrechte. Wir stehen unter Druck. Aber wir sind um so wichtiger und müssen unsere Arbeit unvoreingenommen machen können. Wenn es da Kolleginnen und Kollegen gibt, die anderes beabsichtigen, dann müssen sie die Versammlung verlassen. Wir brauchen klare Instrumente, um Korruption in Zukunft zu verhindern.

Was bedeutet das, dass 47 Staaten hier zusammenkommen?

Da kommen unterschiedliche Charaktere und Kulturen zusammen. Das müssen wir verstehen. Ich verstehe auch bestimmte nationale Interessen. Die Befürchtung, dass es Ärger gibt, wenn man in manchen Resolutionen manche Länder zu stark kritisiert, das verstehe ich auch. Und trotzdem muss der Europarat seiner grundsätzlichen Aufgabe gerecht werden können.

Irgendwo muss ein Konsens sein?

Ja, alle haben die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unterschrieben. Dazu wurde niemand gezwungen. Alle wollten sich auf diesen Weg machen, und bisher ist es auch so, dass die meisten dabei bleiben wollen. Dabei gibt es bestimmte Grundverpflichtungen, die die gelten müssen trotz der Schwierigkeiten in manchen Staaten, .Dann muss man offen sein, dass eben kritisiert wird, wenn man die Verpflichtungen nicht einhält. Man kann dann nicht anfangen zu versuchen, andere in einer Art und Weise zu beeinflussen, die gegen alle Regeln verstösst.

Herr Bundestagsabgeordneter Schwabe, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser,
Strassburg

Die freie und unabhängige Schweiz ist für uns eine wichtige Inspiration

von Václav Klaus, ehemaliger Minister- und Staatspräsident der Tschechischen Republik

Sehr geehrte Damen und Herren, vielen Dank für Ihre, für mich ganz ausserordentliche Einladung. In der Schweiz habe ich seit dem Fall des Kommunismus mehrmals gesprochen. Ich habe an zahlreichen Konferenzen und Debatten teilgenommen, ich habe an einigen Universitäten Vorlesungen gehalten, ich war sogar 17mal in Davos. Trotzdem war ich noch nie an der Mitgliederversammlung einer politischen Vereinigung.

Václav Klaus (Bild thk)

Václav Klaus (Bild thk)

 

Etwas Interessantes und Anregendes hier heute Nachmittag zu sagen, ist für mich wirklich eine Herausforderung. Vielen Dank für diese Gelegenheit. 

In Wikipedia habe ich gelesen, dass Ihre politische Vereinigung das Ziel verfolgt, die Unabhängigkeit, die Neutralität, direkte Demokratie und die Sicherheit der Schweiz zu wahren und zu fördern. Sie sind auch gegen jegliche Annäherung an die Europäische Union und gegen die heute grösste und gefährlichste Bedrohung Europas, die die Massenmigration darstellt. 

Gerade dies sind auch die Ziele meiner langfristigen politischen Aktivität. In den heutigen europäischen Debatten sind wir an derselben Seite der politischen und ideologischen Barrikade. Wir haben ähnliche Freunde und die gleichen Feinde. Deshalb habe ich Ihre Einladung mit Freude und Neugier ohne Zögern angenommen.

In allen diesen Themen war die Schweiz immer unsere Inspiration. Ein wichtiger Unterschied leider existiert. Wir gehören zu den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, während die Schweiz ein unabhängiger Staat ist, was heute in Europa eine Ausnahme, fast eine Rarität, ist. 

Ich muss eingestehen, dass ich keine marginale Rolle in unserer EU-Mitgliedschaft spielte. Als ich der erste Ministerpräsident der neugeborenen Tschechischen Republik war, habe ich im Januar 1996 das Anmeldeformular zur EU-Mitgliedschaft nach Brüssel gesendet. Als ich Staatspräsident gewesen bin, habe ich im März 2003 den Beitritt der Tschechischen Republik zu der EU unterzeichnet. Trotzdem war ich immer ein lauter Kritiker der EU, des Maastricht-Vertrages und besonders des Lissabonner Vertrages. Wie passt das zusammen? Dazu brauche ich die Schweiz, oder besser gesagt, den Vergleich meines Landes mit der Schweiz.

Am Anfang der 90er Jahre hatten wir in der Tschechischen Republik leider nicht den Luxus, die historisch einzigartige Position der neutralen, reichen und hochentwickelten, souveränen, selbstbewussten Schweiz zu haben. Dieser Schlüsselmoment unserer modernen Geschichte ist für uns zu früh nach dem Fall des Kommunismus eingetreten. Wir waren damals noch ein unsicheres, von allen Seiten unterschätztes, post-kommunistisches Land. Wir mussten demonstrieren, dass unsere Ausrichtung der Westen und nicht der Osten ist. 

Für uns war es klar, leider konnten die Menschen in Westeuropa unsere Ambitionen nicht so gut verstehen. In den ersten Stunden und Tagen der Samtrevolution im November 1989 waren an den Strassen in Prag tausende Plakate mit dem Schlagwort «Zurück zu Europa». Damit wollten die Bürger unseres Landes folgendes sagen: Wir wollen wieder, nach 40 Jahren der Unfreiheit und Irrationalität des Kommunismus, ein normales europäisches Land werden. In meinem Land (und in ganz Mitteleu­ropa) war ich wahrscheinlich der einzige, der schon damals sagte: Zurück zu Europa ist etwas anderes als «Avanti» in die Europäische Union. Es ist mir leider nicht gelungen, diesen grundsätzlichen Unterschied den tschechischen Bürgern deutlich zu erklären. Am Anfang war es wahrscheinlich unmöglich. Die Erwartungen waren zu hoch.

Unsere Bürger haben den Westen damals nicht richtig verstanden. Leider. In diesem Missverständnis waren sie nicht die einzigen. Das verstehen Sie in der Schweiz und besonders Sie in der «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz» viel besser. 

Die Mehrheit der Menschen in den alten EU-Ländern versteht es bis heute nicht. Ich wurde in Westeuropa damals immer gefragt: Wenn Sie die EU kritisieren, heisst das, dass Sie zusammen mit Herrn Lukaschenko in Weissrussland und mit Herrn Milošević in Jugoslawien mitgehen wollen? Meine Antwort war klar: Ich will Freiheit, Demokratie, Unabhängigkeit, Souveränität, ich bin aber nicht sicher, ob ich diese Werte in der heutigen EU finden kann. Noch einmal möchte ich betonen, dass es mir bei uns nicht gelungen ist, mit meiner Einstellung zu gewinnen. Ein kleiner, aber ein wichtiger trostbringender Erfolg ist, dass die Tschechen in allen Meinungsumfragen von heute die grössten EU-Skeptiker sind. Trotzdem haben wir unsere Unabhängigkeit für eine lange Zeit verloren.

Bedeutung der Freiheit

Diese scharfen Ansichten sind mit meinen, viel zu langen Erfahrungen des Lebens im Kommunismus verbunden. In diesem System habe ich die produktivsten Jahre meines Lebens verbracht. Trotz aller damaligen Schwierigkeiten haben wir dennoch etwas Wichtiges gelernt. Wir haben die Wichtigkeit der Freiheit begriffen. Diese Erfahrung hat unsere Sensibilität für die kleinsten Symptome von ähnlichen Defekten, die in der heutigen europäischen Gesellschaft existieren, radikal erhöht.

Auf dieser Basis finde ich in Eu­ropa heute eine sehr problematische Entwicklung, die ich als seriöse und gefährliche Bedrohung, nicht nur unserer Freiheit und Prosperität, sondern auch unserer Kultur und der ganzen europäischen Zivilisation interpretiere.

Was ich jetzt erlebe, habe ich im Moment des Falls des Kommunismus nicht erwartet. Ich wollte – und zusammen mit mir Millionen von Tschechen und anderen Osteuropäern – in einer freien Gesellschaft und in einer freien Marktwirtschaft leben. Dies ist nicht eingetreten. Unsere tragische Vergangenheit ist zum Glück schon lange Zeit vorbei, das Leben im Kommunismus und im heutigen EU-Europa ist bestimmt nicht vergleichbar, aber die lange Zeit fehlende authentische politische Freiheit, die Absenz der Manipulation und Indoktrinierung und die wirklich freie Marktwirtschaft sind nicht da.

Viele Europäer sehen es nicht. Sie schauen leider nicht mit voller Aufmerksamkeit hin. Sie haben noch heute das Gefühl, dass in Europa alles in Ordnung sei, dass unser Kontinent genügend reich, frei und demokratisch ist, dass wir alle entstehenden Probleme mit mehr aufgeklärtem Zentralismus, mit der Weisheit der europäischen Eliten, mit Hilfe von Finanztransfers von reicheren zu nicht so reichen Menschen und Ländern eliminieren können, und dass die heutigen partialen und oberflächlichen, nicht tiefgehenden Quasi-Reformen des EU-Systems zur Besserung der Situation reichen. Meine heutige Botschaft hier in Bern ist radikal anders: Eine solch passive und unverantwortliche Einstellung werden uns unsere Kinder und Enkelkinder nicht verzeihen.

Wie ich sagte, die Unterschiede zwischen Kommunismus und EU-Europa sind gross (und niemand kann sie leugnen), aber die Menschen in Europa sind heutzutage fast so stark reguliert, manipuliert und indoktriniert, wie wir in der späteren kommunistischen Ära gewesen sind. Die Meinungsfreiheit ist wieder eingeschränkt. Es herrscht die politische Korrektheit. Die EU-Protagonisten und Propagandisten haben die Atmosphäre geschaffen, in welcher gewisse Fragen und Antworten nicht erlaubt sind. Die wirkliche Debatte – diese unentbehrliche Substanz der Politik – existiert in der heutigen EU nicht mehr. Nur deshalb können die Menschen die Fortsetzung des heutigen Weges der europäischen Integration, der zur Postdemokratie und zur Stagnation führt, unterstützen, verteidigen oder zumindest passiv tolerieren.

«Grössere Strukturen als der Staat sind für die Demokratie ungeeignet»

In Europa erleben wir ein gefährliches demokratisches Defizit und das Entstehen der Postdemokratie. Lange Zeit beobachten wir den Anstieg von Anonymität der Entscheidungen, wachsende Entfernung der Bürger von den Entscheidungsträgern und gefährliche Entpersonifizierung der EU. Für die Demokratie brauchen wir den Staat, nicht seine Schwächung und Liquidierung. Grössere Strukturen als der Staat sind für die Demokratie ungeeignet. In diesen Strukturen ist die authentische demokratische Repräsentanz der Bürger nicht möglich. Das verstehen Sie in der Schweiz sehr gut. Auch deshalb haben Sie Ihre Kantone.

Ich bin überzeugt davon, dass die heutige europäische Entwicklung keine historische Notwendigkeit ist. Was wir jetzt erleben, ist ein «man-made» (selbstgemachtes) Problem. Es geht um unsere, uns selbst zugefügte Beschädigung. Die heutige nicht erfolgreiche europäische ökonomische Entwicklung ist ein Produkt des heutigen europäischen Wirtschafts- und Sozialsystems auf der einen Seite und der mehr und mehr zentralistischen und undemokratischen EU-Institutionen auf der anderen. Das Hauptproblem sehe ich in der Umkehrung des Gleichgewichts zwischen Staat und Markt, zwischen Politik und menschlicher Freiheit. Die extreme Version dieser Umkehrung haben wir im Kommunismus – mit bekannten Konsequenzen – erlebt.

Ich muss auch die zwei wichtigsten europäischen institutionellen Veränderungen der letzten Ära erwähnen – die Entstehung der Währungsunion und des Schengen-Raums. Sie wurden den Bürgern der einzelnen europäischen Staaten nicht klar genug erklärt und ihnen zu einem falschen Preis verkauft. 

Sie sind nicht so günstig und vorteilhaft, wie die Menschen dachten und wie es ihnen versprochen wurde. Die an das EU-Projekt glaubenden Politiker haben nur die Vorteile, nicht die Nachteile dieser konstruktivistischen Projekte betont. Die Kontra-Argumente waren gut bekannt. Diejenigen, die dagegen gewesen sind, waren leider zu leise. Die Sozialwissenschaftler und Ökonomen haben nicht genügend protestiert. Oder waren nicht genügend gehört worden, was für die Historie keinen wichtigen Unterschied bedeutet. Viele von uns wussten schon damals, dass die «andere» Seite, die negativen Konsequenzen dieser Projekte, früher oder später zur Sprache kommen werden.

Man sollte laut sagen, dass die ersten 19 Jahre der Existenz der europäischen Währungsunion nicht die positiven Effekte gebracht haben, die die Europäer – zu Recht oder zu Unrecht – erwartet hatten. Wir beide, die Tschechen und die Schweizer, sind nicht direkt davon betroffen, die Schweizer haben den Schweizer Franken und die Tschechen haben noch die Tschechische Krone. Aber indirekt sind wir sicherlich beeinflusst.

Wir wissen, warum es so ist. Nach der Entstehung der Eurozone hat sich das Wirtschaftswachstum in ihren Ländern im Vergleich zu den vorherigen Jahrzehnten verlangsamt. Auch die Handelsbilanzen und Staatshaushalte haben sich verschlechtert. Die Einführung der europäischen gemeinsamen Währung hat die Selbstdisziplin der einzelnen europäischen Länder geschwächt. Sie hat einen Wechselkurs gebracht, der zu weich für die Länder des europäischen Nordens ist, aber zu hart für den europäischen Süden. Sie hat die Türen für die unproduktive und unfreiwillige zwischenstaatliche Umverteilung geöffnet (es geht nicht um eine authentische persönliche Solidarität, sondern um staatsorganisierte «fiscal transfers»).

Dazu kommt die Massenmigration, die mit Schengen verbunden ist. Sie ist nicht vom Himmel gefallen. Ihre Gründe sollten wir nicht im Nahen Osten oder in Nordafrika suchen. Sie ist die Folge des europäischen selbstmörderischen Benehmens, die Folge der Dedemokratisierung Europas, die Folge der Liquidierung der Nationalstaaten, die Folge des Marschierens der europäischen Eliten – mit uns als Geiseln – in Aldous Huxleys «Brave New World». Ich habe vor mehr als drei Jahren ein kleines Buch zu diesem Thema verfasst. Der deutsche Titel ist «Völkerwanderung», der französische «Migration des peuples». Das Buch hat heute inzwischen acht Übersetzungen. 

Die heutige Massenmigration, und ihre durchaus negativen Konsequenzen für die Zukunft der europäischen Gesellschaft haben nicht die Migranten, sondern die europäischen Politiker – an der Spitze deutsche Politiker – verursacht.

Das manchmal tragische Leben der Menschen in den Ländern des Nahen Ostens, Nordafrikas und Westasiens sollte nicht als Rechtfertigung für die verantwortungslose «Willkommenskultur» der europäischen Eliten benutzt werden. Die Situation in diesen Ländern stellt nur die Angebotsseite der Migration dar. Für die Verwirklichung der Migration genügt das nicht. Jedes Angebot braucht – wie wir alle gut wissen – seine Nachfrage und diese Nachfrage kam aus Europa.

Die Mehrheit der europäischen Spitzenpolitiker argumentiert anders. Mit ihrem Glauben an die durchaus wohltuenden Effekte der unbegrenzten Verschiedenheit der Menschen für eine zusammenlebende Volksgemeinschaft und mit ihrem Glauben an die vollkommen positiven und bereichernden Einwirkungen der Migranten, ihrer Ideen, ihrer Religion, ihrer Benehmensmuster haben diese Politiker die Türen zu Europa ganz absichtlich geöffnet. Sie haben die Migranten schon seit langer Zeit implizit, aber in der letzten Zeit auch explizit eingeladen. Nur deshalb sind die Migranten da. […]

Wir sind in Europa heutzutage geteilt, gespalten und uns nicht einig. Man kann fast von einem Krieg sprechen, bisher zum Glück nur von einem Krieg der Ideen und Interpretationen. Die Schlachtformationen, die auf beiden Seiten auftreten, sind gut bekannt: Auf einer Seite, meiner Seite, stehen Freiheit, Demokratie, Verantwortung, Ordnung, Souveränität der europäischen Nationalstaaten, Patriotismus, Auslandsreisen und Auslandsaufenthalte statt Migration.

Auf der anderen Seite stehen politische Korrektheit, Multikulturalismus, Massenmigration, Verantwortungslosigkeit und Chaos, Moralismus und Manipulation, das Duo Merkel-Macron, Herr Juncker, unfreiwillige und nicht spontane Unifizierung, Zentralisierung, Harmonisierung und Standardisierung Europas, Kontinentalismus, und – nicht an letzter Stelle – Kulturmarxismus der Frankfurter Schule.

Diese stilisierte Beschreibung halte ich nicht für eine Karikatur der heutigen europäischen Situation. So klar und übersichtlich sind die Karten in Europa heute verteilt. Wir sollten nie zulassen, dass diese Klarheit und Übersichtlichkeit durch die politische Korrektheit vernebelt werden.

Die Schweiz spielt im heutigen Europa eine wichtige Rolle, die Rolle des Beispiels, dass es möglich ist, anders zu leben und die Entscheidungen zu Hause zu treffen. Am Anfang sagte ich, dass wir in der Tschechischen Republik nach dem Fall des Kommunismus nicht den Luxus hatten, die schweizerische vorteilhafte, aber wohlverdiente und lange Zeit verteidigte Position zu haben. Heute füge ich hinzu, dass wir leider nicht eine Insel in der Nähe Europas wie England sind. Deshalb ist die Variante des Brexits für uns in Mitteleuropa schwierig zu verwirklichen. Trotzdem bemühen sich die mitteleuropäischen, so genannten Visegrád-Gruppe-Staaten ihre eigene Position zu verschiedenen europäischen Themen, besonders zur Masenmigration, zum Euro, zur Bankenunion und Fiskalunion, zur Asylpolitik selbständig auszudrücken.

Wie man sieht, ist die Reaktion von Brüssel und von den europäischen politischen Eliten zu unseren Ambitionen nicht nur negativ, sondern explizit feindlich. Diese Arroganz sollten wir nicht akzeptieren. Ich habe aber Angst, dass wir nicht genug Kraft zum Widerstand haben. Wir sollten die schweizerische Stärke und Festigkeit, das schweizerische Selbstbewusstsein und die schweizerische Überzeugung von Ihrer eigenen Wahrheit haben und nach ihr leben.

* Leicht gekürzte Version der Rede an der AUNS-Versammlung in Bern vom 28.04.2018

 

Zurück