Bundesrätin Amherd plant «Out-of-area»-Einsätze der Schweizer Armee

Angriff auf fremdes Territorium als Selbstverteidigung?

von Thomas Kaiser

Seit dem Beginn des Ukrainekriegs herrscht in Europa Kriegshysterie, die auch vor der Schweiz nicht haltgemacht hat. Der amtierende Bundespräsident, Alain Berset, bestätigte das in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag», als er von «einem Kriegsrausch gewisser Kreise» sprach.¹

Die von Putin ausgelöste «militärische Sonderoperation» wird zum Menetekel, das der Schweiz die Berechtigung und politische Zustimmung zu geben scheint, Waffensysteme zu verbessern, neue Strategien zu entwickeln, und sich näher an die Nato anzulehnen, wie im neusten Militärpapier «Die Verteidigungsfähigkeit stärken» nachzulesen ist. Dazu später mehr.

Wie schon vor 50 Jahren kommt der Feind aus dem Osten, «entschlossen, den Westen zu erobern». Über Jahrzehnte wurde den Menschen dieses Narrativ ins Hirn gebrannt. Auch wenn die Umstände heute anders sind, die Stimmung, die von Medien und Politikern verbreitet wird, ist erschreckend ähnlich.

Unverständlich bleibt, warum sich die Schweiz offensichtlich der Nato-Sichtweise anschliesst – ohne eine eigene unabhängige Analyse, die die politischen und geografischen Bedingungen unseres Landes einbezieht. Anstatt blind aufzurüsten, müsste sie sich mit aller Kraft für ein Ende des Krieges durch Verhandlungen einsetzten.

Als Anfang des 21.Jahrhunderts der deutsche Verteidigungsminister (SPD), Peter Struck, davon sprach, Deutschland müsse «seine Sicherheit am Hindukusch verteidigen», entstand in Europa eine neue militärische Dimension, ein Konzept, gemäss dem die Verteidigung nicht mehr darin bestand, die eigenen Landesgrenzen zu schützen, sondern in anderen Ländern Kriege zu führen. So erklärte Struck: «Diese moderne Sicherheitspolitik lässt sich geographisch nicht eingrenzen.»² Es schien, als sei über Nacht eine Strategie geboren, die Sicherheit des eigenen Landes mit einem Kriegseinsatz weit ausserhalb der Staatsgrenzen zu erreichen. Erster Testfall war 1999 der Krieg gegen Serbien. Nach dem Krieg erklärte der Pressesprecher der Nato, Jamie Shea, dass es gelungen sei, die Bevölkerung in Deutschland und anderen Nato-Ländern zu überzeugen, dass zur Verteidigung der eigenen Sicherheit militärische Einsätze weit ausserhalb der Landesgrenzen geführt werden müssten.³ «Out-of-area»-Einsätze hiess die neue Strategie. Für Deutschland, das sich am Krieg gegen Serbien beteiligte, war das ein Tabubruch und eine eklatante Verletzung des Artikels 26 des Grundgesetzes, nämlich «dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen» werde und «Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen».⁴

Militärisch oder geheimdienstlich destabilisiert

Verteidigung bedeutete also seither nicht nur Schutz der eigenen Grenzen, sondern kriegerische Einsätze weit ausserhalb des eigenen Territoriums. Mit dem in der Uno-Charta verbrieften Selbstverteidigungsrecht hat das nichts zu tun, ist also ein Völkerrechtsbruch.⁵

Die Aussenpolitik der USA hielt sich selten an das Völkerrecht und wenn, dann nur zum eigenen Vorteil. Die USA nahmen und nehmen noch heute für sich das Recht in Anspruch, in allen Staaten dieser Erde militärisch oder geheimdienstlich zu intervenieren, wenn sie eine eigenständige, von den USA unabhängige Politik anstreben. Staaten wie Korea, Iran, Guatemala, Kongo, Kuba, Vietnam, Chile, El Salvador, Nicaragua, Panama, Libyen, Syrien und viele weitere können ein Lied davon singen.

Vom Kommunismus zum Terrorismus

Die Liste der Länder, die in den «Genuss» US-amerikanischer Intervention kamen, ist also lang. Nach dem Ende des Kommunismus war der islamische Terrorismus der neue Feind. Das Vorgehen war immer gleich, ob in Afghanistan oder im Irak, Libyen oder Syrien. Die USA erklärten die Staaten zu Unterstützern von Al Kaida, was alles rechtfertigte. Inzwischen stehen Russland und China auf der Liste feindlicher Staaten, die bis jetzt nur indirekt mit Sanktionen und Waffenlieferungen an «befreundete» Staaten bekämpft werden.

Bei allen Interventionen erfanden die USA Gründe, um ihren «Out-of-area»-Einsätzen einen legitimen Charakter zu geben. Dazu gehören unter anderem Geschichten wie Saddam Husseins Atomwaffen oder Gaddafis Bombardierung der Zivilbevölkerung. Eine Bedrohung der territorialen Integrität der USA lag niemals vor. Aber die USA hätten an Einfluss verloren, wenn sich diese Länder einen eigenen unabhängigen Weg gesucht hätten. Das Ganze ist ein krasser Verstoss gegen das Völkerrecht.

Dazu benutzt man also Einsätze ausserhalb der Landesgrenzen.

«Out-of-area»-Einsätze der Schweiz

Eine Landesverteidigung – wie der Name schon sagt – konzentriert sich darauf, die Grenzen des eigenen Landes zu verteidigen und zu schützen. Die Armee verhindert, dass der Feind ins Land eindringen kann. Alles andere hat mit Landesverteidigung und Schutz der Bevölkerung nichts zu tun. Das stört Bundesrätin Amherd nicht. Sie unterstützt «Out-of-area»-Einsätze – im Sinne militärischer Intervention im Ausland – und findet auch die «richtigen» Worte, um in der Öffentlichkeit Zustimmung für die neue Ausrichtung der Verteidigungsstrategie zu erhalten: «Wenn man wartet, bis die Rakete im Haus einschlägt, muss man nicht mehr verteidigen. Dann ist es zu spät. Man muss schauen, dass man sie bereits aufhalten kann, bevor sie ihr Ziel erreicht.»⁶ Die hier präsentierte Idee existiert nicht erst seit dem Ukrainekrieg. Im Zusammenhang mit der Armeereform «Armee XXI» wurden solche Szenarien angedacht. Dazu gehörte die Interoperabilität, die in Anlehnung an die Nato immer mehr umgesetzt wird, und mögliche Einsätze ausserhalb der Landesgrenzen. Die Schweiz verteidigt sich nicht mehr allein, sondern im Verbund mit der Nato, obwohl sie kein Nato-Mitglied ist und ein Beitritt mit der Neutralität nicht zu vereinbaren wäre. Zwar betont Armeechef Süssli, man müsse die Landesverteidigung stärken – was grundsätzlich zu befürworten ist –, um Land und Leute zu schützen, doch stellt sich die Frage, vor wem, mit welcher Strategie und mit welchen Mitteln?

Der Kauf des amerikanischen Kampfjets F-35 bedeutet doch einen weiteren Schritt in Richtung Nato, denn Nato-Länder führen diesen auch in ihrem Arsenal. Das passt bei einem gemeinsamen Einsatz gut zusammen. War die Auswahl des F-35 bereits dem Umstand der Interoperabilität und «Out-of-area»-Einsätzen geschuldet? Was diese im Verbund mit den USA bedeuten können, ist zu genüge bekannt.

Absurd und fern jeglicher Realität

Stellen wir uns einmal folgendes klischeehafte und hypothetische Szenario vor, denn von diesem scheinen unsere Verantwortlichen der Landesverteidigung als realistische Möglichkeit auszugehen: Die russische Armee greift die Schweiz an, weil sie die Kontrolle der Alpenpässe als wichtige Voraussetzung für ihren Feldzug gegen Südeuropa sieht, nachdem Ost- und Westeuropa in einem heftigen Krieg erobert worden sind. Auch ist es verlockend, den Bankenplatz Schweiz zu kontrollieren. Das heisst, die russische Armee ist bereits durch die Ukraine oder Polen – immerhin ein Nato-Land – marschiert, dann durch Deutschland, bis sie an der Grenze der Schweiz steht. Währenddessen versuchen Schweizer F-35 Kampfjets den Hafen von Sewastopol, die herannahenden russischen Truppen im Schwarzwald, das neue Hauptquartier-Süd der russischen Armee in Stuttgart und sensible Infrastruktur der Russen an der polnischen Grenze zu bombardieren. Ist das tatsächlich realistisch? Gleichzeitig wird uns von Experten weisgemacht, die russische Armee sei unfähig, die Ukraine zu besiegen, und nicht in der Lage, das gesamte Land einzunehmen; die Soldaten liefen aus Angst reihenweise davon, die Militärführung sei desorientiert und stümperhaft, die Armee in einem desolaten Zustand. Und diese unfähige Armee soll also durch mehrere Nato-Länder marschieren – die nach Artikel 5 des Nato-Vertrags von allen übrigen Nato-Ländern Unterstützung bekommen – und am Schluss unser Land erobern. Das ist doch absurd und fern jeglicher Realität.

Was stimmt denn jetzt? Ist die Armee Russlands in der Lage, Europa zu erobern und bis an die Schweizer Grenze vorzustossen, oder ist es eine Armee von Dilettanten, die schon gegen einen schwachen Staat wie die Ukraine scheitert? Russland hat keinen Grund, solch einen Feldzug auszulösen, auch wenn die Einschätzung der «Experten» über die russische Armee an den Haaren herbeigezogen ist.

Engere Zusammenarbeit mit der Nato

Dennoch argumentiert man weiterhin mit einer gefährlichen Bedrohung durch Russland.

Ein Blick in das neue Schweizer Armeepapier «Die Verteidigungsfähigkeit stärken» enthüllt, worum es wirklich geht. Erst wurde die politische Neutralität schwer beschädigt, jetzt folgt die militärische:

«Wird die Schweiz militärisch angegriffen, fallen die neutralitätsrechtlichen Verpflichtungen weg. Der Schweiz steht es dann frei, sich gemeinsam mit ihren Nachbarn zu verteidigen oder mit einem Bündnis wie der Nato zusammenzuarbeiten.

Eine solche Kooperation ist allerdings nur möglich, wenn auch die Schweizer Armee substanzielle Leistungen erbringen kann. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass kein Partner mit der Schweiz eine Kooperation eingehen wird, wenn er die gesamte Last alleine zu tragen hat.»

Im Klartext: Die Schweiz gibt bereits in Friedenszeiten die Neutralität auf und dient sich schon präventiv der Nato an, um bei einem russischen Angriff auf ihre Unterstützung zu zählen. Unter dieser Prämisse wird auch klar, warum die Schweizer Armee Angriffe ausserhalb des eigenen Territoriums durchführen soll. Es gehört ins Konzept der USA und der Nato. Der F-35 als US-amerikanischer Kampfjet ist dafür prädestiniert, und der Verkauf der eingemotteten Kampfpanzer wird den Goodwill der Nato gegenüber der Schweiz steigern.

Doch damit nicht genug. Weiter heisst es: «Um Angriffe gegen die Schweiz erfolgreich zu verhindern und abzuwehren: – schwächt oder zerschlägt die Armee angreifende gegnerische Kräfte bereits ausserhalb der Landesgrenzen insbesondere durch offensive Aktionen gegen Bereitstellungen, Versorgungslinien, Führungseinrichtungen und Schlüsselsysteme in allen Wirkungsräumen.»

Das ist reiner Wahnsinn. Wir leben in einer Zeit völliger Verwirrung, die nicht vom Krieg gegen die Ukraine ausgelöst wurde, sondern schon lange zu beobachten ist, und nun ungeschminkt an die Oberfläche gespült wird.

Russland hat noch nie der Schweiz gedroht

Russland ist der «grosse Feind», und die USA im Verbund mit der Nato «der grosse Freund». Noch nie hat Russland in der jüngeren Geschichte die Schweiz bedroht noch in die inneren Angelegenheiten unseres Landes eingegriffen. Die USA, Deutschland, Frankreich und so weiter. haben der Schweiz in den letzten zwei Jahrzehnten immensen Schaden zugefügt und sich direkt in die inneren Angelegenheiten unseres Landes eingemischt: Man denke nur an die Forderung, die Schweizer Steuergesetze denjenigen der USA anzupassen oder an die Drohung gegenüber Schweizer Banken, wenn das Bankkundengeheimnis nicht falle, nicht mehr in den USA arbeiten zu können, an gestohlene Bank-CDs, um Druck auf die Schweiz auszuüben, bis hin zu Peer Steinbrücks Kavallerie, deren Existenz alleine den anderen gefügig machen soll, und vieles mehr. Das Spiel der Macht kennt keine Grenzen und keine Freunde.

Man kann sich vorstellen, welchen Preis die Schweiz zu zahlen hat, damit die Nato uns «schützt». Wenn die Särge unserer Töchter und Söhne in Kloten ankommen, ist es zu spät.

¹ magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/ich-spuere-heute-in-gewissen-kreisen-einen-kriegsrausch-ld.1730007?reduced=true
² www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-des-bundesministers-der-verteidigung-dr-peter-struck--784328
³ www.dailymotion.com/video/x29w01f
www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/artikel-26-grundgesetz-und-seine-mangelhafte
unric.org/de/charta/#kapitel7
www.swissinfo.ch/ger/wirtschaft/schweizer-armee--verteidigen-kann-neu-heissen---offensive-luftschlaege-im-ausland/48841776
www.vtg.admin.ch/content/vtg-internet/de/die-schweizer-armee/grundlagen/zukunft/zielbild-und-strategie-fuer-den-aufwuchs/_jcr_content/contentPar/tabs/items/59_1692109071424/tabPar/downloadlist_copy/downloadItems/180_1691408900629.download/81_298_d_Zielbild-und-Strategie_2023.pdf

veröffentlicht 3.Oktober 2023

Zynismus der westlichen Länder gegenüber der Ukraine

«Die USA waren sich im Klaren, dass die Offensive keinen Erfolg haben würde»

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild thk)
Jacques Baud (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Ihr Buch «Putin – Herr des Geschehens?» ist vor etwa zwei Monaten auf Deutsch erschienen. Was hat es für Reaktionen ausgelöst?

Jacques Baud In den Mainstream-Medien wurde es kaum erwähnt, aber ich weiss, dass sehr viele Journalisten aus den grossen Medienhäusern es gelesen haben. Es beruht auf Fakten, die mit Quellen belegt werden. Es enthält andere Aspekte und Einschätzungen, als die, die tagtäglich von den Mainstream-Medien verbreitet werden. Aufgrund der vielen Quellen, die die Beurteilung der Vorgänge belegen, ist es sehr schwierig, Kritik daran zu üben. Das ist sicherlich auch der Grund, warum ich keine negativen Kritiken erhalten habe, obwohl ich glaube, dass dieses Buch viele Menschen verstört. In den Rückmeldungen einiger Journalisten habe ich festgestellt, dass sie über den Konflikt sehr schlecht informiert sind. Viele fragten mich nach Informationen, die von den Ukrainern selbst gegeben worden waren! Sehr viele haben auf das Buch gewartet. Viele merken jetzt, dass alles, was über die Ukraine, die Russen und den Krieg berichtet wurde, nicht stimmt. Die Schwierigkeiten in der Ukraine sind massiv. Nicht nur auf der militärischen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene: mit Anpassung der Gesetze, die Verstärkung der Strafen gegen Deserteure, Verbot der Ausreise und so weiter. Das sind alles Indikatoren dafür, dass die ukrainische Verteidigung nicht so funktioniert, wie sie bei uns dargestellt worden ist. Diese Diskrepanz zwischen dem, was man heute sieht und hört, und dem, was man uns vor anderthalb Jahren erzählt hat, ist das Haupthindernis für die Lösung des Konflikts. Ganz konkret bedeutet das, unsere Medien sind die Architekten der Niederlage der Ukraine und die Ursache, dass keine Verhandlungslösung gefunden wird. 

Sie haben Schwierigkeiten der Ukraine auf militärischer und gesellschaftlicher Ebene erwähnt. Wie hat sich die militärische Lage seit der Sommeroffensive entwickelt? Haben wir immer noch den Status quo: Die Ukrainer greifen an, und die Russen lassen sie dabei ins Messer laufen?

Das ist genau so. Seit dem Oktober letzten Jahres haben die Russen, und das wurde von General Sorowikin deutlich kommuniziert, eine neue Strategie gefahren: Wir werden keine grossen Operationen mehr durchführen. Wir werden auf den Feind warten und ihn systematisch vernichten. Dadurch entstand der Ausdruck, der für Bachmut benutzt worden ist: «Der Fleischwolf». Die Russen planten diese Strategie genau, bereiteten sie vor und führten sie durch. Sie erstellen seit fast einem Jahr ein Verteidigungsdispositiv entlang der Frontlinie, das in der Tiefe gestaffelt ist. Die erste Zone ist eine Überwachungszone, als nächstes folgt eine zwei- bis dreistufige Verteidigungslinie, die sogenannte Surowikin-Linie. Die erste Zone bildet ein Landstreifen mit einer Breite von ungefähr 5 bis 10 Kilometern. In dieser Überwachungszone gibt es kein Verteidigungsdispositiv, aber Minenfelder. Auch operieren dort leichte dynamische Verbände, sogenannte Panzerjäger, die ausgebildet und ausgerüstet sind, Panzer zu jagen und diese zu bekämpfen. Unterstützt werden sie dabei durch Drohnen. In einigen Gebieten scheinen die Russen sogar Roboter getestet zu haben. Es gibt keine befestigten Verteidigungsanlagen wie Panzersperren, Schützengräben und so weiter. Diese Zone hat nicht das Ziel, den Feind zu stoppen, sondern ihn zu filtrieren und zu kanalisieren. Es geht darum, zu verhindern, dass sich die ukrainische Armee entfalten und einen Hauptstoss bilden kann und so weiter. Die dort vorhandenen Minenfelder können relativ einfach überquert werden, wenn man die richtigen Mittel dafür einsetzt. Hat der Feind eine Bresche in das Minenfeld geschlagen, wird der feindliche Panzer kanalisiert. Er wird dann genau dort durchkommen, wo man ihn erwartet und wo er unschädlich gemacht werden kann. 

Ein ähnliches Verteidigungskonzept gab es auch in der Schweizer Armee. Man hatte Minenfelder rund um die Schweiz und dahinter auch eine dynamische Verteidigung mit Panzern und Ähnlichem. Auch hier ging es darum, den Feind zu kanalisieren. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass die Russen ihre Aufklärungs- und Feuermittel in ein einziges Führungssystem integriert haben, das es ihnen ermöglicht, in Echtzeit zu reagieren. 

Obwohl laut ukrainischen Quellen die Offensive offiziell bereits im Mai begonnen hat, gehen wir von einem Beginn am 4. Juni aus, was bereits mehr als drei Monate her ist. In dieser Zeit erreichten die Ukrainer nicht einmal die Surowikin-Linie der Russen. Der Durchbruch, der erwartet worden war, erfolgte nicht. Was übrig bleibt, sind Kapazitäten, die nicht mehr ausreichen, um einen weiteren Vorstoss durchzuführen. Man kann sagen, militärisch ist die Gegenoffensive ein Misserfolg. 

Dann gehört der in unseren Medien aufgeblasene «Durchbruch von Rabotino» ins gleiche Kapitel?

Ja, so ist es. Die Ukrainer sind zwar in die Nähe der ersten Verteidigungslinie gekommen, waren im Raum Rabotino, aber ein Durchbruch ist nicht gelungen. Tarnavskij, General der ukrainischen Streitkräfte, berichtete, es hätte einen Durchbruch gegeben. Er betrachtete die Sicherheitszone als Verteidigungslinie. Man spielt hier mit Begriffen. 

Aber Fakten sind Fakten: Es gibt keinen Durchbruch. Man weiss, die USA waren sich im Klaren, dass die Offensive keinen Erfolg haben würde. Die Situation wurde mit einem Kriegsspiel durchgespielt. Es hat gezeigt, dass das keinen Erfolg bringen wird. Die USA haben die Ukraine in die Offensive gegen die Russen einsteigen lassen, wohlwissend, dass sie verlieren wird. Das zeigt den Zynismus der westlichen Länder gegenüber der Ukraine.

Muss man sich das Kriegsspiel wie ein Computerspiel vorstellen mit Simulation und Algorithmen, um zu einer möglichst realistischen Darstellung und Einschätzung zu kommen?

Es ist genau das. Es ist eine modellhafte Simulation eines Kampfes. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg bis in die 60er, 70er Jahre hatte man das im Sandkasten gemacht, bis die Computerisierung weit genug fortgeschritten war, um das am Bildschirm zu simulieren. So konnte man die Möglichkeiten des Feindes und die eigenen ausloten. Man versucht, die möglichst beste Entscheidung zu treffen. Die Schweiz arbeitet ebenfalls mit Simulationen.

Warum liessen die USA die Ukraine mit der Frühjahrsoffensive in dieses Desaster laufen, obwohl sie doch genau wussten, dass es nicht gelingen wird, die Russen zurückzudrängen?

Das Ziel der westlichen Länder war nicht der Sieg der Ukraine, sondern die Niederlage Russlands. Das scheint zunächst das Gleiche zu sein, aber es gibt einen Unterschied. Der Ukraine geht es darum, das Territorium zurückzuerobern. Das ist verständlich. Ihr Ziel ist die Wiederherstellung der territorialen Integrität und der Souveränität über die eroberten Gebiete. Im Westen ist die Zielsetzung etwas anders. Schon am Anfang – das weiss man aus Aussagen Arestovytschs sowie der Rand-Cooperation im Frühling 2019 – war es das Ziel der USA, einen Sturz der Regierung in Russland zu erreichen. Man wusste und weiss, dass die Ukraine nicht die Stärke und auch nicht die Fähigkeit hat, die Russen militärisch zu besiegen. Aber man war überzeugt, dass ein längerer Krieg die russische Bevölkerung beeinflusst. Man erwartete in diesem Krieg eine Ermüdung der Russen. Am Schluss sollte der verlängerte Krieg eine politische Krise auslösen, die zum Sturz der jetzigen Regierung führen sollte. Das Grundelement für diese Idee ist die Überzeugung des Westens, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung Putin hasst und jede Möglichkeit sucht, um gegen die Regierung vorgehen zu können. Das ist die Logik.

Ich möchte nochmals auf Rabotino zurückkommen. Wurden die Ukrainer wieder aus der Sicherheitszone herausgedrängt?

Das Problem ist, dass Rabotino an der Frontlinie liegt. Es ist sozusagen das, was man im Ersten Weltkrieg als «Niemandsland» bezeichnete. Das Dorf liegt in der Kampfzone, aber die Ukraine hat es nicht unter Kontrolle. Doch was heute gilt, ist morgen vielleicht nicht mehr wahr, da die Ukrainer vorrücken und sich wieder zurückziehen. Die Russen lassen die Ukrainer vorrücken, zerstören sie mit Artillerie und gewinnen dann wieder an Boden; das gleiche Szenario wiederholt sich unaufhörlich. Im Fall von Rabotino setzten die Ukrainer etwa 10 Brigaden in diesem Gebiet ein und erlitten enorme Verluste. Rabotino ist ein Dorf und hatte vor dem Krieg etwa 480 Einwohner. Die Menschen wurden natürlich evakuiert. Das ist im Grunde genommen ein unbedeutendes Dorf. Die 12 Brigaden, die für diese Gegenoffensive vorbereitet, ausgerüstet und ausgebildet wurden – 9 Brigaden im Westen, zum Beispiel in Deutschland und so weiter, und drei Brigaden in der Ukraine – waren an dem Vorstoss beteiligt. 

Vor einigen Tagen führten die Russen eine Rotation der im Sektor Rabotino eingesetzten Truppen durch. Offenbar wechselten sie nur 500 Mann aus. Die Zahl ist nicht bestätigt, aber sie könnte darauf hindeuten, dass den zehn Brigaden etwa 500 Männer gegenüberstanden. Wenn dies zutrifft, bedeutet dies, dass diese 500 Männer 30- bis 40 000 ukrainische Soldaten zurückgehalten hätten. Dies ist nicht unmöglich, wenn man das Gelände einbezieht. Vor allem aber könnte die bemerkenswerte Integration des Kampfs der verbundenen Waffen durch die  russische Führung diesen Erfolg erklären. 

War diese Taktik nicht auch an anderen Orten für die Russen erfolgreich?

Ja, die Taktik der Russen wurde in Charkow im September 2022 und in Cherson im Oktober 2022 angewendet. Damals hatten unsere Medien das so interpretiert, dass die Ukraine eine viel bessere operationelle Führung habe und den Russen überlegen sei. Das ist eine falsche Beurteilung. Ich hatte das immer wieder erklärt: In Charkow und Cherson zogen sich die Russen zurück, weil sie die Gebiete nicht verteidigen, die Frontlinie verkürzen und in ihrem Dispositiv eine höhere Dichte in der Verteidigungslinie wollten. Sie verliessen diese Gebiete, erst dann «griffen» die Ukrainer an. Die USA entdeckten damals, dass die Russen diese Gebiete verlassen hatten und informierten die Ukrainer. Zu dem Zeitpunkt hatten die Ukrainer eine Offensive im Gebiet um Cherson. Die USA teilten ihnen dann mit, dass sie jetzt nach Charkow wechseln sollten. Die Ukraine warf ihre Pläne über den Haufen und verlegte Truppen nach Charkow. Dort kamen sie in ein leeres Gebiet. Sobald die Ukrainer weiter in Gebiete vorstiessen, wurden sie vom Artilleriefeuer der Russen empfangen und hatten grosse Verluste, obwohl es zu keiner Schlacht kam. In unseren Medien konnte man dann über den Erfolg der Ukrainer lesen. Tatsächlich wurden sie in eine Falle gelockt und von massiver russischer Artillerie empfangen. 

Das ist auch der Grund, warum Selenskij einen Monat später sehr vorsichtig war, Charkow anzugreifen. Er hat gesagt, sie würden erneut in eine Falle gelockt. Er hatte Recht! Bei der ukrainischen Gegenoffensive wandten die Russen die gleiche Taktik an.

Der Westen erwartete aber, sobald die Gegenoffensive beginne, würden die Russen sofort in Panik geraten und fliehen. Die Folge wäre eine politische Krise in Russ­land, indem die Bevölkerung gegen die Regierung auf die Strasse ginge. Diese Krise würde den Sturz Putins bewirken. Das war eine verrückte Idee …

Bei jeder militärischen Operation steckt immer die gleiche Idee dahinter, die russische Bevölkerung zu einem Aufstand zu bringen oder den Sturz Putins zu erreichen. Ist das nicht fern jeglicher Realität?

Ja, das ist eine falsche Einschätzung des Westens über die Stimmung in Russland. Man ignoriert die Realität seit dem Beginn der «Sonderoperation». Im Januar 2022 lag die Popularitätsquote Putins bei etwa 69 Prozent. Nach dem Beginn der Sonderoperation in der Ukraine stieg diese Quote auf 80 Prozent. Seit diesem Zeitpunkt erreichte sie über 80 Prozent. Sie schwankte zwischen 80 und 83 Prozent. Es gab eine Ausnahme im Oktober 2022. Nach dem Verlassen von Charkow sank die Quote auf 77 Prozent. Danach kletterte sie wieder auf die erwähnten 83 Prozent. Was können wir daraus schliessen? Die politische Unterstützung für Putin ist extrem stark. Die Befürwortung der Militäroperation ist bei der Bevölkerung sehr hoch und liegt seit Februar 2022 im Durchschnitt bei 75 Prozent. Im Klartext heisst das, 20 Prozent sind dagegen, 5 Prozent wissen es nicht, was sie dazu denken sollen, und 75 Prozent stehen hinter Putin. Also die Idee, dass man durch diese Strategie eine politische Krise auslösen und den Regierungswechsel erreichen könnte, ist illusorisch. Darum haben die ganzen Geschehnisse um Prigoschin im Westen einen so grossen Widerhall gefunden. In den westlichen Ländern behaupteten die Pseudoexperten und Journalisten unserer Medien, der Plan werde jetzt aufgehen. Die Gegenoffensive im Süden werde einen destabilisierenden Effekt haben und dieser werde Wirkung zeigen. Das war aber eine falsche Interpretation dessen, was Prigoschin gemacht hatte. Das ist genau der Mechanismus einer Verschwörungstheorie. Man nimmt Elemente, die einem passen, und erstellt damit eine Geschichte. Genauso sind die Medien seit Februar 2022 vorgegangen. Das ist der Grund, warum heute niemand begreift, dass durch diese Fehlinformationen die Ukraine den Preis bezahlt. Aufgrund dieser Falschinformationen und Fehlbeurteilung haben wir das Desaster in der Ukraine.

Wie realistisch ist die Behauptung, Selenskij habe 400 Millionen an US-amerikanischen Geldern für sich und seine engsten Mitarbeiter abgezweigt? 

Darüber kann ich nichts sagen. Das ist eine Aussage des berühmten US-Journalisten Seymour Hersh, der ein hohes Ansehen in den USA geniesst. Aber grundsätzlich ist Korruption ein eindeutiges Problem in der Ukraine, das nun mehr und mehr an die Oberfläche gelangt. Im Grunde genommen weiss man das schon lange. Als ich mit der Nato in der Ukraine war, gab es ein Programm, um diese Korruption zu bekämpfen. Sie hat sich trotz allem nicht gebessert. Es gibt eine Studie des «Kiew Institut of Sociology». Sie haben dazu eine Umfrage gemacht. 89 Prozent der Bevölkerung sehen in der Korruption das grösste Problem in der Ukraine. 81 Prozent denken, die politische Korruption sei am meisten verbreitet. 95 Prozent sind der Auffassung, dass Korruption in der ganzen Ukraine verbreitet sei. Interessant ist, dass 78,5 Prozent der ukrainischen Bevölkerung der Meinung sind, dass Selenskij für diese Korruption verantwortlich sei. Die ukrainische Bevölkerung hat kaum Vertrauen in die Regierung. Unsere Medien wie «NZZ», «Blick» und so weiter, die sagen, die Ukraine sei ein demokratischer Staat, lügen, denn nicht einmal die ukrainische Bevölkerung hat diese Sichtweise. Der ukrainische Verteidigungsminister Resnikow wurde unter dem Vorwand der Korruption entlassen. Man weiss seit Monaten, dass er korrupt ist. Der Hauptgrund, dass er entlassen wurde, ist der Misserfolg der Gegenoffensive im Süden der Ukraine. Allen wurde jetzt klar, dass die Ukraine einen Misserfolg erlitten hatte. Es wäre undenkbar gewesen, dass Selenskij nicht darauf reagiert hätte. Er wollte seine Generäle, vor allem General Salushnij, den Kommandanten der ukrainischen Streitkräfte, und General Zirsky, Chef des Heeres, nicht entlassen. Das sind Generäle, die das Vertrauen von Selenskij geniessen. Er will diese nicht entlassen. Der Verteidigungsminister hat jetzt einen Posten als Botschafter in London. Hierbei handelt es sich um ein Signal an den Westen, dass Selenskij etwas gegen die Korruption tut. Es ist aber eine Reaktion auf den Misserfolg. 

Laut einer Umfrage will die Bevölkerung, dass man den Krieg weiterführt.

Ja, das ist logisch. Ob die Bevölkerung immer noch Vertrauen in Selenskij hat, ist für mich eine offene Frage. Es ist egal, wie die Einstellung am Anfang der Militäroperation war, jetzt wollen sie den Krieg. Sie wollen Rache und so weiter. Das sind alles Aspekte, die anfänglich noch keine Rolle gespielt haben. Das ist logisch. Ehrlicherweise muss man auch sagen, dass die Ukrainer nicht richtig über den Krieg informiert sind. Sie haben den Eindruck, ihr Land sei am Gewinnen. Denn die Desinformation, die wir in Europa erleben, widerspiegelt sich in der ukrainischen Bevölkerung. Viele Berichte in der ukrainischen Presse zeigen, dass die ukrainischen Soldaten von unseren Medien getäuscht wurden: Ihnen wird gesagt, dass die Russen geschwächt seien, keine Munition mehr hätten und schlecht kommandiert würden. Wenn sie jedoch an der Front sind, sehen sie, dass genau das Gegenteil der Fall ist. In Europa wird jede Information, die gegen das offizielle Narrativ geht, gestrichen. Die Bevölkerung ist überzeugt, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Die russische Armee verliert mehr Soldaten als die Ukraine und so weiter. Das Bild, das die Ukrainer haben, entspricht nicht der Realität. Wenn man im Krieg ist, dann gilt diese Logik. Es ist kaum zu erwarten, dass die Ukrainer irgendwelche Sympathien für die Russen haben. Anfang 2022 war das sicher noch nicht so stark. Aber seither ist viel passiert, und sie haben den Krieg jeden Tag. Das Problem ist, sie haben so viel investiert, persönlich, finanziell und menschliches Leben, sie können nicht einfach zurückgehen. Sondern die Stimmung ist, weiter vorwärts zu gehen, weil man den Krieg gewinnt. 

Es gab eine Umfrage, ebenfalls des «Kiew Institut for Sociology», die gezeigt hat, dass 63 Prozent der Bevölkerung mindestens drei Personen kennen, die in diesem Krieg gestorben sind.

Lassen Sie mich noch auf ein anderes Thema zu sprechen kommen. Vor ein paar Wochen wurde die Regierung in Niger gestürzt. Die Medien vermittelten das Bild, Russ­land könnte etwas damit zu tun haben. Auf Demonstrationen in der Hauptstadt wurden angeblich auch russische Fahnen geschwenkt. Stimmt das Bild, das hier vermittelt wird?

Nein, das ist falsch. Die Russen waren an diesem Putsch nicht beteiligt. Das war die Präsidialgarde. Das kommt in afrikanischen Ländern immer wieder vor, dass die Präsidialgarde den Präsidenten verhaftet und absetzt. Mehr ist es nicht. Er steht unter Hausarrest. Es braucht keine grosse Organisation, auch nicht die Unterstützung durch einen fremden Staat. Das Problem in Niger, in Mali, in Burkina Faso ist, dass die Franzosen einen Krieg führen, der nirgends hinführt. Alle wissen es. Ich war mehrmals in Mali und sprach mit vielen Menschen, auch mehrmals mit intellektuellen Journalisten, die das bestätigten. Es gab keine richtige Strategie. Die Regierung des Landes hatte keinen Einblick in diese Strategie und nicht einmal die Möglichkeit, ein Wort dazu zu sagen. Das ist der Grund, warum Mali und auch Niger die Franzosen dort nicht mehr wollen. Die malische Regierung hat die Franzosen aus dem Land geworfen. Danach verschoben sie ihre Truppen nach Niger und bauten dort eine ziemlich grosse Militärbasis. Die USA haben drei Basen im Niger. Der Westen betreibt einen Krieg, der die ganze Region destabilisiert. Das will er natürlich nicht akzeptieren, aber diese Länder sagen einfach «stopp». Wir haben heute die Situation, dass die Menschen in ihrem eigenen Land bestimmen wollen. Sie möchten die Europäer weghaben und haben mehr Vertrauen gegenüber den Russen. Der Grund ist, dass die Europäer die afrikanischen Länder falsch behandeln. Man sagt, die Russen hätten dieses und jenes gemacht. Das ist Unsinn, sie haben sich nicht eingemischt. Niger hat aktuell ein Abkommen mit Russ­land geschlossen, aber es wird sich nicht in die Lokalpolitik einmischen, auch die Chinesen tun das nicht. Bei den Franzosen ist es genau das Gegenteil. Sie mischen sich in die Lokalpolitik ein. Sie kommen wie die USA mit ihren gesellschaftlichen Vorstellungen und überfahren die Menschen. Sie wollen die Rolle der Frau ändern, die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen steuern. Dass man die Situation der Frau verbessert, ist an und für sich keine schlechte Idee, aber man muss sich an der lokalen Kultur orientieren. Man kann nicht kommen und sagen: «Vergessen Sie Ihre Kultur, wir wissen und bestimmen, was für Sie gut ist.» Das haben die Afrikaner endgültig satt. Es ist offensichtlich, dass die Russen und die Chinesen nicht so vorgehen. Sie wollen helfen, aber sie sagen nicht, was die anderen zu tun haben. Es gibt keine Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben und die Organisation des Staates.

Die westlichen Länder, wie Sie eben sagten, hätten die Länder destabilisiert, was offenkundig ist. Was ist das Ziel?

Hier muss man vorsichtig sein. Die westlichen Länder haben die Region destabilisiert, aber ich glaube nicht, dass dies beabsichtigt war. Das liegt vor allem daran, dass man, ohne Strategie und ohne die Auswirkungen zu bedenken, Politik betreibt. Das ist eher das Ergebnis des fehlenden Hirns unserer Politiker als machiavellistischer Pläne. Wenn man in den Ländern Mali oder Niger mit den Leuten spricht, sagen sie einem, das Problem habe begonnen, als 2011 Frankreich, Grossbritannien und die USA in Libyen Gaddafi gestürzt hätten. Dadurch wurde der ganze Norden in Afrika destabilisiert. Gaddafi hatte mit seiner Kenntnis über die Verhältnisse, die Gesellschaft und Kultur in diesem Gebiet eine zentrale Funktion, die Gesellschaft in dieser Zone im Gleichgewicht zu halten. Nachdem Gaddafi gefallen war, begannen alle diese Stämme, sich gegenseitig zu bekämpfen. Das ist das ganze Problem in der Sahel-Zone, vom Sudan bis nach Mauretanien. Heute hisst man die islamische Flagge dort, aber es geht nicht um Religion. Es ist ein Mittel, um die Menschen gegen den westlichen Einfluss zu mobilisieren. Aber die bestehenden Probleme haben nichts mit der Religion zu tun. Die Probleme entstanden vor allem aus der Stammeskultur heraus, und die Stämme können nicht zusammenleben. Sie kämpfen gegeneinander seit Jahrhunderten. So ist zum Beispiel die Situation in Mail. Wenn man die Probleme lösen will, geht das nicht auf europäische Art, sondern auf afrikanische Art. Bei uns ging es darum, einfach Leute zu töten, denn in unseren Augen sind das alles «Terroristen», und das löst das Problem nicht. Dieses Verhalten der Franzosen hat die Spannungen massiv erhöht, und zwar im ganzen Gebiet. Das ist der Grund, warum die Afrikaner die Europäer nicht mehr haben wollen. Die Europäer verstehen die Situation ganz und gar nicht. Die sogenannte französische Erfahrung in Afrika ist total verschwunden. Diejenigen, die heute in Afrika sind, haben keine Erfahrung. Vor 70 Jahren gab es Leute, die in Afrika gelebt hatten. Sie hatten eine sehr tiefe Kenntnis über die Stämme. Dadurch konnten sie das Gleichgewicht zwischen ihnen aufrechterhalten. Dieses Know-how ist verschwunden. So kann man das grundsätzliche Problem nicht lösen und dessen Ursache beheben.

Spielen Bodenschätze keine Rolle? Gibt es nicht viel Uran in Mali?

Ja, Uran gibt es, aber das ist nicht unbedingt das Problem. Mali hat diese Bodenschätze, und sie werden das an denjenigen verkaufen, der es haben möchte. Die Bodenschätze sind sicher ein Aspekt und der Preis, den Frankreich dafür bezahlen muss, sie sind aber nicht das Hauptelement. Das zentrale Problem ist der Eingriff in die Gesellschaft und der mangelnde Respekt des Westens gegenüber den afrikanischen Ländern und ihrer Kultur. Es wäre nicht richtig, wenn man die Entwicklung in Niger oder Mail nur auf das Uran reduzieren würde. Es sind mehrere Faktoren, die hier eine Rolle spielen.

Herr Baud, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschul­institut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete unter anderem für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

veröffentlicht 3.Oktober 2023

2,2 Billionen Dollar für militärische Rüstung – wozu?

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Was für Erkenntnisse haben Sie aus dem G-20 Gipfel gewonnen?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Am G-20 Gipfel wurde deutlich, dass der globale Süden nicht mehr bereit ist, die Vorgaben und Vorstellungen des Westens mitzutragen. Das zeigt sich bei der Abschlusserklärung sehr deutlich, in der aufgrund Indiens – trotz westlicher Druckversuche – mit Unterstützung vieler Staaten aus der südlichen Hemisphäre die explizite Verurteilung Russlands nicht mehr enthalten ist. Dafür wird aber auf die Uno-Resolution verwiesen, in die der wichtige Punkt «mit Verhandlungen den Krieg zu beenden» von den «Aufbruchsländern» eingebracht wurde. Länder wie Deutschland oder die USA mussten das schlucken. Vor einigen Jahren wäre das so nicht möglich gewesen. Das ist ein tiefgreifender Wandel, der sich ganz deutlich abzeichnet. Er setzt sich fort auch in den Debatten, die wir in der UN-Generalversammlung erleben. Bei den Reden der lateinamerikanischen Präsidenten wie Lula da Silva oder Gustavo ­Petro, die gewählten Vertreter Brasiliens und Kolumbiens, bei deren Wahlen ich anwesend war, haben sehr deutliche Worte zur dringenden Reform der internationalen Finanzarchitektur wie IWF, Weltbank und WTO gefunden. In den südlichen Ländern werden diese Institutionen als ungerecht empfunden. Auch wurde die Doppelmoral bezüglich des Kriegs angeprangert, wie man zum einen mit dem Ukraine-Krieg und zum andern mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt umgeht. Wir haben eine Situation, dass sich von den 193 Uno-Staaten 48 durch Wirtschaftssanktionen oder Waffenlieferungen am Krieg gegen Russland beteiligen. Die 48 Staaten sind EU-, Nato- und verbündete Staaten (Nato+). In der deutschen Aussenpolitik werden diese als Partnerländer bezeichnet. Jedoch wird in der letzten Zeit in den Staaten des kollektiven Westens (EU, Nato, Nato+) die Stimmung gegenüber der Ukraine zunehmend schlechter, weil man den Krieg immer weiter finanziert, er aber keine Erfolge bringt.

In welchen Ländern kann man das wahrnehmen?

Es ist in den USA im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen deutlich spürbar. Das ist auch der Hintergrund des Interviews der deutschen Aussenministerin Baerbock bei Fox-News in den USA, das am Rande des Uno-Gipfels geführt wurde. Fox-News ist ein Sender, der politisch den Republikanern nahesteht und von deren Wählern geschaut wird. Baerbock versuchte mit antichinesischer Rhetorik, die Notwendigkeit der weiteren Unterstützung der Ukraine «as long as it takes» zu betonen, um den Krieg fortzusetzen. Ihre Argumentation ist hierbei, wenn Russland diesen Krieg gewinnt, ist es ein Anreiz für andere Diktatoren wie Xi-Jinping, entsprechend vorzugehen. Natürlich ist schon das Motiv von Annalena Baerbock äussert fragwürdig, die Bezeichnung von Xi-Jinping als Diktator hat jedoch zwischen Deutschland und China eine diplomatische Krise ausgelöst. Der deutsche Botschafter wurde einbestellt. Es gibt eine sehr heftige Stellungnahme seitens der chinesischen Regierung, weil die Bezeichnung Xi-Jinpings als Diktator ein diplomatischer Affront ist. Das ist deshalb so abenteuerlich, da die deutsche Wirtschaft aufgrund der Wirtschaftssanktionen gegen Russ­land ohnehin schon schwächelt, insbesondere im energieintensiven Bereich. Wenn Deutschland auch noch einen Wirtschaftskrieg mit China beginnt, dann gehen in Deutschland die «Lichter aus». Es ist ungeheuerlich, und unter normalen Umständen müsste eine Aussenministerin zurücktreten. Hier wird das möglichst unter dem Teppich gehalten, und es geschieht nichts.

Die Argumentation von Baerbock erinnert mich an die Argumentation der USA im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg: «die Dominotheorie». Damals ging es gegen den Kommunismus. Das Engagement der USA wurde damit begründet, wenn sich in einem Land der Kommunismus durchsetzt, dann werden die übrigen Länder auch kommunistisch. Sehen Sie da Parallelen?

Hier kann man, was die Argumentation betrifft, sicher eine Paral­lele ziehen. Damit wird Angst geschürt. Manche werden inzwischen denken, was soll man einen Weltkrieg riskieren wegen «ein paar Provinzen» in der Ukraine. Das schadet der Kriegsstimmung. Damit man diesen Krieg weiterführen kann, braucht es eine Legitimation, und die vermeintliche Ausstrahlung auf andere vermeintliche Diktatoren ist so eine Legitimation. Die Welt wird ohnehin in «autoritäre» Regime und «demokratische» Staaten aufgeteilt. Bei so einer undifferenzierten Betrachtungsweise wird die Vorgeschichte des Krieges und die eigentlichen Hintergründe, warum es zu der Situation in der Ukraine gekommen ist, völlig ignoriert und ausgeblendet.

Aus dieser ahistorischen und eingeschränkten Sicht wird man schon das nächste Angriffsziel Putins ausmachen, nämlich Polen oder das Baltikum. Man nimmt nicht ernst, was Putin sagt, obwohl die Kriegsführung der Russen darauf hindeutet, die russischsprachigen Provinzen vor den Attacken der Ukraine zu schützen und das Minsker Abkommen durchzusetzen. So wird in der Lesart Baerbocks und der Mainstream-Medien Polen, das unglaublich aufrüstet, nächstes Opfer Russ­lands sein...

Ja, so wird argumentiert, aber es gibt einen heftigen Konflikt zwischen Polen und der Ukraine, was auf der Uno-Generalversammlung schon offensichtlich wurde. Dazu gehört auch die Ankündigung Polens, keine Waffen mehr an die Ukraine zu liefern. Der Hintergrund ist das billige Getreide, das über den Landweg nach Polen, Tschechien, die Slowakei oder nach Ungarn gelangt, dort die Märkte überschwemmt und die Bauern Polens auf die Barrikaden gehen lässt. Die Bauern sind die Basis der Regierungspartei, der PIS. In Polen herrscht Wahlkampf, und sie verliert wahrscheinlich ihre absolute Mehrheit. So sind die scharfen Töne aus Polen zu erklären. Dann gibt es auch noch historische Erfahrungen, denn die Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine waren sehr problematisch. Letztlich auch wegen des Nazi-Kollaborateurs Stephan Bandera, der in der Ukraine als Nationalheld verehrt wird und im Konflikt zwischen der Ukraine und Polen eine entscheidende Rolle gespielt hat. Das ist zuletzt bei der skandalösen Ehrung des Waffen-SS-Mannes Jaroslaw Hunka im kanadischen Parlament deutlich geworden. Polen hat umgehend seine Auslieferung gefordert, weil seine SS-Einheit auch Massaker an polnischen Zivilisten zu verantworten hatte. Kanada hat eine langjährige Praxis als Schutzland von ukrainischen Nazi-Kollaborateuren.

Gibt es nicht auch immer wieder Spannungen zwischen Ungarn und der Ukraine wegen der dort lebenden Minderheit?

Ja. Der «monistische Nationalismus» (Richard Sakwa) in der Ukraine führt auch zu Sprachkonflikten mit der dortigen ungarischen Minderheit. Es spielen natürlich viele Faktoren eine Rolle. Es wird nach wie vor russisches Gas nach Ungarn, in die Slowakei und nach Österreich geliefert. Es ist so, dass diese Länder alle ihr Öl und Gas nach wie vor aus Russland beziehen. Deutschland hat die Verbindung zu Russland gegen seine Interessen gekappt.

In der Ukraine lebt doch eine Minderheit an Ungarn …

In Ungarn spielen besonders die Energielieferungen eine Rolle, aber auch ihre Minderheit in der Ukraine, die unter den Ukrainisierungstendenzen leidet, die es in diesem Land ganz offensichtlich gibt. Es besteht eine besondere Förderung der ukrainischen Sprache, während andere Sprachen diskriminiert werden. Das betrifft das Ungarische, aber insbesondere die russische Sprache. Was die ungarische Minderheit anbelangt, gab es immer wieder heftige Auseinandersetzungen auch im Rahmen des Europarats, das begann schon vor Jahren.

Ich würde gerne nochmals auf Ihre Darlegungen am Anfang des Interviews zurückkommen. Wo sehen Sie die Ursachen für den Aufbruch des globalen Südens? Warum geschieht das zum jetzigen Zeitpunkt?

Zum einen hat es mit der ungerechten Weltwirtschaftsstruktur zu tun, die vom Westen geprägt wurde. Zum anderen hat es sicher mit der aktuellen Auseinandersetzung um die Ukraine zu tun.  Wenn man die Bruttoinlandsprodukte der BRICS-Staaten und der G-7-Staaten übereinanderlegt, dann hat man eine ganz andere Ausgangslage als noch vor 20 bis 25 Jahren. Damals lagen die BRICS-Staaten ungefähr bei einem Drittel des BIPs der G-7. Heute haben die BRICS-Staaten die G-7 überholt. Es gibt Kurven, da kann man das sehr gut erkennen. Inzwischen treten andere Kooperationspartner auf den Plan. Nehmen wir Afrika. Für diese Länder gab es lange keine Alternative zum Westen, wenn man sich irgendwie entwickeln wollte. Heute haben sie Alternativen. Sie können sich an China, an Indien wenden oder mit Russland zusammenarbeiten. Dadurch gibt es für die Länder eine neue Perspektive ihre eigenen Volkswirtschaften aufzubauen und endlich aus der Abhängigkeit herauszutreten. Der Krieg beziehungsweise die westliche Reaktion auf den Krieg hat diesen Prozess nochmals beschleunigt, weil die Wirtschaftssanktionen zum Stopp der Getreideausfuhren geführt haben sowie zur Aussetzung des Getreideabkommens. Der Stopp, Düngemittel aus Weissrussland zu exportieren, betrifft die ganze Welt. 

Dazu versucht der Westen, den Süden mit allen Mitteln in den Krieg hineinzuziehen. Die Beschlagnahmung der russischen Auslandsreserven durch die USA hat zu einem tiefen Misstrauen und zu Entkoppelungstendenzen vom Dollarsystem geführt. Das hat den Prozess der Abkoppelung katalysiert und beschleunigt. Natürlich sind Staaten dabei, die nicht sonderlich fortschrittlich sind, dessen bin ich mir bewusst, aber beim letzten BRICS-Gipfel in Südafrika sind sechs neue Länder der Organisation beigetreten. Damit ist im Westen nicht gerechnet worden, dass es tatsächlich zu dieser Erweiterung kommt. Auch wenn das sehr heterogene Länder sind und vom Westen stark betont wird, dass sie gar nicht kollektiv agieren könnten, ist es eine starke Gegenmacht zu der unipolaren Dominanz, vor allem durch die USA.

Ist man sich eigentlich im Westen bewusst, was man da treibt und dass sich bei dieser Politik die übrigen Länder mehr Richtung China und Russland wenden werden? Gibt es darüber ein kritisches Bewusstsein?

Seit einigen Monaten nehme ich im Bundestag wahr, dass der globale Süden überhaupt einmal eine gewisse Präsenz in Gesprächen gehabt hat. Vor einem Jahr war das überhaupt nicht der Fall. Mainstream-Politiker hier im Kanzler- oder Auswärtigen Amt leben in ihrer Blase. Diese Überheblichkeit, die über Jahrzehnte aufgebaut worden ist, ist sehr dominant. Aber heute holt sich Deutschland aussenpolitisch eine blutige Nase nach der anderen. Dazu gehört zum Beispiel, wie die Aussenministerin in Indien aufgelaufen ist, genauso in Brasilien oder in anderen lateinamerikanischen, aber auch afrikanischen Staaten. Es gibt in Deutschland keine angemessene Debatte über den Entwicklungsprozess des Südens. Es wird nur sehr wenig wahrgenommen, was angesichts der strategischen Optionen Europas in diesem tektonischen ­Verschiebungsprozess der internationalen Kräfte geradezu selbstmörderisch ist. Indien taucht in den hiesigen Debatten zum ersten Mal als Akteur auf der Weltbühne auf, allerdings eher in dem Sinn, dass man in Washington wie in Berlin noch dem Glauben unterliegt, Indien wieder in den Einflussbereich des Westens ziehen zu können. Die Bundesregierung sollte sich dringend dem Prozess des Aufstiegs der BRICS öffnen, anstatt sich immer enger an die USA zu binden. Hier haben die transatlantischen Denkfabriken und Kaderschmieden, durch die viele unserer Politiker gegangen sind, einen grossen Einfluss. Es gibt ein riesiges Netzwerk. Deren sogenannte Softpower spielt in Deutschland eine so grosse Rolle, dass gegen die eigenen Interessen gehandelt wird.

Deutschland ist sowohl in der Nato als auch in der EU ein Schlüsselstaat. Wenn Deutschland am Krieg in der Ukraine nicht mehr mitmachen würde, hätte das auf die anderen Staaten eine Wirkung. Was geschieht in Bezug auf den Krieg in der Ukraine in Deutschland?

Leider ist festzustellen, dass sich keine rationale Debatte über das Fortschreiten beziehungsweise die Beendigung des Krieges von Seiten der Regierungsparteien abbildet. Wir sind im Bundestag zwischen der ersten und zweiten Lesung über den Bundeshaushalt. Ende November wird dann das Parlament über den Haushalt entscheiden. Wir sind jetzt gerade mittendrin. Da das Parlament das Haushaltsrecht hat, gibt es natürlich immer ein Gezerre, jeder möchte für seinen Bereich so viel wie möglich herausschlagen. Dieser Haushalt hat es in sich, denn es ist tatsächlich ein Kriegshaushalt.

Wie zeigt sich denn das?

Wir haben zum ersten Mal in diesem Haushalt abgebildet das Zwei- Prozent-Ziel der Nato. Das bedeutet, zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts sollen für die Rüstung ausgegeben werden. Das verteilt sich auf ein weiter wachsendes Budget von ungefähr 51 Milliarden Euro und auf einen zusätzlichen Schattenhaushalt von nahezu 30 Milliarden Euro aus dem sogenannten Sondervermögen. Das ist ein Etikettenschwindel, denn es sind Sonderschulden, die nicht im Verteidigungshaushalt abgebildet werden. Sie laufen extra. Dann gibt es weitere 4 Milliarden für die sogenannten Ertüchtigungshilfen für Partnerländer. Das ist Geld, im Haushalt einbezogen, für das ukrainische Militär. Damit kommt Deutschland zusammen auf die von der Nato geforderten 85 Milliarden, die zwei Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts darstellen. Finanzminister Lindner hat den Haushalt eingereicht. Mit diesem starken Aufwuchs für das Militärische müssen alle anderen Ministerien ihre Ausgaben kürzen. Wie sie das machen, bleibt ihnen selbst überlassen. Das hat weitreichende Folgen und vollzieht sich vor allem im sozialen Bereich, zum Beispiel bei der Integration von Langzeitarbeitslosen oder bei der Jugendarbeitslosigkeit usw. Es gibt sehr viele Bereiche, die hier betroffen sind, Bildung, Gesundheit usw. Aber auch bei den zivilen Instrumenten der Aussenpolitik wird gekürzt. Es findet eine grosse Verschiebung hin zum Militärischen statt.

Wird das einfach so akzeptiert?

Nein es gibt schon bei verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen Protest gegen die Kürzungen, aber viele trauen sich nicht, das in Verbindung zu stellen mit dem Aufwuchs des Militärischen. Im Gegenteil ist man von Regierungsseite bemüht, die Militarisierung und die Kürzungen ausserhalb eines Zusammenhangs mit dem Krieg in der Ukraine und dessen Finanzierung zu stellen. Das hat auf dem Verdi-Kongress kürzlich nur leidlich geklappt. Man kann gespannt sein, wie die eine oder andere Debatte weiter verläuft. An manchen Stellen wird es eine Nachbesserung geben, aber wir bewegen uns in eine andere Form der Republik. Das alles aufgrund der Argumentation, das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen. Man tut so, als ob es eine internationale Verpflichtung wäre, ist es aber nicht. Es ist kein internationaler Vertrag, sondern eine Abmachung der Aussenminister beim Nato-Gipfel in Wales 2014. Stoltenbergs Aussage hat die Runde gemacht, in der er drei oder gar vier Prozent für die Rüstung verlangt, und dass man darüber nachdenken solle. Die Politik geht in eine verheerende Richtung, wenn nicht Gegensteuer gegeben wird.

Auch in der Schweiz können wir beobachten, dass die Vorsteherin des Verteidigungsdepartements eine Erhöhung des Militärhaushalts befürwortet, da die Schweiz wie sie sagt, mit 0,7 Prozent weit unter den 2 Prozent umliegender Staaten liegt. Es handelt sich offensichtlich um einen europäischen Trend?

Ja, das zieht sich durch. Wir können beobachten, dass weltweit die Rüstungsausgaben steigen. Laut dem schwedischen Forschungsinstitut SIPRI betragen die Militärausgaben 2,2 Billionen Dollar, wobei Europa die höchste Steigerung zu verzeichnen hat. Das ist natürlich ein Wahnsinn, und es fällt einem natürlich Dwight Eisenhower ein, der einst sagte, dass jede Waffe, die produziert werde, Diebstahl sei, an denjenigen, die einen Bedarf hätten an Gesundheitsversorgung, sozialer Unterstützung und so weiter. Die Zeit der 1990er und 2010er Jahre wird so dargestellt, dass die Waffenproduktion zurückgegangen sei. Das ist die sogenannte Friedensdividende, die heute als eine historisch aussergewöhnliche oder ungewöhnliche Situation dargestellt wird. Es wäre unrealistisch von heute auf morgen alles herunterzufahren. Es geht darum, ob man politisch endlich in eine andere Richtung geht, und versucht, die Konflikte friedlich zu regeln.  

Scholz hat doch 100 Milliarden für die Aufrüstung Anfang 2022 gesprochen …

Das war am 27. Februar, drei Tage nach dem Beginn des Einmarsches Russlands in die Ukraine. In der Sondersession im Bundestag hat er das angekündigt. Im Frühjahr 2022 wurde der Betrag mit einem Antrag der vier Parteien, der Ampelkoalition (FDP, Grüne, SPD) und der CDU noch einmal verankert. Wir, Die Linke, hatten damals als einzige geschlossen dagegen gestimmt. Im jetzigen Haushalt werden knapp 30 Milliarden von Scholz’ Ankündigung abgebildet. Die tauchen dann nicht mehr im Verteidigungsetat auf, sondern sind nochmals gesondert, deshalb habe ich von einem «Schattenhaushalt» gesprochen. Verschärfend kommt hinzu, dass die Regierung mit einem Pochen auf der unsinnigen Schuldenbremse die Haushaltslage verschlimmert.

Das heisst, jedes Jahr kommt dann zum regulären Haushalt eine Tranche dazu?

Ja, bis die 100 Milliarden erreicht sind. Das sind alles Schulden, im gewissen Sinne sind das Kriegskredite. Der Begriff Sondervermögen ist ein Euphemismus. Durch diese hohen Militärausgaben bleiben dringend notwendige Investitionen wie zum Beispiel in der Infrastruktur, im Bildungs- und Gesundheitsbereich oder auch dem klimagerechten Umbau aus.

Es stellt sich doch die Frage, nachdem sich alles in grosser Geschwindigkeit entwickelt hat, ob diese Pläne nicht schon vorher in der Schublade waren. 

Wenn man sich die Rede von Scholz, gerade einmal drei Tage nach Kriegsbeginn, anhört, dann muss man davon ausgehen, dass entsprechende Pläne schon vorbereitet waren.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

veröffentlicht 3.Oktober 2023

Reden, nicht bellen

von Dr. Stefan Nold

Mein Brief an Bundeskanzler Scholz (vgl. Zeitgeschehen im Fokus Nr.13 / 2022) hat einige Reaktionen hervorgerufen – positive und negative. Über beides habe ich mich gefreut, denn Demokratie lebt von fundierter Auseinandersetzung. Als Älterem sei mir erlaubt, Dinge in Erinnerung zu rufen, die etwas in Vergessenheit geraten sind, oder Jüngeren nicht bekannt sind. 

Die Nato wurde 1949 als Pakt zum gegenseitigen Beistand gegen einen bewaffneten Angriff gegründet, wobei die Unterzeichner sich verpflichteten, internationale Streitfälle friedlich so zu regeln, «dass der internationale Frieden, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden …» 1979 sagte George Blanchard, Oberkommandierender der US-Truppen in Europa, in einem Interview: «… wir hatten einen von unseren Panzern gegen zweieinhalb des Gegners. Vom Standpunkt der Verteidigung kann man eine Unterlegenheit von 1:3 handhaben. Wir waren also gut aufgestellt.»¹ Das war mit erheblichem Aufwand verbunden. Bei der fünfwöchigen Reforger-Übung «Certain Sentinel» im gleichen Jahr, an die ich mich als Teilnehmer gut erinnere, waren über 60 000 Soldaten, 8000 Rad- und 4300 Kettenfahrzeuge im Einsatz.² Die wehrhafte, aber stets respektvolle und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Verhandlungsbereitschaft war die gemeinsame Formel, mit der Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl die Wiedervereinigung Deutschlands ermöglicht haben. 

Nun hätte die so erreichte Friedensdividende eingelöst werden können. Das Wahlkampfprogramm «Putting People First» (Menschen zuerst) von Bill Clinton und Al Gore von 1992 hatte in erster Linie Lösungen für innen- und umweltpolitische Probleme im Blick.³ In Russ­land kam im Dezember 1999 nach zehn katastrophalen und chaotischen Jahren Wladimir Putin an die Macht. 2010 schlug er in einem Gastbeitrag für die «Süddeutsche Zeitung» eine Wirtschaftsgemeinschaft von «Lissabon bis Wladiwostok» vor.⁴ Zwar waren die USA froh, in der nun stabileren Atommacht Russland einen zuverlässigen Partner im Kampf gegen den Terror zu haben, aber einen einheitlichen eurasischen Wirtschaftsraum sahen sie als Gefahr für die eigene Wirtschaft und nicht als Chance für eine friedliche Zusammenarbeit. Der Schock über die unerwartet starke Konkurrenz aus Japan sass noch tief. Zudem brauchte der gewaltige militärisch-industrielle Komplex ein neues Betätigungsfeld. Deshalb wurde Wladimir Putin, eigentlich jemand, mit dem man gut hätte zusammenarbeiten können, «dämonisiert», wie es Henry Kissinger ausdrückte.⁵ Putin wurde zum Inbegriff des Bösen wie die Romanfigur «Emmanuel Goldstein», dem Gegenspieler von «Ozeanien» aus George Orwells 1984.⁶ Wer das Buch liest, erschrickt über die Parallelen zur heutigen Zeit.

Mit dem Versprechen, Frieden mit Russland zu schliessen, wurde Wolodymyr Selenskij 2019 mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten gewählt. Bei uns stiess das nicht auf Gegenliebe. «Die Ukraine wird von einem Serienhelden regiert, der mehr von russischen Comedians versteht als vom eigenen Land. Ein intellektuelles Desaster» urteilte vor knapp 4 Jahren die «taz».⁷ An Frieden waren weder der Westen noch die rabiaten und einflussreichen extremistischen Kräfte in der Ukraine interessiert, die den antisemitischen Kriegsverbrecher Stepan Bandera verehren. Diese haben die völkerrechtlich bindende Vereinbarung von Minsk hintertrieben. Angela Merkel, Regierungschefin einer der Garantiemächte, hat sich nicht um die Einhaltung dieses Vertrags bemüht, sondern für sie war er Mittel, um «der Ukraine wertvolle Zeit zu geben».⁸ Konrad Adenauer hat gesagt: «Gegenseitiges Vertrauen ist die Grundlage zu fruchtbaren Verhandlungen.»⁹ Wir werden Jahrzehnte brauchen, das Vertrauen, die Grundlage erfolgreichen Handelns, wieder zu gewinnen.

In Rumänien und Polen stehen Abschussrampen der Nato, von denen nach einem Software-Update Atomraketen abgefeuert werden können. Würde die Ukraine Mitglied der Nato, könnten solche Rampen auch 500 km vor Moskau stehen. Die Kuba-Krise hätte uns lehren können, dass eine Grossmacht eine solche Bedrohung vor der eigenen Haustür niemals akzeptieren wird. Aber das war für die Nato nicht verhandelbar. In der Gewissheit eines sicheren Sieges hat die Nato ihre Selbstverpflichtung zur Suche nach einer friedlichen Lösung ignoriert. «Forse l’abbaiare della Nato alla porta della Russia ha indotto il capo del Cremlino a reagire male e a scatenare il conflitto.» (Vielleicht hat das Bellen der Nato vor der Türe Russlands den Kreml-Chef dazu veranlasst, schlecht zu reagieren und den Konflikt entfesseln zu lassen.)10 So hat es Papst Franziskus im Mai 2022 ausgedrückt. Wir sollten mit dem Bellen aufhören und anfangen zu reden. 

 

¹ Blanchard, George S. (26.02.1979). My Mission is to stop an attack. Interview mit Frederick Kempe, S. 60. Newsweek: New York.
² Karp Sven (2017) Reforger 79. Certain Sentinel. Militärhistorische Geschichte: Wendeburg. m136.de/portfolio-items/reforger-79-certain-sentinel/
³ Clinton, Bill und Al Gore (1992) Putting People First. How we can all Change America. Random House: New York.
⁴ Putin, Wladimir (25.11.2010). Von Lissabon bis Wladiwostok. Plädoyer für eine Wirtschaftsgemeinschaft. Süddeutsche Zeitung: München.www.sueddeutsche.de/wirtschaft/putin-plaedoyer-fuer-wirtschaftsgemeinschaft-von-lissabon-bis-wladiwostok-1.1027908
⁵ Kissinger, Henry (5.03.2014) How the Ukraine crisis ends. The Washington Post: www.washingtonpost.com/opinions/henry-kissinger-to-settle-the-ukraine-crisis-start-at-the-end/2014/03/05/46dad868-a496-11e3-8466-d34c451760b9_story.html
Übersetzung: Eine Dämonisierung Putins ist keine Politik. Vier Vorschläge für eine ausbalancierte Unzufriedenheit. Friedrich-Ebert-Stiftung: Bonn. www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/henry-a-kissinger-eine-daemonisierung-putins-ist-keine-politik-298/
⁶ Orwell, George (1949). 1984. Zuerst veröffentlicht bei Martin Secker & Warburg: London.
⁷ Kratochvil, Alexander und Larysa Denisenko (18.11.2019). Sprachlos in Kiew. Die Ukraine nach Selenskis Wahlsieg. taz: Berlin. https://taz.de/Die-Ukraine-nach-Selenskis-Wahlsieg/!5638760/
⁸ Merkel, Angela (07.12.1922). Interview mit Tina Hildebrandt und Giovanni di Lorenzo
www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2F2022%2F51%2Fangela-merkel-russland-fluechtlingskrise-bundeskanzler%2Fkomplettansicht (Bezahlschranke) zitiert nach: https://www.wsws.org/de/articles/2022/12/20/merk-d20.html
⁹ Adenauer, Konrad (4.1.1966). Günter Gaus im Gespräch mit Konrad Adenauer. ZDF: Mainz. Wortprotokoll: www.rbb-online.de/zurperson/interview_archiv/adenauer_konrad.html Video: www.youtube.com/watch?v=90EVIH4KZsc (Minute 11:40 – 12:50)
10 Fontana, Luciano (03./04.05.2022). Intervista a Papa Francesco: Putin no si ferma, voglic incontrarlo a Mosca.Ora non vado a Kiev. Corriere della Sera: Milano. www.corriere.it/cronache/22_maggio_03/intervista-papa-francesco-putin-694c35f0-ca57-11ec-829f-386f144a5eff.shtml

veröffentlicht 3.Oktober 2023

Wie ich den Glauben an die etablierten Medien verlor (Teil II)

von Dr. phil. Helmut Scheben*

Im ersten Teil (vgl. Zeitgeschehen im Fokus Nr. 13) legte der Autor anhand verschiedener Beispiele von Kriegen, die er als Journalist beobachtet hatte, überzeugend dar, dass die grossen Medien krachend versagt haben: «Anstatt das Handeln der Regierungen in Frage zu stellen, haben sie sich in vielen Fällen als Lautsprecher der Regierungspropaganda und als Kriegstreiber in ungerechtfertigten und sinnlosen Kriegen erwiesen.»

Im zweiten Teil geht es um die Frage, wie diese Symbiose zwischen den grossen Medien und den westlichen Regierungen funktioniert und weshalb die Mainstream-Medien ihre Aufgabe als Vierte Gewalt nicht mehr wahrnehmen.

Im Juni 2011 sagte US-Aussenministerin Hillary Clinton, sie habe den Beweis, dass Gaddafi «systematische Vergewaltigungen» als Strategie einsetze.

In einem Büro von Amnesty International in Zürich fragte ich 2011, was an den Vorwürfen dran sei. Ich erhielt die Auskunft, Amnesty habe mehrere Monate lang in Libyen ermittelt und keine Bestätigung für den Vorwurf der Massenvergewaltigung gefunden. Auch der Sprecher der libyschen Organisation Human Rights Solidarity Libya, die den Aufständischen nahestand, sagte mir am Telefon: «Wir haben keine Beweise. Der einzige konkrete Fall ist der von Frau Obeidi.»

Der Mist war indessen gefahren, und die Story erfuhr eine geradezu rasende Proliferation in westlichen Medien. Meine Google-Suche am Sonntag, 20. Juli 2011 zeigte 21 Millionen Ergebnisse. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag, Luis Moreno Ocampo, lieferte ein vorzügliches Schmiermittel für den Medien-Apparat mit der Bemerkung, er habe tatsächlich «Informationen» über Massenvergewaltigungen. Auf die Frage eines Journalisten, was er von Berichten halte, Gaddafi lasse Viagra importieren, damit seine Soldaten vergewaltigen könnten, entgegnete der Chefankläger nicht etwa: «Lassen Sie mich mit solchem Blödsinn in Ruhe.» Er sagte stattdessen den perfiden Satz, man sammle noch Beweise: «Yes, we are still collecting evidence.»

Das Phantasie-Gebilde wucherte wochenlang weiter. Die Schweizer Zeitung «Le Matin» trieb das kreative Story-Telling bis zu der Foto-Abbildung eines King Size Bettes samt Lampe und Nachttisch: angeblich ein Raum in einem unterirdischen Bunker, wo dem Blatt zufolge Gaddafi seine weiblichen Opfer missbrauchte. Ich habe in dieser Zeit keinen Journalisten getroffen, der sagte, er schäme sich dafür, dass er durch seine Berufswahl zu dieser Branche gehöre.

«Atrocity Management» ist so alt wie der Krieg selbst

Die Verteufelung des Feindes ist ein bewährtes Instrument, welches so alt ist wie der Krieg selbst.

Der Historiker Gerhard Paul hat in seinem Standardwerk «Bilder des Krieges, Krieg der Bilder» anhand von über 200 Abbildungen dargestellt, wie die modernen Bildmedien den Krieg als Ikonographie in der kollektiven Erinnerung einbrannten. Dabei geht laut Gerhard Paul die Wirklichkeit in gleichem Mass verloren wie die Bilder perfektioniert und standardisiert werden.

Medienwirksam sind stets Verbrechen an Kindern. Das geht von der kuwaitischen «Pflegerin Najirah», die vor einem Menschenrechtskomitee des US-Kongresses sagte, sie habe gesehen, wie irakische Soldaten Brutkasten-Babies die Schläuche herausrissen, was sich später als eine Erfindung der PR-Agentur Hill & Knowlton erwies, bis zur Menschenrechtsbeauftragten Denissowa in Kiew, die im Juni 2022 ihren Job verlor, weil klar geworden war, dass sie Lügen verbreitet hatte. Darunter die Behauptung, sie habe Beweise, dass russische Soldaten Kleinkinder vergewaltigten.

Die Darstellung des Feindes als bestialisches Ungeheuer scheint unvermeidbares Stereotyp der Kriegspropaganda. Im Ersten Weltkrieg war die Story, deutsche Soldaten hätten einer belgischen Frau ihr Baby entrissen, diesem die Hände abgehackt und selbige dann verspeist, ein Dauerbrenner in der französischen und britischen Presse.

Wenn der Feind ein Ungeheuer ist, welches das Böse an sich verkörpert, sind Kriege leichter zu rechtfertigen. Ich habe in mehr als vierzig Jahren journalistischer Arbeit feststellen müssen, dass die grossen Medien solche Propaganda-Erzählungen meist unkritisch verbreiten und erst sehr spät oder nie bereit sind, ihre Fehler einzugestehen. Die «New York Times», die bei ihren Leserinnen und Lesern für die Falschinformation rund um den Irak-Krieg um Vergebung bat, ist der einzige mir bekannte Fall. In 19 Arbeitsjahren beim Schweizer Fernsehen SRF ist mir kein Fall bekannt geworden, in dem eine Sendung sich für falsche Nachrichten entschuldigt hätte. Mit Ausnahme der Sendung Meteo, wenn die Wetterprognose falsch war.

2011 machte ich Amnesty International Schweiz darauf aufmerksam, dass es keine Fernsehbilder von den Zerstörungen der Nato-Luftangriffe in Libyen gab. Die Fernsehstudios der libyschen Regierung waren in der ersten ­Angriffswelle in Schutt und Asche gelegt worden. Die Nato-Kommandozentrale in Neapel konnte dadurch verhindern, dass emotionale Bilder von Opfern, die aus den Trümmern gezogen wurden, auf westlichen TV-Kanälen zu sehen waren. Das Problem war den grossen Medien nicht aufgefallen oder ignoriert worden.

Der Amnesty-Sprecher erwiderte mir damals, diese Einseitigkeit der Darstellung mache ihnen auch grosse Sorgen. Als ich abends mit dem Cutter am Schnittplatz den Beitrag für die Tagesschau fertiggestellt hatte, sagte der Tages-Chef bei der Abnahme, dieser Satz des Amnesty-Sprechers müsse raus aus dem Beitrag. Auf meine Frage nach der Begründung hiess es: «Sonst könnten die Zuschauer ja denken, Gaddafi sei gar nicht so bös und am Ende noch im Recht.»

Eine neue Epoche der Zensur ist angebrochen

Die Konzernmedien und die gebührenfinanzierten Anstalten dominieren den Nachrichtenmarkt. Sie behaupten alle von sich, sie seien die vierte Gewalt, die den Mächtigen auf die Finger schaue, und dadurch werde Demokratie erst ermöglicht. Meine Erfahrung ist: Sie sind viel mehr Gläubige in einer Art von Religionsgemeinschaft, die sich als Achse des Guten sieht. Wer ihre Weltsicht nicht teilen will, der wird totgeschwiegen, diffamiert oder schlicht verboten.

In diesem Sinne arbeiten die Regierungen und ihre zugewandten Medien effizient. Die 27 Länder der Europäischen Union haben die russischen Nachrichtensender RT und Sputnik verboten. Wer sie verbreitet oder empfängt, zahlt zum Beispiel in Österreich bis zu 50 000 Euro Strafe. So einfach glaubt man, die Meinungs-Einfalt durchsetzen zu können. Protest oder Kritik aus den grossen Redaktionen der Vierten Gewalt? Null.

Während in russischen Talkshows und in den russischen Social Media mit erstaunlicher Härte kontrovers über diesen Krieg diskutiert wird, versuchen westliche Medien uns mit obsessiver Emsigkeit einzutrichtern, dass in Russ­land jeder eingesperrt wird, der etwas gegen diesen Krieg sagt. «Zehn Jahre Gefängnis fürs Denken» titelt die «Neue Zürcher Zeitung» (6. Juni 2023).

In Kiew sind oppositionelle Medien schlicht verboten. Muss man darüber berichten? Offensichtlich nicht. Das wird dann beiläufig, quasi als abschweifender Schlenker, in acht Wörtern abgehandelt: «Seit Kriegsbeginn zeigen die ukrainischen Sender ein Gemeinschaftsprogramm» (Zürcher Tagesanzeiger, 28. Juli 2022). Gemeinschaftsprogramm? Das tönt schon fast wie gemeinnützige Arbeit.

Das Verschweigen hat System

Nirgends wird das so sichtbar wie in dem Stillschweigen, welches unsere führenden Medien über die um sich greifende Zensur der Social Media bewahren. Wenige Wochen nachdem die EU die russischen Sender verboten hatte, kündigte Google an, weltweit alle mit Russland verbundenen Medien zu blockieren. Wie so oft bei Big Tech kam der Druck angeblich von der eigenen Belegschaft: «Mitarbeiter von Google hatten YouTube gedrängt, zusätzliche Strafmassnahmen gegen russische Kanäle zu ergreifen.»

Millionen von Beiträgen verschwinden von der Plattform. Der Investigativjournalist Glenn Greenwald, der an den Enthüllungen von Edward Snowden beteiligt war, hat auf diese extreme Zensurkampagne und die Dollarmilliarden hingewiesen, die dabei eine Rolle spielen: «Es ist wenig überraschend, dass die Monopole des Silikon Valley ihre Zensurmacht in voller Übereinstimmung mit den aussenpolitischen Interessen der US-Regierung ausüben. Viele der wichtigsten Tech-Monopole – wie Google und Amazon – bemühen sich routinemässig um äusserst lukrative Verträge mit dem US-Sicherheitsapparat, einschliesslich der CIA und der NSA, und erhalten diese auch. Ihre Top-Manager unterhalten enge Beziehungen zu Spitzenvertretern der Demokratischen Partei. Und die Demokraten im Kongress haben wiederholt Führungskräfte aus der Tech-Branche vor ihre verschiedenen Ausschüsse zitiert, um ihnen mit rechtlichen und regulatorischen Repressalien zu drohen, falls sie die Zensur nicht stärker an die politischen Ziele und Interessen der Partei anpassen.»

Wer die Twitter Files liest, der weiss, wie das System funktioniert. Eine diskrete Intervention des FBI kann bewirken, dass führende Medien politisch heikle Themen solange auf Eis legen, bis die «Gefahr», in dem Fall eine Wahlniederlage des Kandidaten Joe Biden, gebannt ist.

Was mich damals schockierte und auch heute fassungslos macht, ist das Kesseltreiben, das von einer Medienmeute reflexartig in Gang gesetzt wird, wenn einige wenige es wagen, gegen den Strom zu schwimmen und die veröffentlichte Meinung in Frage zu stellen. Die Politologin Mira Beham sagte mir, sie habe in der «Süddeutschen Zeitung» Schreibverbot bekommen, weil sie zu argumentieren wagte, in den Balkankonflikten komme man nicht weiter mit dem Täter-Opfer-Schema, die Sache sei komplexer. Heutzutage verliert ein renommierter Journalist wie Patrick Baab seinen Lehrauftrag an der Universität Kiel, wenn er es wagt, aus dem Donbas «von der falschen Seite der Front» zu berichten.

Orwells dystopische Vision des «Newspeak» und der «Wahrheitsministerien» ist auf dem besten Weg, Realität zu werden. Wir erleben in dieser Hinsicht tatsächlich eine Zeitenwende, wenn auch der deutsche Kanzler etwas anderes meinte, als er den Begriff gebrauchte.

Das Wort Lügenpresse trifft die Sache nicht

Der Medien-Wissenschaftler Uwe Krüger hat dokumentiert, dass die meisten Alphatiere der etablierten Medien Mitglieder in Nato- und US-affinen Institutionen sind. Natürlich gibt es den Faktor Zwang und Anpassung, etwa die bekannte Tatsache, dass im Axel Springer Verlag («Bild», «Die Welt») jeder Mitarbeiter den Statuten zustimmen muss, die die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität mit den USA einfordern.

Gleichwohl sollte man vorsichtig sein mit dem Schmähwort «Lügenpresse». Die Sache ist unendlich komplizierter. Da ist zum einen, was die News-Gefässe angeht, ein System, das auf Verkürzung und überhöhten Drehzahlen beruht. Der Philosoph Paul Virilio sprach von einer «Industrie des Vergessens», die mit neuen Nachrichten unaufhörlich zuschüttet, was eben noch gemeldet wurde. Ein Nachrichten-Apparat, der stark zerkleinerte Bruchstücke von Ereignissen produziert, kann keine Zusammenhänge und Hintergründe liefern, selbst wenn wohlgesinnte Journalistinnen und Journalisten dies wollten.

Und sie wollen es. Ich habe in meinem ganzen Leben kaum Medienleute getroffen, die fälschen oder unredlich berichten wollten. Die Leute lügen nicht, sondern sie sind meist überzeugt von dem, was sie sagen und schreiben. Sie sind in ihrer ganzen Lebensgeschichte, in ihrer Ausbildung und in ihren sozialen Kontakten geprägt und eingebunden in der Weltsicht ihrer Umgebung. Da ist dieser «riesige Brocken Wahrheit», den der israelische Historiker Shlomo Sand «implantiertes Gedächtnis» genannt hat: «Wir alle werden in ein Universum von Diskursfeldern hineingeboren, das die ideologischen Machtkämpfe früherer Generationen geformt haben. Noch ehe sich der Geschichtswissenschaftler das Rüstzeug zu einer kritischen Hinterfragung aneignen kann, formen all die Geschichts-, Politik- und Bibelstunden in der Schule, die Nationalfeiertage, Gedenktage, öffentlichen Zeremonien, Strassennamen, Mahnmale, Fernsehserien und sonstige Erinnerungssphären seine Vorstellungswelt. In seinem Kopf liegt ein riesiger Brocken ‹Wahrheit›, den er nicht einfach umgehen kann.» (Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. S. 40)

Das Problem einer Branche, die unter dem Namen Journalismus der täglichen Wahrheitsfindung dienen soll, ist jedem Zauberkünstler und Taschenspieler geläufig: Wahrnehmung wird nicht von tatsächlichen Ereignissen bestimmt, sondern von Erwartungshaltungen. Von einem riesigen Brocken «Wahrheit». 

Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.

Quelle: https://weltwoche.ch/daily/zauberkuenstler-und-taschenspieler-wie-ich-das-vertrauen-in-die-etablierten-medien-verlor/

veröffentlicht 3.Oktober 2023

Schockstrategie durch Erhöhung der Krankenkassenprämien

von Reinhard Koradi

Wir vergessen viel zu schnell. Die Vergesslichkeit ist aber nicht nur, dass Erinnerungen verloren gehen, sondern auch die Folge einer bewussten Strategie. Wir werden laufend mit neuen Ereignissen, Krisen und aufgemotzten Horrormeldungen eingedeckt, dass Dinge, die vor einigen Monaten oder Jahren geschehen sind, aus unserem Erinnerungsvermögen ausgelöscht werden.

Diese Informationsflut dient vor allem denen, die Vergangenes vertuschen und den Menschen neue Lasten auferlegen wollen. 

Inflation dient der Schuldentilgung 

Notenbanken und Regierungschefs haben seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und auch schon früher eine desaströse Geldmengenpolitik verfolgt, um die Finanzwirtschaft vor dem Kollaps zu retten. Hochverschuldete Staaten wurden mit billigen Krediten versorgt, damit diese ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Gläubigern nachkommen können. Selbst Negativzinsen sollten dazu beitragen, die Staatsverschuldungen «verkraftbar» zu machen. Ein immenser Schuldenberg hat sich über die Jahre hinweg aufgebaut, der mit normalen Mitteln nicht mehr abgebaut werden kann. Inflation (Geldentwertung) ist in dieser Hinsicht ein nützlicher Helfer. 

Im 1. Quartal 2023 betrug die Staatsverschuldung in der EU-27 13 467,86 Milliarden Euro.¹ Bei einer Inflation von 9,2 Prozent (2022) werden innerhalb eines Jahres die Schulden um 1239 Milliarden Euro kalt abgebaut (Kaufkraftverlust). Und wer begleicht diese horrende Summe? Selbstverständlich die EU-Bürger, indem sich die Kosten für den Lebensunterhalt um gut 9 Prozent erhöhen und ihr Vermögen (Geldwerte) um gut 9 Prozent sinkt. Die Inflationswelle ist eine bewusste Strategie, um Schulden zu tilgen, das müssen wir uns immer vor Augen halten. 

Krankenkassen­prämienerhöhung und Inflation

In den Gesundheitskosten widerspiegelt sich auch die Geldentwertung. Die Prämienerhöhung ist daher bestimmt auch auf die Inflation zurückzuführen. In der Schweiz betrug die Inflation im Jahr 2022 2,9 Prozent. Im Jahr 2021 betrugen die Kosten des Gesundheitswesens insgesamt 86,3 Miliarden Franken.² Die Krankenkassenprämien erhöhen sich im Jahr 2024 im Schnitt um 8,7 Prozent. Davon sind nach grober Schätzung ungefähr 2504 Millionen Franken teuerungsbedingt. Und gut 5008 Millionen Franken sind anderweitig zu begründen. Wieweit die Corona-Pandemie zur Kostensteigerung beigetragen hat, weiss vielleicht nur Bundesrat Berset. Tatsache ist jedoch, dass die Impf- und Testkampagne erhebliche Kosten verursacht hat, die wir Prämienzahler begleichen müssen. Was im ersten Schein als Gratis-Leistung in der Bevölkerung aufgenommen wurde, hat empfindliche Folgekosten, die wir nun jeden Monat bezahlen müssen.

Ob das Kalkül des Vergessens in diesem Fall nicht allzu arg strapaziert wird? 

¹ de.statista.com/statistik/daten/studie/198377/umfrage/staatsverschuldung-in-der-europaeischen-union/
² https://www.bfs.admin.ch/asset/de/24468750

veröffentlicht 3.Oktober 2023

Geschichtsunterricht in der Krise

von Dr. phil. Carl Bossard*

Als eigenes Fach erschien Geschichte den Schulreformern unwesentlich. Die Bildungspoli-tik schaffte es ab. Die Folgen sind spürbar: Der historische Wissensstand ist rudimentär. Gedanken zu einem staatspolitisch gefährlichen Irrweg – im Nachgang zum ersten August.

«Rütlischwur? Hä? Noch nie gehört.», so überschrieb die «SonntagsZeitung» einen Bericht zum Geschichtsunterricht an Zürcher Sekundarschulen. Der Befund erschüttert. Viele Jugendlichen hätten keine Ahnung von 1291 und wüssten kaum, warum es einen Nationalfeiertag gibt. «Wer glaubt, dass das Wissen über wichtige Ereignisse unserer Geschichte zum Allgemeingut der Volksschulabgängerinnen und -abgänger gehört, täuscht sich gewaltig», schreibt Christoph Ziegler, Sekundarlehrer und ehemaliger Präsident der Bildungskommission im Zürcher Kantonsrat.¹ Und er fügt bei: «Die Wissenslücken sind zum Teil riesig. Daran sind nicht die Jugendlichen schuld. Der Grund liegt woanders: Der Geschichtsunterricht wurde in vielen Schulen an den Rand gedrängt.»

Die Hauptfassade des Bundesbriefmuseums
mit Heinrich Danioths «Fundamentum» (Darstellung
des Bundes zu Brunnen) (Bild wikimedia)

Geschichtsunterricht wurde systematisch abgewertet

Zieglers Mahnruf überrascht nicht. Der Lehrplan 21 liess Geschichte als eigenständiges Fach vollständig fallen. In der Primarschule mäandriert Geschichte als nebulöser Schwarm im Fachbereich «Natur, Mensch, Gesellschaft» (NMG) – mit unzusammenhängenden Einzelteilen: ein bisschen Pfahlbauer, ein wenig Römer, eine Dosis Rittertum. Keine Übersicht, kein verbindendes Zusammenhangwissen, keine Strukturen, nicht einmal auf der temporalen Ebene, der Zeit-achse. Die Bildungspolitik hat Geschichte systematisch abgewertet.

Auf der Sekundarstufe wurde das Fach Geschichte Teil von «Räume, Zeiten, Gesellschaften» (RZG) – zusammen mit Geografie. Definiert sind Grundansprüche. Unter dem Bereich «Lebensraum Europa» stehen beispielsweise in der ersten Sekundarklasse eine Vielzahl von hochtrabenden Kompetenzen wie: «Ich kann eine thematische Karte zur Bevölkerungsbewegung in Frankreich auswerten.» Die Kompetenzen müssten abgearbeitet werden, doch sie lassen Geschichte nur noch zerstückelt in einzelne Fragmente erkennen. Ihr Stellenwert ist nicht vorgeschrieben. Sie liegen im persönlichen Ermessen der Lehrerin, sind dem beliebigen Gutdünken des Lehrers überlassen. Fürs Fach Geschichte generieren diese Konstrukte kaum neue Perspektiven. Viele Junglehrer fühlen sich im Kompetenzenwirrwarr völlig verloren. Es fehlt ein klares Unterrichtsprofil.

Wenn der Kohärenzkitt verloren geht

Das hat Folgen. Es erstaunt darum nicht, dass sich der gesamte Geschichtsunterricht einer dreijährigen Sekundarschule auf zwei Leuchtturmtage beschränkt: Napoleon und Holocaust. Seit Jahren verweisen Praktiker auf das Malaise im Fach Geschichte. Die Bildungsverantwortlichen müssten längst Gegensteuer gegeben – auch aus demokratiepolitischen Gründen. Geschehen ist nichts. Kaum jemand ist überrascht, wenn Peter Gautschi, Professor für Ge-schichte und Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Luzern, konstatiert: «Der Geschichtsunterricht ist in der Krise. Er wurde zurückgedrängt. […] Für die Schweiz als Willensnation ist das verheerend – denn die gemeinsame Geschichte ist der Kitt, der unser Land zusammenhält.»² 

Geschichte muss als Geschichte präsent sein

Die Geschichtskenntnisse schrumpfen. Das war absehbar. Sobald eine Disziplin als eigenständiger Bereich verschwindet, verschwindet auch der Inhalt. Bei Kindern und Jugendlichen sowieso: «Wenn Geschichte nicht als Geschichte in Erscheinung tritt, ist sie in ihren Köpfen nicht vorhanden», meint eine Geschichtsdidaktikerin. «Der Begriff ‹Geschichte› weist program-matisch auf das Kerngeschäft der Geschichtswissenschaft hin, auf ihren Umgang mit der Zeitlichkeit, auf ihre Art der Reflexion und Analyse des Vergangenen», kritisiert der Historiker Lucas Burkart. Mit dem Fachbereichsnamen «Räume, Zeiten, Gesellschaften» gehe das verloren, fügt er an. 

Vor solchen Sammelfächern, wie sie die Schweizer Volksschule nun kennt, warnte auch der renommierte Entwicklungspsychologe und Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft, Prof. Franz E. Weinert: «Fächer sind als Wissenssysteme unerlässlich für kognitives Lernen. Es gibt überhaupt keinen Grund für einen heterogenen Fächer-Mischmasch.» Pikanterweise berufen sich die Gestalter des Lehrplans 21 immer wieder auf Weinert. Als Ausnahme nannte der Lernpsychologe Weinert den Projektunterricht; reale Phänomene oder Probleme unserer Welt bilden hier den Ausgangspunkt.

Geschichte als Kompass in einer komplexen Welt

Die Zivilisationsdynamik ist ungebremst. Gerade darum brauchen wir den historischen Sinn – mehr denn je. Nur so können wir uns zur Fremdheit anderer, die uns nähergekommen sind, und zur Fremdheit eigener Vergangenheiten, von denen wir uns fortschrittsbedingt immer rascher entfernen, in eine Beziehung setzen. Historisches Denken ist die Basis.

Anders gesagt: Je schneller sich die Gesellschaft verändert, desto wichtiger wird das Wissen um die eigene Geschichte – und das Bewusstsein: «Da kommen wir her.» Wenn wir diese Dimension völlig verlieren, verlieren wir die Vertikale. Wenn wir uns ganz in die Horizontale begeben und uns nur noch auf die Gegenwart beziehen, dann verlieren wir das Verhältnis zur Geschichte und damit die Orientierung – und ohne Orientierung keine Grundwerte des Zusammenhaltes, keine Vorstellungen zur Raison d’Être der Schweiz. Schule vermittelt den Blick zurück; doch er zielt immer auch nach vorne. Zukunft braucht eben Herkunft, um Odo Marquards vielzitiertes Wort zu nennen.³ 

1848: Beginn der modernen Schweiz 

Darum ist Geschichte als Bildungselement so wichtig. Das Fach erzählt spannende Geschichten. Menschen brauchen gute Geschichten. Sie wecken Interesse und schärfen die Wahrnehmung für neue Zeitdimensionen, gerade bei Jugendlichen. Sie führen zu Phänomenen wie zum Beispiel zur Französischen und Helvetischen Revolution von 1789 bzw. 1798 oder zur Bildung des Bundesstaates von 1848 – vor 175 Jahren. Nicht als isolierte Ereignisse, nicht als zusammenhangloser Haufen, nicht als begriffsloses Nebeneinander. Weder einfach Jahreszahlen noch Fakten, auswendig gelernt und mechanisch reproduziert. Nein. Jedes Geschehen steht in einem grösseren Zusammenhang mit der Gegenwart. 

Das zeigt beispielsweise die Zeit zwischen 1798 und 1848 – eine der spannendsten Epochen der Schweizer Geschichte. Auch für junge Menschen. Es ist der Kampf um die Modernisierung der Schweiz und ihren Aufbruch in die Zukunft. Die Zeitspanne beinhaltet den kräftigen Konflikt zwischen zentralem Einheitsstaat und lockerem Staatenbund, den Streit zwischen dem französisch-napoleonischen Zentralismus – symbolisiert im Apfel – und dem alteidgenössischen Föderalismus – in Gestalt der Traube. Der fünfzigjährige Kampf zwischen Apfel und Traube, zwischen dem Einheitsstaat und der alten föderalen Struktur ist intensiv. Es kommt zu Sonderbün-den. Es gibt Krieg; es fliesst Blut. Fast bricht die Schweiz auseinander. Der Bundesstaat von 1848 bringt den Kompromiss – in Form der Orange: Die Haut symbolisiert den Bund, die Schnitze stehen für die Kantone. Konkret: Die Schweiz, ein vielfältiges Land mit möglichst autonomen Gliedstaaten oder eben Kantonen, dies dank einer föderativen Staatsstruktur. Aus dem alten Staatenbund wird über den helvetischen Zenralstaat von 1798 der heutige Bundesstaat von 1848. 175 Jahre sind es her.

Die Parallele zur Gegenwart ist evident – und damit das Postulat des scharfsinnigen Schweizer Historikers Herbert Lüthy: «Alle Geschichte ist Geschichte der Gegenwart, weil Vergangenes als Vergangenes gar nicht erfahren werden kann, sondern nur als aus der Vergangenheit Gegenwärtiges.»⁴ 

Der Zusammenhang als Türöffner

Erst wenn wir die Dinge im Kontext erkennen, gehen uns historische Welten auf. Das Verstehen von geschichtlichen Zusammenhängen bildet die Sensibilität für zeitliche Dimensionen und Entwicklungsprozesse, fürs Gewordene und Gegenwärtige. Zusammenhänge ermöglichen ein ausgreifendes Verständnis der Geschichte. Der Kontext wird zum Türöffner in die Zukunft. Nicht umsonst prägte der Philosoph Hans Blumenberg vor vielen Jahren den Ausdruck, Bildung sei kein «Arsenal», sondern ein «Horizont». Nicht Daten und Fakten, sondern Orientierung. Bildung als Orientierungsfähigkeit in geistigen und historischen Welten.⁵ 

Das kommt nicht von selbst. Jede Einsicht von Bedeutung – auch eine geschichtliche – will gedanklich erarbeitet sein. In der Vertikale. Das erspart uns keine Datenmaschine, dazu führen keine Algorithmen. Auch in Zukunft nicht. Und das Schulfach Geschichte ist eine Art Grundversicherung. 

Das progressive Land Hessen schaffte das Fach ab und führte es in der Zwischenzeit wieder ein – durch Aktualität eines Besseren belehrt. Auch an den Schweizer Schulen bräuchte das eminent wichtige Fach Geschichte eine Renaissance. Die Berichte aus den Klassenzimmern zeigen es. 

 

Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.

Quelle: www.journal21.ch/artikel/geschichtsunterricht-der-krise

¹ Nadja Pastega, «Rütlischwur? Hä? Noch nie gehört», in: SonntagsZeitung, 23.07.2023, S. 4
² Dies., «Alle Schüler sollten mal vom Rütlischwur gehört haben», in: SonntagsZeitung, 30.07.2023, S. 3
³ Odo Marquard (2003), Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Betrachtungen über Modernität und Menschlichkeit, in: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Stuttgart: Reclam Verlag, S. 234ff.
⁴ Herbert Lüthy (1969), Wozu Geschichte? Zürich: Verlags AG «Die Arche».
⁵ Zur «Bildung als historisches Bewusstsein» schrieb der kürzlich verstorbene Philosoph und Romancier Peter Bieri alias Pascal Mercier ein eigenes Kapitel, in: Wie wäre es, gebildet zu sein? München/Grünwald: Verlag Komplett-Media GmbH, S. 15–24.

* Carl Bossard, Dr. phil., dipl. Gymnasial­lehrer, war Rektor des Nidwaldner Gymnasiums in Stans, Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Heute leitet er Weiterbildungen und berät Schulen. Sein Hauptinteresse gilt bildungspolitischen und gesellschaftlich-historischen Fragen. Publikationen unter www.carlbossard.ch

 

veröffentlicht 3.Oktober 2023

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