«Versöhnen statt spalten»

Brief an den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz

red. Nachdem die Schweizer Regierung sich offen auf die Seite einer Kriegspartei gestellt hat und über indirekte Waffenlieferungen an die Ukraine diskutiert, bekommen die Gedanken des Briefautors über die Landesgrenze hinweg Bedeutung. Sich für ein Ende des Sterbens in der Ukraine und für Frieden einzusetzen, ist eigentlich auch Aufgabe unserer Regierung. Hätte sie den bewährten Weg der Neutralität beschritten und auf dieser Grundlage Verhandlungen angeboten, wäre der Krieg vielleicht schon beendet und Tausende von Menschenleben gerettet.

Herr Bundeskanzler!

Vor kurzem haben Sie bei einem Wahlkampfauftritt gesagt: «Und die, die hier mit Friedenstauben rumlaufen, sind deshalb vielleicht gefallene Engel, die aus der Hölle kommen, weil sie letztendlich einem Kriegstreiber das Wort reden.» Hier aus der Hölle mein Ruf: Vor 45 Jahren war ich als Soldat bereit, für dieses Land zu töten; eine schwere Entscheidung. Wer wie Sie den Dienst an der Waffe verweigerte, hatte unseren Respekt – es war die Freiheit – und eben auch Ihre Freiheit, den Wehrdienst zu verweigern, die wir verteidigt haben. Wer ist heute der Feind? Als der US-Präsident ankündigte, Nordstream II ein Ende zu bereiten, haben Sie als stummer Pappkamerad daneben gestanden. Als eine Journalistin anmerkte, dass das eine deutsch-russische Pipeline sei, antwortete Biden: «We will put an end to this.» Hat er mit diesem «wir» auch Sie gemeint? Vor knapp einem Jahr wurden drei der vier milliardenteuren Leitungen gesprengt. Sie zeigen kein Interesse, dieses Verbrechen aufzuklären, und die «Mainstream-Medien» stört das nicht. Warum sollte ein Soldat heute sein Leben riskieren, wenn seine Regierung samt ihrer Sprachrohre der Zerstörung unserer Infrastruktur tatenlos zusieht?

1992 haben sich Bill Clinton und Al Gore um die beiden höchsten Ämter der USA mit dem Slogan beworben «Putting people first»: Menschen zuerst. Heute lautet das Motto des Westens: «Weapons first»: Waffen zuerst. Als der Krieg in der Ukraine etwas mehr als eine Woche alt war, ist Naftali Bennett, damals israelischer Ministerpräsident, nach Moskau zu Wladimir Putin geflogen und von dort zu Ihnen nach Berlin, weil ihm der Frieden zwischen der Ukraine und Russland, wo viele Juden ihre Wurzeln haben, ein Herzensanliegen war. Was haben Sie ihm gesagt? Haben Sie ihn unterstützt oder haben Sie ihn ins Leere laufen lassen? Haben Sie, Herr Bundeskanzler, keine Verantwortung für den Frieden gespürt, angesichts des mörderischen Vernichtungsfeldzugs der Deutschen gegen die Sowjetunion? Oder war es Ihnen wichtiger, Russland zu «ruinieren», wie es Ihre Aussenministerin formulierte? Es wird immer deutlicher: Es hätte längst Frieden geben können, wenn der Westen die Initiative Bennetts und einige Wochen später die Vereinbarung von Russland und der Ukraine in Istanbul nicht bewusst blockiert hätten, um Russland den Garaus zu machen. Daraus ist nichts geworden; Hunderttausende Ukrainer haben das mit dem Leben bezahlt. Die Regierung meines Landes ist mit Schuld an einem fürchterlichen Krieg, nun zum dritten Mal in etwas mehr als 100 Jahren. Douglas MacGregor, Harald Kujat, Erich Vad, Jacques Baud, alles ehemalige hoch- und höchstrangige Offiziere aus den USA, Deutschland und der Schweiz fordern seit Monaten abseits des westlichen Medienkokons, dem sinn- und aussichtslosen Morden ein Ende zu machen: Tote können ein Land nicht wieder aufbauen. Aber Sie und Ihre Regierung schüren das Feuer immer weiter, exportieren tausendfachen Tod und provozieren einen antirussischen Rassismus, der mir unerträglich ist.

Mein Vater war drei Jahre in russischer Gefangenschaft. Trotz Krankheit, schwieriger Lagerbedingungen und harter Arbeit hat er stets wiederholt: «Man hat uns immer menschlich behandelt.» Diese Haltung nach Jahren des Hasses und der Verrohung hat er nie vergessen.

Folgen Sie der Devise von Johannes Rau: «Versöhnen statt spalten.» Kämpfen Sie für den Frieden, die Zukunft Europas und der Welt – nicht mit Panzern und Raketen, sondern mit Verstand, Diplomatie und Empathie! Oder – um es mit den Worten MacGregors zu sagen – «Make peace, you fools!» – «Macht Frieden, ihr Dummköpfe!»

Mit friedlichen Grüssen

Dr. Stefan Nold,
Darmstadt, 23.08.2023

veröffentlicht 12.September 2023

Ergreift die Schweiz in einem Konflikt Partei, gilt sie für andere Staaten nicht mehr als neutral

von Thomas Kaiser

Ein kürzlich publiziertes Buch, verfasst von Paul Widmer, einem ehemaligen Diplomaten der Schweiz und Autor verschiedener Bücher, trägt den warnenden Titel: «Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr». Widmers Darlegung kommt genau zum richtigen Zeitpunkt und leistet einen entscheidenden Beitrag gegen Angriffe von innen und von aussen auf das Schweizer Staatswesen.

Unser politisches System, das sich in wesentlichen Elementen von dem der umliegenden Staaten unterscheidet, wird vermehrt von bedrängt. Sowohl die direkte Demokratie, der Föderalismus als auch die Neutralität stehen seit geraumer Zeit unter Druck. Gegen die aktuelle Entwicklung bietet das Buch eine Fülle von Anregungen.

Die Bestrebungen, die Besonderheiten und die staatspolitischen Eigenheiten des Landes zu nivellieren, dem Druck aus dem Ausland nachzugeben und sich so den Staaten der EU anzupassen, lassen sich seit langem beobachten. Dem hält der Autor Überzeugendes entgegen. Seine Abhandlung greift äusserst relevante Aspekte auf, die verständlich machen, warum die Schweiz heute so ist, wie sie ist. Seine Analyse ist treffend und erhellend zugleich. Es kommt sehr vieles zur Sprache, was wert ist, genauer betrachtet zu werden.

Aus aktuellem Anlass wird hier das letzte Kapitel «Die neutrale Schweiz – eine gefährdete Erfolgsgeschichte» genauer untersucht. Es liefert wichtige Argumente zur Neutralitätsdebatte, die dringender denn je öffentlich geführt werden muss, heute aber mehrheitlich von den Mainstream-Medien beherrscht wird.

Friedenssicherung durch Neutralität

Seit dem 24. Februar 2022 versucht der Bundesrat, die Neutralität, die sich über Jahrhunderte entwickelt hat – unter Verkennung der historischen Erfahrungen –, weiter aufzuweichen. Dass die Schweiz die beiden grossen Kriege des 20.  Jahrhunderts relativ schadlos überstand, war nicht zuletzt der Neutralität geschuldet. Heute scheinen Bundesrat und Teile des Parlaments sie loswerden zu wollen. Das kann verhindert werden, wenn die Bevölkerung sich schützend davor stellt. Diese Möglichkeit wird durch die Neutralitätsinitiative gegeben, die den Bundesrat auf die Einhaltung der Neutralität verpflichtet.¹ Durch permanente mediale Beeinflussung, die die Politik des Bundesrats flankiert, braucht es hier besondere Anstrengungen, um erfolgreich zu sein.

Keine Neutralität ohne Neutralitätspolitik

Wenn die aktuelle Politik des Bundesrats weiterhin in die eingeschlagene Richtung «marschiert», wird die Schweiz ohne einen Stopp durch das Parlament oder die Bevölkerung ein Anhängsel der selbsternannten Leader unserer «freien» Welt und deren Erfüllungsgehilfe sein.

Schon heute verlangen europäische Staaten einschliesslich der Ukraine von der Schweiz, dass sie sich an der finanziellen und militärischen Unterstützung der Ukraine beteiligt.² Damit wird sie zur Kriegspartei, was mit der Neutraliät unvereinbar ist. Paul Widmer ist in dieser Frage kompromisslos: «Die Schweiz darf sich nicht einer Staatengruppe anschliessen, die mit Waffenlieferungen die eine Konfliktpartei unterstützt und die andere mit Wirtschaftssanktionen in die Knie zwingen will.» (S. 105) Durch den Beschluss, die Sanktionen der EU vollständig zu übernehmen und über mögliche Waffenlieferungen nachzudenken, wird der Pfad der Neutralität verlassen. Nicht nur der Bundesrat, sondern auch Teile des Parlaments verlangen, man solle das Waffenausfuhrgesetz lockern.³ Ein aktueller Vorstoss der Sicherheitspolitischen Kommisson des Ständerats will erreichen, 25 stillgelegte Leopard-Panzer an den deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall zurückverkaufen zu können. Dabei greift man zu einem faulen Trick, um das Gesetz zu umgehen, nämlich bisher «stillgelegte Panzer der Schweiz ganz ausser Dienst zu stellen». Wenn das geschieht, kann man die Panzer ohne Gesetzesänderung liefern.4

Seit dem Krieg in der Ukraine werden vom Bundesrat Grundelemente der Schweiz wie Souveränität und Neutralität immer wieder verletzt. Der Eindruck verstärkt sich, dass das politische Establishment mit dem Krieg in der Ukraine die Chance wittert, schon lang gehegte Ziele still und heimlich umzusetzen. Das ist fatal und raubt der Schweiz ein wesentliches Instrument zum eigenen Schutz. «Die freiwillig eingeschlagene Verpflichtung, sich im Krieg neutral zu verhalten, ist das Ergebnis schmerzvoller Erfahrungen. Die Schweizer mussten die krachende Niederlage von Marignano einstecken, ehe sie sich aus der Grossmachtspolitik zurückzogen. [ … ] Diese Einsicht ist, wie auch die durch das Sanktionsregime im Ukrainekrieg ausgelöste Neutralitätsdebatte zeigt, immer wieder gefährdet.» (S. 57) Die häufig angeführte Argumentation, «bei einem solchen Krieg kann man nicht mehr neutral sein», lässt Paul Widmer nicht gelten: «Im Ukrainekrieg begrüssen viele Meinungsmacher die vom Bundesrat erlassenen Sanktionsmassnahmen gegen Russland und geben vor, eine neugtrale Schweiz könne sich ausser einem direkten Verstoss gegen das Neutralitätsrecht alles erlauben. Dem ist jedoch nicht so. Neutralität ohne Neutralitätspolitik ist ein Ding der Unmöglichkeit.» (S. 92)

Hat sich Selenskij auf Kosten seiner Soldaten bereichert?

Dem Bundesrat scheint es aber bei weitem wichtiger zu sein, sich zunehmend den USA und der EU anzudienen, als die eigenen Grundsätze zu verteidigen. Der letztjährige Bundespräsident, Ignazio Cassis, war sich nicht zu schade, sich mit Wolodymyr Selenskij, dem Präsidenten der Ukraine, zu verbrüdern, und stellte sich unter Verletzung des Neutralitätsgebots klar auf die Seite einer Kriegspartei. Dabei lehnte er sich sehr weit aus dem Fenster mit der realitätsfernen Behauptung: Die Ukraine verteidige «die Grundwerte», die auch «die Grundwerte der Schweiz» seien.5 Diese Aussage ist grotesk, wenn man weiss, wie korrupt dieser Staat ist. Nach den letzten Enthüllungen von Seymour Hersh ist auch sein Präsident nicht besser. Durch sorgfältige Recherche deckt der Journalist auf, dass Selenskij sich an Unterstützungsgeldern der USA, um Diesel aus Russland zu kaufen, bereichtert hat. Dabei handelt es sich nach Aussagen Hershs um 400 Millionen Dollar.⁶ Auch die diskriminierenden Gesetze, die die ukrainische Regierung gegen die russischsprachige Bevölkerung im eigenen Land erlassen hat, verstossen massiv gegen den gültigen Standard der Schweiz und gegen die Menschenrechte, einmal ganz zu schweigen von der Verehrung der Nazi-Kollaborateure wie zum Beispiel Stepan Bandera.7 Das sollen die Grundwerte der Schweiz sein? Ausserdem ist das demokratische System der Schweiz meilenweit von dem der Ukraine entfernt.

Neutralität muss glaubwürdig sein

Nachdem Cassis und Teile des Bundesrats sich massgeblich an der Beschädigung der Neutralität beteiligt und das Ausland die Schweizer Neutralität als «gestorben» betrachtet hatte, versuchte Cassis die Position des Bundesrats im Ukrainekonflikt schönzureden, indem er sämtliche Massnahmen als «mit der Neutralität vereinbar» erklärte. Sekundiert wurde er von seiner Parteikollegin, Karin Keller Suter. Am WEF 2023 schlug er vor, die Neutralität neu zu definieren. Er zauberte als Paradoxon per se die «kooperative Neutralität» aus dem Hut.8

Man fasst sich an den Kopf: Das soll tatsächlich die neue Form von Neutralität sein? Wenn der Neutrale nicht mehr als neutral wahrgenommen wird, ist es um die Neutralität geschehen, und genau das vollzieht sich, seitdem die Schweizer Regierung Position gegen Russland bezogen hat. Es stellt sich tatsächlich die Frage, ob Cassis verstanden hat, was die Schweizer Neutralität bedeutet. Ein Blick in das Buch von Paul Widmer könnte ihm die Augen öffnen, ausser er verfolgt einen anderen Plan.

Unparteilichkeit ist Wesen der Neutralität

Paul Widmer zitiert den «Hauptauftrag», den der Unterhändler Carles Pictet de Rochemont als Emissär der Schweiz am Wiener Kongress 1815 vertreten musste: «‹Das grosse Anliegen, das sich die Schweiz in den zukünftigen Verhandlungen vor allem sichern möchte, betrifft die Neutralität, Grundlage ihrer politischen Unabhängigkeit und ihrer militärischen Sicherheit.›» (S. 86) Schliesslich gelang es Pictet de Rochemont mit Verhandlungsgeschick, die «immerwährende bewaffnete Neutralität» bei den damaligen Grossmächten erfolgreich durchzusetzen. Es würde unserem Bundesrat gut anstehen, diese Grundsätze bei seinem Handeln zu befolgen und nicht – bewusst oder unbewusst, das sei einmal dahingestellt – eine Säule unseres Staatswesens aufs Spiel zu setzen. Die Neutralität kann man nicht willkürlich auslegen: «Man kann es drehen, wie man will: Neutralität bedeutet, dass sich jemand in einen Konflikt nicht einmischt, sondern heraushält. Unparteilichkeit ist ihr Wesensmerkmal.», wie Paul Widmer klar definiert. (S. 99)

Die «kooperative Neutralität» könnte hingegen auch «parteiische Neutralität» genannt werden, denn im Grunde genommen geht es einzig und allein darum, eine verstärkte Kooperation mit den USA und der EU als Akt der Neutralität zu verkaufen, was nichts, aber auch gar nichts mit der Neutralität zu tun hat. Bekanntlich hatten die USA und die EU die Schweiz massiv unter Druck gesetzt, damit sie die Sanktionen gegen Russland mitträgt – was der US-amerikanische Präsident Joe Biden triumphierend mit den Worten «even Switzerland» kommentierte.⁹

Bundesräte hielten stand

Vor über 80 Jahren während der Zeit des Faschismus in Deutschland und Italien war die Lage der Schweiz weit schwieriger und bedrohlicher als heute. Das ganze Land war von Deutschland und Italien umzingelt, Frankreich war von den Deutschen besetzt und Österreich annektiert. «Trotz der Arglist der Zeit» hielt der Bundesrat stand und rückte von seiner neutralen Haltung nicht ab. Damals kam die Schweiz von beiden Seiten unter Druck, die USA verlangten Solidarität mit der Anti-Hitler-Koalition, die Wehrmacht agierte ständig mit Drohgebärden. Dass sich nur mit einer konsequenten Einstellung die Neutralität aufrechterhalten lässt, muss doch jedem einleuchten.

Ein Rütteln an der Neutralität lässt sich in der Geschichte der Schweiz immer wieder beobachten. Das hängt mit den jeweiligen Persönlichkeiten zusammen, die die Geschicke des Landes lenken. Es ist immer unbequem, von beiden Seiten attackiert zu werden und sich nicht auf die Seite der vermeintlichen Sieger stellen zu können. Doch der Verlauf der Geschichte bestätigt deutlich die Vorteile der Neutralität.

Ein erneutes Zweifeln des Bundesrats an der Aufrechterhaltung der Neutralität auch in Friedenszeiten begann kurz nach dem Ende des Kalten Kriegs. Es brauche keinen neutralen Staat mehr, war die Devise. Blauäugig und unter Verkennung der Realitäten sprach man sogar vom «Ende der Geschichte», und dass es «nie wieder Krieg» geben werde, weil kein feindliches System mehr existiere. «Neutralität besitzt nur ein Kapital, nämlich die Glaubwürdigkeit. Diese muss man im Frieden mit einer berechenbaren Politik erwerben, um sie im Krieg zu besitzen.» (S. 99)

Die «Friedenseuphorie», die angeblich einen neutralen Staat überflüssig macht, hält keiner nüchternen Betrachtung stand. Zahlreiche Kriege wurden nach dem Kalten Krieg, vornehmlich von den USA und der Nato geführt. Dennoch trieb man die Aufweichung der Neutralität sukzessive voran. Dass die Schweiz seit 1996 als Mitglied der Nato-Unterorganisation «Partnership for Peace» geführt wird, ist den wenigsten bekannt. Paul Widmer beurteilt das so: «Zweck dieser Vereinigung ist die militärische und politische Zusammenarbeit zwischen der Nato und Staaten, die keine Nato-Mitglieder sind. Auch wenn die Schweiz die Art ihrer Beteiligung weitgehend nach eigenen Wünschen zusammenstellen kann, fragt es sich doch, ob ein neutrales Land in die äussere Umlaufbahn eines militärischen Bündnisses gehört.» (S. 103) Verantwortlich für den Beitritt der Schweiz zur PfP waren damals die Bundesräte Ogi und Cotti. Weitere Schritte Richtung Nato folgten.

Verrat an der Neutralität?

Wenn der Chef der Armee, Thomas Süssli, «eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit der Nato fordert» und «nach der Luftwaffe und den Spezialkräften auch die Bodentruppen gemeinsame Trainings mit der Nato durchführen sollen», wird das Gebot der Neutralität missachtet.10 Im «Blick» wird Süssli wie folgt wiedergeben: «Die Schweiz sei aber im Moment militärisch nicht bedroht. [ … ] Dafür gebe es keine Anzeichen11 Im Widerspruch dazu steht seine Aussage, für die Armee mehr Schlagkraft zu erreichen und viel mehr Geld zu brauchen, um die Selbstverteidigung der Schweiz zu garantieren. 13 Milliarden Franken seien im Gespräch. Selbstverteidigung ist immer gut – aber gegen wen und mit welchen Mitteln? Süssli hat seine Aussagen eng mit seiner Chefin, Viola Amherd, koordiniert, denn sie plädiert, wie soll es anders sein, ebenfalls für eine nähere Anbindung an Nato und EU: «Es gehe darum, Beschaffungsvorhaben zur Luftverteidigung in Europa besser zu koordinieren, um Skaleneffekte zu nutzen und um die Interoperabilität zu verbessern, erklärte Amherd12

Was könnte hinter den hohen Geldforderungen für unsere Armee stehen? Wenn es tatsächlich so ist, dass das VBS die Schweiz in die Nato führen will, muss es ordentlich Geld in die Hand nehmen, um das von der Nato verlangte 2 Prozent-Ziel zu erreichen.

Die forcierte Annäherung an die Nato lässt sich im Zusatzbericht zum Sicherheitsbericht von 2021 erkennen. Im Pressekommunique ist zu lesen: «Der Bericht legt Möglichkeiten zum Ausbau der sicherheits- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit in Europa, konkret mit Nato und EU, dar. [ … ] Dazu gehören beispielsweise eine verstärkte Teilnahme an Übungen, eine Ausweitung der militärischen Zusammenarbeitsfähigkeit auf verteidigungsrelevante Bereiche, eine Intensivierung des Partnerschaftsstatus bei der Nato oder eine Beteiligung der Armee an EU-Verbänden wie der EU Rapid Deployment Capacity (für Rettungs-, Evakuierungs- und Stabilisierungsoperationen).»13 Will die Schweiz also der EU Kampftruppen liefern?

Festhalten an der Neutralität

Trotz der Zunahme der Spannungen in Europa zeigt die Schweizer Bevölkerung nach wie vor deutlich, dass sie an der Neutralität festhalten will. Die Befragten stimmten in den letzten Jahren mit 90 bis 95 Prozent einer neutralen Schweiz zu.14 Seit dem Ukrainekrieg hat das Bekenntnis, derjenigen, die die Neutralität beibehalten wollen, nur um 6 Punkte auf 89 Prozent abgenommen. Das ist immer noch eine klare Position trotz der ständigen Berieselung durch unsere Medien, die mehrheitlich die Neutralität als veraltet, in der heutigen Zeit unbedeutend und überflüssig schlechtreden.15

Bei allen Bestrebungen von Bundesrat und Parlament, die Schweiz näher an die Nato und EU heranzuführen, werden sie am Schweizer Volk nicht vorbeikommen. In verschiedenen Fällen hat es die Schweiz vor Unheil bewahrt. Die Auffassung, dass man bei dem russischen Vorgehen nicht mehr neutral sein könne, ist völlig haltlos und verfängt bei der Bevölkerung nicht. Gerade in einem Kriegsfall ist die Neutralität ein Segen, sowohl für die Schweiz als auch für die Kriegsparteien. Denn wer eignet sich besser als ein neutraler Staat, in einem Konflikt zu vermitteln?

¹ neutralitaet-ja.ch/
² weltwoche.ch/daily/selbst-die-fruehere-sp-bundesraetin-micheline-calmy-rey-findet-dass-die-aussenwahrnehmung-der-schweizer-neutralitaet-beschaedigt-wurde/
³ www.swissinfo.ch/ger/wirtschaft/neutralitaet-schweiz-diskussion/48418920
4 TagesAnzeiger vom 31.08.2023
5 www.srf.ch/play/tv/srf-news-videos/video/cassis-zu-selenski-beeindruckt-wie-dein-volk-fuer-freiheit-kaempft?urn=urn:srf:video:6f2b26ea-1900-4a7d-b832-85c960ea25e9
exxpress.at/hersh-deckt-auf-selenskyj-missbraucht-us-gelder-um-diesel-aus-russland-zu-kaufen/
7 www.deutschlandfunkkultur.de/stepan-bandera-faschist-oder-held-100.html
8 www.srf.ch/news/schweiz/neue-neutralitaetsdefinition-kooperative-neutralitaet-cassis-ueberrascht-mit-neuem-begriff
www.nzz.ch/schweiz/fuer-den-rest-der-welt-ist-die-schweiz-nicht-mehr-neutral-ld.1684472?reduced=true
10 Watson vom 24.03.2023
www.nzz.ch/newzzD871XPUD-12-ld.232641?reduced=true
11 www.blick.ch/schweiz/im-falle-eines-angriffs-schweizer-luftwaffe-koennte-nur-vier-wochen-durchhalten-id17371564.html
12 www.srf.ch/news/schweiz/europaeische-luftverteidigung-amherd-unterschreibt-absichtserklaerung-fuer-sky-shield
13 www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-90261.html
14 css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/Si2021.pdf
15 css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/Si2022_NBF_Bericht_Sicherheit.pdf

veröffentlicht 12.September 2023

«Die Schweiz sollte ihre Neutralität beibehalten» 

«Den eigenen Sicherheitsinteressen folgen und unabhängig im wahrsten Sinne des Wortes bleiben»

Interview mit General a. D. Harald Kujat*

General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)
General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)

Zeitgeschehen im Fokus Die Schweiz, die bis vor kurzem noch als verlässlicher neutraler Staat gegolten hat, kann im aktuellen Konflikt die Position des Neutralen nicht mehr einnehmen, weil der Bundesrat gegen Russland Stellung bezogen und sich den Sanktionen der EU angeschlossen hat. Noch vor zwei Jahren gab es das Treffen zwischen Biden und Putin in Genf unter der Vermittlung der Schweiz. Davon ist unser Land leider weit entfernt. Heute, das kann man beobachten, bringen sich andere Staaten in Position und bieten Verhandlungen an wie zum Beispiel die Türkei. Diese Staaten verfügen aber bei weitem nicht über die Fähigkeiten, wie sie die Schweiz vorweisen kann, die eine jahrzehntelange Erfahrung in der Mediation hat. Teilen Sie das?

General a.D. Harald Kujat Ja, natürlich. Ich weiss das noch genau, die INF-Verhandlungen hatten damals [1985] in Genf stattgefunden. Der Unterhändler der USA war Paul Nitze, der russische Kollege war Juli Kwizinski. Die Schweiz hat dabei eine ganz wichtige Rolle gespielt. Solche Verhandlungen ziehen sich auch immer hin und dabei müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Die Schweiz hat das damals geleistet.

Es gab auch ein ganz entscheidendes Treffen zwischen Gorbatschow und Reagan, bei dem das Eis zwischen beiden Staatsmännern gebrochen ist. Im Gegensatz zu diesen Sternstunden der Diplomatie, die nur ein Neutraler leisten kann, sucht die Schweizer Regierung verstärkt die Nähe zur Nato, was nach ihren Aussagen der Neutralität keinen Abbruch täte. Würden Sie als nicht Schweizer von aussen betrachtet der Schweiz als neutralem Staat noch vertrauen?

Das Vertrauen ist nicht an den Staat gebunden, sondern an Personen, in dem Fall an die jeweilige Regierung. Wenn man zum Beispiel die US-Politik im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg ­kritisch hinterfragt, wird das als Antiamerikanismus ausgelegt. Aber in Tat und Wahrheit geht es um die Politik der gegenwärtigen Regierung. Ich kann der Schweiz keinen Rat geben, was ihr Verhältnis zur Nato betrifft. Sicher hätte die Nato-Mitgliedschaft einen grossen Einfluss auf ihren neutralen Status.

 Aber ich will die Frage grundsätzlich beantworten. Ich habe die Beitrittsverhandlungen mit Polen, Tschechien und Ungarn geführt. Deshalb kann ich sagen, dass jeder Staat nicht nur ­bestimmte Voraussetzungen für die Nato-Mitgliedschaft erfüllen muss. Er muss sich auch ­darüber im ­Klaren sein, ob seine sicherheitspolitischen und geostrategischen Rahmenbedingungen für oder gegen eine Nato-Mitgliedschaft sprechen. Das gilt für einen neutralen Staat mehr noch als für jeden anderen. Der Massstab für eine derartige Betrachtung ist die Übereinstimmung der nationalen Sicherheitsstrategie mit dem strategischen Konzept der Nato. Das strategische Konzept soll die Interessen aller Mitgliedsstaaten vereinen. Das bedeutet, die Interessen aller anderen Staaten mitzutragen und nicht nur die ­eigenen.

Was ist das Ziel dahinter?

Jeder Mitgliedsstaat ist nicht nur für die eigene Sicherheit, sondern auch für die Sicherheit aller Verbündeten verantwortlich. Denn ein Angriff auf ein Mitglied wird als Angriff auf alle gewertet. Die Allianz ist ein Bündnis gegenseitiger, kollektiver Sicherheit. 

Unabhängig davon kann auch ein neutraler Staat natürlich die sicherheitspolitische Verbindung zu anderen Staaten intensivieren. Während meiner Zeit als Generalinspekteur hielt ich engen Kontakt mit meinen österreichischen und Schweizer Kollegen. Das hat den grossen Vorteil, dass alle drei Beteiligten sich gegenseitig unterrichten, was für die Sicherheit des eigenen Landes relevant ist.

Einmal hypothetisch gedacht. Was wäre, wenn die Schweiz angegriffen würde?

Ein direkter konventioneller Angriff ist aufgrund der geostrategischen Lage der Schweiz sehr unwahrscheinlich, denn in gewisser Weise ist sie durch die umliegenden Nato-Staaten geschützt. Ich sollte noch erwähnen, dass jeder Mitgliedsstaat an der Streitkräfteplanung teilnimmt, in der durch die Nato Streitkräfteziele vorgegeben werden, die in ihrer Gesamtheit die Verteidigungsfähigkeit sicherstellen sollen. Bereits 2014 haben sich alle Mitgliedsstaaten verpflichtet, 2 Prozent des Bruttosozialproduktes für die Vereidigung und mehr als 20 Prozent des Verteidigungshaushalts für moderne Waffensysteme aufzuwenden. 

Für die Schweiz würde das als Mitgliedsland auch alles gelten? 

Ja, sie würde an der Streitkräfteplanung und an der Verteidigungsplanung teilnehmen.

Was heisst das denn konkret?

Die Nato muss natürlich Vorkehrungen für einen Verteidigungsfall treffen. Dafür werden Operationspläne erstellt. Die Mitgliedsstaaten stellen Streitkräfte, die im Verteidigungsfall Nato-Befehlshabern unterstellt werden. Das deutsche Grundgesetz sagt deshalb: «Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.» Möglicherweise müsste die Schweiz eine ähnliche Regelung treffen.

Wenn es tatsächlich so weit käme, was ich nicht glaube und auch nicht wünsche, gäbe es in der Schweiz ein obligatorisches Referendum. Die Verfassung verlangt das, wenn die Schweiz einem Bündnis kollektiver Sicherheit beitreten will. Das Schweizer Volk hätte dann das letzte Wort. Ich denke, diejenigen, die in Bern sitzen, in unserer Hauptstadt, wissen, dass dies eine nicht zu überwindende Hürde darstellt. Die Bevölkerung wird die Neutralität nicht über Bord werfen.

Ich habe oft den Eindruck, dass die Nato-Mitgliedschaft falsch verstanden wird. Das Beispiel Ukraine zeigt es, auch die Diskussion, wie sie bei uns geführt wird. Man glaubt, die Nato übernimmt bedingungslos den Schutz für einen neuen Mitgliedsstaat. Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Die Nato ist – wie es das Grundgesetz formuliert – ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Deshalb muss jeder Staat, der zur Nato-Mitgliedschaft eingeladen wird, in der Lage sein, den Schutz und die Sicherheit aller Mitgliedsstaaten zu erhöhen. 

Sie haben am Anfang gesagt, dass die Schweiz das abwägen sollte, bevor sie sich noch weiter Richtung Nato bewegt. Die Schweiz müsste doch das ganze Gewicht auf eine eigenständige Verteidigung legen, insoweit das für ihre Sicherheit nötig ist. 

Die Schweiz sollte das als Sicherheitsvorsorge tun, was aufgrund ihrer nationalen sicherheitspolitischen Interessen und ihrer geostrategischen Lage notwendig ist. Ich bin deshalb der Meinung, wenn ich das so sagen darf, dass die Schweiz ihre Neutralität beibehalten sollte. Sie hat ihr viele hundert Jahre, auch in den schwierigen Zeiten des Ersten und des Zweiten Weltkriegs, Sicherheit in Frieden und Freiheit gegeben. Gerade in der angespannten Lage, in der sich Europa durch die immer stärkere Europäisierung des Ukrainekriegs befindet, der Gefahr, dass aus dem Krieg in der Ukraine ein europäischer Krieg um die Ukraine entsteht, halte ich es für wichtig, den eigenen Sicherheitsinteressen zu folgen und unabhängig im wahrsten Sinne des Wortes zu bleiben. 

Herr General Kujat, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* General a.D. Harald Kujat, geboren am 1. März 1942, war unter anderem Generalinspekteur der Bundeswehr und als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses höchster Militär der Nato. Zugleich amtete er als Vorsitzender des Nato-Russland-Rates sowie des Euro-Atlantischen-Partnerschaftsrates der Generalstabschefs. Für seine Verdienste wurde Harald Kujat mit einer grossen Zahl von Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Kommandeurs­kreuz der Ehrenlegion der Republik Frankreich, dem Kommandeurskreuz des Verdienstordens Lettlands, Estlands und Polens, der Legion of Merit der Vereinigten Staaten, dem Grossen Band des Leopoldordens des Königreichs Belgien, dem Grossen Bundesverdienstkreuz, sowie mit weiteren hohen Auszeichnungen, unter anderem aus Malta, Ungarn und der Nato.

veröffentlicht 12.September 2023

Für die Durchsetzung einer neuen, multipolaren Weltordnung ohne Krieg

von Stefan Hofer*

Nach dem Untergang der Sowjetunion und der europäischen sozialistischen Staaten, nach der Auflösung des Warschauer Paktes und des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe triumphierten die Machteliten im Westen, die kapitalistische Marktwirtschaft und das sie beherrschende von den USA dominierte westliche Staatensystem habe sich im System-Wettbewerb mit der sozialistischen Welt endgültig durchgesetzt, den Sozialismus besiegt. Es wurde bereits das Ende der Geschichte proklamiert. Die Botschaft der Bombardierung Serbiens und des Irak-Krieges war: Wir, die USA und die von uns geführte Nato, können nun auf der ganzen Welt bestimmen, wo es langgeht, was zulässig ist und was nicht; wir sind die Sieger der Geschichte; eine Gegenmacht gibt es nicht mehr.

Die seither vergangenen 30 Jahre haben gezeigt, dass dies eine krasse Fehleinschätzung war. Vor allem durch den phänomenalen wirtschaftlichen Aufstieg der Volksrepublik China, verbunden mit einer internationalistischen geostrategischen Neuausrichtung der Politik dieses Staates, ist eine neue, stärkere Gegenmacht entstanden, welche die Macht der USA und ihrer Junior-Partner mehr und mehr eingrenzt.

Regime-Change gescheitert

Die Etablierung eines stabilen pro-westlichen Regimes im Irak ist nicht gelungen. Der angestrebte Regime-Change im Iran und in Syrien ist ebenfalls nicht gelungen. Auch in Serbien konnte nicht ein eindeutig pro-westliches Regime installiert werden. Die mit allen Mitteln versuchten Regime-Changes in Nicaragua und in Venezuela sind gescheitert und auch in Kuba ist der Regime-Change bisher nicht gelungen. In Latein-Amerika (in Bolivien, Chile, Brasilien, Argentinien und jüngst auch in Kolumbien) sind Entwicklungen im Gange, die den USA missfallen und die nur Dank der veränderten globalen Kräfteverhältnisse möglich sind.

Auch das nicht mehr sozialistische Russland war unter Putin nicht bereit, eine globale Hegemonie der USA zu akzeptieren und sich als Junior-Partner in das US-dominierte westliche Staatensystem einzuordnen bzw. sich den USA unterzuordnen, mit der Folge, dass seither vom Westen versucht wird, Russland als autoritäre, undemokratische Macht zu ächten, zu schwächen und zu destabilisieren. Aber auch die gegen Russland gerichtete Politik des US-dominierten Westens hat bisher nicht zum angestrebten Regime-Change geführt. Vielmehr haben Russland und China in den letzten Jahren die Zusammenarbeit in der Politik, in der Wirtschaft und in der militärischen Verteidigung ihrer Interessen zu einer strategischen Partnerschaft entwickelt und vertieft. Die Volksrepublik China und Russland streben zusammen mit anderen Staaten eine neue multipolare Weltordnung an, in der nicht mehr eine Hegemonialmacht mit ihren Junior-Partnern bestimmen kann, was zulässig ist und was nicht geduldet werden kann. Nicht mehr die Hegemonialmacht USA kann festlegen, was ihre «vital interests» sind und wie sie diese überall auf der Welt geltend machen und durchsetzen will. Diese neue Weltordnung wird den Völkern und Staaten ganz andere Möglichkeiten bieten, den Weg, den sie für ihre soziale und wirtschaftliche Entwicklung beschreiten wollen, frei und ohne Druck einer Hegemonialmacht zu wählen. Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit und die BRICS-Gruppe sind internationale Organisationen, welche die Schaffung einer neuen multipolaren Weltordnung anstreben. 

Die USA und ihre Junior-Partner, die man politisch als den «Westen» bezeichnet, wollen die kapitalistische Weltordnung mit der Führungsmacht USA mit allen Mitteln gegen die Bestrebungen, eine neue, auf dem Prinzip der Gleichberechtigung der Völker basierende multipolare Weltordnung durchzusetzen, verteidigen.

Die USA und ihre Allianz-Partner können jedoch die Augen nicht vor der Tatsache verschliessen, dass sich vor allem durch die rasante Entwicklung der Volksrepublik China die internationalen Kräfteverhältnisse von Jahr zu Jahr zu Ungunsten des Westens verschieben. China wird wirtschaftlich und militärisch immer stärker und wird schon in einigen Jahren die stärkste Wirtschaftsmacht der Erde sein. Weil die USA diese Entwicklung stoppen möchten, tun sie alles, um das Wirtschaftswachstum und den wissenschaftlich-technischen Fortschritt der Volksrepublik China zu sabotieren. Sie müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass sie dabei nur wenig Erfolg haben. Zutreffend erklären sie, dass der Kampf gegen die Volksrepublik China nicht einfach ein Konkurrenzkampf zwischen kapitalistischen Wirtschaftsmächten ist, sondern ein System-Wettbewerb. 

Multipolare Welt mit Krieg stoppen?

Bei dieser Konstellation besteht die Gefahr, dass die USA versuchen könnten, den weiteren Aufstieg der Volksrepublik China und das weitere Erstarken der Kräfte, die sich für eine neue multipolare Weltordnung einsetzen, mit militärischen Mitteln, d. h. mit Krieg zu stoppen und rückgängig zu machen, solange sie nach ihrer Einschätzung militärisch noch überlegen sind. Einen solchen Krieg möchten die USA möglichst weit weg von ihrem Territorium und möglichst mit dem Einsatz von Armeen verbündeter Staaten führen. Ein solcher Krieg wäre ein unvorstellbares Inferno, das unbedingt verhindert werden muss.

In letzter Zeit haben die USA gewaltige Aufrüstungsprogramme beschlossen, um ihre militärische Überlegenheit zu sichern. Da sie auf dem Standpunkt stehen, die legitime globale Hegemonialmacht zu sein und es auch bleiben zu müssen, sind sie der Meinung, zur militärischen Absicherung ihrer Hegemonie ein Recht auf militärische Überlegenheit im globalen Massstab zu haben. 

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben die USA das Wettrüsten stets angeführt. Sie zwingen nun China und Russland zu weiteren militärischen Rüstungsanstrengungen, da die USA nur dann von einem grossen Krieg gegen China und Russland abgehalten werden, wenn sie wissen, dass ein solcher Krieg auch die Verwüstung und weitgehende Vernichtung der USA zur Folge hätte. Reagan hat mit dem Wettrüsten die Sowjetunion wirtschaftlich schwächen, sprich totrüsten wollen, was schliesslich auch gelungen ist. Mit der Volksrepublik China wird das jedoch nicht gelingen, da China heute wirtschaftlich schon viel stärker ist als es die Sowjetunion je gewesen ist. 

In Anbetracht dieser ernstzunehmenden Kriegsgefahr ist es heute von grösster Wichtigkeit, unabhängig von der weltanschaulichen und religiösen Orientierung die Kräfte, die einen Krieg verhindern wollen, zu sammeln und für ein machtvolles Engagement für Abrüstung und gegen Krieg zu mobilisieren. Eine starke internationale Friedensbewegung gegen Hochrüstung und Krieg tut Not. 

 

* Stefan Hofer, Jahrgang 1948, ist Schweizer Staatsangehöriger und wohnt in Basel. Er hat dort während 40 Jahren als Rechtsanwalt

 

veröffentlicht 12.September 2023

Wie ich den Glauben an die etablierten Medien verlor (Teil I)

von Dr. phil. Helmut Scheben*

Massenmedien sind oft unzuverlässig, aber kaum jemand hat Zeit, die Nachrichten zu überprüfen. Wenn diese sich später als falsch herausstellen, sind sie meist schon als «historische Wahrheit» auf der Festplatte der kollektiven Erinnerung eingebrannt.

Seit dem Golfkrieg von 1991 war es den Medien in den USA verboten, Bilder von Särgen toter Soldaten zu filmen. Die Massnahme wurde erst im Februar 2009 aufgehoben. Auch das Filmen toter oder verwundeter US-Soldaten war verboten und das Verbot wurde vor allem im Irak-Krieg mit extremer Härte durchgesetzt, wie Kameraleute berichteten. Als ich einmal im riesigen Archiv des Schweizer Fernsehens solche Aufnahmen suchte, fand ich eine einzige Sequenz, die etwa drei Sekunden dauerte. Ein amerikanischer Soldat versuchte da, aus einem brennenden Panzer zu klettern.

Drei Sekunden von tausenden Videos, die in diesem Krieg gedreht worden waren. Drei Sekunden, die – wie deutlich erkennbar – auf einen Fehler eines Cutters zurückzuführen waren, der ein IN oder OUT falsch gesetzt hatte, sodass Material sichtbar wurde, welches der Zensur anheimfallen sollte. Szenen einer Niederlage werden im Westen seit Vietnam nicht mehr gern gezeigt. Also gibt es keine Niederlagen mehr, denn die auf zweieinhalb Minuten komprimierten TV-News sind es, die Geschichte schreiben in unseren Köpfen. 

In seinem Buch «Liberty and the News» konstatierte 1920 der US-amerikanische Journalist und Medientheoretiker Walter Lippmann: «Die Zeitungsspalten sind öffentliche Informationsträger. Wenn diejenigen, die sie kontrollieren, sich das Recht herausnehmen, zu bestimmen, was zu welchem Zweck berichtet werden soll, dann kommt der demokratische Prozess zum Erliegen.»¹ 

Ich hätte mir noch vor ein paar Jahren nicht vorstellen können, dass mein morgendlicher Gang zum Briefkasten, um die Zeitungen zu holen, begleitet sei von einem leisen Kontrapunkt aus Widerwillen und Langeweile. Ich habe gern zum Morgenkaffee Papier in der Hand, statt auf einen Bildschirm zu schauen. Die Lektüre nimmt indessen von Jahr zu Jahr weniger Zeit in Anspruch. Das liegt zum einen daran, dass viele Themen mich nicht mehr interessieren, zum Beispiel die ewige Seifenoper britischer Royals, die täglich obligatorischen LGBTQ-Probleme, die Me-Too-Befindlichkeit von Groupies bei Rockkonzerten oder parlamentarische Untersuchungen, die herausfinden sollen, warum im Finanzkasino Banken an die Wand fahren.

Die wirklichen Probleme der meisten Menschen, der Krieg in der Ukraine, der eskalierende Konflikt zwischen USA und China, also Vorgänge, die das Leben von Millionen Steuerzahlenden derzeit verändern und künftige Generationen belasten werden (Aufrüstung, Inflation, Energiepolitik, Sanktionspolitik, Asylwesen etc.) werden aber in unseren führenden Medien mit einem derart reduzierten Blickwinkel dargestellt, dass es mich fassungslos macht. Die Realitätsverweigerung erfolgt mit einer an Tollwut grenzenden Selbstverständlichkeit.

Von hundert Artikeln gibt es keine fünf aus der Sicht der anderen Kriegspartei

Ich habe mir die Mühe gemacht, als Beispiel den Zürcher Tagesanzeiger, den ich abonniert habe, auf Einseitigkeit zu prüfen. Vom Angriff Russlands im Februar 2022 bis zum Jahresende 2022 habe ich rund einhundert Artikel angeschaut, die direkt vom Ukraine Krieg handeln. Beim hundertsten Bericht war ich erschöpft von immer dem Gleichen. Fast alle schildern das Leid und das Heldentum der Westukraine in dem russischen Angriffskrieg und – in schrillen Farben – die Verbrechen Russlands.

Kenner von Waffensystemen und Geostrategie repetieren unaufhörlich, warum Russland besiegt werden muss, und die Investigativen kennen nichts anderes mehr als die Jagd nach irgendeinem Russen oder einer Russin, denen man noch das Vermögen enteignen könnte. 

Auf hundert Artikel habe ich keine fünf gefunden, die berichteten, was auf der anderen Seite der Front passiert. Das Leid der pro-russischen Ukrainer unter den Raketenangriffen und dem Artilleriefeuer ist keiner Erwähnung wert. Die Menschen selbst scheinen dort für unsere grossen Medien nicht zu existieren. Berichtet wird ausschliesslich mit der Optik der Nato, also mit der Optik einer Rüstungs-Lobby, die weltweit als Brecheisen der Ordnungsmacht USA funktioniert. 

Die Einseitigkeit der Berichte entspringt der Einseitigkeit der Quellen. Neben dem unausweichlichen britischen Geheimdienst (ob 007 mitarbeitet, bleibt bisher im Dunkeln) sind die täglichen Quellen unserer «Benachrichtigung»: Präsident Selenskij und seine Entourage in Kiew sowie seine Freunde in Brüssel, London, Washington und die zugehörigen Experten und Nato-Denkfabriken. Die Russen erscheinen hauptsächlich als Verbrecher, die ihre Verbrechen leugnen. 

Und wenn ein Damm bricht, der russische Verteidigungsstellungen und ein von Russland besetztes Gebiet weitgehend überschwemmt, dann finden alle deutschen Talk Shows, aber auch das Schweizer Radiomagazin «Echo der Zeit» unverzüglich Experten, die wissen, dass es die Russen waren, die den Damm zerstört haben. Wie es auch die Russen sind, die sich selbst in dem Atomkraftwerk beschiessen, welches sie besetzt halten.

In den Jahren vor dem russischen Angriff registrierten die OECD-Beobachter täglich Artilleriedetonationen, im Februar 2022 schliesslich hunderte Explosionen pro Tag. Weit mehr als zehntausend Tote haben die Kämpfe in der Ostukraine zwischen 2014 und 2022 gefordert. Dieser Krieg hat also nicht im Februar 2022 begonnen. Er begann mit der vom ex-Präsidenten Poroschenko 2014 befohlenen «Antiterror-Operation» und der gnadenlosen Bombardierung der aufständischen Gebiete im Donbas. 

Haben unsere Zeitungen darüber berichtet? Sie haben es unter den Teppich gekehrt. Sie sehen nur, was sie schon wissen. Das heisst: Sie wissen immer schon, was sie sehen werden. Also das, was ich jeden Morgen in den Zeitungen lesen kann. Und somit das, was ich nicht mehr lesen muss, weil ich schon weiss, was es ist, bevor ich die Zeitung aufschlage. 

«Lasst euch nicht von den eigenen täuschen»

Im Herbst 1983 demonstrierten mehr als eine Million Menschen überall in der Bundesrepublik Deutschland gegen die Stationierung von Atombomben. Auch in mehreren Ländern, die Mitglieder der Nato waren, widersetzte sich eine Mehrheit der Menschen der weiteren atomaren Aufrüstung, denn es war klar, dass das vielbeschworene «Gleichgewicht des Schreckens» durch die britischen und französischen A-Bomben längst garantiert war. Bei der Debatte im Bundestag sagte Oppositionsführer Willy Brandt, seine Partei, die SPD, werde mit Protestbriefen zugeschüttet: «Das sind Deutsche West und Deutsche Ost, das sind Europäer und Amerikaner, das sind Mütter und Väter, Grossmütter und Grossväter, Arbeiter und Unternehmer, Künstler und Soldaten, Hausfrauen, Rentner, und es sind Naturwissenschafter und Ingenieure aller akademischen Grade. Ich frage mich, wem es gut tut, wenn das Engagement und der versammelte Sachverstand dieser Mitbürgerinnen und Mitbürger mit der ganzen Arroganz der Macht in den Abfall geräumt wird.»

Die FDP-CDU-Mehrheit des deutschen Parlamentes wählte für Volkes Stimme den Abfallkübel und beschloss die Stationierung von Atomwaffen. Die mit Nuklearsprengköpfen bestückten Raketen lagern bis heute in Büchel in der Eifel. Deutsche Luftwaffenpiloten trainieren den Einsatz, wobei es kein militärisches Geheimnis ist, dass Russland das Hauptangriffsziel damals war und heute ist.

Im selben Jahr 1983 erscheint Christa Wolfs Buch «Kassandra», ein Text über eine Seherin, die vor ihrem Tod über den Untergang ihrer Heimat Troja nachdenkt:

«Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da? Da stünde unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den eigenen täuschen.»

Ich habe mich von den eigenen täuschen lassen, aber es hat lange gedauert, bis ich dessen gewahr wurde. Die Süddeutsche, die Frankfurter Rundschau, die Neue Zürcher Zeitung, Der Spiegel und andere Blätter, das waren meine Leitmedien, als ich Journalismus lernte. Die grossen Medien, sowohl die gebührenfinanzierten wie die der privaten Konzerne, haben in allen Kriegen, die ich beobachten konnte, krachend versagt. Ihre Aufgabe wäre gewesen, das Handeln der Regierungen in Frage zu stellen, aber sie haben sich in vielen Fällen als Lautsprecher der Regierungs-Propaganda und als Kriegstreiber in ungerechtfertigten und sinnlosen Kriegen erwiesen.

Die Balkankriege öffneten die Büchse der Pandora

Meine erste grosse Berufskrise kam, wenn ich recht erinnere, in den Balkankriegen. Ich fand nachts keinen Schlaf mehr, als ich merkte, dass da das Blaue vom Himmel herunter gelogen wurde. Tuzla war damals mein Schlüsselerlebnis. Die Stadt in Bosnien war 1993 als Schutzzone definiert worden, Blauhelme waren dort stationiert. Die bosnisch-moslemische Bevölkerung sollte vor serbischen Angriffen geschützt werden. Die serbische Artillerie schoss aber gleichwohl auf die Stadt, und diese Angriffe waren Monate lang tägliche Meldung in den Radionachrichten. Die westlichen Medien flossen über vor Empörung über den Beschuss der «Safe Area».

Ich fiel aus den Wolken, als mir 1995 Blauhelm-Soldaten sagten: «Die Serben schiessen zwar manchmal da rein, aber die Artillerie in Tuzla schiesst auch jede Nacht raus auf die umliegenden serbischen Dörfer.» 

Tuzla wurde bei Nacht und Nebel von den USA mit Waffen versorgt. Es gab dort militärische Sperrgebiete, wo Uno-Einheiten der Zutritt verwehrt wurde. Dieselbe Regierung in Washington, die nach aussen hin die Rolle des «honest broker» spielte, um ein Ende des Krieges zu erreichen, organisierte im Geheimen sogenannte «black flights», um das bosniakischen Militär aufzurüsten.²

Als ein norwegischer Blauhelm-Offizier dies 1995 bemerkte und publik machte, bekam er Befehl zu schweigen und wurde strafversetzt. Der britische Sender ITN/Channel  4 hatte einen Beitrag über die Sache gedreht, den ich für ein Magazin des SRG-Programms Schweiz  4 übernahm. Meine Versuche, Schweizer Medien auf die Enthüllungen aufmerksam zu machen, stiessen auf Indifferenz. In Bosnien wie auch im Kosovo bestimmte die Nato, was man wissen durfte und was nicht. Carla Del Ponte, Chefanklägerin in Den Haag, beklagte sich später, dass sie mit ihrer Bitte um Einsicht in die Geheim-Operationen der Nato gegen eine Wand lief. 

Erst viel später erfuhr ich, dass führende PR-Agenturen der USA damals die Presse mit Schauergeschichten über serbische Konzentrationslager und Holocaust-Pläne fütterten, welche ein gigantischer Medienapparat in Sekundenschnelle um die Welt jagte. Die Politikwissenschafter Jörg Becker und Mira Beham haben in ihrer Studie «Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod» in US-Archiven weit über hundert solcher PR-Verträge nachgewiesen. Der Auftrag hiess, die Serben als Täter und die andern als Opfer darzustellen. James Harff, Chef der PR-Agentur Ruder Finn, beschrieb seinen Job folgendermassen: «Unser Handwerk besteht darin, Nachrichten auszustreuen, sie so schnell wie möglich in Umlauf zu bringen. [ … ] Die Schnelligkeit ist entscheidend. Denn wir wissen genau, dass die erste Nachricht von Bedeutung ist. Ein Dementi hat keine Wirkung mehr.»³

PR-Agenturen liefern die Argumente für Krieg und Tod

Harff zeigte gegenüber Jacques Merlino, einem stellvertretenden Chefredaktor von France 2, einen gewissen Berufsstolz, wenn er in aller Offenheit beschrieb, wie seine Agentur «mit einem grossartigen Bluff» ihren Auftrag erledigte, indem sie drei mächtige jüdische Lobby-Organisationen der USA dazu brachte, in Inseraten in der New York Times vor einem drohenden Holocaust auf dem Balkan zu warnen.

«Mit einem Schachzug konnten wir die Sache vereinfachen und sie darstellen als Geschichte von den guten und den bösen Jungs. […] Und wir haben gewonnen, denn wir haben das richtige Ziel ausgewählt, das jüdische Publikum (targeting Jewish audience). Sofort stellte sich eine bemerkbare Veränderung des Sprachgebrauchs in den Medien ein, begleitet von der Verwendung solcher Begriffe, die eine starke emotionale Aufladung hatten, wie etwa ethnische Säuberung, Konzentrationslager und so weiter, und all das evoziert einen Vergleich mit Nazi-Deutschland, Gaskammern und Auschwitz. Die emotionale Aufladung war so mächtig, dass niemand wagte, dem zu widersprechen.» 

Der deutsche Aussenminister Joschka Fischer tourte folgerichtig mit der Parole «Nie wieder Auschwitz!» durch Europa und sein Verteidigungsminister Scharping brachte unters Volk, man wisse, dass die Serben «mit den abgeschnittenen Köpfen ihrer Feinde Fussball spielen». Ein Foto, das als Beweis der serbischen Gräuel und als Argument für den Nato-Angriffskrieg um die Welt ging, zeigte einen entsetzlich abgemagerten Mann mit nacktem Oberkörper hinter Stacheldraht. Es erinnerte an die Fotos von deutschen Vernichtungslagern 1945. Die Aufnahme war – wie später nachgewiesen wurde – eine Fälschung. Das fragliche Flüchtlingszentrum Trnopolje war damals weder durch einen Stacheldrahtzaun abgesperrt noch gab es dort halb verhungerte Menschen.4

Nichts hat sich geändert. Der Krieg generiert die ewig gleichen Propagandamittel. Ein in der Ukraine lebender «Schriftsteller aus Ostdeutschland» namens Christoph Brumme schrieb 2022 in der NZZ am Sonntag ein regelmässiges «Tagebuch», in dem er unter anderem vorhersagte, die Russen würden in der Ukraine Konzentrationslager einrichten und Putin sei ein zweiter Hitler. Er sei vermutlich schwer krank und werde mit einer Atombombe seinen Suizid inszenieren. Und dergleichen mehr.

Schon im Golfkrieg von 1991 war die Kategorie «eingebettete Journalisten» entstanden, und es gibt wohl kaum einen Begriff, der besser umschreibt, wie dieser Beruf zu einer Art Prostitution verkommen kann. Der US-amerikanische Journalist John R. MacArthur hat in seiner Studie «Second Front: Censorship and propaganda in the 1991 Gulf War» (auf Deutsch bei dtv: «Die Schlacht der Lügen») gezeigt, wie die Medien an der Leine geführt und die Öffentlichkeit getäuscht wurde.

Die Symbiose der grossen Medien und ihrer Regierungen wurde vollends zur Selbstverständlichkeit nach dem Anschlag von 9/11. Dieser wurde als Angriff einer feindlichen Macht definiert und in dieser Logik erst Afghanistan, dann der Irak angegriffen. Weltweit wurde ein «Krieg gegen den Terror» begonnen, und da man einmal am Aufräumen war, wurden «by the way» auch in Libyen und Syrien «unterdrückte Völker befreit». Die Resultate sind in all diesen Ländern zu besichtigen. Der renommierte Wissenschaftsjournalist und Friedensaktivist Norman Cousins hatte der ideologischen Mission der Supermacht USA schon 1987 einen Namen gegeben: «The Pathology of Power».

Eine erfundene Vergewaltigungs-Story in Libyen

Mir ist unverständlich, wie Journalisten, die so oft von Regierungen belogen wurden, weiterhin die politischen Vorgaben von oben weiterverbreiten, als seien es die Tafeln der zehn Gebote. Im Juni 2011 sagte US-Aussenministerin Hillary Clinton vor laufenden Kameras, sie habe jetzt den Beweis, dass der libysche Herrscher Muammar al-Gaddafi «systematische Vergewaltigung» als Strategie einsetze. Zu diesem Zeitpunkt herrschte Bürgerkrieg in Libyen. Die libysche Armee versuchte, einen Aufstand niederzuschlagen, der im Sog des sogenannten «arabischen Frühlings» seit Februar 2011 eskalierte. Die USA und ihre Nato-Verbündeten bombardierten seit März 2011 das Land, um – so die offizielle Argumentation – dem von Gaddafi unterdrückten libyschen Volk zu helfen und «eine Flugverbotszone durchzusetzen».

Als lebender Beweis für den Vorwurf der Vergewaltigungen galt eine Libyerin namens Eman-al Obeidi. Die Frau hatte sich am 26. März 2011 Zugang zum Luxus-Hotel Rixos Al Nasr in Tripolis verschafft. Hotelpersonal und Security-Leute versuchten zu verhindern, dass sie Kontakt mit den Journalisten aufnahm, die dort beim Frühstück sassen. Die Frau schrie, sie sei drei Tage zuvor von Milizionären Gaddafis an einem Checkpoint entführt und vergewaltigt worden.

Der libysche Regierungssprecher Musa Ibrahim erklärte später, man habe Frau Obeidi zunächst für alkoholisiert und psychisch gestört gehalten. Dann habe man festgestellt, dass ihre Angaben glaubwürdig seien. Der Fall sei in den Händen der Justiz. Es handle sich um gewöhnliche Kriminalität und nicht um ein politisches Verbrechen.

Frau Obeidi wurde von CNN und zahlreichen anderen Medien interviewt. Sie figurierte als Beweis für die Verruchtheit des libyschen Staatsoberhauptes Gaddafi. Dabei schien den grossen Medien kaum erwähnenswert, dass libysche Ärzte die Frau betreut hatten, die Vergewaltigung bestätigt hatten und die libysche Polizei kurz darauf Tatverdächtige festgenommen hatte. 

In einem Büro von Amnesty International in Zürich fragte ich 2011, was an den Vorwürfen dran sei. Ich erhielt die Auskunft, Amnesty habe mehrere Monate lang in Libyen ermittelt und keine Bestätigung für den Vorwurf der Massenvergewaltigung gefunden. Auch der Sprecher der libyschen Organisation Human Rights Solidarity Libya, die den Aufständischen nahestand, sagte mir am Telefon: «Wir haben keine Beweise. Der einzige konkrete Fall ist der von Frau Obeidi.»

 

Der zweite Teil erscheint in einer der nächsten Ausgaben.

Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.

* Helmut Scheben (*1947 in Koblenz, Deutschland) studierte Romanistik in Mainz, Bonn, Salamanca und Lima. 1980 promovierte er zum Doktor phil. an der Universität Bonn. Von 1980 bis 1985 war er als Presseagentur-Reporter und Korrespondent für Printmedien in Mexiko und Zentralamerika tätig. Ab 1986 war er Redaktor der Wochenzeitung (WoZ) in Zürich, von 1993 bis 2012 Redaktor und Reporter im Schweizer Fernsehen SRF, davon 16 Jahre in der Tagesschau.

Quelle: https://weltwoche.ch/daily/zauberkuenstler-und-taschenspieler-wie-ich-das-vertrauen-in-die-etablierten-medien-verlor/

¹ Lippmann S.24
² https://archive.sensecentar.org/vijesti.php?aid=12699
³ Mira Beham: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik. 1996. S.172 ff.
4 https://www.novo-argumente.com/artikel/bilder_erzaehlen_ihre_eigene_geschichte_eine_reportage_mit_folgen

 

veröffentlicht 12.September 2023

Mobbing in Schulen 

von Dr. phil. Alfred Burger, Erziehungswissenschafter

In letzter Zeit kann man ab und zu Meldungen über systematisches Mobbing in den Schulen lesen. In Wirklichkeit ist das Problem sehr weit verbreitet.

Auch wenn man jeden Fall differenziert betrachten und auch genau untersuchen muss, ist über dieses Problem nicht mehr hinwegzusehen. Allgemein kann gesagt werden, dass Mobbing meist nicht das Problem von einzelnen Kindern ist, sondern vor allem ein Problem der Gruppe. Ein Mobber lebt von der Unterstützung durch Bewunderer und Nachahmer. Meist sind Mobber auch recht angesehen in einer Gruppe von Kindern, wie die bekannte Mobbingfachfrau Professor Dr. Françoise Alsaker nachgewiesen hat. Sie hat umfangreiche Forschungen angestellt und ein wirkungsvolles Programm entwickelt, wie man dem Mobbing in der Schule begegnen kann. Dazu ist der Einbezug der ganzen Klasse wichtig, und vor allem auch die Stellungnahme der Lehrerinnen und Lehrer.¹

Lehrerinnen und Lehrer unternehmen wenig oder gar nichts

Doch genau in diesem Punkt hapert es gewaltig. Seit der Etablierung der Schulreformen mit der Einführung des kompetenzorientierten Unterrichts betrachten es viele unserer Lehrerinnen und Lehrer immer weniger als ihre Aufgabe, auf die Kinder auch erzieherisch einzuwirken. Vor allem neu Ausgebildete sehen ihre vorrangige Arbeit darin, den Kindern Material bereitzustellen. Was diese damit machten, liege in der Verantwortung der Schüler. Es bleibt in der Schule oft auch keine Zeit mehr, sich um die Kinder zu kümmern, so sehr ist man mit organisatorischen Belangen beschäftigt, wie mit endlosen Sitzungen, mit Absprachen im Team, mit Abhaken von Kompetenzrastern, Ausfüllen von Statistiken usw. Dazu kommen die Heterogenität der oft grossen Klassen durch die Abschaffung der Sonderklassen, der Einbezug von fremdsprachigen Kindern, häufiger Lehrerwechsel usw. Eltern von Kindern, die unter Mobbing leiden, beklagen sich deshalb oft darüber, dass die Lehrerinnen und Lehrer und auch Schulleiter wenig oder gar nichts unternehmen. Sie äussern sich dahingehend, dass Kinder ihre Probleme unter sich ausmachen und auch lernen müssten, sich zu behaupten. Vielfach schauen die Verantwortlichen auch einfach weg und spielen die Probleme herunter. Dabei erleiden gemobbte Kinder schwere Zeiten. Sie haben Selbstzweifel, fühlen sich verlassen und verlieren das Vertrauen in die Mitmenschen. Nicht wenige haben Suizidgedanken. Nicht nur für die einzelnen Opfer wirkt sich Mobbing verheerend aus. Auch die «Zuschauer» erleiden Schaden. Sie machen eventuell mit, erleben dabei, dass die Verantwortlichen nichts unternehmen und werden insgeheim hoffen, selbst nie in eine solche Situation zu kommen. Zwischenmenschliche Korruption macht sich breit und eine allgemeine, langsame Verrohung in der Gesellschaft findet statt. Der aufmerksame Zeitgenosse kann das heute schon unschwer feststellen. Auch verantwortungslose Medien und die Game-Industrie tragen leider auf diesem Gebiet ihren Teil bei.

Individualisierung begünstigt Mobbing und Ausgrenzung

Neben vielen anderen Faktoren spielt auch die Theorie des Individualisierenden Unterrichts eine wichtige Rolle bei der sich ausbreitenden Gewalt in den Schulen. In einer Klasse, in der die Kinder mehr oder weniger sich selbst überlassen vor sich hinarbeiten und ohne Bezug zu ihren Klassenkameraden sind, die Lehrerinnen und Lehrer sich als Animatoren oder als Lernbegleiter verstehen – so wie es ihnen heute in der Ausbildung beigebracht wird – können sich negative Tendenzen wie Mobbing und Ausgrenzung unter den Kindern schnell ausbreiten und in eine Dynamik münden, die nur noch schwer zu kontrollieren ist.

Die Kinder konsumieren heute jeden Tag Filmchen, in denen das Plagen und Ausgrenzen und das Sich-lustig-machen über andere dauernd vorgelebt wird. Kein Wunder, wenn sie dies nachahmen und meist auch Lacher finden, die das lustig finden. In vielen Klassenzimmern fehlen heute Lehrerinnen oder Lehrer, die dagegen Stellung nehmen und es als ihre Aufgabe sehen, die Klasse zu einem Miteinander zu führen und eine Gemeinschaft heranzuziehen, die aufeinander Rücksicht nimmt und gegenseitiges Verständnis entwickelt.

Verwahrlosung in sozialen und schulischen Belangen

Es zeigt sich immer mehr, dass die formulierten hehren Ziele der Schulreformer wie «Individualisierung und Gemeinschaftsbildung», «Schulung sozialer Kompetenzen» usw., sich als leere Worthülsen entpuppen. Die Klassen verwahrlosen buchstäblich im sozialen Bereich. Aber nicht nur da: Auch in schulischen Belangen ist eine Verwahrlosung festzustellen. Kompetenzorientiertes Lernen hat nichts mit humanistischer Bildung zu tun. Es ist ein Lernen ohne Bezug zum Mitmenschen, ohne Bezug zu geschichtlichem Denken und zur Kultur, ohne Bezug zum Fühlen und Denken anderer Menschen. Eben ein recht primitives Abhaken von den sogenannten Kompetenzen.

Es braucht Lehrerpersönlichkeiten statt Lernbegleiter

Im Gegensatz zu den von den Befürwortern dieses Lernens abgegebenen Versprechen, lernen die wenigsten Kinder selbst zu denken, was ja vielleicht nicht ganz ungewollt ist. Für gutes Lernen, d. h. auf ein Lernen, das den anderen Menschen und die ganze Kultur und Geschichte einbezieht, bräuchte es dahingehend ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer. Persönlichkeiten, die für die Kinder ein Vorbild sind! «Lernbegleiter», wie sie heute heissen, sind dafür völlig ungeeignet. Das Resultat davon lesen wir in den spärlichen Berichten in den Medien. Wie bei vielen anderen Themen verschweigen diese heute die wahren Zustände in unseren öffentlichen Schulen. Deswegen fühlen sich die Eltern allein und sehen die Probleme vielfach bei ihren Kindern. Würden sie sich zusammenschliessen, könnte der Spuk bald ein Ende haben, was offensichtlich nicht gewünscht ist.

¹ vgl. Alsaker F.: Mutig gegen Mobbing, Hogrefe 2016

 

veröffentlicht 12.September 2023

«Vieles kann der Mensch entbehren, nur den Menschen nicht»

Bewahrung der Menschlichkeit in einer digitalen Welt

von Susanne Lienhard, Gymnasiallehrerin

Anlässlich einer Französischlektion zum Thema Medien erzählte eine 15-jährige Gymnasiastin, dass sie unter der Woche im Schnitt neun Stunden und am Wochenende sogar elf Stunden Bildschirmzeit habe, und zwar ohne die Schularbeiten am Computer einzurechnen. Es stellte sich heraus, dass sie kein Einzelfall ist. Viele Mädchen der Klasse verbringen täglich vier bis neun Stunden auf «Social Media» und die Jungs beim Gamen.

Auf die Frage, weshalb sie soviel Zeit in virtuellen Räumen verbrächten, sagten die einen, sie würden sich sonst langweilen. Andere wiederum meinten, für sie bedeute das Entspannung nach einem anstrengenden Schultag. Es gibt sogar Klassen, die nie so ruhig sind, wie während der Pausen zwischen den Lektionen. Die Pausenglocke löst den reflexartigen Griff zum Smartphone aus, regungslos und gebannt vom Display bleibt jeder für sich allein, niemand plaudert mit seinem Nachbarn, niemand steht auf und geht nach draussen, nur die Finger tippen und wischen über den Bildschirm. Eine gespenstische Ruhe!

Einige Schülerinnen und Schüler verbringen also an einem Schultag mehr Stunden in virtuellen Räumen als in der Schule! Was ist los? Warum haben Smartphones, «Social Media» und Videospiele eine solche Anziehungskraft? In welchen virtuellen Räumen bewegen sich meine Schülerinnen und Schüler? Warum ziehen sie sich aus der realen Welt zurück? Fehlt es an sinnstiftenden Alternativen, überfordern sie die komplexer gewordene Welt oder die selbstorganisierten Lehr- und Lernformen in der Schule? Wie wirkt sich dieses Ausklinken aus der Realität aufs Lernen, auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und insbesondere auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aus? Fragen über Fragen, die mich durch die Sommerferien begleiteten.

Die Lektüre von Joachim Bauers jüngstem, sehr lesenswerten Buch, «Realitätsverlust – wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen – und die Menschlichkeit bedrohen», gibt wertvolle Denkanstösse. Joachim Bauer, Neurowissenschaftler, Arzt und Psychotherapeut, stellt die verschiedenen virtuellen Welten, in denen sich auch meine Schülerinnen und Schüler bewegen, vor, zeigt, welche Machtinteressen und Geschäftsmodelle dahinterstehen, und analysiert und kommentiert den «Transhumanismus» genannten ideologischen Überbau. Der Autor beschränkt sich aber nicht nur darauf, die Auswirkungen der zunehmenden Verlagerung des gesellschaftlichen Lebens in virtuelle Räume darzustellen, sondern zeigt auch überzeugend, wie dem sich anbahnenden Verlust an Realität und Menschlichkeit entgegengewirkt werden kann.

Bauer stellt von allem Anfang an klar, dass digitale Produkte unser Leben durchaus erleichtern können, aber nur, solange wir sie als Werkzeuge benutzen. Wir seien jedoch auf dem besten Weg, uns zu ihren Werkzeugen machen zu lassen und uns in eine neue selbstverschuldete Unmündigkeit zu begeben, die uns hinter die Errungenschaften der Aufklärung zurückführe. Wir liefen Gefahr, uns von Google, Chat-GPT und anderen digitalen Angeboten solange beim Denken helfen zu lassen, bis wir nicht mehr selbst denken könnten.

Vertreter der Techno-Ideologie des Transhumanismus – unter ihnen milliardenschwere Besitzer von Digitalkonzernen – behaupten, dass der Mensch durch Systeme künstlicher Intelligenz in Frage gestellt sei. Sie reduzieren den Menschen auf sein Gehirn und vergleichen ihn mit Systemen künstlicher Intelligenz, denen er schon bald unterlegen sein werde. Dieser ständige Vergleich und der ehrfürchtige Tenor, mit dem über die digitalen Fortschritte berichtet wird, verunsichern und schüren unbewusste Angst, so dass der Mensch dazu neigt, zu vergessen, wer er ist und wozu er fähig ist. Da dieses Bewusstsein grundlegend ist, um nicht zum Werkzeug digitaler Angebote zu werden, widmet Joachim Bauer ein ganzes Kapitel den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Natur des Menschen und macht deutlich, dass kein noch so ausgeklügeltes KI-System dem Menschen je ebenbürtig sein wird.

Angeborenes natürliches Interesse an der Welt

Im Gegensatz zur Maschine hat der Mensch von Geburt an ein natürliches Interesse an der Welt, das nur bei Krankheit und kurz vor dem Tod abnimmt. Weder der Körper noch das Gehirn sind eine Maschine, beide bedürfen der Realität und beide sind soziale Akteure. Joachim Bauer illustriert dies an drei Beispielen: den Genen, den neuronalen Resonanzsystemen und anhand der Entstehung des menschlichen «Selbst».

Gene – Klaviatur des Lebens 

Als Neurowissenschaftler, der insbesondere auf dem Gebiet der Gene geforscht hat, weiss Bauer, dass Gene keine Eigenbrödler, sondern Kooperatoren und Kommunikatoren sind: «Gene sind eine Klaviatur, auf der das Leben spielt. Die Klavierspieler sind die Umwelt und die sozialen Beziehungen, in denen Menschen sich befinden.» (S. 35) Soziale Beziehungen und die dadurch ausgelösten Gefühle und Gedanken beeinflussen, so Bauer, die Aktivität der Gene, so dass Kinder, die in einem anregenden Milieu von ihren Bezugspersonen wohlwollend unterstützt werden, eine Aktivierung von Nervenwachstumsfaktor-Genen erfahren und ein nachweisbar klügeres Gehirn entwickeln. Interessant ist, dass unsere Gene nicht nur dann positiv reagieren, wenn andere Menschen uns freundlich begegnen, sondern auch dann, wenn wir einem anderen Gutes tun. Wiederholte negative Lebenserfahrungen hingegen aktivieren Stressgene und schwächen die körpereigene Immunabwehr. Bauer stellt klar: «Soziale Beziehungen sind nicht heisse Luft, sondern ein Teil der biologischen Realität des Menschen.» (S. 37)

Neuronale Resonanzsysteme

Beobachte ich, wie sich mein Gegenüber mit einem scharfen Messer in den Finger schneidet, rufe ich spontan «aua!». Das ist Resonanz. Die Reaktion geschieht meist intuitiv, da wir biologisch für gegenseitige Resonanzprozesse gemacht sind. Ein freundliches Lächeln löst gerne ein spontanes Lächeln beim Gegenüber aus, Kleinkinder, die andere Kinder weinen hören, beginnen auch zu weinen. Um bei einem Säugling diese Resonanz anzubahnen, ist der Blickkontakt, die körperliche Hinwendung, eine Berührung oder eine Ansprache wichtig. Joachim Bauer betont, dass die Körpersprache, und vor allem, wie wir etwas sagen, Resonanzreaktionen auslösen. Wenn das Befinden des Säuglings nicht eindeutig ist, wird die Bezugsperson abtastend körperliche Zeichen (Blick, Stimme, Zuwendung des eigenen Körpers) anbieten und erkunden, wie sie den Säugling in Resonanz bringen kann. Die «Fähigkeit, Resonanz hervorzurufen und selbst in Resonanz zu gehen, unterscheidet den Menschen von Computern mit Künstlicher Intelligenz» und den von ihnen gesteuerten Robotern. «Wechselseitige Resonanzprozesse sind das Kernstück jeder personalen zwischenmenschlichen Beziehung. Für Säuglinge sind sie sogar überlebenswichtig», so Bauer. (S. 41)

Entstehung des menschlichen «Selbst»

Da das menschliche Neugeborene eine biologische Frühgeburt ist, hat es bei Geburt aufgrund der Unreife seines Stirnhirns noch kein «Selbst». Dieses bildet sich erst durch wechselseitige Resonanzprozesse in den ersten Lebensmonaten und -jahren, die vorerst im unbewussten Körpergedächtnis Spuren hinterlassen. Der kleine Mensch spürt, dass seine zahlreichen ungerichteten von sich gegebenen Lebenszeichen in vielen Fällen eine auf ihn gerichtete Resonanzreaktion der Bezugsperson zur Folge haben, die zwei zentrale Informationen enthalten: dass er ist und wie willkommen er ist. Im Verlauf der ersten zwei Lebensjahre finden diese beiden Informationen im Stirnhirn Eingang und bilden den «Kern des kognitiven Selbst». (S. 45)

Smartphones – Verlust der Präsenz

Als wir aus den Ferien zurückkehrten, beobachten wir auf einer Autobahnraststätte eine junge Familie mit drei Kindern, die ebenfalls Pause machte: ein Junge (5 Jahre), seine jüngere Schwester (3 Jahre) und das Jüngste (knapp 1½ Jahre). Während das Kleinste im Kinderstuhl sass, tanzten die beiden Älteren um den Tisch. Der Junge gab fauchende Töne von sich, trat mit den Füssen in die Luft und schien gegen einen imaginären Gegner zu kämpfen. Mehrmalige Ermahnungen der Eltern, sich an den Tisch zu setzen und weniger laut zu sein, blieben erfolglos. Der Vater gab schliesslich auf und zückte sein Smartphone. Der Junge und seine Schwester steigerten nun ihre Aktivität, liessen sich alles Mögliche einfallen, um die Aufmerksamkeit ihres Vaters auf sich zu lenken. Dieser reagierte nicht mehr, er war absorbiert mit seinem Handy. Schliesslich ging die Mutter mit den beiden Kindern hinaus auf den Spielplatz. Am Tisch zurück blieben das Jüngste und der Vater am Handy. Das Kleinste, das noch nicht sprechen konnte, gab verschiedene Laute von sich, zuerst leise und dann immer lauter, bis der Vater endlich seinen Blick hob und ein paar Worte zu ihm sprach. Das Kleine war sichtlich erfreut und strahlte über das ganze Gesicht. Doch schon senkte sich der Blick des Vaters wieder zum Bildschirm. Das Kind liess sich etwas anderes einfallen, um den Vater wieder zu holen. Es schob langsam ein Zuckersäckchen vom Tisch – plumps! Keine Reaktion des Vaters. Dann einen Kaffeelöffel – pling! Der Vater hob beides auf, ohne aber den Blick vom Bildschirm zu lösen. Was muss sich das Kind wohl noch alles einfallen lassen?

Solche Situationen können, seitdem das erste Smartphone 2007 auf den Markt gebracht wurde, überall beobachtet werden. Das Beispiel zeigt die Ausrichtung der Kinder auf ihre Eltern und ihre Sehnsucht nach Beziehung, nach einer adäquaten Resonanz. Es zeigt aber auch, wie das Smartphone die für das Kind so wichtige Präsenz des Vaters abzieht und verhindert, dass dieser sich auf ein Hin und Her mit seinem Kleinsten einlässt. Wiederholen sich solch negative Erfahrungen, hinterlässt das im Gemüt des Kindes unweigerlich Spuren und verunsichert es. Aber auch der Vater verpasst eine kostbare Gelegenheit, denn unsere wichtigste Energiequelle ist der andere Mensch: «Von Mitmenschen wahrgenommen und beachtet zu werden, ist das stärkste aller menschlichen Bedürfnisse. Die Zugewandtheit anderer gibt uns Energie, macht, dass wir uns lebendig fühlen und Lust aufs Leben haben», so Bauer. (S. 61)

Suchtpotenzial von «Social Media»

Das Smartphone hat diese ungeheure Anziehungskraft aber nur wegen der darauf installierten Apps: neben Videospielen vor allem die sogenannten «Sozialen Medien» wie Facebook, Instagram, Tiktok, Snapchat, X (vormals Twitter) etc. Die Digitalkonzerne docken genau an diesem urmenschlichen Bedürfnis nach zwischenmenschlichem Kontakt an und versprechen mit der Worthülse «Social Media»: «Du wirst wahrgenommen, du gehörst dazu.» Nutzerinnen und Nutzer eines «Social-Media-Accounts» verlagern Teile ihrer Lebensrealität in den virtuellen Raum, wo wesentlich andere Regeln gelten als in der Realität, und unterziehen sich dadurch einer neuen Art von sozialem Umgang. In vielen Netzwerken wird angezeigt, wieviele Nutzer Interesse an den Mitteilungen haben. Die Mitteilungen können mit Zeichen der Zustimmung oder Ablehnung versehen sein, die auch Dritte sehen. So entsteht eine Konkurrenzsituation. Jeder bemüht sich, sich vorteilhafter und besser darzustellen bzw. aus Eifersucht andere schlecht zu machen. Letzteres häufig unter Pseudonym. Bauer schildert den Fall eines Mädchens, das aus einem süd­asiatischen Land stammte, schon einige Jahre in Deutschland lebte und fliessend Deutsch sprach. Da seine Familie innerhalb Deutschlands umgezogen war, kam sie in eine neue Schule. Im direkten Kontakt verhielten sich ihre Mitschülerinnen und Mitschüler korrekt, sonst hätten die Lehrer wohl interveniert. Alle Mädchen waren jedoch auf den sozialen Netzwerken präsent und kommunizierten über diese Plattformen. Zwischen ihnen herrschte ein ständiges Sich-Vergleichen, wer mehr Likes, mehr Herzchen, mehr Follower hatte, wer gut dastand und wer abgehängt war. Die «neue Mitschülerin» wurde auf diesen Plattformen so lange schlecht gemacht und gemobbt, bis sie ernsthaft erkrankte. Die Ärzte standen vor einem Rätsel, sie gaben ihr Medikamente gegen eine Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung, die aber keine Wirkung zeigten. Im Gespräch mit Joachim Bauer erzählte das Mädchen von ihrer Diskriminierung im Netz, worauf dieser einen Klassenwechsel veranlasste und das Mädchen ermutigte, sich von ihrem Account abzumelden. Obwohl sie von den ehemaligen Klassenkameradinnen in den sozialen Netzwerken weiter diskriminiert wurde, konnte sie sich diesen Schritt nicht vorstellen. Für sie waren die sozialen Netzwerke der einzige relevante Wirklichkeitsraum. «Sich dort abzumelden, empfand sie so, als hätte ich ihr vorgeschlagen, die Erde zu verlassen und sich auf dem Mond eine Bleibe zu suchen», erklärt Joachim Bauer. (S. 60)

Millionen von jungen Menschen auf dieser Erde befinden sich wie dieses Mädchen in der Falle von digitalen Angeboten, die ihr Leben aus der Bahn werfen. Joachim Bauer fasst zusammen: «So wurde das Zuckerbrot der sozialen Verbundenheit, ungeachtet des Preises, den alle dafür bezahlen, zum toxischen Erfolgsrezept, das Millionen Userinnen und User von den sozialen Netzwerken abhängig werden liess.» (S. 71) Hinter der Worthülse «Soziale Medien» verbirgt sich in Wirklichkeit ein absolut menschenverachtendes, asoziales Geschäftsmodell.

«Social Media» – Goldmine für Digitalkonzerne und Manipulationsinstrument

Für die Digitalkonzerne sind die «sozialen Netzwerke» eine Goldmine. Mark Zuckerbergs Meta-Konzern, zu dem Facebook und Instagram gehören, zählt weltweit 3,5 Milliarden User, deren Mitteilungen seitens des Konzerns alle ausgelesen werden können – zur Erstellung von Persönlichkeitsprofilen. Diese Daten werden dann an Unternehmen, aber auch an politische Parteien verkauft, die die User ihrerseits mit personalisierten Werbeangeboten bzw. politischen Botschaften bedienen. Joachim Bauer macht in diesem Zusammenhang auf eine nicht zu unterschätzende gesamtgesellschaftliche Auswirkung der personalisierten «Information» aufmerksam: «In früheren Zeiten konnte die grosse Mehrheit innerhalb einer Gesellschaft ihre unterschiedlichen Meinungen aufgrund einer gemeinsamen Nachrichtenlage diskutieren, da alle die grossen Nachrichtensendungen gesehen oder eine der grossen Zeitungen gelesen hatten. Demgegenüber werden heute unterschiedliche Gruppen innerhalb einer Gesellschaft von den sozialen Netzwerken mit völlig unterschiedlichen Nachrichten «gefüttert». Dieser Realitätsverlust der ganz besonderen Art zerstört die innergesellschaftliche Empathie und begünstigt innergesellschaftliche Spaltungsprozesse, abgesehen davon, dass er der politischen Manipulation der Bevölkerung Tür und Tor öffnet.» (S. 70) Dieser Prozess nahm während «Corona», wo persönliche Kontakte reduziert waren und das gesellschaftliche Leben gezwungenermassen ins Netz verlegt wurde, ganz besonders an Fahrt auf.

Die digitale Welt der Spiele – Survival of the fittest

Während die Mädchen sich eher auf den «Social Media» Plattformen tummeln, verschieben die Jungs ihr Leben in den virtuellen Raum der Spiele, auch meine Schüler. Sie «adoptieren» eine Spielfigur, ihren Avatar. Sie können die Figur steuern, in vielen Spielen ihr eine bestimmte Identität verpassen und sie mit Waffen und Rüstung ausstatten, die sie oft in sogenannten «In-Game-Käufen» mit echtem Geld kaufen müssen, was für die Spielindustrie eine immense Einnahmequelle ist. Laut Bauer werden für «In-Game-Käufe» jährlich mehrere Milliarden Euro ausgegeben. (S. 82)

Joachim Bauer hält fest, dass es sich bei einer Mehrzahl der Spiele um Kriegsspiele handle, in denen die Devise «Survival of the fittest» gelte. Probleme würden vorwiegend mit Gewalt gelöst, und die Spieler trainierten vor allem das «go». Innehalten und Nachdenken liege nicht drin, da sonst der andere schneller schiesse.

Das erinnert mich an ein Beispiel, das mir eine Lehrerkollegin erzählte: Als ihr Schüler M. einen Fehler machte und ein Mitschüler darüber lachte, stiess M. diesem reflexartig so massiv in die Rippen, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Der Schüler M. stürzte daraufhin aus dem Klassenzimmer. Als die Lehrerin mit ihm das Gespräch suchte, gestand M. verzweifelt, dass er seine überschiessende Reaktion selbst nicht verstehe und er eigentlich nicht so habe reagieren wollen. Könnte es sein, dass das in Games tausendfach trainierte «go» diesen Schüler – ]er ist ein passionierter Gamer – automatisch auch in der realen Welt so reagieren lässt? Oder war es nicht das erste Mal, dass M. von seinen Klassenkameraden ausgelacht wurde? Die Lehrerin wird diesen Fragen im Gespräch mit dem Schüler und der Klasse genau nachgehen müssen.

Eine weitere Eigenschaft von Computerspielen ist, dass sie nie ein Ende finden, sondern bewusst auf immer neue Spielrunden ausgelegt sind. Die Aussicht, irgendwann vielleicht doch als Sieger aus dem Spiel hervorzugehen, lässt Gamer ganze Nächte durchspielen. Aus Sicht der Spielindustrie natürlich ein lukratives Geschäft, für die jungen Spieler aber eine Katastrophe: Sie kommen übermüdet oder gar nicht in die Schule, leiden an gesundheitlichen Problemen wie Kopfschmerzen, Schwindel oder Übelkeit. Ihre schulischen Leistungen lassen nach, und anstatt sich mit echten Freunden zu treffen, gleiten sie immer mehr in die virtuelle Welt der Spiele ab. So bemerkte ein junger Patient des Autors, der durch das Computer-Spielen mehrere Semester seines Studiums verloren hatte, nicht ohne Stolz: «Im Spielen bin ich wirklich gut.» (S. 88) Joachim Bauer erklärt, dass den mit dem Gaming verbundenen Selbstwert-Injektionen jedoch jeder nachhaltige Nährwert fehle und die intensiven Gamer im realen Leben unter einem verminderten Selbstwertgefühl litten, das sie zurück ins Spiel treibe. Ein Teufelskreis. Es ist menschenverachtend, wie «Social Media» und die Gameindustrie Profit schlagen aus dem zutiefst menschlichen Bedürfnis, von andern beachtet und geschätzt zu werden.

Wichtigste Garanten von «Realität» sind der analoge andere Mensch und die Natur

Joachim Bauer konstatiert zusammenfassend: «Die digitalen Produkte unserer Zeit drohen, zu einem hypnotischen System zu werden, das uns unmerklich in Besitz nimmt. Der Realitätsverlust findet auf breiter Front statt und zeigt sich an vielen Stellen unseres täglichen Lebens. Der bedeutsamste Garant von ‹Realität› für den Menschen ist der analoge andere Mensch, dem ich in die Augen schauen kann, während er mit mir spricht. Dass der Grossteil zwischenmenschlicher Kontakte nur noch unter Zwischenschaltung und Kontrolle von Digitalkonzernen stattfindet und dass analoge zwischenmenschliche Begegnungen und der Blick in die Augen eines anderen messbar drastisch abgenommen haben, ist Realitätsverlust.» (S. 146) Mit diesem Realitätsverlust ist unweigerlich ein Verlust an Menschlichkeit verbunden. Wir drohen, menschliche und soziale Fähigkeiten zu verlieren, die das Leben lebenswert machen.

Im Wissen um die soziale Natur des Menschen, im Wissen darum, dass es die anderen Menschen und die Natur sind, die uns Energie und Sinn im Leben geben, dürfen wir uns die Erfahrungen in der realen Welt nicht nehmen lassen. Ja, wir müssen sie ganz bewusst suchen und ausbauen, um nicht Werkzeug digitaler Produkte zu werden. Eltern und auch Lehrerinnen und Lehrer haben geradezu die Pflicht, Kinder und Jugendliche davor zu bewahren, in die oben beschriebenen digitalen Fallen zu tappen.

«Bewahrung der Humanität in einer digitalen Welt»

Eine Debatte für oder gegen digitale Systeme ist gemäss Joachim Bauer verfehlt. «Die einzig entscheidende Frage ist, ob die Systeme uns dienen oder uns beherrschen, ob sie unser Werkzeug sind oder wir zu ihrem Werkzeug werden.» (S. 169)

Die Bewahrung der Humanität beginnt bereits im Kindesalter. Kinder brauchen, wie oben ausgeführt, für ihre Entwicklung zwingend zugewandte andere Menschen. Nur so können sie ein «Selbst» entwickeln. Im Alter von drei bis sechs Jahren ist es wichtig, dass Kinder in kleinen Gruppen die Welt entdecken und erforschen können und gleichzeitig Regeln lernen, die ein gutes soziales Zusammenleben ermöglichen. Das analoge Spiel, unterschiedlichste Erfahrungen in der Natur, die Erprobung des eigenen Körpers – all das sind Aktivitäten, die zur Verankerung in der Realität und zur Stärkung des «Selbst» der Kinder beitragen. Dabei sind sie auf eine adäquate menschliche Resonanz angewiesen. Die Mutter, die ihr Kind auf den Spielplatz bringt, damit es dort mit anderen spielen kann, und sich statt sich mit den Kindern zu beschäftigen, ihrem Smartphone zuwendet, kann diese Resonanz nicht geben. Sie ist für das Kind nicht mehr präsent. Häufen sich solche Situationen, kann keine sichere und verlässliche Bindung zwischen Mutter und Kind entstehen. Digitale Endgeräte gehören auch nicht in die Hände von Kindern unter 10 Jahren, sie haben in Kitas und Grundschulen nichts zu suchen. Zahlreiche Studien belegen, dass sie die emotionale und kog­nitive Entwicklung behindern und die kindliche Gesundheit gefährden.

Auch in der Schule sollte laut Bauer die «pädagogische Beziehung zwischen den Schülerinnen und Schülern und ihren Lehrkräften im Mittelpunkt stehen. Von ihr hängt ab, ob die Kinder und Jugendlichen Motivation entwickeln. […] Gerade dort, wo Kinder und Jugendliche ihre Potenziale noch nicht ausreichend ausgeschöpft haben, kommt es darauf an, dass die ihnen von Lehrerseite gegebenen Resonanzen durch Ermutigung Möglichkeitsräume eröffnen.» (S. 173) 

Genau deshalb ist der Lehrerberuf einer der schönsten Berufe. Die Schulreformen der letzten Jahre drohen aber, diese zentrale menschliche Beziehung zu kappen: individualisierte Lehr- und Lernformen, Wochenplan, das sogenannt «selbstständig organisierte Lernen» (SOL), «Bring your own devise» (BYOD), wo Buch, Papier und Bleistift durch den Laptop ersetzt werden und der Computer zwischen Schüler und Lehrer geschaltet wird u. a. m., reduzieren Lehrerinnen und Lehrer immer mehr zu Lernbegleitern, die das Lernmaterial zusammenstellen und allenfalls für Schüler-Fragen zur Verfügung stehen. Eine pädagogische Einflussnahme ist nicht mehr vorgesehen. Konflikte sollen die Kinder und Jugendlichen selbst lösen. Eine junge, engagierte Lehrerkollegin, die mit Herzblut ihre Klassen unterrichtet, gestand mir, dass sie den Lehrerberuf nicht gewählt hätte, wenn sie gewusst hätte, dass sie nur noch Lernprozesse begleiten soll. Das sei nicht mehr ihr Beruf. 

Es darf doch nicht sein, dass solche Lehrkräfte der Schule verloren gehen und unsere Schulen zur Lobby der Digitalisierungsindustrie werden! 

Die Lektüre von Joachim Bauers Buch hat mich darin bestärkt, alles daran zu setzen, meine Schülerinnen und Schüler aus dem passiven Konsumentenmodus herauszuholen, in den sie viele digitale Produkte hineingeführt haben, und mit ihnen den Weg zurück in die reale Welt zu gehen. Sie müssen spüren, dass es auf sie ankommt, dass sie gemeint sind, dass sie zu viel mehr fähig sind als Chat-GPT und Konsorten. Um selbst denken zu lernen, braucht es kein neues Schulfach «Critical Thinking», wie es der Kanton St. Gallen im «Gymnasium der Zukunft» einführen will, sondern engagierte Lehrerinnen und Lehrer, Persönlichkeiten, die mit den Jugendlichen in Beziehung gehen, sich für sie interessieren und sie in den verschiedensten Disziplinen fordern und fördern. Unser Schulorchester ist der beste Beweis dafür, wozu Jugendliche fähig sind, wenn man ihnen als Mensch begegnet und ihnen reale Alternativen zur virtuellen Welt bietet. Es ist eine wahre Freude mitzuerleben, mit welchem Engagement, mit welcher Ausdauer und Freude die Jugendlichen unter Anleitung des Musiklehrers gemeinsam musizieren und zu Höchstleistungen fähig sind. Der Austausch mit Berufsmusikern und mit Jugendorchestern in anderen Ländern bietet ihnen unvergessliche menschliche und kulturelle Erfahrungen in der realen Welt. Diese Jugendlichen haben keine Zeit, neun Stunden täglich auf «Social Media» oder beim Gamen zu verbringen. 

¹ Joachim Bauer: Realitätsverlust. Wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen – und die Menschlichkeit bedrohen. München 2023. ISBN 978-3-453-21853-6

veröffentlicht 12.September 2023

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