Idlib und die Heuchelei des Westens

Die Medien verschweigen, wie es zur Eskalation in Idlib kam

von Dr. phil. Helmut Scheben*

Es ist ein Déjà-vu: In Idlib wiederholt sich das traurige Spektakel, das der Welt bei den Kämpfen in Ost-Gouta vor Damaskus und im nordsyrischen Aleppo geboten wurde. Der Westen beklagt händeringend das Schicksal der Dschihadisten und ihrer Anhängerschaft und nennt sie «Rebellen». Es sind jedoch dieselben Dschihadisten, die der Westen im irakischen Mossul als terroristischen Abschaum dargestellt und in Grund und Boden bombardiert hat.

Die USA und ihre Verbündeten geben nach eigenen Angaben Milliarden Dollar für den sogenannten «Krieg gegen den Terror» aus. Doch in der syrischen Region Idlib stellen sie sich auf die Seite von radikalislamischen Kampfgruppen und erheben ein lautes Wehgeschrei, wenn die syrische Armee mit Unterstützung Russlands gegen Al-Kaida-Dschihadisten vorgeht, die jede Abmachung und jeden Waffenstillstand gebrochen und immer wieder Terroranschläge verübt haben. «Die Provinz Idlib wird militärisch weitgehend von einer Miliz kontrolliert, die der al-Kaida nahesteht», berichteten der «Tages-Anzeiger» und die «Süddeutsche Zeitung» am 27. Juli.

Die Eskalation in Idlib werde die Region weiter destabilisieren, klagt US-Botschafter Jonathan Cohen vor dem UN-Sicherheitsrat. Die Position der USA und ihrer Nato-Alliierten wird von den grossen westlichen Medien – wie im gesamten Syrienkonflikt – weitgehend kritiklos übernommen. Sie warnen vor Massakern und einer humanitären Katastrophe, sie schildern das tatsächliche Leid der Bevölkerung in den erschreckendsten Details, sie bringen herzzerreissende Augenzeugenberichte aus den umkämpften Gebieten, und sie vergessen nie zu betonen, wer die Schuldigen sind: Baschar al-Assad, Russland und der Iran.

«Die letzte Schlacht wird die blutigste» titelt der Zürcher «Tages-Anzeiger» am 8. August 2019 und zitiert Rania Kisar, eine US-Amerikanerin mit syrischen Wurzeln, die seit Jahren als PR-Aktivistin der syrischen Opposition auf amerikanischen TV-Sendern zu sehen ist.1 Am 22. Juli stellte sie ein Video ins Netz, das ihr prompt ein Interview mit CNN einbrachte. Ihr Aufruf ist stets der gleiche: Helfen Sie uns, Mister Trump, Sie wissen, was Baschar al-Assad den Menschen hier antut.

Die «Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte», längst als fragwürdiges Propagandabüro der Opposition diskreditiert, feiert ihr Come Back als seriöse Informationsquelle. Dieser zufolge bombardieren die Russen vorzugsweise Spitäler und Schulen, töten Frauen und Kinder. Die Dementis von Seiten Russlands und der syrischen Regierung scheinen kaum noch einer Erwähnung wert. Es herrscht Krieg – auch ein Informationskrieg. Wie viele Spitäler und Schulen tatsächlich angegriffen und getroffen wurden, wird man erst nach Ende der Kämpfe feststellen können.

Die grossen westlichen Medien leiden an Gedächtnisverlust. Sie vergessen, dass der Westen Truppen finanziert, bewaffnet und nach Syrien geschickt hat, um die Regierung zu stürzen. Immer erst wenn es diesen sogenannten Rebellen an den Kragen geht, entdeckt derselbe Westen mit grossem Jammern das Leid der Menschen im Krieg. Die Heuchelei ist zum politischen Kerngeschäft geworden. Das Projekt «Regime Change» ist gescheitert, die Planer dieses Projektes, die USA und ihre Verbündeten am Golf und in der Nato, rufen jetzt nach mehr Menschlichkeit.

Hat man in acht Kriegsjahren auf unseren deutschsprachigen Sendern ein Fernsehinterview gesehen, in dem eine syrische Familie befragt wird, wie es ihr geht, nachdem ein Familienvater, ein Sohn, eine Tochter von «Rebellen» umgebracht wurde? Ich habe keines gesehen und gehört. Gab es einen einzigen Zeitungsartikel, in dem das Leid der Familien gefallener syrischer Soldaten Thema war? In der Mediendatenbank ist nichts zu finden. Die Berichterstattung unserer grossen Medien konzentrierte sich auf die Perspektive der sogenannten Rebellen und der USA. Westliche Medien informierten noch einseitiger, als es im Irakkrieg der Fall war. Und das ist noch heute so.

Warum verschweigen die Medien, wie es zur Eskalation in Idlib kam?

Ein Beispiel. Die Region Idlib wurde Ende 2018 zur demilitarisierten Zone erklärt und den Aufständischen als vorläufges Refugium angeboten. So sah es eine Abmachung zwischen Russland, dem Iran, der Türkei und Syrien vor. Doch die Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (früher al-Nusra), die Al Kaida nahesteht, missachtete sämtliche Abmachungen, gab ihre schweren Waffen nicht ab und verschaffte sich in brutalen Überfällen weitgehend militärische Kontrolle über das Gebiet. Nachdem die Dschihadisten immer wieder Stellungen der syrischen Armee angegriffen hatten, leitete die syrische Regierung in Kooperation mit den Russen Ende April 2019 die Offensive ein, die zur Zeit andauert.

All dies ist zwar auf Wikipedia nachzulesen, wird aber in unseren Zeitungen, im Radio und in der «Tagesschau» weitgehend ignoriert. Berichtet wird hingegen ausgiebig über Bombenangriffe der syrischen Armee, ganz so als massakriere einmal mehr nur ein tyrannisches Regime eine schutzlose Zivilbevölkerung. In andern Fällen wird dies als «Kolateralschaden» bezeichnet. Man erinnere sich nur an die Bombardierung der Stadt Mossul. Diese Kommunikationsstrategie wird als Framing bezeichnet: Ereignisse werden aus dem Kontext herausgeschnitten, das Handeln der syrischen Regierung erscheint als grundlos, willkürlich und brutal.

Die «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens stellte vor kurzem ein Filmteam vor, das einen Film über Syrien auf dem Festival von Locarno präsentierte. Ein Sprecher dieses Teams sagte vor der Kamera, der Film dokumentiere das tägliche Leben der Bevölkerung im Widerstand. Der Titel des Films: «During Revolution».

Welche «Revolution» ist da gemeint? Und wie hat sie sich manifestiert? In der Bedrohung, Ermordung, Vertreibung von Christen, Alewiten, Schiiten, Jesiden und all derjenigen, die als Sympathisanten der Regierung galten? In den abgeschnittenen Köpfen? In den Massenerschiessungen auf den Dorfplätzen? Die Burka-Frauen, die wie stumme, schwarze Pakete in den Gebieten unter Kontrolle der Aufständischen zu sehen sind: Gehören sie zur Revolution, von der hier die Rede ist?

Den Aufstand der vom Westen finanzierten Milizen gegen die syrische Regierung als «Revolution» zu bezeichnen ist Parteinahme für einen Terrorkrieg.

Das semantische Einwickelpapier

Das Wort «Revolution», einst Schlüsselwort im Vokabular der Linken (Französische Revolution, Oktoberrevolution, kubanische Revolution, Nelkenrevolution) ist zum Lieblingswort der amerikanischen Neokons mutiert: Sie reden von der «Maidan-Revolution» und anderen «Orangen Revolutionen» in Osteuropa. Wörter wie «Revolution» oder «Rebellen» sind das Einwickelpapier, mit dem der faule Fisch verpackt wird. Wenn nicht mehr zu merken ist, dass er schlecht riecht, kann man ihn den Leuten verkaufen.

Ähnliche Skepsis ist geboten, wenn im Wording westlicher Medien das «syrischen Volk» auftaucht. In der Regel heisst es dann «Assad schiesst auf sein eigenes Volk» oder – wie am 10. August in einem Kommentar im Zürcher «Tages-Anzeiger» – Präsident Bashar al-Assad habe «Chemiewaffen gegen sein eigenes Volk eingesetzt».

Würden die Journalisten sorgfältig recherchieren, so fänden sie heraus, dass die Beweise für Assads «Giftgasangriffe» auf wackligen Füssen stehen. Unabhängige Experten haben nachgewiesen, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit die Kampfgruppen der Dschihadisten waren, die diese Angriffe mit chemischen Waffen verübten, um die USA für einen Einmarsch zu provozieren. Würden die Medien sorgfältig recherchieren, so fänden sie weiter heraus, dass die Story von den neunzigtausend Folterfotos, die ein mysteriöser Militärfotograf «Caesar» verbreiten lässt, genauso wenig glaubwürdig und masslos übertrieben ist, wie die «Augenzeugenberichte» der Propaganda-Organisation Weisshelme es waren.

Das «syrische Volk»

Das Wording vom «syrischen Volk», so wie es unsere Medien als Textbaustein verwenden, ist manipulativ. Denn das «syrische Volk», wer soll das sein? Die Aufständischen, die Syrien zum grossen Teil verlassen haben, oder die 20 Millionen, die in Syrien geblieben sind? Die Medien zitieren generell die Uno-Berichte, in denen von rund elf Millionen Flüchtlingen die Rede ist. Davon sollen rund fünf Millionen ins Ausland geflohen und rund sechs Millionen innerhalb des Landes vertrieben worden sein. Kaum ein Syrien-Bericht in unseren Medien verzichtet darauf, diese Statistik hervorzuheben.

Nur: Diese Zahlen werden in der Regel so in den Kontext eingebettet, als sei die gesamte Fluchtbewegung der syrischen Regierung anzulasten. Niemand macht sich die Mühe zu differenzieren, wer da von wem vertrieben wurde. Dass die sogenannten Rebellen seit Kriegsbeginn massive ethnische «Säuberungen» betrieben, ist in zahlreichen Fällen dokumentiert, wird aber kaum thematisiert. Man darf wohl davon ausgehen, dass ein grosser Teil der internen Vertriebenen nicht vor der syrischen Armee, sondern vor dem Terror der Dschihadisten geflohen ist.2 So wie man annehmen darf, dass ein grosser Teil der jungen Männer, die in europäischen Flüchtlingszentren landen, Dschihadisten sind, die sich in Sicherheit gebracht haben, als sie sahen, dass der Krieg verloren war.

Wenn Assad auf «sein eigenes Volk schiesst», auf wen schiessen dann die vom Westen bewaffneten Milizen? Die Dschihadisten aus mehr als 50 Nationen, die in verschiedenen Schüben von Norden, Westen und Süden über die Grenzen nach Syrien eindrangen, um die Regierung Assad zu stürzen – auf wen haben sie wohl geschossen?

Seit Vietnam die ewig gleiche Propaganda

Wie lange wird uns noch die Story vom «syrischen Volk» erzählt, welches sich «erheben musste gegen den Diktator Assad»? Die grossen Medien haben, wie so oft in der Vergangenheit, die in Washington, London, Paris und Berlin verbreitete Erzählung emsig kolportiert. Statt nun endlich ihre Fehleinschätzung einzugestehen und genauer zu recherchieren, sind sie offenbar entschlossen, die Sache auf Biegen und Brechen durchzuboxen. Augen zu und durch heisst jetzt ihre Parole, und damit riskieren sie einen Verlust an Glaubwürdigkeit. Ein spanisches Sprichwort sagt: «No se puede tapar el sol con un dedo». Man kann die Sonne nicht mit einem Finger verdecken. Früher oder später wird die Geschichte des Syrienkrieges mit mehr Faktentreue geschrieben.

Wie oft müssen Medienschaffende noch übers Ohr gehauen werden, bis sie merken, dass seit Vietnam immer von neuem die gleiche Propagandalüge funktioniert? Lesen Journalistinnen und Journalisten noch Dokumente wie die «Pentagon Papers»?

Schon damals durften die USA angeblich ihre «Freunde» in Südvietnam nicht im Stich lassen. Schon damals kämpfte das Volk gegen die Tyrannei aus dem Norden, und der Westen musste dem vietnamesischen Volk zu Hilfe eilen.

In den Balkankriegen hatten die Serben laut dem deutschen Verteidigungsminister Scharping einen «Plan Hufeisen» gefasst, um das kosovarische Volk auszulöschen. Es war Fake, aber es funktionierte: Die Nato musste dem Volk zu Hilfe eilen und bombardierte Belgrad.

In Afghanistan kämpfte das Volk gegen die Tyrannei der Taliban, und der Westen mussten dem Volk zu Hilfe eilen. Die Behauptung, die Taliban hätten etwas mit 9/11 zu tun, war falsch.

Im Irak kämpfte das Volk gegen die Tyrannei des Saddam Hussein, und die USA mussten dem Volk zu Hilfe eilen.

In Libyen drohte angeblich ein Massenmord an der Bevölkerung von Benghazi. Die Berichte waren Fake, aber es funktionierte. Der Westen musste dem unterdrückten Volk zu Hilfe eilen und brachte seine Freiheitskämpfer an die Macht.

Die Resultate all dieser humanitären Kriege sind zu besichtigen: Es sind zerstörte Länder im Chaos.

In Aleppo «Rebellen» – in Mossul terroristische «Dschihadisten»

Das gleiche Stück wurde uns noch einmal vor syrischen Kulissen gespielt, und bis heute spielen die meisten Medien wacker mit: Das «syrische Volk» erhob sich gegen die Tyrannei des Bashar al-Assad, und der Westen und seine Freunde am Golf mussten «Rebellen» bewaffnen und finanzieren, um dem syrischen Volk beizustehen. Die Sache ist – wieder einmal – schiefgegangen.

Man hatte – wie schon in Libyen – angeblich Kämpfer für Demokratie und Freiheit unterstützt, und sie erwiesen sich in ihrer grossen Mehrheit als Dschihadisten der übleren Sorte. Nun war guter Rat teuer, und die Syrienpolitik des Weissen Hauses wurde vollends zum Irrläufer. Man wusste sich nicht anders zu helfen als mit einer neuen Fiktion: Jetzt musste man die guten Rebellen unterstützen und die bösen Rebellen bombardieren. So als mache es völkerrechtlich einen Unterschied, ob man sympathische oder unsympathische Kampftruppen bewaffnet, um einen souveränen Staat anzugreifen.

Die Rollenverteilung auf der Bühne des Teatro Mundi made in USA war fortan festgelegt: In Aleppo waren die Dschihadisten die guten Rebellen, weil sie von der syrischen Armee und der russischen Luftwaffe angegriffen wurden, also von den Bösen. In Mossul dagegen waren sie die bösen Rebellen, weil dort die USA und ihre Verbündeten bombardierten, also die Good Guys im Welt-Theater. In Idlib wiederum sind es nun die bedauernswerten Rebellen, für deren Menschenrechte der Westen kämpfen muss und so weiter.

Die Journalisten und Journalistinnen, die diese Söldner als «Rebellen» und ihr Treiben als «syrische Revolution» etikettieren, mögen sich doch – und sei es nur für ein paar Wochen – nach Syrien begeben und die Leute auf der Strasse befragen. Eine überwältigende Mehrheit wünscht diese Milizen zum Teufel, die acht Jahre lang Krieg führten, weil sie sich der Unterstützung ihrer Freunde in Washington, Riad, Doha und Ankara sicher sein konnten. Die Regierung Assad hat ein ums andere Mal freien Abzug angeboten, wenn sie die Waffen niederlegen. Sie haben sich geweigert, weil der Nachschub lief und weil die Milliarden aus Katar, aus Saudiarabien, aus den USA und aus anderen Ländern weiter flossen.

Missbrauchte Volksbewegungen des «arabischen Frühlings»

Im Kontext des «arabischen Frühlings» gab es auch in Syrien eine Mobilisierung der Opposition und sicher gab es politische Kräfte, die Reformen wollten, nicht aber Krieg. Sicher gab es friedliche Demonstrationen, gegen welche die syrischen Sicherheitskräfte repressiv vorgingen. Es gab aber gleichzeitig – unter dem Cover dieser Demonstrationen und unter dem ideologischen Deckmantel eines arabischen Frühlings – zahlreiche Fälle von bewaffneter Gewalt gegen die Repräsentanten des Staates und Massaker an «Sympathisanten Assads».

Das Narrativ des arabischen Frühlings wurde genutzt, um unliebsame Regierungen der gesamten Region militärisch zu
stürzen. Washington und die Golfmonarchien hatten das Drehbuch geschrieben. Syrien wurde angegriffen, obwohl von dem multikulturellen Land mit säkularer Verfassung keine Bedrohung für den Westen ausging.

Die Provinz Idlib machte erstmals Schlagzeilen bei Kriegsbeginn im Juni 2011. Gerade hatten Dschihadisten des Islamischen Staates das Provinzstädtchen Jisr esh-Shoughur besetzt und zur Abschreckung vermeintlich Andersdenkender gleich alle 123 Polizisten der Ortschaft massakriert. Der Fluss Orontes, der durch das Städtchen fliesst, spülte in den folgenden Wochen immer wieder verstümmelte Körperteile der Massakrierten an die Ufer.

Heute, acht Jahre später, zeigt sich der Westen entsetzt, dass der Krieg, den er finanziert und politisch gerechtfertigt hat, so grausam enden könnte wie er angefangen hat. Die Philosophin Hannah Arendt hatte kurz vor ihrem Tod einen scharfsinnnigen Kommentar zu den «Pentagon Papers» geschrieben. Sie fällt ein vernichtendes Urteil über die Leute, die den Krieg in Vietnam zu verantworten hatten: «Die Betrüger fingen mit Selbstbetrug an. Wohl dank ihrer hohen Position und ihrer erstaunlichen Selbstsicherheit waren sie von ihrem überwältigenden Erfolg – nicht auf dem Schlachtfeld, sondern auf dem Feld der Public Relations – so überzeugt und der Richtigkeit ihrer psychologischen Theorien über die Manipulierbarkeit von Menschen so sicher, dass sie an ihrer eigenen Glaubwürdigkeit nie zweifelten und ihren Sieg im Kampf um die Volksmeinung im voraus für gegeben hielten.»3

Diese Sätze wurden in den 70er Jahren geschrieben. Sie könnten gelesen werden als ein Kommentar zu dem Krieg in Syrien oder eine Prophezeihung im Hinblick auf den Krieg gegen den Iran, den dieselben Geostrategen derzeit ins Auge fassen.

1 https://www.youtube.com/watch?v=nMcAKGMQ0RU und https://www.youtube.com/watch?v=x2IzUOHUZSQ

2 https://www.journal21.ch/syrien-ein-bild-erzaehlt-eine-story

3 Hannah Arendt: Wahrheit und Lüge in der Politik (Piper 2017), S.33

Die Menschheit hat verbindliche Grundlagen zur friedlichen Konfliktlösung geschaffen

Die neutrale Schweiz hat einen wichtigen Part darin

von Thomas Kaiser

Die vielen Krisenmeldungen in unseren Medien hinterlassen beim einzelnen häufig den Eindruck, dass man gegen die Vielzahl der Konflikte nichts ausrichten kann. Das führt zu einem Ohnmachtsgefühl und bestätigt die gängige Auffassung, dass die Welt schon immer so gewesen sei und dass sich daran nichts ändern werde. Zum einen ist dieser Eindruck falsch und zum andern lähmt er die Menschen, sich aktiv für den Frieden einzusetzen.

Betrachtet man die Länder, die von Konflikten heimgesucht werden, lässt sich unschwer erkennen, dass die wenigsten dieser Auseinandersetzungen hausgemacht sind, sondern von aussen hineingetragen werden. Häufig stecken strategische oder wirtschaftliche Interessen dahinter, in der Regel geht es um Bodenschätze, Absatzmärkte oder strategisch wichtige Gebiete. Im Hinblick auf diese Krisen stellt sich dringender denn je die Frage, wie man künftige Konflikte verhindern oder bestehende friedlich beilegen kann. Die Menschheit hat im Laufe der Geschichte viele positive Grundlagen dazu geschaffen.

Gründung des IKRK war ein Meilenstein

Durch die Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) im Jahre 1863 – initiiert vom Schweizer Henri Dunant – entstand eine weltweite Organisation, die aus der menschlichen Betroffenheit über die Verwundeten und Toten bei der Schlacht von Solferino im Jahr 1859 gegründet wurde. Auch war Henri Dunant massgeblich an der Ausarbeitung der ersten Genfer Konvention 1864 beteiligt und damit direkt an der Begründung des humanitären Völkerrechts. Im Laufe des letzten Jahrhunderts entstanden drei weitere Konventionen, so dass heute vier Genfer Konventionen existieren. Damit wurden internationale Regeln geschaffen, die im Krieg einzuhalten sind und dessen Durchführbarkeit verunmöglichen sollten. Berührt von dem menschlichen Engagement des Gründers des IKRK und überzeugt vom humanitären Gedanken, schlossen sich immer mehr Staaten dieser Organisation an und unterzeichneten die Genfer Konventionen. Die Schweiz als Depositarstaat hat in dieser Beziehung eine besondere Verpflichtung, dem humanitären Völkerrecht Nachachtung zu verschaffen. Der neutrale Status der Schweiz spielt hierbei eine entscheidende Rolle.

Bild thk

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Völkerbund und Uno waren Reaktionen auf die Kriege

Der nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Völkerbund sollte als internationale Organisation einen erneuten grossen Krieg verhindern. Als Sitz der Société des Nations, wie es auf französisch hiess, wurde die Westschweizer Metropole Genf ausgewählt. Das war nicht zufällig, denn die Neutralität der Schweiz erlaubte es, mit Konfliktparteien auf neutralem Boden Verhandlungen zu führen. Der Versuch, durch den Dialog Krisen zu lösen und den Frieden zu fördern, war der einzig richtige Ansatz. Es fehlten aber klare verbindliche Regeln, und grosse Staaten wie die Sowjetunion, die USA oder auch das Deutsche Reich (1933 ausgetreten) waren in dieser Organisation gar nicht oder nur kurz vertreten. 

Die Gründung der Uno war eine Antwort auf die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und die Mängel des Völkerbundes, der bis 1946 zumindest auf dem Papier existierte. Die Uno trat nun an dessen Stelle. Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, unterstützt von weiteren Staaten, waren darum bemüht, ein verbindliches internationales Regelwerk zu schaffen, das solche Katastrophen verhindern sollte. Die Uno-Charta als bedeutende völkerrechtliche Grundlage stand ganz im Zeichen der Kriegsverhinderung und der Sicherung des Weltfriedens. Nur im äussersten Notfall und unter Abwägung aller möglichen Risiken ist ein militärisches Vorgehen unter der Führung der Uno möglich. Selbst wenn ein Staat angegriffen wird, muss der Uno-Sicherheitsrat konsultiert werden und eine militärische Reaktion unter dessen Kontrolle gestellt sein. Die Latte für ein militärisches Eingreifen wurde aus guten Gründen sehr hoch gelegt. Jeder Staat, der Mitglied der Uno ist oder werden will, hat mit seiner Unterschrift Wort und Geist der Uno-Charta zu akzeptieren und verpflichtet sich,
diese Vorgaben einzuhalten. 

Würden alle Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen nachkommen, gehörten Kriege der Vergangenheit an, und sie wären nur noch in den Geschichtsbüchern als frühere Schwächen und Unfähigkeiten der Menschen dokumentiert.

Friedliches Zusammenleben aller Menschen möglich

Mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, den Genfer Konventionen, der Uno-Charta sowie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte haben sich die Menschen Grundlagen geschaffen, die ein friedliches Zusammenleben der Menschheit grundsätzlich ermöglichen. Dass es dennoch immer wieder zu Spannungen zwischen Staaten und Völkern kommt, liegt nicht in der Natur des Menschen, sondern in wirtschaftlichen und finanziellen Interessen einiger weniger.

Trotz vieler Fehl- und Rückschläge, die die Menschheit auch in jüngster Zeit immer wieder erleiden musste, kann das kein Argument gegen internationale Übereinkünfte zur Erhaltung des Friedens sein. Auch wird grundsätzlich niemand widersprechen, dass Konflikte nur im gegenseitigen Dialog und Respekt gelöst werden können. Auch wenn die Situation noch so verfahren scheint, ist es um so dringender, direkte Verhandlungen zu führen.

Ist das direkte Gespräch zwischen den Konfliktparteien nicht möglich, braucht es wie bei Konflikten unter einzelnen Bürgern, einen Vermittler, einen Mediator, der einer Verständigung und somit bei einer Annäherung der Konfliktparteien behilflich sein kann. Das ist aber nur erfolgreich, wenn sich der Mediator neutral verhält. Was im Kleinen funktioniert, muss auch bei Konflikten zwischen Ländern gelten. Der vermittelnde Staat muss sich seiner Bedeutung bewusst sein und strikt neutral bleiben.

Die neutrale Schweiz als Vermittler

Die Schweiz ist aufgrund ihrer seit über 200 Jahren völkerrechtlich anerkannten Neutralität prädestiniert, als Vermittler in Konfliktsituationen aufzutreten; auch lässt sich auf neutralem Boden leichter verhandeln. In unzähligen Konflikten hat die Schweiz Verhandlungen angeboten und auch mitgestaltet. Das kann sie, weil sie weder der EU angehört noch Mitglied eines Kriegsbündnisses wie der Nato ist. So nahm z. B. beim Minsker II Abkommen die Schweizer Diplomatin und Beauftragte der OSZE, Heidi Tagliavini, eine entscheidende Rolle ein.

In den letzten Jahren hat die Schweiz laut dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten «in mehr als 20 Ländern über 30 Friedensprozesse» begleitet. Weiter heisst es dort: «Vermehrt stellt die Schweiz auch internationalen Organisationen wie der Uno oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Expertinnen und Experten zur Verfügung, die im Auftrag der Organisation in Konflikten vermitteln.» Bei der Schweizer Bevölkerung geniesst die Neutralität höchste Priorität. In Umfragen wollen über 90 Prozent der Bevölkerung die Neutralität beibehalten. In unserer direkten Demokratie ist das für die Landesregierung verpflichtend.

Jüngster Erfolg in der Vermittlung eines seit Jahrzehnten andauernden gewalttätigen Konflikts war der Friedensvertrag zwischen der Regierung von Moçambique und den Renamo-Rebellen. Die Friedensverhandlungen, geführt vom Schweizer Diplomaten Mirko Manzoni, erstreckten sich über fast drei Jahre und konnten mit der Unterzeichnung eines Vertrags Anfang August abgeschlossen werden. Der Generalsekretär der OSZE, der frühere Schweizer Spitzendiplomat Thomas Greminger, führt den Erfolg darauf zurück, dass Manzoni das Vertrauen beider Konfliktparteien gewonnen habe. Hätte sich der Schweizer Diplomat auf die Seite einer der Konfliktparteien gestellt, wäre der Friedensschluss nicht zustande gekommen. 

Die Schweizer Regierung muss die Neutralität wahren

Das Beispiel Moçambique zeigt, dass Verhandlungen unter Wahrung der Neutralität zu einem erfolgreichen Abschluss geführt werden können. Um so unverständlicher ist es, wenn sich die Schweizer Regierung, insbesondere in der Person von Bundesrat Ignazio Cassis, in Konflikten nicht neutral verhält und Position bezieht wie im Falle Venezuelas oder auch Syriens. Hier hat sich unsere Landesregierung den US-amerikanischen oder EU-Sanktionen angeschlossen. Das verhindert, dass die Schweiz den Platz in der Völkergemeinschaft wahrnehmen kann, der ihr aufgrund der Neutralität zukommt. Bei Venezuela hat das dazu geführt, dass Norwegen als Vermittler in den innerstaatlichen Konflikt einbezogen wurde und nicht die Schweiz. Auch im Syrienkrieg, der, wie im Artikel von Helmut Scheben aufgezeigt, unheimlich viele Ungereimtheiten und Widersprüche hat, wäre grösste Zurückhaltung geboten und die Neutralität zu wahren, nur allein zum Schutz der Zivilbevölkerung und um vermitteln zu können.

Die Schweiz hat keine «hidden Agenda»

Der Vorteil der Neutralität wirkt sich in der Entwicklungszusammenarbeit positiv aus. So kann die Schweiz in Krisengebieten noch wirken, wo andere Staaten aufgrund ihrer Parteinahme nicht mehr erwünscht sind, was verheerende Auswirkungen für die betroffene Zivilbevölkerung hat. Der ehemalige Direktor der DEZA, Martin Dahinden, hat immer wieder betont, dass die Schweiz das Vertrauen vieler Länder geniesst, weil sie keine «hidden Agenda» führt.

Die Schweizer Diplomatie und das humanitäre Engagement, das durch die Gründung des IKRK internationale Bedeutung haben, erwiesen sich in vielen Fällen als segensreich für die betroffenen Menschen. Konflikte konnten entschärft, das Leid der Bevölkerung gelindert werden. Was in der Schweiz mit einer Person, Henri Dunant, begann, hat sich über die ganze Welt ausgebreitet.

Die Instrumente für ein friedliches Zusammenleben der Völker sind vorhanden, sie müssten nur angewendet werden.

Naher Osten: Geflüchtet oder ansässig – eine Schule für alle*

von Zélie Schaller

Die Syrienkrise ist für die ganze Bevölkerung ein Drama – und für tausende von Kindern eine besondere Tragödie: Obwohl ein Grundrecht, wird ihnen die Schulbildung vorenthalten. Im Libanon und in Jordanien hat die Schweiz rund hundert Schulen saniert, damit einheimische und syrische Kinder zusammen lernen können.

Tausende syrische Kinder sind geflohen, um den Schrecken des Kriegs zu entgehen, der ihr Land seit 2011 in Atem hält. Mehr als 625 000 wurden im Libanon aufgenommen, rund 670 000 in Jordanien. Viele dieser Kinder gehen in die öffentlichen Schulen, doch letztlich hat nur jedes zweite geflüchtete Kind Zugang zur Schulbildung. Die Gründe dafür sind vielfältig: Sicherheitsprobleme, psychische Störungen aufgrund erlebter Gräueltaten, eigentlich verbotene Kinderarbeit zur Aufbesserung des Familieneinkommens, frühe Heirat sowie beschränkte Aufnahmekapazitäten der Schulen. Um letztere zu erhöhen, saniert die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit Schulanlagen. Seit 2012 und bis Ende 2019 werden insgesamt 78 Schulen in Jordanien und 49 im Libanon von Grund auf saniert. Darin erhalten rund 87 000 einheimische und syrische Schüler unter verbesserten Bedingungen Unterricht, unter anderem in Arabisch, Mathematik und Geografie. Im Nordlibanon koordinieren Experten des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe (SKA) die Arbeiten mit dem Bildungsministerium. Architekt und Projektberater Ueli Salzmann erklärt die Strategie der DEZA: «Wir wollen 100 Prozent sichere Schulen aufbauen. Dabei geht es nicht nur um das gewalttätige Umfeld in der ganzen Region, sondern auch darum, dass der Landesnorden immer wieder von Erdbeben heimgesucht wird. Gebäude, deren Strukturen den Erschütterungen nicht standhalten, sanieren wir nicht.»

Hohe Qualitätsvorgaben
Sobald ein Renovationsprojekt ausgearbeitet ist, werden Offerten einheimischer Unternehmer eingeholt, um die lokale Wirtschaft zu fördern. Als erstes wird die Kanalisation saniert und das Gebäude abgedichtet und gestrichen. Ausserdem werden die elektrischen und die sanitären Anlagen instandgesetzt sowie Türen und Fenster ersetzt. Auch Spielplätze werden gebaut. Alle Massnahmen werden so umgesetzt, dass auch Menschen mit Behinderung Zugang haben. «Wir verwenden qualitativ gutes Material, um das Funktionieren der renovierten Gebäude und Infrastrukturen sicherzustellen und einem raschen Zerfall vorzubeugen», unterstreicht Ueli Salzmann und ergänzt: «Als integraler Teil unserer Qualitätskontrolle bleibt zudem ein Schweizer Projektleiter vor Ort und überwacht die Arbeit nach
anspruchsvollen Vorgaben.»

In den renovierten Schulen können sowohl libanesische als auch syrische Kinder und Jugendliche besser lernen  ©DEZA

In den renovierten Schulen können sowohl libanesische als auch syrische Kinder und Jugendliche besser lernen  ©DEZA

 

«Die Schule ist nun besser auf die Bedürfnisse der Kinder ausgerichtet», sagt Khaled Omar, Schulleiter von Beit Ayoub. «Die Schulkinder und Lehrkräfte freuen sich über verbesserte Hygiene und ein angemessenes schulisches Umfeld: Wasser und Toiletten sind sauber, in den Klassenzimmern ist es nicht länger feucht.» Adnan Kornoz, Vorsteher der Sekundarschule Fneidek, ist über die neuen Sanitäranlagen erleichtert: «Zum ersten Mal haben wir genügend Toiletten, nämlich 14 für 400 Schülerinnen und Schüler. Sie sind geschlechtergetrennt, was dazu beiträgt, dass die Eltern ihre Töchter zur Schule schicken.» Die junge Syrerin Bushra ist eine von ihnen und ist begeistert: «Ich bin so glücklich in dieser Schule. Alles ist schön, sauber und hell!» Damit die Flüchtlingskinder tatsächlich aufgenommen werden können, hat die Schweiz auch Schulmobiliar finanziert. «In mehreren Klassenräumen fehlten sowohl Pulte als auch Stühle. Mit allem, was wir erhalten haben, kann ich nun zusätzliche Klassen eröffnen», sagt der Schulleiter von Ramtha, einer jordanischen Stadt unweit der syrischen Grenze.

Integrierte Kinder und Eltern
Die Hälfte der syrischen Flüchtlinge sind Kinder; mit der Sanierung der Schulen soll diese Generation eine Zukunftsperspektive erhalten und ihre Integration gefördert werden; die einheimischen und die syrischen Schulkinder werden gemeinsam unterrichtet, was hilft, mögliche Spannungen abzubauen. Neben dem herkömmlichen Unterrichtsstoff lernen die Kinder auch Toleranz, und wie man zur Schule Sorge trägt. Zusammen mit der internationalen NGO «Right to Play» organisierte die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in jordanischen Pilotschulen Aktivitäten rund um Hygiene, Gesundheit und Instandhaltung. So beteiligten sich die Schülerinnen und Schüler etwa an einem Wettbewerb um das sauberste Klassenzimmer, dekorierten zusammen mit einem Künstler eine Mauer und legten einen Garten an. Gleichzeitig wurden auch die Eltern und die örtliche Gemeinde für die Zweckmässigkeit des Unterhalts von Schulgebäuden sensibilisiert. Ueli Salzmann ist überzeugt: «Wenn die Einwohner stolz darauf sind, kümmern sie sich auch darum.»

* Übernommen aus: Eine Welt 03/2019, www.eda.admin.ch/deza/de/home/publikationen_undservice/publikationen/publikationsreihen/eine_welt.html/content/publikationen/de/deza/eine-welt/eine-welt-03-2019

 

 

Dauerhafter Notstand

Der blutige und gewaltsame Konflikt in Syrien ist von einer festgefahrenen Situation in eine beispiellose humanitäre Krise übergegangen. Das DEZA-Programm für die Region – dazu gehören Syrien, Jordanien, der Libanon, Irak und die Türkei – beruht auf humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Es umfasst den Schutz der Zivilbevölkerung, die Migration, Bildung und Erwerbseinkommen, Friedensförderung und Konfliktprävention sowie die Wasserbewirtschaftung. Die Aufnahmegemeinden und Flüchtlinge sollen sichere, nachhaltige und friedliche Lebensbedingun-gen erhalten. Für dieses Jahr hat die Schweiz für die notleidende Bevölkerung in Syrien und den Nachbarländern Unterstützung in der Höhe von 61 Millionen Franken zugesichert.

 

«Die Monarchie ist in Liechtenstein weitestgehend unbestritten!»

«Fürstenhaus, Legislative und Exekutive dürfen in ihrer Arbeit das Volk nicht ausser Acht lassen»

Interview mit Christoph Wenaweser, Landtagsabgeordneter und Vorsitzender der Finanzkommission, Liechtenstein

Landtagsabgeordneter Christoph Wenaweser (Bild zvg)
Landtagsabgeordneter Christoph Wenaweser (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Wie war der Festakt am Nationalfeiertag zum 300jährigen Bestehen Liechtensteins?

Landtagsabgeordneter Christoph Wenaweser Die Reden des Erbprinzen und des Landtagspräsidenten am alljährlichen Staatsakt waren dem Jubiläum entsprechend grundsätzlicher gehalten und standen daher weniger als sonst im Zeichen aktueller politischer Themen. 

Welche Bedeutung hat das Jubiläum für das Fürstentum?

Das dreihundertjährige Bestehen ist ein denkwürdiger Moment. Das Fürstentum Liechtenstein ist das einzige Land unseres Kontinents, das 300 Jahre in unveränderten Grenzen existiert. Und wenn man globale Entwicklungen betrachtet, darf man in einem solchen Moment auch einmal dankbar dafür innehalten, dass es Länder gibt, in denen die Bevölkerung in Friede und Freiheit leben kann.

Wie kann man sich diese Kontinuität und Stabilität erklären?

Zu früheren Zeiten dürfte unser Land einfach zu klein und zu arm gewesen sein, um von irgendwoher bedrängt oder beeinflusst zu werden. Seit der Verfassung von 1921 trägt die Staatsform als konstitutionelle Erbmonarchie auf demokratischer und parlamentarischer Grundlage entscheidend dazu bei. Mit Volk und Fürst verfügen wir über zwei sich gegenseitig bedingende Souveräne, verbunden mit ausgeprägten direktdemokratischen Elementen. 

Wie muss man sich das gegenseitige Bedingen vorstellen?

Damit Gesetze, Staatsverträge, bi- und multilaterale Abkommen in Kraft treten können, bedarf es der Zustimmung durch das Parlament und durch den Fürsten. Das macht jeweils eine von Anfang an besonders sorgfältige Befassung mit solchen Geschäften erforderlich, damit am Ende konsensuale Lösungen entstehen können und sich die Souveräne nicht in extremis begegnen. 

Welchen Einfluss hat das Volk mit seinen direktdemokratischen Rechten im Zusammenwirken der Souveräne?

Fürstenhaus, Legislative und Exekutive dürfen in ihrer Arbeit das Volk nicht ausser Acht lassen, dass das politische System ein sehr niederschwelliges Initiativrecht als Gestaltungskompetenz und ein ebenso niederschwelliges Referendumsrecht als Vetokompetenz vorsieht. Bürgerinnen und Bürgern stehen ein grosser Strauss an direktdemokratischen Möglichkeiten zur Verfügung, um in der Politik Entwicklungen zu verhindern oder gestaltend einzugreifen. Das Volk kann zudem das Parlament auflösen und könnte an der Urne sogar die Monarchie beenden. Der einzelne kann viel mehr Einfluss auf die Politik ausüben, als – einmal abgesehen von der Schweiz –  in anderen Ländern Europas…

…die sich sehr wohl Demokratien nennen…

…in denen die Bevölkerung alle vier Jahre ihre Vertreter wählen kann, die dann, einmal gewählt, den Bürgerinnen und Bürgern nicht einmal mehr den sachverständigen Umgang mit direktdemokratischen Instrumenten zutrauen, wie leider auch schon Debatten im Europarat, dem Hort von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, gezeigt haben, bei denen sich Schweizer und Liechtensteiner Parlamentarier wie in einem falschen Film vorgekommen sind. 

In den Medien wird immer wieder der vermeintliche Gegensatz zwischen Monarchie und direkter Demokratie thematisiert, wenn nicht gar problematisiert bzw. als antiquiert dargestellt. Auf der einen Seite ein gewähltes Parlament auf der anderen Seite ein Monarch an der Spitze. Was halten Sie von dieser Darstellung?

Generell können nicht nur wir ohne weiteres darauf verzichten, dass Staatsformen und politische Systeme von aussen wohlmeinend für gut oder schlecht befunden werden, ganz besonders dann, wenn diese rechtsstaatlichen Normen entsprechen, demokratisch legitimiert sind und ihnen ihre Geschichte sogar Recht gibt.

Nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ist es eine Angelegenheit der Liechtensteiner, zu bestimmen, in was für einem System sie leben wollen. Herr Wenaweser, Sie sind Volksvertreter und mit den Menschen in Ihrem Land in Kontakt. Hat die Bevölkerung ein Problem mit der Monarchie?

Nein, im Gegenteil. Unsere Staatsform und mit ihr die Monarchie ist in Liechtenstein weitestgehend unbestritten! Eine grosse Mehrheit im Volk sieht die Monarchie als ein stabilisierendes Element mit einem längerfristigen Horizont. Das Fürstenhaus kann grundsätzlich eher in Generationen denken, wohingegen der Politiker zwangsläufig dazu neigen kann, in Legislaturen zu denken. Es gelingt in aller Regel gut, diese unterschiedlichen Perspektiven aufeinander abzustimmen. 

Was bedeutet das für Sie als Parlamentarier?

Als Parlamentarier geht man ganz anders an die Themen heran, wenn man weiss, dass Fürst und Volk politische Prozesse aufgrund ihrer Kompetenzen relativ einfach zu Fall bringen können. Auch ist man als Milizparlamentarier in unseren kleinräumigen Gegebenheiten dicht am Volk und politisiert nicht unter einer Käseglocke, wie es bei Berufsparlamentariern in anderen Ländern vielfach der Fall ist. 

Besteht eine Verbindung zwischen Volk und Monarchie, in dem Sinn, dass der mit den fürstlichen Vollmachten ausgestattete Erbprinz den Puls der Bevölkerung spürt?

Den Puls der Bevölkerung spürt er sehr gut. Er entzieht sich dem auch nicht. Zwischen den Souveränen besteht ein laufender, offener, vertrauensvoller Dialog, der aber auch unabdingbar ist, um unser politisches System funktionieren zu lassen. 

Gibt es in politischen Fragen keine grösseren Abweichungen?

Diskussionen zu zwei Verfassungsabstimmungen in den Jahren 2003 und 2012 haben schon Überlegungen zutage gebracht, das Gefüge zwischen den Souveränen punktuell anders auszutarieren, ohne jedoch an der Staatsform im Grundsatz zu rütteln. Diese Überlegungen fanden, wie die Abstimmungsergebnisse beide Male zeigten, deutlich keine Mehrheit.

Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten mit der Schweiz?

In der Schweiz liegt zwar alle Macht beim Volk, aber auch das parlamentarische System sieht auf Bundesebene mit den zwei Kammern National- und Ständerat ein gegenseitiges Korrektiv vor, wie es bei uns in der verfassungsgewollten Verankerung der Staatsgewalt im Fürsten und im Volke gegeben ist. Gemeinsam sind uns auch die schon mehrfach erwähnten, ausgeprägten direktdemokratischen Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme durch das Volk, gepaart mit einem die Nähe des Volkes suchenden Milizparlamentarismus. 

Herr Landtagsabgeordneter Wenaweser, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Staatliche Beihilfen sind eine innere Angelegenheit souveräner Staaten

von Reinhard Koradi

Jeder einzelne Staat steht ganz spezifischen gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen gegenüber. Diese lassen eine internationale, blockübergreifende oder gar globale Einheitsordnung nicht zu.

Das Versagen der propagierten Gleichschaltung über die Länder oder gar Kontinente hinweg ist offensichtlich. Die Freiheit der offenen Märkte und Gesellschaften (Liberalisierung und Deregulierung) dient nur wenigen und lässt Millionen von Menschen in Armut und Hunger zurück. Zum materiellen Schaden kommt auch der immaterielle Verlust. Kulturen und Wertegemeinschaften werden ausgehöhlt und die Vielfalt der Ideen verliert sich im Sumpf der Gleichmacherei. Kaum ein Problem, dem die Völker gegenüberstehen, wird durch den «länderübergreifenden Abbau der massgeschneiderten, nationalen Problemlösungen souveräner Staaten» gelöst. In Europa ist es zum Beispiel nicht gelungen, das enorme wirtschaftliche Gefälle zwischen Ost und West sowie Nord und Süd nachhaltig auszugleichen. Vielmehr hat sich eine gigantische Staatsverschuldung angehäuft, die uns in den folgenden Jahren noch erhebliche Lasten und Nöte aufbürden wird. Die Einführung der Einheitswährung ist letztlich zu einer Geldtransfermaschine verkommen, um die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und finanzpolitischen Ungleichgewichte nicht ausser Kontrolle geraten zu lassen. Die Durchsetzung der Konvergenzkriterien scheiterte an der Unvereinbarkeit einer Einheitsdoktrin mit den aktuellen wirtschafts-, fiskal- und finanzpolitischen Rahmenbedingung der einzelnen EU-Mitgliedsländer. Sowohl die südlichen EU-Länder als auch die durch die Osterweiterung neu eingebundenen Staaten kämpfen wegen den unrealistischen Vorgaben mit existenziellen Herausforderungen. Diese können nicht zielkonform und effektiv behoben werden, da sie durch das EU-Diktat in einer Zwangsjacke eingebunden sind und damit jeden eigenständigen Handlungsspielraum verloren haben. Keiner würde einem kranken Menschen eine Medizin verabreichen, die nicht aufgrund einer sorgfältigen Diagnose als erfolgsversprechend eingestuft werden kann. In der Europapolitik ist es aber so, dass allen Ländern dieselbe Medizin verschrieben wird, obwohl die «Leiden» ganz unterschiedlicher Art sind. Sinnbildlich übertragen: Es wird Hustensaft verschrieben, obwohl der Patient das Bein gebrochen hat.

Anstelle einer Zentraldiktatur müssen dezentrale Lösungsansätze entwickelt werden

Die Schweiz praktiziert heute noch den bewährten lokal-regionalen Lösungsansatz, verankert in der Gemeindeautonomie, im Föderalismus und im Subsidiaritätsprinzip. Diese drei Stützen einer effektiven und problemgerechten Lösungsfindung und -durchsetzung müssen im Interesse aller Bürger und staatlichen Institutionen unantastbar bleiben. Sonst sehen wir uns sehr bald als Gefangene einer Einheitsdoktrin und verlieren den eigenen Gestaltungsfreiraum. Der über das institutionelle Abkommen (Rahmenabkommen) lancierte Angriff auf die staatlichen Beihilfen ist eine sehr ernstzunehmende Attacke auf unser Selbstverständnis und unsere Selbstbestimmung. Zusätzlich forciert dieses von der EU auferlegte Verbot die Durchsetzung der neoliberalen Wirtschafts­ideologie, die dem Staat Eingriffe in die Wirtschaft durch eigene unternehmerische Tätigkeiten oder die Unterstützung bei sozialen und wirtschaftlichen Engpässen verbieten will. Dieser Ansatz ist jedoch unschweizerisch, da er die Grundanliegen der Eidgenossenschaft völlig ausser Kraft setzt, nämlich den inneren Zusammenhalt zu stärken und das genossenschaftliche Uranliegen «einer für alle, alle für einen» realpolitisch umzusetzen.

Die EU und Brüssel intensivieren den Zentralismus, eine Diktatur aus dem Headquarter. Würde die Europäische Union den Segen dezentraler Lösungen wahrnehmen, könnte sie den Verwaltungsapparat erheblich einschränken, öffentliche Gelder einsparen und die Integration der Mitgliedsländer mit viel grösserem Erfolg fördern. Für die Schweiz beinhaltet diese Intensivierung den Verlust einer über Generationen hinweg erfolgreichen Aufgabenteilung, die unter anderem auch die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Schweiz sehr positiv prägt. So ist auch aus wirtschaftlicher Perspektive dem im institutionellen Abkommen verankerten Anliegen, die Vielfalt und den eigenen Gestaltungsfreiraum auszurotten, die rote Karte zu zeigen.

Europäische Grundwerte werden dem Neoliberalismus geopfert

Das Diktat aus Brüssel, staatliche Beihilfen zu verbieten, ist grundsätzlich mit aller Schärfe zurückzuweisen. Hinter diesem Anliegen steht ein tiefgreifender Wertebruch, der die einst äusserst erfolgreiche abendländische Wirtschaftsdoktrin der «Sozialen Marktwirtschaft» mit Füssen tritt. Damit zeigt sich auch deutlich, dass die EU in ihrer Gesamtheit ein neoliberales Projekt ist, das Europa zugunsten der USA schwächt (Abhängigkeiten werden geschaffen). Die entscheidenden Vorteile einer sozialverträglichen Wirtschaftspolitik werden durch Freihandel, Deregulierung, Sanktionen und Verbote ausgeschaltet. Ein Prozess, der eigentlich schon längst im Interesse der Wohlfahrt und der Chancengleichheit hätte gestoppt werden müssen.

Den Angriff auf die staatlichen Beihilfen richtig einordnen

Staatliche Beihilfen sind weit mehr als Geldzuschüsse um Finanzierungslücken zu schliessen. Es sind vielmehr staats-, wirtschafts-, versorgungs- und sozialpolitische Anliegen, die staatliche Beihilfen begründen.

Wer staatliche Beihilfen untersagen will, vertritt ganz klar eine andere Agenda. Er fühlt sich der
sogenannt freien Markt- und Wettbewerbswirtschaft verpflichtet. Allein der Wettbewerb (Kaufkraft und Angebot) soll entscheiden, wer die Früchte der Wirtschaft geniessen und wer die Brosamen unter dem Tisch einsammeln darf. Der soziale Wohnungsbau (Baugenossenschaften), die Aufrechterhaltung der Selbstversorgung mit Lebensmitteln (Agrarsubventionen), die Sicherheit des Wohneigentums (Kantonale Gebäudeversicherungen) oder die Finanzierung von Wohneigentum (Kantonalbanken) würden dem Gesetz des freien Marktes und damit dem Ziel der Gewinnmaximierung unterstellt. Mit anderen Worten, es wird nur noch das produziert und angeboten, was auch einen grösstmöglichen Gewinn verspricht. Es gibt unzählige staatliche Beihilfen, die in ihrer Gesamtheit das Leben der Menschen vereinfachen und die Existenzsicherung unter dem Aspekt der gleichen Chancen für alle finanzierbar machen. Würden diese entfallen, wird sich ein soziales Gefälle entwickeln, das die innere Sicherheit gefährdet und zu erheblichen Versorgungsengpässen führen könnte.

Kantonalbanken – eine schweizerische Tradition

Warum sich UBS-Chef Sergio Ermotti mit Bezug auf die Kantonalbanken ebenfalls in die Diskussion um die staatlichen Beihilfen einschaltet, müsste er selbst erklären. Er begründet dies mit möglichen Gefahren für die Finanzstabilität in der Schweiz. Er argumentiert, dass die Bilanzen einzelner Kantonalbanken die Wirtschaftskraft der entsprechenden Kantone übersteige und die Staatsgarantie daher für die Steuerzahler ein Risiko darstelle. Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass die Grossbanken durch ihre Geschäfts­praktiken die Schweiz und damit die Bürger dieses Landes bereits erheblichen Risiken ausgesetzt und ihnen Schaden zugefügt haben. Es befremdet, dass diese Kritik gerade von Seiten einer Grossbank kommt, deren Fortbestand nur durch staatliche Beihilfen gesichert werden konnte. Vielleicht ist es doch mehr das neoliberale Wirtschaftsverständnis, das den Chef der Grossbank veranlasst, in den Chor der Abschaffung von staatlichen Beihilfen einzustimmen. Die Kritik ist nicht neu. Grossbanken sehen sich gegenüber den Kantonalbanken benachteiligt, da einige von ihnen über eine Staatsgarantie verfügen. Sie mögen nicht berücksichtigen, dass hinter den Kantonalbanken eine eidgenössische Tradition steht, die auch Verpflichtungen gegenüber den Kantonen mit sich bringt. Zugegeben, das eher international orientierte Management der UBS wird die besonderen Schweizer Verhältnisse kaum richtig gewichten können. Aber dann wäre es bestimmt ehrlicher, sich aus dieser Diskussion herauszuhalten oder zumindest den wirklichen Grund des Angriffs offen zu deklarieren. Nämlich die Forderung, dass die Schweiz rasch möglichst in das globale Wirtschafts-Netzwerk eingebunden wird und Rahmenbedingungen schafft, die der neoliberalen transnationalen Finanzwirtschaft freien Lauf gewährt.

Dieser Forderung ist entgegenzuhalten, dass die Schweiz als souveräner Staat (noch) die Kraft und die notwendigen Ressourcen hat, um diesen freien Lauf in die Wirtschaftsdiktatur zu verhindern. Es braucht nur den politischen Willen, der EU ihre Grenzen aufzuzeigen und die einheimische Wirtschaft in die Pflicht zu nehmen, ihrer gesellschafts- und staatspolitischen Verantwortung gerecht zu werden.

Glück im Unglück

Das Center da sandà Val Müstair ist für die Bevölkerung überlebenswichtig

von Andreas Kaiser

Manchmal geschehen unvorhergesehene Dinge, die einen zwingen, seine Pläne über den Haufen zu werfen. So ist in meinem Fall aus einer Wanderwoche in der Val Müstair eine «Ferien»woche im Spital geworden.

Bis der Rettungswagen eintrifft, dauert es keine 10 Minuten. Die Nacht hat sich bereits über das Tal gelegt und sorgt nach dem heissen Tag für eine erfrischende Kühle. Es ist Dienstagabend gegen 23 Uhr. Eine junge Ärztin und zwei Rettungssanitäter kümmern sich um mich, legen mich behutsam auf den Boden und führen die notwendige medizinische Erstversorgung durch. Mit Verdacht auf eine Lebensmittelvergiftung begebe ich mich auf meine allererste Fahrt in einem Rettungswagen. Sie endet in der Notaufnahme des Center da sandà Val Müstair in Santa Maria, des kleinsten Spitals der Schweiz. Zu dieser späten Stunde sind noch etliche Spitalangestellte im Dienst, grüssen freundlich, sobald sie mich wahrgenommen haben, und verbreiten eine angenehme Atmosphäre. Ich werde nochmals von der Ärztin befragt und untersucht, dann bringt man mich – an eine Infusion gehängt – ins Krankenzimmer.

Das Center da sandà Val Müstair mit dem Helikopterlandeplatz (Bild ak)

Das Center da sandà Val Müstair mit dem Helikopterlandeplatz (Bild ak)

 

Spitäler unter Druck

Es ist erst rund 15 Jahre her, dass die Diskussion um die zukünftige Spitalpolitik im Kanton Graubünden wie auch in anderen Kantonen begann. Die Folgen waren Spitalfusionen oder -schliessungen. Auch zum jetzigen Zeitpunkt ist diese Diskussion keineswegs beendet. Letztes Jahr titelte beispielsweise die Luzerner Zeitung: «Vielen Spitälern droht die Schliessung» und fuhr fort: «Viele Kliniken in der Schweiz sind zu wenig profitabel. Laut Experten braucht es eine Strukturbereinigung – etwa durch die Schliessung von Spitälern.»1 Auch im Kanton St. Gallen gibt es aktuell Bestrebungen, fünf Spitäler zu schliessen.2 Bereits vor geraumer Zeit war behauptet worden, 50 Spitäler seien genug für die Schweiz.3 Insgesamt gibt es ca. 280 Krankenhäuser in unserem Land. So war es nicht verwunderlich, dass auch die Tage des kleinen Ospidal Val Müstair – in malerischer Umgebung gelegen – gezählt schienen, zumal eine dringende Sanierung anstand, die um die 17 Millionen Franken kosten sollte. Doch es kam ganz anders.

Ein Blick in die Geschichte

Die medizinische Versorgung in der Val Müstair geht auf das Jahr 1919 zurück. In diesem Jahr hatte die Kreiskrankenkasse ein Haus erworben und eine Arztpraxis mit ein paar Krankenbetten eingerichtet. Das Haus steht heute noch gegenüber dem Spital. Gegen Ende der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts empfand man die Notwendigkeit, ein veritables Spital zu haben, und nach einigem Hin und Her konnte im Sommer 1934 das neuerrichtete Spital seinen Betrieb aufnehmen. Nach fast 40 Jahren wertvollen Einsatzes in der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung in der Val Müstair waren Ende der 60er Jahre Erweiterung und Modernisierung dringend geboten. Mit einigem Aufwand konnten die finanziellen Mittel dafür beschafft werden, und im Juni 1975 weihte man den Spitalneubau ein. In den Neunzigerjahren schliesslich wurde ein neuer Teil für pflegebedürftige und chronisch kranke Patienten angebaut und die alte Ölheizung durch eine Holzschnitzelheizung ersetzt.

Der Kraftakt und das Wunder

Das Kreisspital hatte sich mehr und mehr zu einem Gesundheitszentrum entwickelt, dessen Angebot u.a. auch aus einer Arzt- und Zahnarztpraxis, aus einer Apotheke, einem Pflegeheim und einer Spitexstelle bestand und das über einen Rettungsdienst verfügte. Es stellte die medizinische Grundversorgung für die Talbevölkerung sicher und kam wieder einmal an seine Kapazitätsgrenzen. Gerade Anfang der 2000er Jahre, als das Thema der steigenden Gesundheitskosten in den Fokus von Politik und Medien geriet, musste für das Ospidal Val Müstair eine Lösung gefunden werden. Eine Schliessung kam für die Mehrheit der ca. 1700 Talbewohner und die Mitarbeiter des Spitals natürlich nicht in Frage, denn dadurch wäre die medizinische Versorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet gewesen, wären viele Arbeits- und Ausbildungsplätze verloren gegangen, und man hätte der Abwanderung, mit der nicht nur dieses Tal zu kämpfen hat, Vorschub geleistet. Die Münstertaler begaben sich dagegen auf einen geradezu revolutionären Weg. Sie beschlossen, ihr Spital für 17 Millionen Franken zu sanieren – und hatten Erfolg damit! Als «Wunder von Santa Maria» bezeichnete die Basler Zeitung diese Erfolgsgeschichte.4 Mit unermüdlichem Einsatz des ehemaligen Lehrers und damaligen Spitaldirektors, Roman Andri, waren die für die Sanierung notwendigen finanziellen Mittel gesammelt worden. Es kamen sogar so viele Spendengelder zusammen, dass man zusätzlich eine Parkgarage mit einem Helikopterlandeplatz auf dem Dach errichten konnte, wie mir Roman Andri berichtete. Dank dieser beispielhaften Solidarität mussten die damaligen Gemeinden der Val Müstair keinen einzigen Fünfer für Hypothekarzinsen aufbringen. Ein ganz wichtiges Anliegen war Roman Andri auch das Wohlergehen der betagten Menschen, die auf Pflege angewiesen sind. Sie können weiterhin hier in ihrer Heimat ihren Lebensabend verbringen.

Über die Hälfte des benötigten Betrages kam durch zum Teil grosszügige Spenden von Stiftungen, wohlhabenden Zürcher Gemeinden, den Kantonen Basel-Stadt und Zürich und vor allem der Schweizer Berghilfe zusammen. Am 7. Juni 2008 wurde das Center da sandà Val Müstair in einem offiziellen Festakt wiedereröffnet. In seiner Festansprache betonte Regierungsrat Martin Schmid: «Das Münstertaler Modell ist ein vorbildliches Modell für die Lösung der medizinischen Versorgung auch in weniger dicht besiedelten Gebieten: regionale Versorgung vor Ort, teurere Spezial- und Wahlbehandlungen im Zentrum. Ich behaupte sogar: Dieses Konzept ist die Umsetzung einer echten Innovation im Gesundheitsbereich.»5

Als Patient im Center da sandà

Natürlich ist diese beeindruckende Geschichte immer wieder Gesprächsthema mit den Ärzten und dem Pflegepersonal. Dabei ist stets ein berechtigter Stolz auf das Erreichte spürbar. «Wir konnten nachweisen, dass unser kleines Spital nicht teurer ist als ein grosses», erklärt mir Chefarzt Dr. Theodor v. Fellenberg, der seit über 10 Jahren hier arbeitet. Das Angebot des Gesundheitszentrums ist umfassend (siehe Kasten) und stellt die medizinische Versorgung der rund 1500 Bewohner der Val Müstair und ebenso vieler Gäste sicher.

Das Münstertal ist der östlichste Zipfel der Schweiz. Man erreicht es vom Norden her kommend über den Ofenpass oder aus der anderen Richtung vom Südtirol her. In meiner Situation bin ich allen, die sich für den Erhalt des Spitals in Santa Maria eingesetzt und finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt haben, sehr dankbar, denn sonst hätte man mich nach Samaden oder Scuol bringen müssen, was mit einem erheblich grösseren Zeitaufwand verbunden gewesen wäre. Und ich denke darüber nach, wie es für Patienten im Winter wäre, wenn Passstrassen geschlossen sind oder der Rettungshelikopter aufgrund der Wetterlage nicht fliegen kann.

Als Patient fühle ich mich sehr gut aufgehoben. Die Aufmerksamkeit des Ärzte- und Pflegeteams ist beeindruckend und die medizinische Versorgung ist auf höchstem Niveau. Besonders auffällig scheint mir die Ruhe und Geduld, die alle Beteiligten ausstrahlen. So bleibt neben dem Medizinischen immer wieder Zeit für kurze persönliche Gespräche, die gerade in der Situation eines Spitalaufenthalts wohltuend sind. Spannende Themen werden angeschnitten, z. B. mit einer der Pflegerinnen, die im Sommer mit ihrer Familie neben ihrer Arbeit im Gesundheitszentrum eine Alp bewirtschaftet, oder mit einer anderen Pflegerin, die erst in späteren Jahren die Ausbildung zur Krankenschwester absolviert hat und am gleichen Tag wie ihr Sohn zur Abschlussprüfung angetreten ist, und von Dr. v. Fellenberg erfahre ich, dass er auch gerne Geschichte studiert hätte.

Diese Woche im Spital war neben der hervorragenden medizinischen Versorgung vor allem auch ein menschlich bereicherndes Erlebnis, das die Enttäuschung über die versäumten Wanderungen auf einer anderen Ebene wettgemacht hat.

¹ Michel Burtscher: Vielen Spitälern droht die Schliessung. In: Luzerner Zeitung vom 18.6.2018

² NZZ vom 9.7.2018

³ Handelszeitung vom 28.8.2007

⁴ Markus Rohner: Das Wunder von Santa Maria. In: Basler Zeitung vom 5. Juni 2008

⁵ Festansprache von RR Martin Schmid vom 7.6.2008

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