«Mehr als 20 Staaten möchten Mitglied von BRICS werden»

«Die USA schicken Kriegsschiffe, Kampfjets, Hubschrauber, Waffen und Soldaten in die Region»

Interview mit der freien Journalistin und Nahost-Expertin Karin Leukefeld

Karin Leukefeld (Bild thk)
Karin Leukefeld (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Unser letztes Interview fand vor dem Gipfel der Arabischen Liga am 19. Mai statt. Der syrische Präsident Assad war eingeladen. Was hat dieser Gipfel in der arabischen Welt für Auswirkungen gehabt?

Karin Leukefeld Es war deutlich zu beobachten, dass die arabischen Staaten auf Syrien zugehen. Die Vereinigten Arabischen Emirate leisten weiter humanitäre Hilfe für die Gebiete, die bei dem Erdbeben vor einem halben Jahr zerstört wurden. Dafür haben sie in Damaskus ein Koordinierungszentrum eingerichtet. Der syrische Präsident Assad empfing Anfang Juli in Damaskus den jordanischen Aussenminister Ayman Safadi, und Mitte Juli war der irakische Ministerpräsident Shia al Sudani in Damaskus. Irak und Syrien teilen eine 600 km lange Grenze, die aktuell von den USA kontrolliert wird. In den letzten Tagen hat es in dem Gebiet verstärkt Angriffe von Restgruppen des «Islamischen Staates» auf syrische Soldaten gegeben. Obwohl die USA dort angeblich gegen den IS kämpften, hindern die US-Truppen den IS nicht daran, die syrische Armee anzugreifen.

Tatsächlich nutzen die USA ihre illegalen Militärbasen in Syrien – im Nordosten und Al Tanf im syrisch-irakisch-jordanischen Grenzgebiet – um Syrien daran zu hindern, die Kontrolle über das syrisch-irakische Grenzgebiet zurückzuerlangen und den IS von dort zu vertreiben. Es gibt Hinweise, dass Irak und Syrien nun ihre Sicherheitszusammenarbeit in dem Gebiet verstärken wollen.

Dann gab es diplomatische Begegnungen syrischer Regierungsoffizieller mit libanesischen Amtskollegen, bei denen vor allem die Rückkehr syrischer Flüchtlinge aus dem Libanon erörtert wurde. Die Geldgeber der humanitären- und der Flüchtlingshilfe, die über die Vereinten Nationen koordiniert wird, die USA, EU, Deutschland, Frankreich, Kanada, Japan und andere westliche Staaten – haben erklärt, dass für eine Rückkehr syrischer Flüchtlinge keine finanzielle Unterstützung geleistet wird, weil es in Syrien nicht sicher sei. Libanon und Syrien und auch andere arabische Staaten sehen das anders und suchen nach Möglichkeiten, die Rückkehr der Menschen zu unterstützen. Die Arabische Liga hat fünf Mitgliedsstaaten beauftragt, die Beziehungen zu Syrien und die politischen Fragen zu koordinieren. Dabei steht neben möglichen Investitionen auch die Hilfe für die Rückkehr der Syrer im Vordergrund. Ein Vorankommen wird weiter durch die einseitigen wirtschaftlichen Strafmassnahmen (Sanktionen) der EU und der USA gegen Syrien blockiert. Besonders das «Cäsar-Gesetz» der USA trifft auch Staaten, die mit Syrien kooperieren. Diese Strafmassnahmen verletzen die Uno-Charta und das humanitäre Völkerrecht.

Wie wurde Assads Teilnahme von den Ländern mit vornehmlich sunnitischer Bevölkerung und entsprechenden Regierungen kommentiert? Das sind doch auch Länder, die die Rebellen gegen Assad unterstützt haben.

Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate waren führend bei der Wiedereingliederung Syriens in die Arabische Liga. Saudi-Arabien hat seit langem seine Unterstützung für die bewaffneten Gruppen eingestellt. Bahrain und Kuwait schliessen sich diesen führenden Golfstaaten an, Oman hat nie die bewaffneten Gruppen in Syrien unterstützt und immer vermittelt. Die Golfstaaten sind daran interessiert, den Einfluss der Türkei und des Iran in Syrien zurückzudrängen oder zumindest zu kontrollieren. Der einzige Golfstaat, der eine Annäherung an Syrien derzeit noch ausschliesst, ist Katar. Es unterstützt die Türkei bei der Versorgung der syrischen Flüchtlinge in der Türkei und in den Gebieten Idlibs, die von bewaffneten Gruppen kontrolliert werden. Mit den «Autoritäten» der bewaffneten Gruppen dort hat Katar eine eher organische Verbindung.

Wie hat sich das Verhältnis zwischen Assad und Erdogan weiterentwickelt? Auch hier war doch ein Hauch von Entspannung zu erkennen?

Am 8. August einigten sich die Vereinten Nationen und die syrische Regierung ja über die Fortsetzung von Hilfslieferungen über drei syrisch-türkische Grenzübergänge, Bab al Hawa, Bab al Salam und Bab al Raee. Die Vereinbarung ist auf drei bzw. sechs Monate befristet. Eine solche Einigung war im Juli im Uno-Sicherheitsrat gescheitert. Diese Entwicklung ist wichtig, weil die Uno damit die syrische Regierung als Partner bei den Hilfslieferungen wieder akzeptiert. Und Syrien hatte gefordert, dass die Uno nicht mit den bewaffneten Gruppen von Hayat Tahrir al-Sham zusammenarbeitet, die als Terrororganisation international gelistet ist. Beobachter vermuten, dass diese Einigung durch eine Verständigung zwischen der Türkei und Syrien ermöglicht wurde. Aber Einzelheiten der Vereinbarung sind bisher nicht bekannt. Wichtig ist vor allem, dass Hilfslieferungen die Menschen erreichen können.

Wie reagieren die USA auf diese Entwicklung, die ihnen das Heft aus der Hand nimmt, das sie seit über 50 Jahren in den Händen gehalten haben? 

Die USA schicken Kriegsschiffe, Kampfjets, Flugzeuge, Hubschrauber, Waffen und Soldaten in die Region. Aktuell findet auf der Arabischen Halbinsel ein militärischer Aufmarsch der USA statt, der sich auf die Persische Golfregion und die Strasse von Hormuz konzentriert. 

Berichten zufolge sind 3000 US-Soldaten per Schiff auf dem Weg dorthin. Sie sollen dort angeblich den Iran davon abhalten, «Handelsschiffe und ihre arabischen Nachbarn zu bedrohen». Die Marineeinheiten sollen die 5. US-Flotte stärken, die in Bahrain stationiert ist. Die US-Marine versucht, iranische Tankschiffe zu blockieren. Im Gegenzug hat Iran damit begonnen, Handelsschiffe unter fremder Flagge zu kontrollieren oder auch festzusetzen. Das US-Zentralkommando will US-Marines auf Handelsschiffen postieren, um diese «zu schützen». Dafür brauchen die USA allerdings die Zustimmung der jeweiligen Schifffahrtsgesellschaften und auch der regionalen Staaten. Es geht den USA um Öl und um die Kontrolle der Strasse von Hormuz – geopolitisch eine der wichtigsten Meeresengen in der Welt.

Auch in den Irak werden neue Kontingente von US-Soldaten auf US-Stützpunkte verlegt. Angeblich, um die irakisch-syrische Grenzregion zu «schützen». Die bisher 900 US-Soldaten auf den syrischen Ölfeldern und auf der Militärbasis Al Tanf wurden auf 1500 fast verdoppelt. US-Raketenwerfersysteme M 142 Himars wurden dort stationiert. US-Kampfjets wurden nach Jordanien gebracht. Es wurde auch berichtet, dass in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak von den USA Luftabwehrsysteme stationiert werden.

Hintergrund könnte auch sein, dass im Oktober die Uno-Sanktionen gegen Iran auslaufen, was Iran stärken wird. Beobachter sprechen davon, dass der Aufmarsch des US-Militärs nicht nur den Iran bedrohen soll, sondern auch eine Warnung an die arabischen Golfstaaten ist. Es ist deutlich, dass die Schwergewichte – die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien – ihre Beziehungen in den Osten, nach Russ­land und China ausbauen.

Lassen sich die arabischen Länder durch die Drohgebärden der USA einschüchtern?

Aktuell sieht es so aus, als suchten die Golfstaaten neue Sicherheitspartner. Der Abzug der US-Truppen aus Afghanistan hat die Golfstaaten aufmerksam gemacht. Sie sahen, dass zugesagte militärische Unterstützung der USA nicht garantiert ist. Gleichzeitig wurden Beziehungen zwischen den Golfstaaten und Russland und auch mit China ausgebaut. Zunächst im Handel, inzwischen auch militärisch. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate suchen nach Alternativen und finden neue Partner in Russland, China und nun auch im Iran.

Das Treffen der BRICS-Staaten Mitte August wurde in der westlichen Presse zu einem Spektakel um Putins Teilnahme hochstilisiert. Tatsächlich weiss man, dass verschiedene Staaten gerne der BRICS-Organisation beitreten wollen. Wissen Sie darüber Genaueres? Wie wird das in der arabischen Welt diskutiert?

67 Staaten und 20 internationale Organisationen, einschliesslich der Vereinten Nationen sind eingeladen. Mehr als 20 Staaten möchten Mitglied von BRICS werden, das zeigt ein enormes Interesse an diesem Bündnis. In den arabischen Ländern wird das als deutliche Kritik an den USA gesehen; man verspricht sich wirtschaftliche Entwicklung ohne Drohungen und Erpressungen. Sowohl Iran als auch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten haben ihre Mitgliedschaft beantragt. Die Emirate sind seit 2021, Ägypten seit 2023 Mitglieder der Neuen Entwicklungsbank von BRICS, die eine Alternative zum US-kontrollierten Internationalen Währungsfonds werden könnte.

Wie hat sich die von Ihnen im letzten Interview erwähnte Annäherung Saudi-Arabiens und des Iran weiterentwickelt?

Langsam aber sicher. Beide Staaten haben ihre Botschaften im jeweils anderen Land wieder geöffnet, was die bilateralen Beziehungen normalisiert. Flugverbindungen wurden wieder aufgenommen, eingefrorene Handelsbeziehungen wiederbelebt. Es wird auch über Freihandelszonen verhandelt, die den zwischenstaatlichen Handel erleichtern können. Besuche der jeweiligen Regierungsspitzen sind in Planung.  

Betroffen von der Feindschaft der beiden Staaten war der Jemen. In unseren Medien ist das kein Thema. Man spekuliert lieber über Selenskijs Frühjahrs-, Sommer-, Herbst- und Winteroffensive und wie erfolgreich sie sein soll. Für die Menschen im Jemen interessiert sich niemand. Gibt es hier eine Entwicklung in Richtung Frieden?

Es gab einen grossen Gefangenenaustausch zwischen Jemen und Saudi-Arabien. Delegationen arbeiten an einem Friedensplan. Diese Arbeit wird sicherlich Zeit in Anspruch nehmen, man spricht von eineinhalb Jahren, bevor es ein offizielles Friedensabkommen geben könnte. Ein Erfolg ist, dass die Vereinten Nationen 1 Million Barrel Öl von einem maroden Tanker auf ein intaktes Tankschiff umladen konnten. Das Öl stammt aus dem Jemen und ist für den Verkauf gedacht. Wegen der Kämpfe konnte das Schiff nicht auslaufen und lag fest. Da die Kämpfe nun weitgehend eingestellt sind, war das Umladen möglich. Man hofft auf den Verkauf des Öls, was dem Jemen zugute käme.

Frau Leukefeld, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

veröffentlicht 22.August 2023

Ende der US-amerikanischen Hegemonie – eine Chance auf Frieden?

von Thomas Kaiser

Als man 1991 den globalen Umbruch verkündete und den Menschen in Ost und West friedlichere Zeiten prophezeite – man sprach sogar vom Ende der Geschichte –, waren vor allem die Europäer voller Hoffnung. Nach der langen Periode des Kalten Krieges, die häufig dominiert war von der Angst vor einem Atomkrieg in Europa, sehnten sich viele nach dem Ende drohender militärischer Auseinandersetzungen. Nachdem die Ost-West-Konfrontation überwunden schien, war ein dauerhafter Friede in greifbarer Nähe. Doch wo stehen wir heute?

Wandel von der bipolaren zur monopolaren Welt

Das Auseinanderfallen der Sow-jetunion und das Auflösen des Warschauer Pakts galten als Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus. Diesen Sieg nahmen der Westen bzw. die USA für sich in Anspruch und erhoben sich ungerechtfertigterweise über den Osten. 

Mit dem Verschwinden der kommunistischen Staaten in Europa wandelte sich die bipolare Welt zu einer monopolaren. Einzige Weltmacht war unbestritten die USA, was retrospektiv für viele Staaten inner- und ausserhalb Europas nicht den erhofften Frieden brachte. 

Kriege waren von den USA nicht nur im Rahmen des Kalten Krieges geführt worden, sondern sie griffen im Verbund mit der Nato auch nach dem Kalten Krieg dort militärisch oder geheimdienstlich ein, wo es um «ihre Interessen» ging. Nicht alle Staaten wollten sich dieser Vorherrschaft unterwerfen. Als die UdSSR noch politischer und militärischer Gegenspieler war, mussten sich die USA eine gewisse Zurückhaltung auferlegen, um nicht in eine direkte Konfrontation mit dem geopolitischen Rivalen zu geraten. Auch gab es während des Kalten Krieges ein anderes Gesellschaftsmodell – das sozialistische –, das manchen Staaten, vor allem Entwicklungsländern, möglicherweise eine Alternative bot. 

Wer 1991 gehofft hatte, dass die Welt friedlicher würde, sah sich innert kürzester Zeit schwer getäuscht und wurde eines Besseren belehrt. Die damals angekündigte «Friedensdividende» wurde nie ausbezahlt.

Mit Regime-Change zur Pax Americana

Vor einem grossen Krieg wurde die Menschheit in den letzten dreissig Jahren bewahrt, aber die Zahl der regionalen Konflikte, bei denen die USA ihre Finger im Spiel hatten, nahm zu. Überzeugt davon, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen und das Recht zu haben, die Welt nach ihren Vorstellungen zu formen, fuhren die USA fort, Staaten mit Kriegen zu disziplinieren und unliebsame Regierungen zu stürzen. Regime-Change war angesagt, wenn nötig mit militärischer Gewalt. Die USA führten brutale Kriege gegen eine Vielzahl arabischer Staaten. Beim Krieg gegen die syrische Regierung gelang der Regime-Change dank dem Eingreifen der Russen nicht. Sie hatten den USA das üble Spiel gründlich verdorben. 

Was wir heute, mehr als dreissig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, beobachten können, ist eine deutliche Verschiebung der Machtverhältnisse. Was bis vor nicht allzu langer Zeit wie in Stein gemeisselt schien, bröckelt immer mehr. Die USA als einzige Weltmacht verlieren an Einfluss. Seit dem Ukrainekrieg scheint dies immer offensichtlicher. 

Plädoyer für diplomatische Lösungen

Die militärische Auseinandersetzung in der Ukraine wird von asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten ganz anders bewertet und entbehrt jener Hysterie, wie sie bei den USA und den Nato-Staaten von Anfang an zu beobachten war. Im Gegensatz zum Westen thematisieren diese Staaten nicht nur den Einmarsch, sondern legen den Fokus auch auf die Vorgeschichte, die diesem Krieg zugrunde liegt. Schon mehrere Friedensinitiativen wurden von ihnen lanciert, bis jetzt noch ohne Erfolg, aber sie plädieren weiterhin für eine diplomatische Lösung. 

Sie übernehmen die Rolle, für die die Schweiz bis vor kurzem noch prädestiniert gewesen wäre, nämlich die des Vermittlers. Gerade in einer Zeit des weltweiten Umbruchs wäre die Neutralität ein Segen für die Menschen im In- und Ausland. Aber was tut der Schweizer Bundesrat? Er wirft sich noch mehr in die Arme der Nato, anstatt eine eigenständige Position, die eines souveränen Staates würdig ist, einzunehmen. Die USA haben massiven Druck auf die Schweiz ausgeübt – das ist nichts Neues. Aber es ist der freie Entscheid eines jeden Staates, ob er dem Druck nachgegeben will oder nicht. Sich immer mehr der Nato anzudienen, ist ein politischer Entscheid und keine Unabänderlichkeit. Die Schweiz gehört zu Europa, das ist schon allein geographisch bestimmt. Aber sie könnte eine wichtige Vermittlerrolle in einer multipolaren Welt einnehmen und mithelfen, Kriege zu beenden und neue zu verhindern.

US-Vorherrschaft im Wanken  

Trotz der Überzeugung Europas und der USA, ihre Beurteilung des Krieges sei die einzig richtige, sehen sie sich doch grossen Staaten wie China, Brasilien, Indien und weiteren Nationen gegenüber, die die US-amerikanische Vorherrschaft und ihre Sichtweise nicht mehr akzeptieren und nicht länger erdulden wollen. Die realitätsferne Auffassung, Russland sei isoliert, ist ein Resultat eines euro-US-amerikazentrierten Weltbildes, das den überwiegenden Teil der Welt ausblendet. Diese Arroganz wird Europa noch bitter bereuen. 

Westen liefert weitere Waffen

Das Töten und Sterben in der Ukraine geht indessen weiter. Anstatt Grundlagen für einen tragfähigen Frieden zu entwickeln, liefert der Westen neue Waffen und verbreitet immer noch die irrwitzige Auffassung, die Ukraine könne mit den modernen Waffensystemen des Westens Russland in die Knie zwingen. Da dies offensichtlich nicht gelingt, mehren sich die Stimmen, die den bisherigen Misserfolg der ukrainischen Offensive dem Militär in die Schuhe schieben: Sie würden das von den Nato-Staaten in sechs Wochen Beigebrachte nicht umsetzen. Das ist infam. Erst hat der Westen die Ukraine angetrieben, unter hohen Verlusten weiterzukämpfen, weil massgebliche Politiker im Verbund mit den Mainstream Medien den Gegner als schwach, konzeptlos, militärstrategisch veraltet und unfähig dargestellt und einen Sieg gegen Russland in Aussicht gestellt haben. Immer deutlicher wird, dass das alles eine Fehleinschätzung war: Die ukrainische Gegenoffensive erweist sich als Rohrkrepierer. Ob diese falsche Beurteilung des militärischen Gegners bewusst oder unbewusst geschah, sei einmal dahingestellt. Aber jetzt geben die westlichen Waffenlieferanten der ukrainischen Armee die Schuld für den Misserfolg und waschen ihre Hände in Unschuld. Ein übles Spiel, das täglich Hunderte von Toten, Verletzten und traumatisierten Menschen fordert. 

Uno-Generalsekretär António Guterres hat mit seinem im letzten Monat veröffentlichten Paper «Agenda for Peace» die Chance, einen sofortigen Waffenstillstand und Verhandlungen zu fordern, verpasst. Er nennt das Problem nicht beim Namen und macht sich so mitverantwortlich für die Fortsetzung des Krieges. Er hat kraft seines Amtes immer noch die Möglichkeit, sich jederzeit zu dem Konflikt zu äussern und eine klare Position für einen Verhandlungsfrieden zu beziehen. 

Europa muss dringend die US-Vorherrschaft abschütteln, die neuen Realitäten anerkennen und sich im Konzert mit der überwiegenden Mehrheit der Völker für ein Ende des Krieges einsetzen. Insbesondere die Schweiz müsste sich ihrer Grundlagen besinnen. Ist die USA mit ihrem Machtanspruch isoliert, ist auch der Krieg in der Ukraine Geschichte.

veröffentlicht 22.August 2023

«Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird es, einen gerechten Verhandlungsfrieden zu erreichen»

«Die Bundesregierung ignoriert weiterhin das Friedensgebot der Verfassung»

Interview mit General a. D. Harald Kujat*

General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)
General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)

Zeitgeschehen im Fokus In verschiedenen Nachrichtenportalen war zu vernehmen, dass die Ukraine Ende Juli eine erneute Offensive gestartet habe. Wissen Sie etwas darüber?

General a. D. Harald Kujat Der Beginn der Offensive ist mehrere Monate immer wieder verschoben worden und begann schliesslich am 4. Juni. Für die Offensive verfügte die Ukraine anfangs über neun im Westen und drei vom Westen im Lande ausgebildete und mit westlichen Waffen ausgerüstete Brigaden in der Stärke von insgesamt etwa 48 000 Soldaten. Dazu kamen weitere Brigaden der regulären ukrainischen Armee sowie der Territorialverteidigung. Das Ziel der Offensive ist offensichtlich, die russischen Verteidigungsstellungen zu durchbrechen und die Landbrücke zwischen Russland und der Krim zu blockieren, um die russischen Streitkräfte von der logistischen Drehscheibe Krim abzuschneiden. Zugleich käme die Krim in die Reichweite ukrainischer Waffen. Am Anfang versuchten die ukrainischen Streitkräfte, dieses Ziel durch konzentrierte Angriffe zu erreichen, konnten sich jedoch nicht durchsetzen und erlitten erhebliche Verluste. Auch eine grosse Zahl der modernen westlichen Waffensysteme ging verloren. Deshalb wurden die Angriffsformationen auf kleine Kontingente reduziert und die Zahl der Vorstösse an verschiedenen Stellen der Front erhöht. Dabei erzielten die ukrainischen Streitkräfte in der vor den eigentlichen Verteidigungslinien gelegenen Überwachungszone punktuell Geländegewinne, allerdings bis dato keinen Durchbruch durch die russische Hauptverteidigungslinie. Inzwischen werden wieder grössere Formationen eingesetzt. Aber die Zweifel an einem Erfolg nehmen zu. Scheitert die Offensive, könnte die Ukraine fordern, westliche Soldaten sollen westlichen Waffen folgen. Denn auch die geplanten westlichen Waffenlieferungen können die personellen Verluste der ukrainischen Streitkräfte nicht ausgleichen. Dagegen hat Russland bisher noch nicht die Masse seiner aktiven Kampftruppen eingesetzt. Man kann daher davon ausgehen, dass Russland nach weiteren ukrainischen Verlusten in Gegenangriffen dazu übergehen wird, die annektierten Gebiete bis zu den ehemaligen Verwaltungsgrenzen auszudehnen und damit das Ziel der «militärischen Spezialoperation» zu erreichen. Möglicherweise gehört dazu auch Odessa. Falls die russischen Streitkräfte weiter defensiv operieren oder lediglich die bisherigen Eroberungen konsolidieren, so ist mit der Fortsetzung des Krieges in geringer Intensität, jedoch mit langer Dauer zu rechnen.

Ein ukrainischer Feldarzt soll sich dahingehend geäussert haben, pro hundert Meter, die die ukrainische Armee vorrückt, soll es auf ukrainischer Seite fünf bis sechs tote Soldaten geben. Das scheint mir eine enorme Zahl.

Das kann sein, verifizieren kann man das nicht. Aber der ukrainische Generalstabschef, General Saluschnij, hat sich als Reaktion auf westliche Kritik an den ausbleibenden Fortschritten der Offensive ähnlich geäussert: «Jeder Tag, jeder Meter wird mit Blut bezahlt.» Ein Grund dafür ist die asymmetrische Operationsführung beider Seiten. Die ukrainischen Streitkräfte sollen ukrainisches Territorium zurückerobern und zahlen für jeden Quadratmeter einen hohen Blutzoll, während die russischen Streitkräfte das Ziel verfolgen, die ukrainischen Streitkräfte zu dezimieren, den Gegner somit wehrlos zu machen. Ausserdem sind die Verluste des Angreifers im Allgemeinen höher als die des Verteidigers, was sich durch die russische Luftüberlegenheit, den Einsatz russischer Kampfhubschrauber und die tief gestaffelten und sehr gut ausgebauten russischen Verteidigungsstellungen besonders stark auswirkt.

Wissen wir ausser allgemeinen Aussagen etwas Konkretes zu den Verlustzahlen?

Beide Seiten veröffentlichen die Verlustzahlen des Gegners, jedoch nicht die eigenen. Gesichert ist, dass die ukrainischen Streitkräfte seit Beginn der Offensive grosse Verluste erlitten haben und sich in einem kritischen Zustand befinden. Je länger die Offensive dauert, desto geringer wird ihre Fähigkeit, eine strategische Wende zu erzwingen. Westliche Politiker glauben jedoch immer noch, die Lieferung weiterer und leistungsfähigerer Waffen könnte die Ukraine in die Lage versetzen, einen militärischen Sieg zu erringen, obwohl beispielsweise der amerikanische Generalstabschef schon Anfang November vergangenen Jahres darauf hingewiesen hat, dass die ukrainischen Streitkräfte das erreicht haben, wozu sie in der Lage sind, mehr sei nicht möglich. Dennoch erhält jede neue Waffenkategorie das Etikett «Gamechanger» wie die HIMARS-Raketenwerfer, Kampfpanzer und Schützenpanzer, die britischen Storm Shadow Marschflugkörper oder amerikanische Streumunition. Keines dieser Systeme hat die strategische Lage zu Gunsten der Ukraine verändert. Realistischerweise ist dies auch von den F-16-Kampfflugzeugen, die europäische Staaten liefern wollen, nicht zu erwarten. Zumal diese erst nach Abschluss der Pilotenausbildung im Laufe des nächsten Jahres eingesetzt werden können.

Aktuell wird wieder Druck auf die deutsche Bundesregierung ausgeübt, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper mit einer Reichweite bis zu 500 Kilometern zu liefern. Ist das nun der erhoffte «Gamechanger»?

Taurus ist ein nur sehr schwer zu bekämpfender Luft-Boden-Marschflugkörper mit grosser Reichweite und hoher Durchschlagskraft. Aber er ist auch nicht die Wunderwaffe, die die strategische Gesamtlage zugunsten der Ukraine verändert.

Wegen der ausbleibenden Erfolge der Offensive hat die Ukraine die Drohnenanschläge auf Ziele in Russ­land und insbesondere auf Moskau verstärkt. Zurzeit sind auch die Verbindungswege zwischen Russland und der Krim wieder das Ziel von Angriffen, um die Versorgung der russischen Streitkräfte zu stören. Auch die Krim ist das Ziel von Angriffen, obwohl der amerikanische Aussenminister noch vor einiger Zeit davor warnte. Die Angriffe auf russische Schiffe und Häfen des Schwarzen Meeres sowie vor allem auf das russische Kernland sollen ausgeweitet werden. Vor wenigen Tagen erklärte Selenskij nach einem Drohnenangriff auf Moskau: «Allmählich kehrt der Krieg auf das Territorium Russlands zurück – in seine symbolischen Zentren und Militärstützpunkte.» Taurus ist sowohl für Angriffe in der Tiefe Russ­lands als auch gegen Versorgungseinrichtungen auf der Krim geeignet. Die ukrainischen Streitkräfte verfügen bereits über britische Storm Shadow, einen vergleichbaren Marschflugkörper.

Wenn schon britische Marschflugkörper in der Ukraine vorhanden sind, warum soll Deutschland das auch noch liefern?

Mit Storm Shadow und dem französischen SCALP-Marschflugkörper sind die ukrainischen Streitkräfte in der Lage, die russischen Versorgungslinien und die Krim anzugreifen. Taurus wäre allerding für einen Angriff in der Tiefe des russischen Raumes hervorragend geeignet. Deutschland würde sich deshalb in besonderem Masse gegenüber Russland exponieren, was sicherlich nicht unwichtig ist. Da die Bereitschaft der deutschen Politik, für die aussen- und sicherheitspolitischen Interessen unseres Landes standhaft einzutreten, offensichtlich unterentwickelt ist, und «Druck» von aussen verstärkt «Druck» im Innern generiert, wird diese Forderung schliesslich wie zuvor gegen jede Vernunft und ungeachtet unserer nationalen Interessen durchgesetzt.

Was würde es bedeuten, wenn die Deutschen lieferten?

Die Lieferung von Taurus wäre ein weiterer Schritt in Richtung Europäisierung des Krieges. Denn die USA weigern sich bisher, weitreichende Waffen zu liefern, die russisches Territorium angreifen können, weil sie darin eine grosse Eskalationsgefahr sehen, obwohl sich die Ukraine seit fast einem Jahr um die Lieferung amerikanischer ATACMS-Marschflugkörper mit einer Reichweite von 300 Kilometern bemüht. Weil sie den ukrainischen Zusicherungen nicht vertrauen, derartige Waffen nur auf ukrainischem Territorium einzusetzen, haben die USA HIMARS-Raketenwerfer nur mit Projektilen geliefert, die eine Reichweite von 85 km haben, nicht die mit 150 km Reichweite. Die USA überlassen es den Europäern, amerikanische F-16 zu liefern, und die Abrams-Panzer lassen auch auf sich warten. Dass die Ukraine entgegen ihrer Zusicherung kürzlich Streumunition bei einem Angriff auf das Stadtgebiet von Donezk gegen zivile Ziele eingesetzt hat, bestätigt die amerikanische Zurückhaltung. In Deutschland wird die Möglichkeit diskutiert, die Reichweite des Marschflugkörpers durch Änderung «technischer Merkmale» einzuschränken. Dies und die Möglichkeit, dass die amerikanische Regierung ihre Bedenken wegen der desperaten Lage der ukrainischen Streitkräfte zurückstellt und ATACMS in der Hoffnung liefert, eine militärische Niederlage abzuwenden, könnte die Bundesregierung veranlassen, Taurus im Tandem mit den USA abzugeben. Das wäre allerdings ein grosser Eskalationsschritt, mit dem faden Beigeschmack, dass wieder deutsche Waffen Russland angreifen.

Wie weit könnte die Eskalation noch gesteigert werden?

Russland hat nach der ersten Sprengung der Kertsch-Brücke, die auch die Lebensader für die Bevölkerung der zwei Millionen Krimbewohner ist, mit wochenlangen Angriffen auf die ukrainische Versorgungsinfrastruktur reagiert. Angriffe auf Ziele tief in Russland werden ebenfalls eine massive Reaktion auslösen. Die Frage ist nur, ob diese Reaktion sich gegen die Ukraine oder auch gegen diejenigen richtet, die der Ukraine diese Angriffe ermöglichen. Nach der Lieferung von Taurus blieben als Steigerung neben den F-16 nur noch deutsche Kampfflugzeuge, was aber eine längere Ausbildungszeit erfordert. Deshalb müsste eine seriöse strategische Lagebeurteilung bei der Entscheidung, Taurus zu liefern, den potenziell nächsten Schritt mitdenken. Falls ATACMS und Taurus die strategische Lage wider Erwarten nicht grundlegend zugunsten der Ukraine ändern, würde der Westen eine militärische Niederlage der Ukraine akzeptieren oder würde die Nato beziehungsweise eine Koalition aus Nato-Staaten in den Krieg eingreifen?

Sie haben gerade die verschiedenen Waffensysteme genannt, die der Westen der Ukraine zur Verfügung stellt und von denen bereits ein grosser Teil vernichtet wurde. Es hiess doch immer, der Leopard sei unbesiegbar.

Der Leopard ist sicherlich einer der weltbesten Panzer. Aber er hat – wie jedes Waffensystem – Stärken und Schwächen. Deswegen ist es wichtig, im Einsatz die grösstmögliche Synergie zu erzielen, indem die Waffensysteme im Verbund so eingesetzt werden, dass die Stärken des einen Systems die Schwächen eines anderen ausgleichen. Die Befähigung zum Gefecht der verbundenen Waffen erfordert allerdings eine langjährige Ausbildung und häufige Übungen der Kampfbesatzungen und der Vorgesetzten aller Führungsebenen. Die ukrainischen Soldaten verfügen nicht über diesen hohen Ausbildungsstand und eine jahrelange Erfahrung und Übung dieser Operationsform. Die in manchen Medien geäusserte Kritik am Einsatz der ukrainischen Streitkräfte bei der Offensive und an der nur vier- bis sechswöchigen Ausbildung an den westlichen Waffensystemen greift deshalb zu kurz. Die ukrainischen Streitkräfte beherrschen das Gefecht der verbundenen Waffen nicht, und das ist neben der russischen Luftüberlegenheit und den starken Geländebefestigungen der russischen Verteidigungslinie ein wesentlicher Grund für die geringen Erfolgsaussichten. 

Wenn man sieht, was es alles braucht, um möglicherweise gegen Russland erfolgreich zu sein, scheint dieses Ziel wohl sehr unrealistisch. Aber der Krieg geht weiter, und Tausende junger Menschen sterben. Müsste hier nicht endlich ein Schlussstrich gezogen werden?

Die Ukraine hat sich im russischen Angriffskrieg durch die umfassende Unterstützung des Westens bisher als standhaft erwiesen. Aber die Entscheidung darüber, welcher Aufwand geleistet wird, damit der Krieg gegen jede Vernunft und trotz der Unerreichbarkeit der politischen Ziele weitergeführt wird, darf auf Dauer nicht allein der ukrainischen Regierung überlassen werden. Denn das Risiko der Eskalation und der Ausweitung des Krieges auf Europa ist real. Die ständige Intensivierung der Kriegsführung hat bereits zu einer grossen Zahl gefallener Soldaten und getöteter ukrainischer Zivilisten sowie zur weitgehenden Zerstörung der Infrastruktur geführt. Je länger der Krieg dauert, desto grösser werden die ukrainischen Verluste und die Zerstörung des Landes, und desto schwieriger wird es, die Europäisierung des Krieges zu verhindern und einen gerechten und dauerhaften Verhandlungsfrieden zu erreichen,  der auch den Staaten Sicherheit gibt, die an der Seite der Ukraine stehen. Deshalb ist die ukrainische Regierung gegenüber dem ukrainischen Volk, aber auch gegenüber den Staaten, die sie bei der Verteidigung ihres Landes unterstützen, verpflichtet, jede weitere Eskalation zu verhindern und einen Verhandlungsfrieden mit Russland anzustreben.

Wird die ukrainische Regierung dieser Verantwortung gerecht?

Die Ukraine bemüht sich um internationale Unterstützung für ihre Position, die sie zum Ende des Krieges anstrebt. Aber sie schliesst weiter direkte Verhandlungen mit Russ­land aus, die Selenskij Anfang Oktober 2022 per Dekret verboten hat. Sie ignoriert also, dass mit Russ­land nur ein Verhandlungsfrieden erzielt werden kann, wie die Istanbuler Verhandlungen im März letzten Jahres gezeigt haben. Putin hat gegenüber einer hochrangigen afrikanischen Friedensdelegation am 17. Juni erklärt: «Wir sind offen für einen konstruktiven Dialog mit allen, die Frieden wollen, der auf den Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Berücksichtigung der legitimen Interessen der unterschiedlichen Seiten beruht.» Ich finde es bemerkenswert, dass dieses Angebot weder von der Ukraine noch von den USA aufgenommen wurde. Im Übrigen kann man die ukrainische Politik bestenfalls als erratisch bezeichnen. Anfangs war Selenskji bereit, einen neutralen Status für die Ukraine zu akzeptieren und gegen Sicherheitsgarantien auf eine Nato-Mitgliedschaft zu verzichten. Vor dem Nato-Gipfel in Vilnius hat er erklärt, er werde nichts weniger als eine Mitgliedschaft beziehungsweise einen konkreten Fahrplan zu diesem Ziel akzeptieren. Beides hat er nicht erhalten. Als die Bürger des Donbas Minderheitsrechte, wie sie beispielsweise in der EU-Standard sind, im Rahmen des Minsk II-Abkommens anstrebten und sich gegen das Verbot ihrer Sprache und Kultur auflehnten, wurden sie als Separatisten bekämpft, obwohl sie keine Loslösung von der Ukraine anstrebten. In den Istanbul-Verhandlungen akzeptierte die ukrainische Regierung jedoch, dass eine friedliche bilaterale Lösung mit Russland innerhalb von 15 Jahren erreicht werden soll. Jetzt will Selenskji diese Regionen und die Krim um jeden Preis zurückerobern, und die Zukunft der Bewohner, die russischsprachige ukrainische Staatsbürger sind, bleibt ungeklärt.

Auffällig ist, wie wenig Rücksicht die ukrainische Regierung auf die Bevölkerung des Donbas nimmt. Die ukrainischen Streitkräfte setzen von Grossbritannien gelieferte Munition mit abgereichertem Uran (DU) ein, von der man weiss, dass durch den Uranstaub gravierende langfristige gesundheitliche Schäden entstehen. Streumunition weist bis zu 40 Prozent Versager auf. Das heisst, 60 Prozent werden gegen die russischen Angreifer eingesetzt und bis zu 40 Prozent gegen die eigene Bevölkerung. Das Humanitäre Völkerrecht ächtet Munition, die unterschiedslos gegen Streitkräfte und die zivile Bevölkerung wirkt. Der Einsatz von Streumunition ist deshalb auch dann ein Kriegsverbrechen, wenn sie gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wird, unabhängig davon, ob der betreffende Staat dem Osloer Abkommen über die Ächtung von Streumunition beigetreten ist. Am 6. August, nur einen Tag nach dem Treffen in Dschidda, auf dem die Ukraine um Unterstützung ihres 10-Punkte-Plans warb, griffen die ukrainischen Streitkräfte die Stadt Donezk mit Streumunition an und setzten unter anderem die dortige Universität in Brand.

Das bedeutet doch, dass die russischsprachige Bevölkerung in diesen Regionen als Ukrainer zweiter Klasse behandelt werden…

Ja, das muss man wohl so sehen.

Da fragt man sich, gegen wen die Ukraine eigentlich Krieg führt.

Die Ukraine führt einen legitimen Verteidigungskrieg auf der Grundlage des Artikels 51 der Uno-Charta. In einer Gesamtbetrachtung würde man die Vorgeschichte dieses Krieges und den geopolitischen Zusammenhang berücksichtigen. Aber lassen wir diesen komplexen Sachverhalt einmal beiseite. Die ukrainischen Streitkräfte kämpfen gegen die russischen Streitkräfte, aber betroffen ist auch immer die ukrainische Zivilbevölkerung, sowohl durch russische als auch durch ukrainische Waffenwirkung. In der in unseren Medien überwiegend von Laien geführten Diskussion wird allgemein die strategische Zweck-Mittel-Relation nicht beachtet. Man müsste sich beispielsweise vor dem Einsatz von Clustermunition fragen, welchem Zweck der Einsatz dient und ob die Schäden und Verluste der ukrainischen Bevölkerung wirklich gerechtfertigt sind. Daran gibt es erhebliche Zweifel. Das personelle und materielle Kräfteverhältnis, die strategische Gesamtlage, ist so eindeutig durch die militärische Überlegenheit Russlands geprägt, dass die westlichen Waffenlieferungen zwar die Durchhaltefähigkeit der ukrainischen Streitkräfte stärken, aber keine entscheidende Wende der strategischen Lage bewirken können, die einen militärischen Sieg der Ukraine ermöglicht. Die ausbleibenden Erfolge der mit grossen Erwartungen angekündigten ukrainischen Offensive führt hoffentlich auch bei denjenigen zur Einsicht, die ständig weitere Waffenlieferungen fordern, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen beziehungsweise einen militärischen Sieg erringen kann. Diese Einschätzung ist in den USA stärker und schon länger verbreitet als bei uns.

Bei diesen Forderungen nach weiteren Waffen stellt sich die Frage nach der Redlichkeit.

Für mich hat sich bei der ganzen Berichterstattung immer die Frage gestellt, ob die Menschen tatsächlich von dem, was sie sagen, überzeugt sind oder sich vom moralischen Kompass der veröffentlichten Meinung leiten lassen. Es gibt allerdings auch die Frontsoldaten des Informationskrieges, die sich nicht darüber im Klaren sind, dass sie aus dem Schützengraben nur über eine eingeschränkte Sicht verfügen. Da es immer offensichtlicher wird, dass die Ukraine nicht die von Russland besetzten Gebiete befreien oder durch grosse militärische Fortschritte ihre Verhandlungsposition verbessern kann, sollte sich eigentlich in den Medien ein vorsichtiger Kurswechsel zu mehr Ausgewogenheit abzeichnen.

Dieser «moralische Kompass» führte doch zu einer völligen Emotionalisierung, die eine nüchterne Betrachtung nicht mehr zulässt.

Man muss deshalb zwischen denen unterscheiden, die aufgrund fehlenden Wissens und ohne jede Erfahrung komplexe militärische Sachverhalte beurteilen, weil sie der Versuchung nicht widerstehen, sich öffentlich zu exponieren. Während andere sich durch ihre politisch-ideologische Orientierung moralisch im Recht sehen, einseitig Partei zu ergreifen, und gegenteilige Sachverhalte und Auffassungen gezielt unterdrücken. Das ist für eine offene, pluralistische Gesellschaft in einer freiheitlichen Demokratie ausserordentlich schädlich.

Die Emotionalisierung führt dazu, dass nicht selten der Anstand auf der Strecke bleibt, und manchmal ist es auch eine Charakterfrage, wie die öffentliche Diskussion geführt wird. Ich musste die Erfahrung machen, dass ein ehemaliger Offizier, zurzeit Abgeordneter, der, – wie er mir einmal berichtete, oft in von mir geleiteten Sitzungen hinter mir sass und Protokoll führte, – sich öffentlich über mich in infamer und für einen Offizier unehrenhafter Weise äusserte.

Ein neues Narrativ – auch bei uns in den Medien – heisst, dass Bachmut als ein «zweites Verdun» in die Geschichte eingehen werde.

Die strategische Bedeutung Bachmuts ist in den westlichen Medien überhöht worden. Die ukrainischen Streitkräfte sollten beweisen, dass sie sich gegen die russischen Angreifer durchsetzen können. Das war das politische Ziel, um sicherzustellen, dass der Westen nicht nachlässt, weiter Unterstützung zu leisten und immer leistungsfähigere Waffen zu liefern. Deshalb mussten die ukrainischen Streitkräfte so lange wie möglich durchhalten und grosse Verluste hinnehmen. Insofern ist die russische Strategie aufgegangen. Der Vergleich mit Verdun ist völlig überzogen. In Verdun sind auf beiden Seiten Hunderttausende ums Leben gekommen. Allein von der Grössenordnung, der Dauer und Intensität des menschlichen Schlachtens ist das nicht vergleichbar.

Die Ähnlichkeit mit dem Ersten Weltkrieg betrifft doch vor allem die Emotionalisierung, über die wir vorher schon gesprochen hatten…

Ja, aber das betrifft noch einen anderen Punkt. Man hat den Ersten Weltkrieg die «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts» genannt, den Ursprung aller folgenden Katastrophen: Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg, Koreakrieg, Vietnamkrieg, um nur einige zu nennen. Der Ukrainekrieg darf nicht zur Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts werden, mit der Folge eines grossen europäischen Krieges und dem Risiko eines auf den europäischen Kontinent begrenzten Nuklearkrieges. Die Parallelen sind frappierend: Die imperialen Rivalitäten der grossen europäischen Mächte und die enge deutsch-österreichische Allianz damals, geopolitische Rivalität der grossen Mächte USA und Russland und die unbedingte, risikoreiche Unterstützung der Ukraine heute; die wechselseitigen Eskalationsschritte damals, die dynamische Eskalation heute. Nur wenn es gelingt, die Eskalationsschraube anzuhalten, bevor sie eine nicht mehr kontrollierbare Eigendynamik entwickelt, kann die Urkatastrophe dieses Jahrhunderts verhindert werden.

Sie erwähnten die geopolitische Rivalität der grossen Mächte. Wie sehen Sie die weitere globale Entwicklung?

Der Ukrainekrieg hat dazu beigetragen, dass das Entstehen einer neuen multipolaren Weltordnung an Dynamik gewonnen hat. Um China und Russland entsteht mit den BRICS-Staaten ein neues politisches, wirtschaftliches und militärisches Machtzentrum, dessen Ziel es ist, die USA als führende Weltmacht abzulösen und die wirtschaftliche und finanzielle Dominanz des US-Dollars als Weltleitwährung zu beenden. Die BRICS-Staaten, deren offizielle Ziele Frieden, Sicherheit, Entwicklung und Zusammenarbeit sind, repräsentieren zurzeit 40 Prozent, die westlichen G7-Staaten einschliesslich Japan nur etwa 12,5 Prozent der Weltbevölkerung. Ihr Bruttoinlandprodukt ist grösser als das der G7-Staaten.

China beabsichtigt, mit Saudi-Arabien auf dem globalen Ölmarkt und bei der Nutzung der Nuklearenergie zusammenzuarbeiten, unterstützt den Beitritt Saudi-Arabiens zur BRICS-Gruppe, treibt die Bildung einer rohstoffbasierten Reservewährung als Konkurrenz zum Petrodollar voran und stockt seit Monaten die Goldreserven auf, um den Dollar als weltweite Leitwährung abzulösen. Auf dem nächsten Gipfeltreffen vom 22. bis 24. August in Johannesburg wird auch über die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten beraten, mehr als ein Dutzend formeller Beitrittsanträge liegen bisher vor. Insgesamt haben zurzeit mehr als 30 Staaten Interesse an einem Beitritt bekundet, darunter Ägypten, Algerien, Indonesien, Pakistan, Mexiko, Nicaragua, Uruguay, Venezuela, Argentinien und auch zwei Nato-Staaten, der EU-Staat Griechenland und die Türkei. Dass zu den Interessenten auch einige südamerikanische Staaten gehören, ist für die USA sicherlich ein Anlass zur Sorge und könnte auch zu Gegenreaktionen führen.

Die Entwicklung der BRICS als Organisation wird den USA nicht ins Konzept passen. Sie hat sich zu einer wirtschaftlichen und politischen Konkurrenz entwickelt.

Das erklärte Ziel dieser Staaten ist es, wie die Chinesen sagen, eine unipolare Welt in eine multipolare zu transformieren. Bilaterale Geschäfte werden bereits in den Landeswährungen abgewickelt und nicht mehr in Dollar. Auch Ölgeschäfte werden nicht mehr wie bisher grundsätzlich mit dem sogenannten Petrodollar getätigt. Saudi-Arabien beispielsweise, früher ein enger Verbündeter der USA, ist jetzt ein Verbündeter Chinas und akzeptiert die Bezahlung in der jeweiligen Landeswährung.

Sie erwähnten, dass die Ukraine mit einer diplomatischen Initiative für ihre Position wirbt. Worum geht es dabei?

Am 5.  August fand auf ukrainische Initiative ein Treffen der nationalen Sicherheitsberater aus mehr als vierzig Staaten in Saudi-Arabien statt. Das Ziel war, internationale Unterstützung für die ukrainische Position für ein Kriegsende zu gewinnen und zugleich die Unterstützung der Position Russlands durch neutrale und ungebundene Staaten zu schwächen. Wie bereits bei einem ähnlichen Treffen in Dänemark gab es keine Abschlusserklärung. Konkret ging es offenbar um Selenskijs 10-Punkte-Plan, den dieser bereits im Dezember letzten Jahres bei seinem Besuch in Washington vorgestellt hatte. Darin waren neben verhandelbaren Aspekten auch Forderungen enthalten, die nur nach einer militärischen Niederlage Russlands realisierbar wären. Die ukrainische Regierung beabsichtigt offenbar, ihre diplomatische Initiative auf der Uno-Generalversammlung im September fortzusetzen und noch vor Ende des Jahres ein ähnliches Treffen auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs zu initiieren. Letzten Endes führt jedoch kein Weg daran vorbei, dass ein Ende des Krieges die Bereitschaft beider Kriegsparteien voraussetzt, sich an einen Verhandlungstisch zu setzen und zu einem Interessensausgleich bereit zu sein. Zu einem Diktatfrieden ist keine Seite in der Lage, zumal die Geschichte lehrt, dass das Ende eines Krieges durch das Diktat einer Seite immer auch die Ursache für den Beginn eines neuen Krieges ist.

Können wir noch kurz über den Nato-Gipfel in Vilnius sprechen. Was hat er aus Ihrer Sicht gebracht?

Selenskij hat vor dem Gipfel erklärt, er erwarte eine feste Zusage oder zumindest einen Fahrplan für die Nato-Mitgliedschaft. Alles andere werde er nicht akzeptieren. Das Gegenteil ist der Fall. Meiner Ansicht nach hat sich die Perspektive für eine Nato-Mitgliedschaft gegenüber dem Gipfelkommuniqué von Bukarest 2008 nicht verbessert. Es ist ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass die Ukraine nicht die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft erfüllt und: «Wir werden in der Lage sein, eine Einladung an die Ukraine, der Allianz beizutreten, auszusprechen, wenn die Alliierten zustimmen und die Bedingungen erfüllt werden.» Diese Formulierung ruft Artikel 10 des Nato-Vertrages in Erinnerung und steht im Gegensatz zu dem Eindruck, den westliche Politiker bisher fälschlicherweise erweckt haben, es sei ausschliesslich die Entscheidung eines Nicht-Mitgliedstaates über seinen Beitritt zu bestimmen. Richtig ist, dass alle gegenwärtigen Mitgliedstaaten die Ukraine im Konsens einladen müssten, vorausgesetzt sie erfüllt alle Bedingungen. Eine Bedingung ist, dass die Allianz durch die Aufnahme eines neuen Mitglieds keinen Konflikt importieren darf, sondern das neue Mitglied die Sicherheit aller Mitgliedstaaten erhöhen muss. Wenn die Ukraine Mitglied der Nato würde, befände sich die Nato im gleichen Moment im Krieg mit Russland. Das wird auch dann ein Problem sein, wenn der Krieg einmal zu Ende ist und diese Frage einige Jahre später anstehen sollte. Deshalb ist entscheidend, was einmal in den Friedensverhandlungen vereinbart wird, denn der Kern der russischen Forderung und eine entscheidende Ursache für den Krieg ist die Verhinderung der Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato. Dieses Ziel wird Russland nicht aufgeben.

Wie hat die Ukraine auf die Forderungen reagiert?

Präsident Selenskij hat zunächst sehr schroff darauf reagiert, musste aber später notgedrungen einen versöhnlicheren Ton anschlagen.

Ist die Forderung Russlands auf Nichtmitgliedschaft verständlich?

Ich möchte nur auf Henry Kissinger verweisen, der bereits 2014 gesagt hat: «Die Ukraine sollte nicht der Nato beitreten, eine Position, die ich vor sieben Jahren vertrat, als dieses Thema das letzte Mal zur Sprache kam … Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden Seiten fungieren.» Das wäre in der Tat eine gute Rolle für die Ukraine, und nicht nur sie, sondern ganz Europa könnte davon profitieren.

Wahrscheinlich wäre dann das Leben für die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine wesentlich besser.

Ja, sicher. Das ist der zweite Aspekt, der zu diesem Krieg geführt hatte. Das Minsk  II-Abkommen wurde nicht umgesetzt. Die Staaten, die es damals vermittelt hatten, Deutschland und Frankreich, haben nicht auf eine Umsetzung gedrängt, sondern die ehemalige Bundeskanzlerin, Frau Merkel, und der ehemalige französische Präsident, François Hollande, haben zugegeben, dass sie lediglich Zeit gewinnen wollten, um die Ukraine militärisch aufzurüsten. Den russischsprachigen Menschen in der Ukraine wurde nach dem Putsch 2014 verboten, ihre Sprache zu sprechen, ihre Kultur zu pflegen und so weiter. Damit wurden sie zu Bürgern zweiter Klasse. Die Menschen verlangten die Minderheitenrechte, die ihnen im Minsk  II-Abkommen versprochen wurden und die in der Europäischen Union selbstverständlich sind. Vom Westen wurden sie als Separatisten bezeichnet, obwohl sie nicht die Absicht hatten, aus dem ukrainischen Staatsverband auszutreten. Russland hat diese Gebiete am 30.  September vergangenen Jahres zu russischem Staatsgebiet erklärt. Das ist eine der grossen Hürden, die es in den Verhandlungen zu einem Friedensvertrag zu überwinden gilt. Man muss sich allerdings fragen, worin der Sinn besteht, um das Prinzip der territorialen Integrität durchzusetzen, Gebiete unter Inkaufnahme unermesslicher menschlicher Opfer und der Zerstörung des Landes zurückzuerobern, in denen überwiegend russischsprachige Bürger leben, denen die ukrainische Regierung trotz einer völkerrechtlichen Verpflichtung elementare Minderheiten- und Bürgerrechte verweigert. Die Geschichte lehrt, dass tragfähige Lösungen erzielt werden können, wenn sich beide Seiten von den Interessen und dem Wohl der Bewohner leiten lassen. Auch die Ukraine hat unter anderem durch die Forderung, Russland müsse zunächst seine Truppen aus der Ukraine abziehen, Verhandlungen erschwert. Ohne das Engagement der beiden grossen europäischen Staaten Frankreich und Deutschland für einen Verhandlungsfrieden kommen die Kriegsparteien nicht zusammen, und ihr Weg führt in eine europäische Katastrophe.

Deshalb möchte ich abschliessend betonen: Es darf nicht sein, dass die Bundesregierung weiterhin das Friedensgebot der Verfassung ignoriert, das Risiko der Eskalation und Ausweitung des Krieges durch immer weitere Waffenlieferungen bis zum «Point of no Return» fördert und keine Anstrengungen zu einem Waffenstillstand und einem Verhandlungsfrieden unternimmt.

Herr General Kujat, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* General a.D. Harald Kujat, geboren am 1. März 1942, war unter anderem Generalinspekteur der Bundeswehr und als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses höchster Militär der Nato. Zugleich amtete er als Vorsitzender des Nato-Russland-Rates sowie des Euro-Atlantischen-Partnerschaftsrates der Generalstabschefs. Für seine Verdienste wurde Harald Kujat mit einer grossen Zahl von Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Kommandeurs­kreuz der Ehrenlegion der Republik Frankreich, dem Kommandeurskreuz des Verdienstordens Lettlands, Estlands und Polens, der Legion of Merit der Vereinigten Staaten, dem Grossen Band des Leopoldordens des Königreichs Belgien, dem Grossen Bundesverdienstkreuz, sowie mit weiteren hohen Auszeichnungen, unter anderem aus Malta, Ungarn und der Nato.

 

veröffentlicht 22.August 2023

EU-Sanktionen: Die deutsche Wirtschaft schrumpft – die russische wächst

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, Die LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, Die LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Die EU hat ein weiteres Sanktionspaket gegen Russland «geschnürt». Inwieweit lassen sich bereits negative Auswirkungen der Sanktionen in Russland feststellen?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Vor kurzem sind die Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) veröffentlicht worden. Das geschieht alle drei Monate. Die letzte Veröffentlichung war im April, und diese ist nun vom Juli. Nach der neuen Prog­nose schrumpft die deutsche Wirtschaft 2023 stärker als erwartet. Im April ging man für das laufende Jahr von einem Wachstumsrückgang von 0,1 Prozent aus. Aktuell erwartet der IWF einen Rückgang von 0,3 Prozent, während die Prognosen für die Weltwirtschaft auf 3 Prozent leicht nach oben korrigiert wurden. Den grössten Sprung nach oben gegenüber dem April verzeichneten Brasilien und Russland, also zwei BRICS-Staaten. Für Russland wurde die Prognose im April mit 0,7 Prozent angegeben und jetzt auf 1,5 angehoben, was eine starke Veränderung darstellt. Das ist sehr bemerkenswert, denn jeder von uns weiss, dass die EU und die USA massive Sanktionen gegen Russland verhängt haben, und man hat noch im Ohr, was Annalena Baerbock lauthals bei Einführung der Wirtschaftssanktionen verkündete: «Das wird Russland ruinieren.» Tatsächlich zeigt sich immer deutlicher, dass stattdessen eher Deutschland ruiniert wird. Kanzler Scholz sagte in Bezug auf die Sanktionen, sie würden Russ­land mehr schaden als Deutschland. All das scheint nach den neusten IWF-Prognosen nicht der Fall zu sein. Der Grössenwahn, der auch hier die Bundesregierung befallen hat, man könne so ein grosses Land wie Russland in die Knie zwingen, hat sich bislang nicht bewahrheitet.

Wie wird das in Deutschland wahrgenommen? Akzeptiert man diese wirtschaftliche Verschlechterung stillschweigend?

Es gibt eine wachsende Unzufriedenheit mit der Regierung. Wenn man die Zustimmungsrate zur Ampel-Koalition betrachtet, hat diese ausgesprochen tiefe Umfragewerte. Sicher spielen verschiedene Gründe eine Rolle bei den schlechten Wirtschaftsprog­nosen, aber der energiepolitische «Harakiri»-Kurs, den die Regierung fährt, ist hierbei ein wesentlicher Faktor: die Auswirkungen der Sanktionen, das selbstverschuldete Ausbleiben von günstigem Gas und Öl aus Russland, das Aufkaufen von fossilen Brennstoffen auf dem Weltmarkt zu horrenden Preisen, das Bauen von Anlagen für das Löschen von LPG-Gas, gewonnen durch Fracking in den USA, was ein Vielfaches teurer (und auch klimaschädlicher) ist als russisches Gas usw. Das bedeutet gerade für die deutsche Wirtschaft, insbesondere für die deutsche Industrie, die aus einer Kombination von günstiger Energie, qualifizierten Arbeitskräften und Export profitierte, erhebliche Probleme. Die energieintensive Industrie ist besonders davon betroffen und wandert teilweise aus Deutschland ab. Viele gehen in die USA, die das durchaus fördern, so dass in Deutschland und in Europa eine Deindustrialisierung droht. Die Auswirkungen der Sanktionen sind also gravierend.

Inwieweit wollen die USA mit den Sanktionen den Konkurrenten Eu­ropa, insbesondere Deutschland, ausschalten?

Bei den USA kann man sich das gut vorstellen, schliesslich ist es eine aussenpolitische Konstante, die mögliche Herausbildung von Konkurrenten im grösseren europäischen Raum zu verhindern. Bei der deutschen Regierung und der EU-Kommission mit Frau von der Leyen als Präsidentin fragt man sich schon, sind die eingekauft oder wirklich so naiv? Nicht umsonst hat im September letzten Jahres Sarah Wagenknecht in einer Bundestagsrede diese ökonomischen Folgen der Sanktionen für Deutschland deutlich kritisiert und hinzugefügt: «Wir haben wirklich die dümmste Regierung in Europa.» 

Die deutsche Regierung scheint mit dieser Etikette leben zu können. Oder gibt es irgendeine Einsicht, hier vielleicht doch einmal über die Bücher zu gehen?

Ich sehe keinerlei Anzeichen eines Abrückens. Zum Teil scheint es ideologische Verblendung. Im Moment ist im Parlament Sommerpause. Interessant wird es dann im September. Die sozialen Folgen hat man bisher abgefedert, aber damit löst man das Problem nicht, sondern verschiebt es nur in die Zukunft. Der Energiepreisschock wurde mit relevanten Massnahmen gemildert, um die Proteststimmung nicht zu gross werden zu lassen. Der aktuelle Haushaltsentwurf sieht allerdings massive Einschneidungen vor. Wir haben eine Rezession in Deutschland, die aber keine der klassischen zyklischen Rezessionen darstellt, wie wir sie aus dem Kapitalismus kennen, sondern es ist de facto eine selbstgemachte Rezession, die tatsächlich zu einem grundlegenden Abstieg der deutschen Wirtschaft führen kann.

Deutschland hat in viele Länder exportiert, auch nach Russland oder China. Hängt die Entwicklung auch damit zusammen, dass sich globalpolitisch der Wind gedreht hat?

Ja, sicher. Der Export nach Russ­land ist komplett weggebrochen. Er war zwar vom Volumen her nicht so gross, aber Russland war immer ein zuverlässiger Lieferant von Rohstoffen, insbesondere von Öl und Gas. Es ist natürlich viel billiger, wenn man eine Pipeline durch die Ostsee oder die Ukraine legt. Der Transportweg ist kürzer und dadurch der Brennstoff billiger, als wenn das Ganze über die Weltmeere geschippert wird. China spielt aber wirtschaftlich eine viel wichtigere Rolle, und hier bläst die Bundesregierung ganz gehörig die Backen auf, ohne zu realisieren, dass ein Wegbrechen der deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen und des Exports dorthin tatsächlich den Todesstoss für die deutsche Wirtschaft bedeutet. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, was die Bundesregierung im Gefolge der US-Konfrontationspolitik treibt.

Gab es nicht schon von den USA Forderungen, dass sich Deutschland in China mehr zurückhalten sollte?

Aus den USA gibt es immer wieder diese Forderung aus durchsichtigen Gründen. Wenn man sich darauf einlässt, dann gibt es in Deutschland eine wirtschaftliche Katastrophe. Leider ist der deutschen Regierung alles zuzutrauen.

Durch die Hörigkeit gegenüber den USA schneidet sich Deutschland den Weg zum grössten Teil der Welt immer mehr ab. Man kann sich auch gut vorstellen, dass die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas es endgültig satt haben, sich vom Westen bevormunden zu lassen. Sie hatten das vor ein paar Monaten auch aus Mali berichtet. Man versucht, die Länder moralisch unter Druck zu setzen. Bei dieser Moralisierung ist es doch immer so, dass der eine auf der richtigen Seite steht und sich über den anderen stellt, der eine andere Sicht auf die Dinge hat. 

Ja, das ist genau das Problem, bei der ganzen Moralisierung der Politik, die gerade mit den Grünen auch sehr stark in der deutschen Regierungspolitik Einzug gehalten hat. Das Problem ist ja, dass man so die eigentlichen Interessen kaschiert, andernfalls könnte ein grosser Widerstand entstehen. Wenn man eine andere Sicht hat, z. B. auf den Ukrainekonflikt, wird diese aufgrund der moralisierenden Art als abgrundtief schlecht abqualifiziert. Man hat nicht eine andere Meinung, sondern gilt als ein schlechter Mensch, ein schlechter Staat oder eine schlechte Regierung. Das hat in der Politik massiv Einzug gehalten und ist daher leicht instrumentalisierbar für die massive Konfrontationspolitik, die vor allem von den USA und Grossbritannien ausgeht. Um es mit Max Weber auszudrücken: Gesinnungsethik hat in der Aussenpolitik nichts zu suchen, hier ist Verantwortungsethik gefragt.

Konnte man diese Emotionalisierung nicht schon bei der Coronapolitik beobachten?

Ja, da hat diese Form der (nicht) Auseinandersetzung in grossem Masse Einzug gehalten. Die kritische Hinterfragung der staatlichen Corona-Politik fasste man nicht als eine andere Meinung auf, sondern als Ausdruck einer Niedertracht, die darin bestand, dass man egoistisch sei, die Alten sterben lassen möchte und keine Rücksicht auf das Leben anderer nehmen würde. Ich erinnere an den Twitter-Hashtag: «Sterben mit Streeck.» Hendrik Streeck war einer der renommiertesten Virologen, der eine leicht abweichende Meinung von der staatlichen Linie hatte. Ihm wurden unmittelbar und direkt die Todesfälle angeheftet. Das ist Ausdruck einer Unkultur, die um sich greift: eine moralisierende und unwissenschaftliche Herangehensweise. Wissenschaft wurde im Wesentlichen als autoritär definiert. Es gab den Staatsvirologen Drosten, und den durfte man nicht hinterfragen. Das war wirklich unerträglich. Die Wissenschaftler waren aber vielfach unterschiedlicher Meinung. Das Charakteristikum von Wissenschaftlern ist, dass verschiedene Meinungen diskutiert werden, um das beste Resultat zu erzielen, was nicht möglich ist, wenn nur eine Meinung gilt. Genau die gleiche Vorgehensweise lässt sich im Russland-Ukraine-Konflikt erkennen. Es wird medial die Figur des Osteuropawissenschaftlers aufgebaut. Da gibt es zum Beispiel einen Professor Gestwa aus Tübingen, der hier in die «Drostenrolle» hineingestellt wird. Den Kritikern wie Krone Schmalz, Daniele Ganser und anderen wird praktisch vorgeworfen, keine Osteuropa-Wissenschaftler zu sein, und dass es eine Anmassung sei, eine andere Meinung zu vertreten. Das ist keine Wissenschaft, sondern autoritäre Meinungsdiktatur.

Ich möchte hier noch etwas ansprechen, auch wenn das nicht unser aktuelles Thema ist. Die Fehler und Fehleinschätzungen, die von den «Staatswissenschaftlern» während der Pandemie gemacht worden sind, werden nicht aufgearbeitet: zum Beispiel die enge Absprache zwischen Medien, Politik … 

… und Pharmaindustrie. Es gibt schon immer wieder vereinzelte Stimmen, auch in Deutschland, die eine Aufarbeitung verlangen. Gregor Gysi hat jetzt einen politischen Vorstoss lanciert mit der Forderung nach einer Enquete-Kommission. Eine Aufarbeitung ist unbedingt notwendig. Vor einigen Tagen ist eine Studie von dänischen Wissenschaftlern erschienen. Sie kommen zu einem ganz erschütternden Ergebnis, was die unterschiedlichen Nebenwirkungen von verschiedenen Impfstoffchargen angeht. Da gibt es Quantensprünge zwischen den einzelnen Chargen. Ich möchte jetzt nicht auf die Details eingehen, aber die Forschungen haben die Wissenschaftler aus eigenem Antrieb gemacht. Das wurde nicht von staatlicher Seite gefördert, da sind keine staatlichen Gelder hineingeflossen etc. Das Ganze ist Teil einer Aufarbeitung, und diese findet seitens der Staaten und der Parlamente kaum statt. Das ist ein riesiges Problem. Es geschahen weitreichende Einschränkungen der Grundrechte ohne wissenschaftliche Evidenz. Es gibt in Deutschland nur wenige parlamentarische Stimmen, die hier eine Untersuchung fordern, das sind Teile der Linken wie Sarah Wagenknecht oder meine Wenigkeit und vom rechten politischen Spektrum die AfD.

Wir hatten vorhin darüber gesprochen, ob bei der deutschen Regierung ein Hauch von Zweifel an der Richtigkeit ihrer Politik spürbar sei, was nach Ihren Ausführungen nicht der Fall ist. Wie sieht es denn im Parlament aus? Gibt es Stimmen, die zur Vernunft aufrufen oder besteht wie bei der Regierung kein Nachdenken?

Bei den massgeblichen Akteuren der Regierungsparteien im Parlament ist rein gar nichts zu spüren. Was den Krieg in der Ukraine betrifft, gibt es natürlich immer mal wieder Kritik von Wissenschaftlern oder von Militärs, aber bisher lässt sich kein Wackeln der starren Auffassung erkennen. Bis jetzt scheint die ukrainische Gegenoffensive die Erwartung bei weitem nicht zu erfüllen. Wie lange man das Bild einer siegreichen ukrainischen Armee aufrechterhalten kann, wird sich zeigen. Aber im Moment ist Status quo ante. Eine Änderung des Kurses wird auch nicht einfach sein. Die Regierung hat sich so weit aus dem Fenster gelehnt. Mittlerweile gibt es ein elftes EU-Sanktionspaket, und es gibt immer mehr Waffenlieferungen. Rheinmetall, der deutsche Rüstungskonzern, baut in der Ukraine eine Panzerfabrik, es wird weiteres Kriegsmaterial geliefert, ukrainische Soldaten werden in Deutschland ausgebildet. Jetzt sollen sogar Raketen, Taurus-Marschflugkörper, geliefert werden. Sollte Deutschland diese liefern, wäre die Distanz zu Moskau nur noch 480 km – Reichweitenbeschränkungen können technisch ohnehin leicht rückgängig gemacht werden.

Die EU hatte ein Gipfeltreffen mit den Celac-Staaten. Der Ukraine-Krieg war sicher auch Thema?

Der globale Süden beurteilt den Krieg ganz anders als die EU und die USA, eher als Stellvertreterkrieg zwischen Nato und Russ­land. Beim EU-Lateinamerika-Gipfel in Brüssel haben die lateinamerikanischen Staatschefs ganz deutlich das westliche Ukrainenarrativ zurückgewiesen. Die Sicht der EU auf diesen Krieg haben die lateinamerikanischen Staatschefs aus dem Abschlussdokument gestrichen und stattdessen den Verweis auf die Notwendigkeit von Diplomatie betont. Es wurde heftigst darum gerungen. Am Schluss ging es darum, ob man nun Krieg «gegen die Ukraine» oder «in der Ukraine» schreibt. Die EU war natürlich für «Krieg gegen die Ukraine», die lateinamerikanischen Staaten für die Formulierung «Krieg in der Ukraine». Es war ein zäher Prozess. Daran sieht man deutlich, dass die lateinamerikanischen Staaten nicht einfach mitmachen, was die EU vorgibt. Diesen Ausdruck des wachsenden Selbstbewusstseins des globalen Südens erlebt man permanent. Das ist ein historischer Umbruch. Die ganze internationale Architektur verschiebt sich: der Übergang von einer unipolaren Welt, bestimmt von den USA und der EU, zu einer multipolaren Welt. Das spiegelt auch die ökonomischen Realitäten wider, z. B. in Indien oder China. Der Anteil der BRICS-Staaten am Weltinlandsprodukt ist bereits höher als das der G7-Staaten. Vor 20 Jahren war er nur ein Drittel. In diesem Kontext hat der Uno-Generalsekretär António Guterres ein Grundsatzpapier «A New Agenda for Peace» (eine neue Agenda für Frieden) veröffentlicht. Es ist ein 40-seitiges Dokument. Darin schreibt er, dass die Epoche nach dem Kalten Krieg, die letzten 30 Jahre, vorbei sei und eine neue internationale Ordnung in Umrissen sichtbar werde, die einen multipolaren Charakter habe. Er betont, dass eine Epoche zu Ende gehe und wir in eine neue Epoche hineingingen. Dabei legt er sehr viel Gewicht auf die Bedeutung der Diplomatie. Ein vergleichbares Papier, so wird es auch in den grossen deutschen Medien dargestellt, gab es 1992 vom damaligen Uno-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali, mit dem er versucht hat, die Aufgaben der Uno für die Zeit nach dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Ende der bipolaren Weltordnung zu skizzieren. Das war damals ein fundamentales Papier. Guterres verlangt heute neben der Betonung der Diplomatie auch eine Senkung der Militärausgaben. Damit stellt er sich gegen die Aufrüstung, die gegenwärtig durchgeführt wird.

Das steht tatsächlich im krassen Widerspruch zum Beispiel zu den 100 Milliarden, die Scholz letztes Jahr zusätzlich für die Aufrüstung der Bundeswehr ausgeben wollte.

Ja, da stellt sich mir die Frage: Gibt es ausser EU und Nato irgendeine internationale Organisation, die ihre Mitgliedstaaten zwingt, die Militärausgaben zu erhöhen? Die Nato hat das 2 Prozent Ziel als Mindestanforderung definiert und versucht, die Länder dazu zu zwingen, ihr Militärbudget zu erhöhen. Die EU hat Pesco (Permanent Structural Cooperation / ständige strukturierte Zusammenarbeit), die verlangt, dass jedes Land seine Militärausgaben alljährlich real erhöhen muss. In den EU-Grundlagenverträgen sind Militärausgaben aus dem EU-Haushalt ausgeschlossen. Aber Mitgliedstaaten der EU können in einer Koalition der Willigen ausserhalb der Verträge entsprechend kooperieren. Dort sind fast alle EU-Staaten Mitglied. Vor sechs Jahren ist Pesco ins Leben gerufen worden und umfasst 25 Mitgliedstaaten, nur Dänemark und Malta sind nicht dabei. In diesem Pesco-Vertrag steht als erster Punkt, alle Staaten verpflichten sich, ihre Militärausgaben zu erhöhen. Das wird alljährlich überprüft. Das ist also genau das Gegenteil zu dem, was Guterres sagt. Eine internationale Organisation wie zum Beispiel die Uno sollte darauf hinarbeiten, dass die Militärausgaben reduziert werden. Natürlich halten sich nicht alle daran. Mit Nato oder EU gibt es zwei Organisationen, die praktisch das Gegenteil von Guterres Vorschlägen machen. Das 2 Prozent Ziel der Nato ist in Wales schon 2014 von den anwesenden Aussenministern beschlossen worden, was jedoch völkerrechtlich überhaupt nicht bindend ist, aber gerne so dargestellt wird. Es ist eine Absprache der Aussenminister, aber das Haushaltsrecht haben immer noch die Parlamente, und diese haben diesen Vertrag nie ratifiziert. Völkerrechtliche Verträge müssen immer von den Parlamenten ratifiziert werden. Der Nato-Gipfel in Wales fand im Sommer 2014 statt vor dem Hintergrund der Ukrainekrise nach dem Putsch gegen den gewählten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, der darauffolgenden Sezession der Krim und der massiven militärischen Offensive der Ukraine gegen die Ost-Provinzen.

Wie schätzen Sie die Bedeutung des Grundsatzpapiers des Generalsekretärs ein?

Man sollte es nicht überbewerten, aber es sind interessante Elemente darin enthalten, mit denen man sich auseinandersetzen sollte. Insbesondere die Betonung des Endes der Periode nach dem Kalten Krieg. In der Einleitung ist vom «Krieg in der Ukraine» die Rede, was doch im Gegensatz zum Wording der EU steht. Aber das Papier hat aus meiner Sicht auch einige Schwachstellen, so etwa das Kapitel über die Sanktionen. Er erwähnt zwar, dass Uno-Sanktionen nicht immer ihren Zweck erfüllt hätten, aber bei den einseitigen Zwangsmassnahmen, so wie sie die EU und die USA immer mehr praktizieren, bleibt er vage und unklar, das ist eher enttäuschend. Zu bemerken ist jedoch die Wahrnehmung, dass sich die realen Verhältnisse zwischen den Uno-Staaten verändert haben und dem Rechnung getragen werden muss.

Herr Abgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

veröffentlicht 22.August 2023

António Guterres: A New Agenda for Peace

«Ein unabhängiger Generalsekretär hätte den USA die Leviten gelesen»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Zeitgeschehen im Fokus Was halten Sie vom Paper «A New Agenda for Peace», das Uno-Generalsekretär António Guterres im Juli veröffentlicht hat?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Dabei handelt es sich um das neunte Papier in einer Serie «Our Common Agenda», die 11 Papiere umfassen wird.¹ Die «Policy Papers» gehen auf einen Bericht des Generalsekretärs an die Uno-Generalversammlung vom Jahr 2020 und auf die Resolution 76/307 vom 8. September 2022 zurück.² Die Generalversammlung gab dem Generalsekretär einen Auftrag, den sogenannten «Summit of the Future» 2024 mit bestimmten Untersuchungen voranzutreiben. Die Papiere sollen «action-oriented» sein und konkrete Vorschläge formulieren, unter anderem auch über eine Reform des Sicherheitsrates. Diesem 37-seitigen Papier³ gingen acht andere voraus. Man hätte vielleicht etwas aus dem früheren Papier «Agenda for Peace» (1992) vom damaligem Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali4 lernen können, mit seinem Schwerpunkt auf präventiver Diplomatie und seinem Eintreten für die «Post-Konflikt-Friedenskonsolidierung», die er als «Massnahmen zur Identifizierung und Unterstützung von Strukturen definierte, die dazu dienen, den Frieden zu stärken und zu festigen, um einen Rückfall in einen Konflikt zu vermeiden.»

Leider haben die Guterres Papiere kaum einen «added value» und bringen kaum durchdachte Impulse, um die Weltprobleme zu lösen wie die Aufrüstung, Kriegs-propaganda, Kriege, Terrorismus, Pandemien und Klimawandel etc. Die Papiere sind nicht faktisch falsch, sondern stellen ein Sammelsurium von bekannten Ideen dar, alle im gewohnten politisch-korrekten Narrativ, das im Grossen und Ganzen der Agenda von Washington und Brüssel dient.

Was wirklich wichtig ist, wird nicht erwähnt, nicht diskutiert. Das ist der Elefant im Raum: die Kriegstreiberei des Westens und die Verweigerung des Westens, Verhandlungen ernst zu nehmen, Mediation zu suchen, Art. 2(3) der Uno-Charta zu respektieren, um so in einem respektvollen Dialog für ideologische Differenzen tragbare Kompromisse zu finden. Auch die verheerenden Folgen der US- und EU-«Sanktionspolitik» bleiben unerwähnt. Qui tacet consentire videtur. Das Schweigen kann als Zustimmung interpretiert werden. Das Schweigen impliziert, dass der Generalsekretär nichts gegen die US-Zwangsmassnahmen zu sagen hat.

Die Papiere beschäftigen sich mit sekundären Angelegenheiten und behalten dabei die Hauptgefahren unter dem Deckel. Bereits die Reihenfolge sagt einiges über «Our Common Agenda». Eigentlich hätte man mit «A New Agenda for Peace» beginnen müssen, denn der Frieden, die Prävention des Kriegs, die diplomatische Lösung von Konflikten sind zweifelsohne die Prioritäten der Uno, gemäss ihrer Charta, die eine Art Weltkonstitution darstellt. Ohne Frieden ist der geplante «Summit for the Future» zwecklos.

Könnte man von António Guterres mehr erwarten?

Dieser Generalsekretär kommt aus Portugal, ist ein ehemaliger Premierminister (1995 – 2002), gehört also zur westlichen «Elite». Seine Politik hat bisher gezeigt, dass er am liebsten in der Gesellschaft der westlichen Eliten bleibt, genauso wie die Mehrheit seiner Vorgänger. Ein unabhängiger Generalsekretär hätte klaren Wein eingeschenkt und zum Beispiel den USA die Leviten gelesen – wegen Vietnam, Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, Georgien, Iran, Venezuela und jetzt der Ukraine. Es ist leicht zu belegen, dass US- und Nato-Provokationen eine grobe Verletzung der Uno-Charta darstellen, nämlich von Artikel 2(4), der die Bedrohung verbietet – dies gilt auch für ständige Eskalationen der Nato gegen Belarus, Russland, Iran und China. Hinzu kommt die Dämonisierung dieser Staaten, ihrer Behörden und sogar ihrer Sportler und Musiker durch die westlichen regierungshörigen Medien, was Anstachelung zu Hass und Gewalt darstellt.  Das ist eine grobe Verletzung des Artikels 20 des Uno-Paktes über bürgerliche und politische Rechte. In der Tat stellen US- und Nato-Aggressionen eine Bedrohung des Weltfriedens im Sinne des Artikels 39 der Uno-Charta dar. Aber wen kümmert das? Ein mutiger Generalsekretär müsste deutlich sagen, dass die Nato dem Sicherheitsrat untergeordnet ist, und dass die Nato nichts  unternehmen darf, was gegen den Willen des Sicherheitsrates ist. Die wiederholten Alleingänge, Aggressionen und Kriegsverbrechen der Nato in Jugoslawien, Afghanistan, Irak und so weiter bedeuten, dass die Nato als «kriminelle Organisation» im Sinne des Urteils der Nürnberger Prozesse betrachtet werden kann. 

Da Guterres und sein Team absolut keinen Mut haben, das zentrale Thema beim Namen zu nennen, flüchten sie sich in nutzlose «Papers» über eine sogenannte Agenda für den Frieden. Es ist Augenwischerei, «Window-dressing».

In den gefährlichen Zeiten, die wir heute erleben, brauchen wir einen Generalsekretär wie Kofi Annan, der den Mut zeigte, die US-Aggression gegen den Irak 2003 als einen «illegalen Krieg»5 zu bezeichnen, wofür er dann auch später bezahlen musste und unter Mobbing durch George W. Bush und Tony Blair zu leiden hatte. 

Sie haben sechs Jahre lang als Unabhängiger Uno-Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung immer wieder Vorschläge für ein friedliches Zusammenleben gemacht. Hat der Generalsekretär etwas davon aufgegriffen?

Nicht dass ich wüsste, obwohl ich während meiner sechs Jahre als Sonderberichterstatter (2012 bis 2018) sowohl ihm als auch seinem Vorgänger, Ban Ki-Moon, meine eigenen Exposees und Vorschläge unterbreitet habe. Ich bat sogar um Audienz, aber niemals hatten die Generalsekretäre Zeit, ihre Haupt-Assistenten auch nicht. Man will nur jene Experten empfangen, die das sagen, was man hören will, beziehungsweise eine Rechtfertigung für die Position der USA und der EU liefern.

Gibt es Empfehlungen, die Guterres den Staaten unterbreitet, die brauchbar sind?

Ja, die gibt es, aber es sind wenige. Auf der Seite 19 zum Beispiel, über die Notwendigkeit der Förderung aller Menschenrechte heisst es: «Im Einklang mit meinem Aufruf, die Menschenrechte durch konkretes Handeln umzusetzen, sollen die Staaten sicherstellen, dass die Menschenrechte in ihrer Gesamtheit – wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie bürgerliche und politische Rechte – im Mittelpunkt der nationalen Präventionsstrategien stehen, da die Menschenrechte von entscheidender Bedeutung sind, um die Bedingungen für die Eingliederung zu gewährleisten und vor Marginalisierung und Diskriminierung zu schützen, um so Missstände zu verhindern, bevor sie entstehen.»

Wie äussert er sich zum aktuellen Krieg in der Ukraine?

In diesem Paper wird der Ukraine-Krieg als eine Verletzung der Uno-Charta einmal erwähnt.  Aber man liest absolut nichts über die Vorgeschichte, den Euro-Maidan und den Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten aller Ukrainer, Viktor Janukowitsch, nichts über Minsk I und Minsk II, über das Massaker von Odessa, OSZE-Berichte über laufende ukrainische Angriffe gegen die Zivilbevölkerung in Donezk und Lugansk, und zwar seit 2014, nichts über die Nato-Ausdehnung und die ständige Aufrüstung der Ukraine, nichts über die US-Biolabore, die in der Ukraine seit 2014 betrieben werden,⁶ und so weiter. Auch die Verbrechen auf beiden Seiten seit dem 24. Februar 2022 werden nicht erwähnt. Vergeblich suchte man zum Beispiel nach der Sprengung der Nordstream Pipelines7 und der Nicht-Einhaltung des Schwarzmeer Kompromisses.

Sinnvoller wäre es gewesen, die konkreten Vorschläge für einen Frieden, die von Papst Franziskus, dem Präsidenten Mexicos, dem Präsidenten Brasiliens, den afrikanischen Präsidenten, dem 12-Punkt Plan Chinas ausgingen, einer gründlichen Analyse zu unterziehen. Auch die Friedenspläne bzw. «Blueprints for Peace» von nordischen Juristen,8 von der Internationalen Progress Organisation (IPO),⁹ vom International Peace Bureau10 wären nützlich. Sie werden aber totgeschwiegen.

Schenkt er auch den Konflikten in anderen Regionen Beachtung?

Nein. Kein Wort über Gaza und die illegale Blockade durch Israel, die zu einer humanitären Krise geführt hat, kein Wort über den Krieg in Syrien und über die ständigen israelischen Aggressionen, über die Annexion der Golan-Höhen, über die Drohnen-Angriffe auf Damaskus, nichts über die kriminellen Bombardierungen des Jemen durch Saudi-Arabien, nichts über die Aggression Aserbaidschans gegen die arme Bevölkerung Nagorno Karabachs, die bereits den Völkermord Osmans oder Cemals kaum überlebt haben.11

Inwieweit geht er auf die globale Machtverschiebung ein?

Bereits auf Seite 3 erkennt Guterres, dass die «world order is shifting» (die Weltordnung verschiebt sich). Es wäre gut, wenn das Papier die Implikationen des desperaten Versuchs der USA, die «Unipolare» Hegemonie aufrechtzuerhalten, ausgearbeitet hätte. Es ist genau dieser Versuch und die absurden «unilateral coercive measures» (einseitigen Zwangsmassnahmen) der USA gegen Russland, Belarus, Syrien, Iran, Kuba, Nicaragua, Venezuela, usw., die diese globale Machtverschiebung beschleunigen. Die De-Dollarisierung des internationalen Handels ist bereits im Gange.12

Sieht er in dieser Entwicklung eine Chance für mehr Frieden?

Das «Papier» scheitert, weil es die Ursachen von Kriegen nicht beim Namen nennt. Als ich das Papier las, dachte ich auf jeder Seite, «nun ist ein Aber fällig» – aber es kam nicht. Das Papier nimmt die Meinungen der «Global Majority» in Lateinamerika, Afrika und Asien nicht auf.

Warnt er auch vor einer möglichen militärischen Auseinandersetzung, die vor allem von der «einzigen Weltmacht» ausgeht, die den Verlust ihrer Position verhindern will?

Die USA und Nato werden geschont. Auch keine Erwähnung der Warnungen durch Professor Jeffrey Sachs, Professor John Mearsheimer, Prof. Richard Falk, Prof. Dan Kovalik, Seymour Hersh, die alle auf einen möglichen Krieg mit Nuklearwaffen hinweisen.

Gibt er keine Empfehlungen, um diesen Fall zu verhindern?

Keine konkreten Empfehlungen. Allenfalls wird allgemein auf die Gefahr hingewiesen. «Während des Kalten Krieges trugen Mechanismen der Vertrauensbildung und des Krisenmanagements dazu bei, direkte Konfrontationen zwischen den Grossmächten und damit einen dritten Weltkrieg und eine nukleare Katastrophe zu verhindern. Diese Strukturen haben sich jedoch in den letzten zehn Jahren verschlechtert und nicht mit dem sich verändernden geopolitischen Umfeld Schritt gehalten. Wir brauchen dauerhafte und durchsetzbare Regeln, insbesondere zwischen den Atommächten, damit wir gegen Unvorhergesehenes gewappnet sind, was eine Eskalation auslösen könnte.» Seine Empfehlungen auf Seite 15 bringen nichts Neues: «Um ein wirksameres multilaterales Vorgehen für den Frieden zu erreichen, werden den Mitgliedsstaaten die folgenden Empfehlungen zur Prüfung vorgelegt.

Abschaffung von Atomwaffen,

Stärkung vorausschauender Diplomatie in einer Zeit der Spaltungen,

Umstellung des Paradigmas der Prävention und der Erhaltung des Friedens unter den Ländern,

Beschleunigung der Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, um die Ursachen von Gewalt und Unsicherheit zu bekämpfen,

Veränderung der geschlechtsspezifischen Machtdynamik in Frieden und Sicherheit,

Thematisierung der Zusammenhänge zwischen Klima, Frieden und Sicherheit,

Verringerung der menschlichen Opfer durch Waffen,

Stärkung von Friedenseinsätzen und Partnerschaften,

Friedenserzwingung angehen

Unterstützung der Afrikanischen Union und subregionaler friedensunterstützender Operationen,

Verhinderung der Bewaffnung mit neuen Technologien sowie Förderung verantwortungsvoller Innovationen,

Aufbau eines stärkeren kollektiven Sicherheitsapparates.»

Auf Seite 29 artikuliert Guterres seine Sorgen über biologische und chemische Waffen und empfiehlt:

«Die Identifizierung neu auftretender und sich entwickelnder biologischer Risiken; Verstärkung der Antizipation, der Koordinierung und der Vorbereitung auf solche Risiken, unabhängig davon, ob sie durch natürliche, unfallbedingte oder vorsätzliche Freisetzung biologischer Agenzien verursacht werden, und Zusammenarbeit mit dem System der Uno, um Optionen für eine verstärkte Prävention und Reaktion bereitzustellen. Entwicklung von Massnahmen zur Bewältigung der Risiken, die mit der im militärischen Bereich eingesetzten Biotechnologie und den Technologien zur Verbesserung der menschlichen Fähigkeiten verbunden sind. Zu diesem Zweck (I) Festlegung von Normen, Regeln und Grundsätzen für ein verantwortungsbewusstes Verhalten bei der militärischen Nutzung von Human Enhancement- und Degradationstechnologien, einschliesslich der Erhöhung der Transparenz bei der Verteidigungsplanung und -praxis, und die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren bei der Festlegung von Leitlinien und Strategien für eine verantwortungsvolle Forschung; (II) für die Vertragsstaaten des Übereinkommens über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von chemischen Waffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen (Biologiewaffenübereinkommen) und des Übereinkommens über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen (Chemiewaffenübereinkommen) die möglichen Auswirkungen von Fortschritten in der Neurobiologie und verwandten konvergierenden Technologien auf die jeweiligen Regelwerke zu untersuchen.»

Inwiefern erwähnt er den überheblichen Umgang des Westens mit den Staaten des globalen Südens, was immer mehr Konfliktpotential beinhaltet?

Das wird totgeschwiegen. Kein Wort darüber ist im Paper zu finden, denn Guterres ist selber ein Teil des westlichen Systems. Er hätte zum Beispiel auf die Resolution des Menschenrechtsrates 48/7 über Kolonialismus und Neokolonialismus eingehen können.13 Nichts davon.

Keine Aussage ist auch eine Aussage. Gibt es neben den von Ihnen erwähnten Aspekten noch etwas Positives in diesem Papier?

Ja, es ist wenig, aber man sollte es doch zur Kenntnis nehmen. Guterres weist auf die Notwendigkeit der «Verhinderung von Konflikten im Weltraum. Ein grosses Risiko für die Sicherheit besteht im Weltraum als ein Feld möglicher militärischer Konfrontation. […] Empfehlungen: Über die zuständigen Abrüstungsgremien der Uno und mit grösstmöglicher Akzeptanz internationaler Normen, Regeln und Grundsätzen zur Bewältigung von Bedrohungen für Weltraumsysteme entwickeln und auf dieser Grundlage Verhandlungen über einen Vertrag zur Gewährleistung von Frieden, Sicherheit und zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum einzuleiten.»

Annex II des Papiers bringt die 17 Ziele der Entwicklung  «Sustainable Development Goals» genannt, aber Guterres sagt nicht das Offensichtliche. Es ist inzwischen klar, dass das Ziel 2030 unerreichbar ist, denn die Staaten haben ihre Militärausgaben nicht verringert, sondern enorm erhöht. Da ist kein Geld mehr für Entwicklung. Dies hätte Guterres deutlich sagen müssen.

Thematisiert er die Problematik der Waffen mit «künstlicher Intelligenz», die eine grosse Gefahr für die Menschheit darstellen?

Auf Seite 27 erwähnt er diese Problematik, und verlangt:

«Verbot tödlicher autonomer Waffensysteme. Denn völlig autonome Waffensysteme haben das Potenzial, die Kriegsführung erheblich zu verändern und können den bestehenden Rechtsrahmen belasten oder sogar aushöhlen. In Ermangelung spezifischer multilateraler Regelungen werfen Design, Entwicklung und Einsatz dieser Systeme humanitäre, rechtliche, sicherheitspolitische und ethische Bedenken auf und stellen eine direkte Bedrohung der Menschenrechte und Grundfreiheiten dar. Maschinen, die die Macht und den Ermessensspielraum haben, ohne menschliches Zutun Leben zu nehmen, sind moralisch verwerflich und politisch inakzeptabel und sollten durch internationales Recht verboten werden. Empfehlungen – aufbauend auf den in multilateralen Verhandlungen erzielten Fortschritten – sollten bis 2026 ein rechtsverbindliches Instrument zum Verbot tödlicher autonomer Waffensysteme, die ohne menschliche Kontrolle oder Aufsicht funktionieren und nicht im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht eingesetzt werden können, sowie die Regulierung aller anderen Arten autonomer Waffensysteme abgeschlossen werden.»

Welche Bedeutung gibt er der Bildung, der Friedenserziehung, die eine entscheidende Bedeutung für die Entstehung eines friedlichen Zusammenlebens der Völker hat?  

Kein Wort über Erziehung zum Frieden, keine Erwähnung meines eigenen Vorschlages, einen «Global Compact for Education for Peace»14 zu lancieren. Keine Erwähnung der Rolle der Unesco oder ihrer Deklaration über eine Kultur des Friedens.15 Im Text wird eine Zusammenarbeit mit der Unesco vorgeschlagen, ein «Action Plan» um den Frieden als Menschenrecht anzuerkennen. Nichts davon. Keine Erwähnung der Internationalen Arbeits-Organisation (ILO), deren Motto lautet «si vis pacem, cole justitiam», wenn wir Frieden wollen, müssen wir Gerechtigkeit fördern. 

Ein fehlender Plan, wie ein friedliches Zusammenleben von Grund auf gefördert werden könnte, scheint eine grosse Schwachstelle in diesem Paper zu sein?

Es gibt viele Schwachstellen – und zudem die enormen Lücken – die Themen, die zentral für den Frieden sind, werden mit keinem Wort angesprochen, zum Beispiel die fatale kriegerische Propaganda, die die USA und Europa seit Jahrzehnten betreiben. Nirgends wird es erwähnt, dass Artikel 20 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte expressis verbis solche Propaganda verbietet. Es ist nicht zu begreifen, dass bis heute die USA und die meisten westlichen Staaten diesen Artikel nicht ratifiziert haben. Im Gegenteil, viele haben sogar einen «Vorbehalt» gegen diesen Artikel formuliert, um daran nicht gebunden zu sein und so ihre Kriegstreiberei und Dämonisierung geopolitischer Gegner fortsetzen zu können.

Was denken Sie, könnte sich aufgrund der lückenhaften Darstellung negativ auswirken?

Die Empfehlungen auf Seite 25 sind kontraproduktiv. So zum Beispiel: «Der Sicherheitsrat sollte eine multinationale Armee genehmigen oder Durchsetzungsmassnahmen regionaler und subregionaler Organisationen gestatten».

Danach könnten die USA ihre Hauptaufgabe gewissermassen «outsourcen» bzw. Nato oder Ecowas erlauben, Gewalt anzuwenden. Natürlich kann das wegen der sicheren Vetostimmen Russlands und Chinas unmöglich geschehen. Darum hätte diese Möglichkeit nicht in diesem Papier erwähnt werden sollen. Sie ist verwirrend, ein «no-starter» bzw. «no-brainer».

Welche Empfehlung würden Sie António Guterres geben?

Seine Assistenten und sein Berater-Team könnten natürlich meine «Menschenrechts-Trilogie»16 studieren und die sich darin befindenden konkreten, pragmatischen Vorschläge prüfen und berücksichtigen. Aber da er nicht einmal die Vorschläge von grösseren Geistern beachtet wie zum Beispiel von Professor Jeffrey Sachs17 (Berater für die Entwicklung von drei Generalsekretären, insbesondere für die Sustainable Development Goals), Professor Richard Falk18 (ehemaliger Sonderberichterstatter für Palästina), Dr. Hans Christof Graf von Sponeck19 (ehemaliger Asssistant-Secretary General und Chef für humanitäre Fragen in Irak), Dr. José Bustani (ehemaliger Direktor von der Organisation für die Prohibition der Chemischen Waffen, OPCW) – Was kann meine Wenigkeit dazu beitragen? Ich würde António Guterres vor allem meine «25 Principles of International Order»,20 das zweite Kapitel meines Buches «Building a Just World Order»,21 auch Kapitel 3 desselben Buches über «Peace as a Human Right» – Frieden als Menschenrecht – empfehlen.

Summa summarum – das Guterres-Papier enthält die zu erwartende Menge an politisch korrekten Bla Blas, es ist kein «Blueprint for Peace» – weder für die Ukraine noch für andere Teile der Welt. Es ist erstaunlich, dass Begriffe wie «Unilaterale Zwangsmassnahmen», Embargo, Deeskalieren, Unilateralismus, einseitige Blockade oder gar die Nato nicht darin erwähnt werden, obwohl es viele einschlägige Resolutionen der Generalversammlung und des Menschenrechtsrates gibt.22 Damit hat Guterres die Chance verpasst, eine brauchbare Friedensbotschaft zu überbringen, einen Aufruf zum Waffenstillstand, zur Mediation, etwas, was vornehmlich der Menschheit anstatt den USA und der Nato dienen sollte. Wenn der 2024 «Summit für die Zukunft» jemals stattfindet, muss der Generalsekretär mehr Mut beweisen, präventive Massnahmen auf den Tisch zu bringen, und nicht immer «zu spät» kommen, mit Worten und kleinen Band-Aids (Pflästerchen) auf die Wunden der leidenden Menschheit. Die globale Mehrheit verlangt Frieden. Man hätte das ganze Papier im Sinne der Unesco orientieren sollen. So heisst es in der Präambel der Unesco Verfassung:23 «Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden.»

Genau darum geht es!

Herr Professor de Zayas, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ ourfutureagenda.org/2021/09/our-common-agenda/
  www.un.org/en/content/common-agenda-report/
press.un.org/en/2023/sgsm21718.doc.htm
2 documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N22/587/47/PDF/N2258747.pdf?OpenElement

Siehe auch: www.un.org/en/common-agenda/policy-briefs
Das erste Papier ging um die Jugend und ist im März 2023 erschienen. www.un.org/sites/un2.un.org/files/our-common-agenda-policy-brief-future-generations-en.pdf
das zweite Papier behandelte «Global Shocks» und ist ebenfalls im März erschienen

www.un.org/sites/un2.un.org/files/our-common-agenda-policy-brief-emergency-platform-en.pdf
Policy Brief 5 über die digitale Medien kam im Mai, www.un.org/sites/un2.un.org/files/our-common-agenda-policy-brief-gobal-digi-compact-en.pdf
³ www.un.org/sites/un2.un.org/files/our-common-agenda-policy-brief-new-agenda-for-peace-en.pdf
4 digitallibrary.un.org/record/145749
5 www.nytimes.com/2004/09/16/international/annan-says-iraq-war-was-illegal.html
www.globaltimes.cn/page/202203/1254661.shtmlhttps://thehill.com/policy/international/3703558-russia-calls-for-un-security-council-probe-of-alleged-biological-labs-in-ukraine/
Siehe auch das Interview von Robert F. Kennedy Jr. With Tucker Carlson am 15. August 2023, wo er das US-Bio-Waffenprogramm erläutert. www.bizpacreview.com/2023/08/15/tucker-sits-down-with-rfk-jr-for-talk-on-ukraine-bio-labs-and-who-killed-his-uncle-in-episode-16-1386822/
7 seymourhersh.substack.com/p/how-america-took-out-the-nord-stream
8 www.transcend.org/tms/2022/05/a-nordic-initiative-for-peace-in-ukraine-and-lasting-world-peace/
i-p-o.org/Koechler-PEACE-UKRAINE-10March2022.pdf
10 www.ipb.org/peace-agenda-for-ukraine-and-the-world/
11 Alfred de Zayas, The Genocide against the Armenians and the Relevance of the 1948 Convention. Haigazian University Press, Beirut, Lebanon 2010.

12 www.globalresearch.ca/de-dollarization-death-knell-us-hegemony/5815092
https://www.counterpunch.org/2022/04/01/the-end-of-dollar-hegemony/
13 https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G21/286/52/PDF/G2128652.pdf?OpenElement
14 Alfred de Zayas, The Human Rights Industry, Clarity Press, Atlanta, 2023, S. 254, 261.
15 https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000113537
https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000126398
16 www.claritypress.com/book-author/alfred-de-zayas/
17 www.jeffsachs.org/interviewsandmedia/9n7cxl62rg2b9s2w85xz2nllcztzz8
18 www.richardfalk.org/category/peace-through-diplomacy/
19 www.international.or.at/wp-content/uploads/2022/05/Hand-Sponeck-Mehr-Kriegsmaterial-bedeutet-mehr-Opfer.pdf
20 www.ohchr.org/sites/default/files/documents/issues/intorder/peacesecurity/2022-09-01/submission-international-peace-security-hrc51-cs-alfred-de-zayas.pdf
21 www.claritypress.com/product/building-a-just-world-order/
22 www.undocs.org/Home/Mobile?FinalSymbol=A%2FRES%2F77%2F214&Language=E&DeviceType=Desktop&LangRequested=False
23 www.unesco.de/mediathek/dokumente/verfassung-der-organisation-fuer-bildung-wissenschaft-und-kultur

veröffentlicht 22.August 2023

Fair Trade Olivenöl aus Palästina – dem Unrecht entgegenwirken 

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Die militärische Besatzung und der völkerrechtswidrige Siedlungsausbau treiben palästinensische Kleinbauernfamilien in der West Bank in den Ruin. Mit der neuen israelischen Regierung hat sich die Situation noch verschärft. Um diesem Unrecht entgegenzuwirken und die Bauernfamilien in ihrer Existenz zu unterstützen, verkauft die Kampagne Olivenöl aus Palästina Öl und Za‘tar in der Schweiz. Sie wurde 2002 von Juden, Palästinensern und anderen in der Schweiz als Verein gegründet. Dabei arbeitet sie mit der landwirtschaftlichen Organisation PARC/Al-Reef¹ in Ramallah zusammen. Zwei junge Mitarbeiterinnen der PARC/Al-Reef sind vom 31. August bis zum 10. September (siehe unten) in der Schweiz und werden über die aktuelle Situation im Besetzten Palästinensischen Gebiet berichten.

Die kleinbäuerlichen Genossenschaften produzieren ihr Öl unter schwierigen Bedingungen. So zum Beispiel im Dorf Kufr Qaduum im Norden der West Bank. Die Genossenschaft produziert biologisches Olivenöl, biologischen Dünger und Getreide. Der Zugang zu ihrem Land wird durch die israelische Besatzung und die völkerrechtswidrigen Siedlungen erschwert und die Wasserzufuhr für die Landwirtschaft immer wieder willkürlich gekappt. Seit langem hat Israel eine wichtige Strasse für die Landwirtschaft hinter dem Dorf gesperrt, mit dem Argument, es diene der Sicherheit der nahen israelischen Siedlung. Um auf das Land zu gelangen, muss ein Umweg von mehreren Kilometern in Kauf genommen werden. Dagegen protestiert das Dorf seit 2011 jeden Freitag, und es kommt zu Auseinandersetzungen mit dem israelischen Militär, das auch scharfe Munition einsetzt.

Über die aktuelle Lage in der West Bank und über die Situation der Landwirtschafts-Genossenschaften, mit denen PARC/Al-Reef zusammenarbeitet, werden ihre beiden Mitarbeiterinnen bei ihrem Besuch in der Schweiz berichten. Diana Sarhan, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit, schreibt über ihre Arbeit: «Überzeugt von den Grundsätzen des fairen Handels bemühen wir uns, diese in unserer Arbeit mit palästinensischen Kleinbauern und Frauen umzusetzen. Ich freue mich persönlich sehr über die Auswirkungen der Arbeit von Al-Reef und PARC auf die ländliche Entwicklung und die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der palästinensischen Bauern und bin stolz auf meine Rolle bei dieser Arbeit.» Hala Hamza, zuständig für internationale Beziehungen, schreibt: «Hier zu arbeiten ist nicht nur ein Job. Ich glaube, dass es unsere Aufgabe in der Abteilung für fairen Handel und internationale Beziehungen und als Palästinenser ist im Lichte der Vision und Mission von Al-Reef und PARC das Bewusstsein für die palästinensische Situation unter der rücksichtslosen israelischen Besatzung zu schärfen.»

Die Kampagne Olivenöl aus Palästina betreibt nicht nur einen fairen Handel mit den palästinensischen bäuerlichen Genossenschaften. Der Gewinn wird zur Unterstützung von humanitären Projekten im Gazastreifen, in der West Bank und im Libanon eingesetzt. 

¹ Al Reef ist die Vermarktungsorganisation der Palestinian Agricultural Relief Committees (PARC)

 

Palästina: Fair Trade unter Besatzung

Zwei Mitarbeiterinnen der palästinensischen Fair Trade-Organisation Al Reef sind Anfang September in der Schweiz und berichten über ihre Arbeit und die Situation der Bauerngenossenschaften sowie der palästinensischen Bevölkerung in der Westbank. 

Olivenernte ist Handarbeit (Bild hhg)

Zürich: Sonntag, 3. September 2023, 17.00 – 19.00 Uhr 

Quartierzentrum Bäckeranlage, Hohlstrasse 67

Vortrag und Diskussion auf Englisch, bei Bedarf mit ­Flüsterübersetzung Deutsch

 

Genf: Dienstag, 5. September 2023, 18.30 – 20.30 Uhr

L’Olivier – Institut des cultures arabes et méditerranéennes, Librairie arabe l’Olivier, 

Rue de Fribourg 5

Vortrag und Diskussion auf Englisch

 

Basel: Mittwoch, 6. September 2023, 19.15 – 21.00 Uhr

Restaurant Rheinfelderhof, Hammerstrasse 61, 6er-Tramhaltestelle Clarastrasse

Vortrag und Diskussion auf Englisch, bei Bedarf mit ­Flüsterübersetzung Deutsch

 

Luzern: Freitag, 8. September 2023, 19.30 Uhr, Pfarreizentrum Barfüesser, Cafeteria, Winkelried­strasse 5

Vortrag und Diskussion auf Englisch, bei Bedarf mit ­Flüsterübersetzung Deutsch

 

 

Die Liberalisierung von Drogen überdenken

von Dr. phil. Alfred Burger, Erziehungswissenschafter

Am 2.  August 2023 erschien in der «NZZ» ein Artikel mit der Überschrift: «Sie liegen wie tote Tiere in den Büschen». Er beschreibt die Situation mit der Droge Fentanyl in den USA, hier in San Francisco. Der Artikel von Marie-Astrid Langer sollte Anlass sein, die Theorie der Liberalisierung zu überdenken, wie sie in der Schweiz seit längerem praktiziert wird und nach dem Willen unserer sogenannten Drogenfachleute noch weiter ausgebaut werden soll.

In letzter Zeit kommen vermehrt beunruhigende Nachrichten aus den USA über die sich immer weiter ausbreitende Fentanylsucht unter vorwiegend jungen Menschen. Es sollen jährlich über 100 000 Menschen an einer Überdosis dieser Droge sterben. Fentanyl ist ein sehr starkes, synthetisch hergestelltes Opiat, das fünfzigmal stärker als Heroin wirkt. Bereits zwei Milligramm können zum Tod führen. In den USA fand diese Droge schnell eine grosse Verbreitung, weil schon viele aufgrund  der weit verbreiteten Abgabe  opiathaltiger Schmerzmittel durch Ärzte süchtig waren. Auch in Europa und in der Schweiz beginnt sich die Droge langsam zu verbreiten. 

Mit Haschisch begonnen – an Fentanyl gestorben

San Francisco steht als Beispiel für viele Grossstädte in den USA, die alle unter Drogenproblemen leiden. Im Artikel kommt eine Mutter zu Wort, die ihren Sohn an die Fentanylszene verloren hat. Er habe mit Haschisch begonnen, sei dann auf härtere Drogen umgestiegen und eines Tages hätte ihm der Dealer Fentanyl untergemischt. 

Aus der Sicht der Kartelle ist diese Droge ideal; man kann sie in Laboren herstellen, und man ist nicht mehr von Ernteausfällen abhängig, wie z. B. bei Heroin und Kokain. Täglich würden Zehntausende von Lastwagen über die mexikanische Grenze in die USA fahren und Fentanyl in das Land hineinschmuggeln. Die Gewinnmarge sei hundert Mal so hoch wie bei Heroin. Der Rausch hält nur kurz an, weshalb die Droge pro Tag fünf- bis sechsmal konsumiert werde, was grossen Profit ermögliche, auch wenn viele Konsumenten sterben. Ein Dealer äussert sich: «Wenn jemand häufiger eine viel profitablere Droge konsumiert, dann ist es mir als Dealer egal, ob er nach sechs Monaten tot ist. Bis dahin habe ich an ihm mehr verdient als an einem Heroinabhängigen in zehn Jahren. Und neue Kunden kommen ständig nach.» 

Fetanylepidemie und liberale Drogenpolitik

Die Verbreitung von Fentanyl wird in San Francisco besonders begünstigt, weil die Stadt eine sehr liberale Politik gegenüber den Drogen fährt. Obdachlose Drogensüchtige erhalten grosszügige Sozialleistungen, jeden Monat 700 Dollar, Kleider und Essen. Ausserdem werden Diebstähle, die Süchtige begehen, um ihren Drogenkonsum zu bestreiten – sie gelten als Ordnungswidrigkeit, wenn das Diebesgut weniger als 1000 Dollar wert ist – nicht geahndet. Auch Dealer haben von der Polizei nichts zu befürchten, sie werden sehr selten verurteilt. Offensichtlich laufen der Stadt angesichts dieser Situation die Beamten davon: Es seien im Moment über 500 Stellen bei der Polizei unbesetzt, so der Artikel.

Die Verantwortlichen in der Stadt wollen dem Problem mit «harm reduction» begegnen, das heisst mit Schadensbegrenzung wie mit der Verteilung von sauberen Nadeln, Errichtung von Konsumstellen und mit dem Bau von Sozialwohnungen für die Süchtigen usw. Wir kennen dieses Vorgehen gut aus der Schweiz. Betroffene Einwohner in San Francisco finden den Ansatz falsch, «das Verbot des Konsums illegaler Substanzen nicht durchzusetzen». Die Autorin fragt sich, ob es angesichts des Ausmasses der Fentanylepidemie  diese linke Hochburg mit der Toleranz nicht zu weit getrieben habe, besonders, weil die Droge immer jüngere Opfer finde. So sei eine 14-Jährige gestorben, weil sie einen mit Fentanyl angereicherten Joint geraucht habe. Dealer vertreiben den Stoff über soziale Medien wie Instagram, Snapchat usw., getarnt als Schmerzmittel oder Antidepressiva.

«Sucht ist eine seelische und vor allem eine körperliche Abhängigkeit, die nach immer mehr ruft»

Die Liberalisierer in den USA wie auch in der Schweiz sind gegen das Verbot von Drogen angetreten mit dem auf den ersten Blick viele Menschen überzeugenden Argument, man könne den Drogenkartellen mit der durch den Staat kontrollierten schrittweisen Abgabe von Drogen das Wasser abgraben. Sie begannen damit, die Drogen zu verharmlosen, mit Slogans wie «Konsumiere keine Drogen, wenn es dir schlecht geht», oder schlimmer als Haschisch sei der Alkohol, neben Drogensucht gebe es auch «Schoggisucht», Haschisch sei keine Einstiegsdroge und anderem Unsinn zuhauf. Drogenberatungsstellen propagierten den «verantwortungsvollen Umgang mit Drogen», Fixerstüblis wurden eingerichtet, in letzter Zeit wurden «Pilotprojekte» auf den Weg gebracht, um kontrolliert Haschisch abzugeben und anderes mehr, was bei vielen Menschen, vor allem bei Jugendlichen, zum Eindruck geführt hat, Drogen seien ein mehr oder weniger normales Konsumprodukt, das man gefahrlos ausprobieren könne. Dabei liegt es in der Natur jeder Sucht, dass der Süchtige immer mehr und immer stärker wirkende Substanzen will und sucht. Sucht ist eine seelische und vor allem eine körperliche Abhängigkeit, die nach immer mehr ruft. 

Es ist darum ein Irrglaube, zu denken, durch Liberalisierung könne man der Mafia das Geschäft vermiesen. Im Gegenteil: Die Kartelle reiben sich die Hände. Liberalisierung bedeutet mehr Absatz, mehr Konsum: Überall, wo man z. B. Haschisch freigegeben hat, ist der Konsum gestiegen. Drogenkartelle, wie das Beispiel mit Fentanyl zeigt, werfen stärker wirkende synthetische Produkte auf den Markt, sobald ein Staat mit der Liberalisierung von schwächer wirkenden Drogen liebäugelt. So haben die Kartelle zur Verstärkung der Wirkung von Fentanyl ein schon länger bekanntes Produkt in der Szene von New York verbreitet: Desomorphin, auch «Krokodil» oder «Croc» genannt. Es führt zu schweren Gewebeschäden. 

Wer sich als Staat mit den Kartellen einlässt, ist auf verlorenem Posten und läuft Gefahr, selbst die Grenze zur Kriminalität zu überschreiten. Wie obiges Zitat des Dealers zeigt, gehen die Kartelle gewissenlos vor. 

Drogen ächten und verbieten – die Jugend sachlich aufklären

Das Beispiel Fentanyl zeigt es: Mit Liberalisierung kann dem Drogenproblem nicht begegnet werden, im Gegenteil. Drogen müssen verboten und geächtet bleiben, jedes Kind muss wissen, dass Drogen gefährlich sind und man von allen Drogen die Finger lassen muss. Ein Verbot hat eine grosse Wirkung und führt nicht zu vermehrter Übertretung, wie man es uns hat weismachen wollen. Kaum ein Automobilist übertritt die Höchstgeschwindigkeit, weil es verboten ist. Geschwindigkeitsexzesse werden darum auch hart bestraft. Weshalb beschreitet man bei den Drogen einen anderen Weg? In den USA sterben mehr Menschen an Drogen als im Strassenverkehr. Statt Drogen zu verharmlosen, wie es «Drogenfachleute» seit Jahren überall auf der Welt tun, muss man die Jugend sachlich aufklären, worauf sie sich einlassen, wenn sie Drogen probieren. Ihnen sachlich aufzeigen – ohne moralischen Zeigefinger –, was für schreckliche Folgen Drogen haben.  Warum stehen auf jedem Zigarettenpaket Warnungen, warum liest man keine dementsprechenden Warnungen über Haschisch und andere Drogen? 

Eltern müssen ihre Kinder vor negativen staatlichen Einflüssen schützen

Grundsätzlich müsste man die Frage diskutieren, was wir eigentlich mit unserer Jugend anstellen. Wir überlassen unsere Kinder Leuten, die Drogen verharmlosen, wir laden sie sogar in die Schulen ein, wo sie ihre Propaganda verbreiten können. Wir überlassen sie einer Medienmafia, die ihre erwiesenermassen schädlichen Produkte wie Ballerspiele, absichtlich süchtig machende soziale Medien usw. ungehindert auf eine Jugend loslassen darf, die keine Abwehrkräfte gegen diesen Schrott entwickeln kann, weil ihr die Reife fehlt. Schon Erwachsene haben Mühe, ihren Medienkonsum zu kontrollieren. Wie sollen es dann Kinder können, die schon mit sechs, sieben Jahren ungehindert alle Medien konsumieren? Wer sagt den Eltern, wie schädlich das für die Heranwachsenden ist? Bill Gates und andere «Grössen» aus dem Silicon Valley sagen, sie würden ihren Kindern kein Smartphone unter 14 Jahren geben! Aber wer weiss das schon? Die Mehrzahl unserer Eltern ahnt zwar, dass die Inhalte, die in den Smartphones geboten werden, nicht gut für ihre Kinder sind. Aber die meisten Eltern sind verunsichert und haben keinen Standpunkt, weil sie von Medien und staatlichen Institutionen nicht richtig über diese Problematik informiert und alleingelassen werden. 

Nun setzen wir unsere Kinder auch noch in den Schulen vor einen Bildschirm. Dabei sagen alle wissenschaftlichen Untersuchungen, dass Lernen am Computer weniger ergiebig ist! Wir verunsichern unsere Kinder in sexuellen Belangen, indem wir sie schon in jungen Jahren in den Schulen – und das zumeist ohne Einwilligung der Eltern – mit sexuellen Spezialitäten konfrontieren, die für eine winzig kleine Minderheit von Menschen zutrifft 

Wir sind heute in einer Situation, in der die staatlichen Behörden und die Gesetzgeber auf der ganzen Linie versagen. Die Eltern müssen ihre Kinder deshalb vor negativen Einflüssen schützen, die vom Staat selbst herkommen. 

Die Frage stellt sich wirklich, weshalb wir eine ganze Generation opfern, indem wir sie der emotionalen (und auch intellektuellen) Verwahrlosung überlassen. 

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