«Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit»

Editorial

Dieses geflügelte Wort hat der US-amerikanische Senator Hiram Johnson im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg 1914 geäussert, und leider hat es über hundert Jahre später seine Gültigkeit nicht verloren, weder in der neuesten Krise im Nahen Osten noch im Ukraine-Krieg noch in vielen Kriegen davor.

Der emeritierte Professor für Politikwissenschaften, Hans Joachim Funke, und der ehemalige Generalinspekteur der deutschen Bundeswehr, General a. D. Harald Kujat, haben in folgendem Artikel den Ablauf der Friedensverhandlungen in Istanbul zwischen der ukrainischen und der russischen Delegation kurz nach Beginn des russischen Einmarschs genaustens untersucht. Sie zeigen die westlichen Aktivitäten während der Gespräche auf und legen dar, warum die Verhandlungen kurz vor ihrem Durchbruch gescheitert sind. Damit wird das, was wir bis heute mehrheitlich durch die Medien erfahren, auf den Kopf gestellt. 

Die Aussage «Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit» hat sich beklagenswerterweise wieder einmal bewahrheitet. Man kann kaum glauben, welch mieses Spiel hinter den Kulissen getrieben wurde, nachdem die Friedensgespräche nahezu abgeschlossen waren. Der Artikel ist erhellend und erschreckend zugleich. 

 Seit dem 7. Oktober ist der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt zwischen Palästinensern und der israelischen Regierung erneut aufgeflammt, in einer Art und Weise, wie es seit den Kriegen 2006 oder 2014 nicht mehr der Fall war. Vernunft, die es jetzt dringend braucht, ist in weite Ferne gerückt. Es herrscht das Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dass dabei Hunderte von Opfern, vor allem zivile, auf beiden Seiten zu beklagen sind und weiterhin sein werden, wird mehrheitlich ausgeblendet. Israel beruft sich auf sein Existenz- und Selbstverteidigungsrecht, die Palästinenser auf das Recht auf Widerstand gegen die spätestens seit 1967 bestehende Besetzung und Unterdrückung. Beide haben eine völkerrechtliche Legitimation, doch in der Wahl der Mittel und des Vorgehens gibt es Völkerrechtsbrüche und Verletzungen des humanitären Völkerrechts auf beiden Seiten. 

Was am Morgen des 7. Oktober geschehen ist, müsste eine internationale und neutrale Kommission unter Führung der Uno untersuchen sowie alle weiteren Kriegsverbrechen. Dass unsere Medien jetzt lieber die völkerrechtswidrigen Terrorangriffe der Hamas auf Zivilisten thematisieren als das seit über einem halben Jahrhundert ungelöste Palästinaproblem, folgt dem Schema von Gut und Böse, das auch in anderen Konflikten bemüht wird. Nach 9/11 hatte George W. Bush den «Krieg gegen den Terror» als einen Kampf des Guten gegen das Böse («the good against the evil») inszeniert und Hundertausende unschuldiger Menschen in Afghanistan, im Irak, in Libyen etc. in den sicheren Tod gebombt. Soll das jetzt in diesem Krieg wiederholt werden?

Doch mit Gut und Böse lässt sich der Konflikt nicht lösen. Das Problem ist zu komplex, als dass es sich in ein so billiges Schema pressen lässt. Es geht auf beiden Seiten um Menschen.

Unser Engagement muss dem Frieden und dem friedlichen Zusammenleben der Völker auf der Grundlage des Völkerrechts gelten. Wir reden nicht der einen oder anderen Seite das Wort, sondern ­lassen neben der Darstellung der völkerrechtlichen Grundlagen verschiedene Stimmen zu Wort kommen, die einen differenzierteren Blick auf die aktuelle Krise erlauben, als derjenige des US-amerikanischen Präsidenten, Joe Biden, der die Führungsrolle der USA in der Welt propagiert und den völkerrechtswidrigen Angriff  der Hamas mit Putins Krieg in der Ukraine gleichsetzt. Es geht uns darum, Einschätzungen und verschiedene Positionen zur aktuellen Krise im Nahen Osten zur Kenntnis zu bringen, um zu einer unabhängigen Sicht der Dinge zu gelangen. Nur wenn man alle Seiten ohne Voreingenommenheit betrachtet, wird man zum Frieden beitragen können.

Die Redaktion

veröffentlicht 26.Oktober 2023

Wie eine aussichtsreiche Friedensregelung des Ukraine-Krieges verhindert wurde 

Der Westen wollte stattdessen den Krieg fortsetzen

Eine detaillierte Rekonstruktion von Prof. Dr. Hajo Funke und General a. D. Harald Kujat¹ 

Im März 2022 hatte es im Zuge von Verhandlungen zwischen der ukrainischen und russischen Seite ernsthafte Chancen gegeben, den Krieg zu beenden. Die Verhandlungen wurden jedoch nicht zum Abschluss gebracht, weil einige Staaten des Westens drängten, den Krieg fortzusetzen, während der ukrainische Präsident Selenskyj ihn beenden wollte.

Die Verhandlungen waren Anfang März 2022 durch den ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett vermittelt worden.

Naftali Bennett hatte ab der ersten Märzwoche 2022 Vermittlungsbemühungen unternommen. In einem Videointerview vom 4. Februar 2023 mit dem israelischen Journalisten Hanoch Daum² sprach er erstmals ausführlich über den Ablauf und das Ende der Verhandlungen. Dieses Videointerview ist Grundlage eines detaillierten Berichts in der Berliner Zeitung vom 6. Februar 2023: «Naftali Bennett wollte den Frieden zwischen Ukraine und Russland: Wer hat blockiert? Israelischer Ex-Premier sprach erstmals über seine Verhandlungen mit Putin und Selenskyj. Der Waffenstillstand war angeblich zum Greifen nahe.»³

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe ihn, Bennett, nach Ausbruch des Krieges gebeten, Wladimir Putin zu kontaktieren.

«Am 5. März 2022 war Bennett auf Einladung Putins in einem privaten, vom israelischen Geheimdienst bereitgestellten Jet nach Moskau geflogen. In dem Gespräch im Kreml habe Putin, so Bennett, einige substanzielle Zugeständnisse gemacht, insbesondere habe er auf sein ursprüngliches Kriegsziel einer Demilitarisierung der Ukraine verzichtet. […] Der ukrainische Präsident erklärte sich im Gegenzug bereit, auf einen NATO-Beitritt zu verzichten – eine Position, die er kurze Zeit später auch öffentlich wiederholte. Damit war eines der entscheidenden Hindernisse für einen Waffenstillstand aus dem Weg geräumt. […] Auch andere Themen wie die Zukunft des Donbas und der Krim sowie Sicherheitsgarantien für die Ukraine seien in diesen Tagen Gegenstand von intensiven Gesprächen gewesen.»⁴

Bennett: «Ich hatte damals den Eindruck, dass beide Seiten grosses Interesse an einem Waffenstillstand hatten […].» Ein Waffenstillstand sei damals, so Bennett, in greifbarer Nähe gewesen, beide Seiten waren zu erheblichen Zugeständnissen bereit. Doch vor allem Grossbritannien und die USA hätten den Prozess beendet und auf eine Fortsetzung des Krieges gesetzt. Auf die Frage, ob die westlichen Verbündeten die Initiative letztlich blockiert hätten, antwortete Bennett: «Im Grunde genommen, ja. Sie haben es blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht.» Sein Fazit: «Ich behaupte, dass es eine gute Chance auf einen Waffenstillstand gab, wenn sie ihn nicht verhindert hätten. Ob die Entscheidung des Westens, den Verhandlungsprozess zu beenden, langfristig richtig sei, könne er nicht beurteilen.»⁵

Die Aussagen von Bennett werfen einige grundsätzliche Fragen auf. Warum wurden die Verhandlungen über ein Ende des Krieges blockiert? Welche Position hat die deutsche Regierung eingenommen? Und kommt dem Westen womöglich eine Mitschuld an der folgenden Eskalation des Krieges zu?

Parallel liefen ukrainisch-russische Friedensverhandlungen

Seit Ende Februar 2022 wurden direkte Verhandlungen zwischen einer ukrainischen und einer russischen Delegation geführt, die sich in der dritten Märzwoche, «also nur einen Monat nach Ausbruch des Krieges, auf die Grundzüge einer Friedensvereinbarung geeinigt [haben]: Die Ukraine versprach, der NATO nicht beizutreten und keine Militärbasen ausländischer Mächte auf ihrem Territorium zuzulassen, während Russland im Gegenzug versprach, die territoriale Unversehrtheit der Ukraine anzuerkennen und alle russischen Besatzungstruppen abzuziehen. Für den Donbas und die Krim gab es Sonderregelungen.»⁶

Während der vom türkischen Präsidenten Erdoğan vermittelten Verhandlungen legte die ukrainische Delegation am 29. März 2022 ein Positionspapier vor, das zum Istanbuler Kommuniqué führte. Die Vorschläge der Ukraine wurden von der russischen Seite in einen Vertragsentwurf umgesetzt.

Das Istanbuler Kommuniqué vom 29. März 2022 im Wortlaut⁷:

Vorschlag 1: Die Ukraine erklärt sich selbst zu einem neutralen Staat und verspricht, blockfrei zu bleiben und auf die Entwicklung von Atomwaffen zu verzichten – im Gegenzug für internationale rechtliche Garantien. Zu den möglichen Garantiestaaten gehören Russland, Grossbritannien, China, die Vereinigten Staaten, Frankreich, die Türkei, Deutschland, Kanada, Italien, Polen und Israel, aber auch andere Staaten wären willkommen, dem Vertrag beizutreten.

Vorschlag 2: Diese internationalen Sicherheitsgarantien für die Ukraine würden sich nicht auf die Krim, Sewastopol oder bestimmte Gebiete im Donbas erstrecken. Die Vertragsparteien müssten die Grenzen dieser Gebiete festlegen oder sich darauf einigen, dass jede Partei diese Grenzen unterschiedlich versteht.

Vorschlag 3: Die Ukraine verpflichtet sich, keiner Militärkoalition beizutreten und keine ausländischen Militärstützpunkte oder Truppenkontingente aufzunehmen. Jegliche internationale Militärübungen wären nur mit Zustimmung der Garantiestaaten möglich. Die Garantiestaaten bestätigen ihrerseits ihre Absicht, die Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union zu fördern.

Vorschlag 4: Die Ukraine und die Garantiestaaten kommen überein, dass (im Falle einer Aggression, eines bewaffneten Angriffs gegen die Ukraine oder einer Militäroperation gegen die Ukraine) jeder der Garantiestaaten nach dringenden und sofortigen gegenseitigen Konsultationen (die innerhalb von drei Tagen stattfinden müssen) über die Ausübung des Rechts auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung (wie in Artikel 51 der UN-Charta anerkannt) (als Reaktion auf einen offiziellen Appell der Ukraine und auf dessen Grundlage) der Ukraine als dauerhaft neutralem Staat, der angegriffen wird, Hilfe leisten wird. Diese Hilfe wird durch die sofortige Durchführung der erforderlichen individuellen oder gemeinsamen Massnahmen erleichtert, einschliesslich der Schliessung des ukrainischen Luftraums, der Bereitstellung der erforderlichen Waffen und der Anwendung bewaffneter Gewalt mit dem Ziel, die Sicherheit der Ukraine als dauerhaft neutralen Staat wiederherzustellen und dann zu erhalten.

Vorschlag 5: Jeder derartige bewaffnete Angriff (jede militärische Operation überhaupt) und alle daraufhin ergriffenen Massnahmen werden unverzüglich dem UN-Sicherheitsrat gemeldet. Diese Massnahmen werden eingestellt, sobald der UN-Sicherheitsrat die zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Massnahmen ergriffen hat.

Vorschlag 6: Zum Schutz vor möglichen Provokationen wird das Abkommen den Mechanismus zur Erfüllung der Sicherheitsgarantien der Ukraine auf der Grundlage der Ergebnisse von Konsultationen zwischen der Ukraine und den Garantiestaaten regeln.

Vorschlag 7: Der Vertrag gilt vorläufig ab dem Datum seiner Unterzeichnung durch die Ukraine und alle oder die meisten Garantiestaaten.

Der Vertrag tritt in Kraft, nachdem (1) der dauerhaft neutrale Status der Ukraine in einem landesweiten Referendum gebilligt wurde, (2) die entsprechenden Änderungen in die ukrainische Verfassung aufgenommen wurden und (3) die Ratifizierung in den Parlamenten der Ukraine und der Garantiestaaten erfolgt ist.

Vorschlag 8: Der Wunsch der Parteien, die Fragen im Zusammenhang mit der Krim und Sewastopol zu lösen, wird für einen Zeitraum von 15 Jahren in bilaterale Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland eingebracht. Die Ukraine und Russland verpflichten sich ausserdem, diese Fragen nicht mit militärischen Mitteln zu lösen und die diplomatischen Lösungsbemühungen fortzusetzen.

Vorschlag 9: Die Parteien setzen ihre Konsultationen (unter Einbeziehung anderer Garantiestaaten) fort, um die Bestimmungen eines Vertrags über Sicherheitsgarantien für die Ukraine, die Modalitäten der Waffenruhe, den Rückzug von Truppen und anderen paramilitärischen Verbänden und die Öffnung und Gewährleistung sicher funktionierender humanitärer Korridore auf kontinuierlicher Basis sowie den Austausch von Leichen und die Freilassung von Kriegsgefangenen und internierten Zivilisten vorzubereiten und zu vereinbaren.

Vorschlag 10: Die Parteien halten es für möglich, ein Treffen zwischen den Präsidenten der Ukraine und Russlands abzuhalten, um einen Vertrag zu unterzeichnen und/oder politische Beschlüsse zu anderen ungelösten Fragen zu fassen.»

Offensichtliche Unterstützung der Vermittlungsbemühungen durch westliche Politiker

Die Tatsache der Unterstützung der Verhandlungen durch westliche Politiker ergibt sich aus der Abfolge der Telefonate und Treffen in der Zeit von Anfang März bis mindestens Mitte März. Am 4. März telefonierten Scholz und Putin; am 5. März traf Bennett Putin in Moskau; am 6. März trafen sich Bennett und Scholz in Berlin; am 7. März besprachen sich die USA, Grossbritannien, Frankreich und Deutschland in einer Videokonferenz zum Thema; am 8. März telefonierten Macron und Scholz; am 10. März trafen sich der ukrainische Aussenminister Kuleba und der russische Aussenminister Lawrow in Ankara; am 12. März telefonierten Scholz und Selenskyj sowie Scholz und Macron, und am 14. März trafen sich Scholz und Erdoğan in Ankara.⁸ 

NATO-Sondergipfel vom 24. März 2022 in Brüssel

Michael von der Schulenburg, der ehemalige UN Assistant Secretary-General (ASG) in UN-Friedensmissionen, schreibt, dass «die NATO bereits am 24. März 2022 auf einem Sondergipfel beschlossen hatte, diese Friedensverhandlungen (zwischen der Ukraine und Russ­land) nicht zu unterstützen.»⁹ Zu diesem Sondergipfel war der US-Präsident eigens eingeflogen. Offenkundig war ein Frieden, wie er von den russischen und ukrainischen Verhandlungsdelegationen ausgehandelt worden war, nicht im Interesse einiger NATO-Staaten.10

Selenskyj widerspricht

«Noch am 27. März 2022 hatte Selenskyj den Mut gezeigt, die Ergebnisse der ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen vor russischen Journalisten in aller Öffentlichkeit zu verteidigen11

Nach von der Schulenburg hatte es sich bei den russisch-ukrainischen Friedensverhandlungen um eine historisch einmalige Besonderheit gehandelt, die nur dadurch möglich war, weil sich Russen und Ukrainer gut kennen und die «gleiche Sprache sprechen».12

Am 28. März erklärte Putin, als ein Zeichen des guten Willens die Bereitschaft, Truppen aus dem Raum Charkow und dem Raum Kiew abzuziehen; dies geschah offenkundig bereits vor dieser öffentlichen Erklärung.

Die Absage an Selenskyj und Putin

Am 29. März 2022 telefonierten Scholz, Biden, Draghi, Macron und Johnson erneut zur Lage in der Ukraine. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich offenbar die Haltung wichtiger westlicher Bündnispartner verhärtet. Sie formulierten im Gegensatz zum Vorgehen von Bennett und Erdoğan Vorbedingungen für Verhandlungen: «Die Staats- und Regierungschefs waren sich einig, die Ukraine weiter tatkräftig zu unterstützen. Sie drängten den russischen Präsidenten Putin erneut dazu, einer Waffenruhe zuzustimmen, alle Kampfhandlungen einzustellen, die russischen Soldaten aus der Ukraine abzuziehen und eine diplomatische Lösung […] zu ermöglichen.»13

Die Washington Post berichtete am 5. April, dass in der NATO die Fortsetzung des Krieges gegenüber einem Waffenstillstand und einer Verhandlungslösung bevorzugt wird: «Für einige in der NATO ist es besser, wenn die Ukrainer weiterkämpfen und sterben als einen Frieden zu erreichen, der zu früh kommt oder zu einem zu hohen Preis für Kiew und das übrige Europa.» Selenskyj solle «so lange weiterkämpfen, bis Russland vollständig besiegt ist».

Boris Johnson am 9. April 2022: Wir führen den Krieg weiter

Am 9. April 2022 traf Boris Johnson unangemeldet in Kiew ein und erklärte dem ukrainischen Präsidenten, dass der Westen nicht bereit sei, den Krieg zu beenden. Laut britischem Guardian vom 28. April hatte Premier Johnson den ukrainischen Präsidenten Selenskyj «angewiesen», «keine Zugeständnisse an Putin zu machen».

Darüber berichtete die Ukrainska Pravda am 5. Mai 2022 in zwei Beiträgen ausführlich: 

«Kaum hatten sich die ukrainischen Unterhändler und Abramovich/Medinsky nach den Ergebnissen von Istanbul auf die Struktur eines möglichen künftigen Abkommens in groben Zügen geeinigt, erschien der britische Premierminister Boris Johnson fast ohne Vorwarnung in Kiew.

Johnson brachte zwei einfache Botschaften mit nach Kiew. Die erste lautet, dass Putin ein Kriegsverbrecher sei; man sollte Druck auf ihn ausüben, nicht mit ihm verhandeln. Die zweite lautet, dass selbst wenn die Ukraine bereit sei, mit Putin einige Vereinbarungen über Garantien zu unterzeichnen, es der kollektive Westen aber nicht ist. Wir können [ein Abkommen] mit Ihnen [der Ukraine] unterzeichnen, aber nicht mit ihm. Er wird sowieso alle über den Tisch ziehen», fasste einer der engen Mitarbeiter Selenskyjs den Kern des Besuchs von Johnson zusammen. Hinter diesem Besuch und den Worten Johnsons verbirgt sich weit mehr als nur die Abneigung, sich auf Abkommen mit Russland einzulassen. Johnson vertrat den Standpunkt, dass der kollektive Westen, der noch im Februar vorgeschlagen hatte, Selenskyj solle sich ergeben und fliehen, nun das Gefühl habe, dass Putin nicht wirklich so mächtig ist, wie sie es sich zuvor vorgestellt hatten. Darüber hinaus bestehe eine Chance, ihn ‹unter Druck zu setzen›. Und der Westen will sie nutzen14

Die Neue Züricher Zeitung (NZZ) meldete am 12. April, dass die britische Regierung unter Johnson auf einen militärischen Sieg der Ukraine setzt. Die konservative Unterhausabgeordnete Alicia Kearns sagte: «Lieber bewaffnen wir die Ukrainer bis an die Zähne, als dass wir Putin einen Erfolg gönnen.» Die britische Aussenministerin Liz Truss bekundete in einer Grundsatzrede, dass der «Sieg der Ukraine […] für uns alle eine strategische Notwendigkeit» sei und daher die militärische Unterstützung massiv ausgeweitet werden müsse. Guardian-Kolumnist Simon Jenkins warnte: «Liz Truss riskiert, den Krieg in der Ukraine für ihre eigenen Ambitionen anzufachen». Dies sei wohl der erste Tory-Wahlkampf, «der an den Grenzen Russlands ausgetragen wird». Johnson und Truss wollten, dass Selenskyj «so lange weiterkämpft, bis Russland vollständig besiegt ist. Sie brauchen einen Triumph in ihrem Stellvertreterkrieg. In der Zwischenzeit kann jeder, der nicht ihrer Meinung ist, als Schwächling, Feigling oder Putin-Anhänger abgetan werden. Dass dieser Konflikt von Grossbritannien für einen schäbigen bevorstehenden Führungswettstreit missbraucht wird, ist widerwärtig.» 

Nach seinem Kiew-Besuch am 25. April 2022 erklärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, die USA wollten die Gelegenheit nutzen, um Russland im Zuge des Ukraine-Kriegs auf Dauer militärisch und wirtschaftlich niederzuringen.15 Laut New York Times geht es der US-Regierung nicht mehr um einen Kampf über die Kontrolle der Ukraine, sondern um einen Kampf gegen Moskau im Zuge eines neuen Kalten Krieges. 

Bei dem von Austin einberufenen Treffen von Verteidigungsministern der NATO-Mitglieder und weiterer Staaten in Ramstein in Rheinland-Pfalz am 26. April 2022 gab der Pentagon-Chef den militärischen Sieg der Ukraine als strategisches Ziel vor.16 

Der türkische Aussenminister Çavuşoğlu wird später über die gescheiterte Friedenskonferenz in Istanbul sagen: «Einige NATO-Staaten wollten, dass der Krieg in der Ukraine weitergeht, um Russ­land zu schwächen.»17 

Die amerikanische Zeitschrift Responsible Statecraft schrieb am 2. September 2022:

«Hat Boris Johnson geholfen, ein Friedensabkommen in der Ukraine zu verhindern?» Einem kürzlich in der Zeitschrift Foreign Affairs erschienenen Artikel zufolge haben Kiew und Moskau möglicherweise bereits im April eine vorläufige Vereinbarung zur Beendigung des Krieges getroffen. Russland und die Ukraine könnten sich bereits im April auf ein vorläufiges Abkommen zur Beendigung des Krieges geeinigt haben, heisst es in einem kürzlich erschienenen Artikel in Foreign Affairs. «Laut mehreren ehemaligen hochrangigen US-Beamten, mit denen wir gesprochen haben, schienen sich russische und ukrainische Unterhändler im April 2022 vorläufig auf die Umrisse einer ausgehandelten Zwischenlösung geeinigt zu haben», schreiben Fiona Hill und Angela Stent. «Russland würde sich auf seine Position vom 23. Februar zurückziehen, als es einen Teil der Region Donbas und die gesamte Krim kontrollierte, und im Gegenzug würde die Ukraine versprechen, keine NATO-Mitgliedschaft anzustreben und stattdessen Sicherheitsgarantien von einer Reihe von Ländern zu erhalten. Die Entscheidung, das Abkommen scheitern zu lassen, fiel mit Johnsons Besuch in Kiew im April zusammen, bei dem er den ukrainischen Präsidenten Selenskyj drängte, die Gespräche mit Russ­land aus zwei wesentlichen Gründen abzubrechen: Mit Putin kann man nicht verhandeln, und der Westen ist nicht zu einem Ende des Krieges bereit.»18

Der Autor stellt in seinem Beitrag Fragen, die im weiteren Verlauf des Krieges immer grössere Bedeutung gewonnen haben: 

«Diese offensichtliche Enthüllung wirft einige wichtige Fragen auf: Warum wollten die westlichen Führer Kiew davon abhalten, ein offenbar gutes Verhandlungsergebnis mit Moskau zu unterzeichnen? Betrachten sie den Konflikt als einen Stellvertreterkrieg mit Russland? Und vor allem: Was wäre nötig, um wieder zu einem Verhandlungsergebnis zurückzukehren?»19

In seiner Ankündigung der Teilmobilmachung erklärte Putin am 21. September 2022:

«Das möchte ich heute zum ersten Mal öffentlich machen. Nach dem Beginn der militärischen Sonderoperation, insbesondere nach den Gesprächen in Istanbul, äusserten sich die Kiewer Vertreter recht positiv zu unseren Vorschlägen. Diese Vorschläge betrafen vor allem die Gewährleistung der Sicherheit und Interessen Russlands. Aber eine friedliche Lösung passte dem Westen offensichtlich nicht, weshalb Kiew nach der Abstimmung einiger Kompromisse tatsächlich befohlen wurde, alle diese Vereinbarungen zunichte zu machen20

Anlässlich des Besuchs einer afrikanischen Friedensdelegation am 17. Juni 2023 zeigte Putin die in Istanbul ad referendum akzeptierte und paraphierte Vereinbarung demonstrativ in die Kameras.

Fazit: vertane Chance

Anhand der öffentlich zugängigen Berichte und Dokumente ist nicht nur nachvollziehbar, dass es im März 2022 eine ernsthafte Verhandlungsbereitschaft sowohl der Ukraine als auch Russlands gab. Offensichtlich einigten sich die Verhandlungspartner sogar ad referendum auf einen Vertragsentwurf. Selenskyj und Putin waren zu einem bilateralen Treffen bereit, bei dem das Verhandlungsergebnis finalisiert werden sollte. Die Tatsache, dass die wesentlichen Verhandlungsergebnisse auf einem Vorschlag der Ukraine beruhten, Selenskyj diese noch am 27. März 2022 gegenüber russischen Journalisten sehr positiv bewertet und sich bereits zuvor in ähnlicher Weise geäussert hatte, belegt, dass der Ausgang der Istanbuler Verhandlungen durchaus den ukrainischen Interessen entsprach. Umso schwerer wiegt die westliche Intervention, die ein frühzeitiges Ende des Krieges verhinderte. Die Verantwortung Russlands für den völkerrechtswidrigen Angriff wird nicht dadurch relativiert, dass die Verantwortung für die in der Folge entstandenen schwerwiegenden Konsequenzen für die Ukraine und deren westliche Unterstützer auch den Staaten zuzurechnen ist, die die Fortsetzung des Krieges verlangt haben.

Der Krieg hat nun ein Stadium erreicht, in dem eine weitere gefährliche Eskalation und eine Ausweitung der Kampfhandlungen nur durch einen Waffenstillstand verhindert werden kann, der vielleicht zum letzten Mal eine friedliche Lösung durch Verhandlungen ermöglicht. Es gibt Friedensvorschläge von China, der Afrikanischen Union, Brasilien, Mexiko, Indonesien, einen auf Einladung des Vatikans entwickelten Vorschlag sowie einen von deutschen Experten vorgeschlagenen Weg zu einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen.21 Der Verlauf des Krieges seit den gescheiterten Istanbul-Verhandlungen und der gegenwärtig äusserst kritische Zeitpunkt sollten den verantwortlichen Staaten Anlass genug für ein Umdenken sein.

¹ Unter Einbezug von Gesprächen mit Michael von der Schulenburg und Hilde Schramm. Die ausführliche Version findet sich demnächst in https://hajofunke.wordpress.com/
² www.youtube.com/watch?v=qK9tLDeWBzs; vgl. auch ARD vom 17.2.23 und Tagesspiegel vom 10.02.23 
³ www.berliner-zeitung.de/open-source/naftali-bennett-wollte-den-frieden-zwischen-ukraine-und-russland-wer-hat-blockiert-li.31487
⁴ ebd.
⁵ ebd.
⁶ vgl. Michael von der Schulenburg: UN-Charta: Verhandlungen! In : Emma vom 6. März 2023
⁷ Eigene Übersetzung aus der uns zugänglich gemachten englischen Version: Vgl. Farida Rustamova vom 29.03.2022 nach einem Link aus Sabine Fischer: Friedensverhandlungen im Krieg zwischen Russland und der Ukraine: Mission impossible. SWP-Aktuell 2022/A 66, 28.10.2022. (This is an English translation of this article, kindly made by Kevin Rothrock from Meduza).
⁸ vgl Petra Erler: Betreff: Rückblick März 2022: Wer kein schnelles Kriegsende in der Ukraine wollte, in: «Nachrichten einer Leuchtturmwärterin», 1.September 2023
⁹ vgl. Michael von der Schulenburg: UN-Charta: Verhandlungen! In: Emma vom 6. März 2023
10 NATO, 24.03.22: Statement by NATO Heads of State and Government. «We condemn Russia’s invasion of Ukraine in the strongest possible terms. We call on President Putin to immediately stop this war and withdraw military forces from Ukraine, and call on Belarus to end its complicity, in line with the Aggression against Ukraine Resolution adopted at the UN General Assembly of 2 March 2022. Russia should comply with the 16 March ruling by the UN International Court of Justice and immediately suspend military operations. Russia’s attack on Ukraine threatens global security. Its assault on international norms makes the world less safe. President Putin’s escalatory rhetoric is irresponsible and destabilizing.»
11 ebd., vgl. auch ZEIT-online vom 28.03.22 (www.zeit.de/politik/ausland/2022-03/selenskyj-interview-medienaufsicht-warnung): Wolodymyr Selenskyj will Forderung nach Neutralität «gründlich» prüfen […] In den Verhandlungen über ein Ende des Kriegs in der Ukraine will die Regierung in Kiew die Frage der von Russland geforderten Neutralität des Landes «gründlich» prüfen. Dies sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntag in einem Interview mit mehreren unabhängigen russischen Medien. «Dieser Punkt der Verhandlungen ist für mich verständlich und er wird diskutiert, er wird gründlich geprüft», sagte Selenskyj. Eine Neutralität der Ukraine ist eine der russischen Hauptforderungen in den Verhandlungen über einen Waffenstillstand. Der Kreml hatte unlängst das Modell Schwedens oder Österreichs als mögliches Vorbild genannt. Die Ukraine müsste bei einem solchen Neutralitätsmodell auf einen Beitritt zur NATO verzichten, was Selenskyj aber bereits in Aussicht gestellt hat. Die Ukraine sei auch zur Neutralität bereit, sagte Selenskyj weiter. «Wir müssen uns mit dem Präsidenten der Russischen Föderation einigen», gab er an […] Ein Sieg für die Ukraine bestünde für ihn darin, wenn sich die russischen Truppen in die von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete im Osten «zurückziehen». «Von dort aus werden wir versuchen, die Donbass-Frage zu lösen», sagte Selenskyj, der betonte: «Wir verstehen, dass es unmöglich ist, das Gebiet vollständig zu befreien.»
12 vgl. auch: https://chasfreeman.net/the-many-lessons-of-the-ukraine-war/: Chas Freeman: The Many Lessons of the Ukraine War, in: Chas Freeman 2023-09-26:

«In mid-March 2022, the government of Turkey and Israeli Prime Minister Naftali Bennett mediated between Russian and Ukrainian negotiators, who tentatively agreed on the outlines of a negotiated interim settlement. The agreement provided that Russia would withdraw to its position on February 23, when it controlled part of the Donbas region and all of Crimea, and in exchange, Ukraine would promise not to seek NATO membership and instead receive security guarantees from a number of countries.  A meeting between Russian President Putin and Ukrainian President Zelensky was in the process of being arranged to finalize this agreement, which the negotiators had initialed ad referendum – meaning subject to the approval of their superiors. On March 28, 2022. President Zelensky publicly affirmed that Ukraine was ready for neutrality combined with security guarantees as part of a peace agreement with Russia. But on April 9 British Prime Minister Boris Johnson made a surprise visit to Kyiv. During this visit, he reportedly urged Zelensky not to meet Putin because (1) Putin was a war criminal and weaker than he seemed. He should and could be crushed rather than accommodated; and (2) even if Ukraine was ready to end the war, NATO was not.»
13 Petra Erler: Betreff: Rückblick März 2022: Wer kein schnelles Kriegsende in der Ukraine wollte, in: «Nachrichten einer Leuchtturmwärterin», 1. September 2023

13 Ukrainska Pravda, 5. Mai.2022: Von Selenskyjs «Kapitulation» zu Putins Kapitulation: Wie die Verhandlungen mit Russland verlaufen

14 www.pravda.com.ua/eng/news/2022/05/5/7344206/; www.pravda.com.ua/eng/articles/2022/05/5/7344096/

15 vgl. Tagesschau, vom 25.04.2022: «Austin hält Sieg der Ukraine für möglich. Nach Einschätzung Austins kann die Ukraine die russischen Streitkräfte mit ausreichend militärischer Unterstützung sogar besiegen. ‚Sie können gewinnen, wenn sie die richtige Ausrüstung und die richtige Unterstützung haben‘, sagte Austin. Der erste Schritt zum Sieg sei der Glaube daran, gewinnen zu können, so der US-Verteidigungsminister weiter.»

16 NYT, 25.04.22: «Behind Austin’s Call for a ‹Weakened› Russia, Hints of a Shift,. The United States is edging toward a dynamic that pits Washington more directly against Moscow, and one that U.S. officials see as likely to play out for years» «Emboldened by Ukraine’s Grit, U.S. Wants to See Russia Weakened. Hours after the American secretaries of defense and state met with Ukraine’s president in Kyiv, Russia hit at least five Ukrainian railway stations in rocket attacks.»

17 vgl. Emma vom 6. März 2023: «UN-Charta: Verhandeln» von Michael von der Schulenburg. Bei ihm heisst es weiter: «Auch nach dem Ausbruch des Krieges wurden alle unternommenen Friedensbemühungen von der NATO, insbesondere von den USA und UK, torpediert. In der ersten Woche des März bemühte sich bereits der damalige Premierminister Israels, Naftali Bennett, um einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine. Nach seinen kürzlich gemachten Aussagen hatte Russland und Ukraine ein grosses Interesse an einem schnellen Ende des Krieges. Durch Konzessionen Russlands war auch, so Bennet, ein Waffenstillstand „in greifbare Nähe» gerückt. Dazu kam es aber nicht, denn, so Bennett weiter, «sie (die USA und UK) haben einen Waffenstillstand blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht».

18 https://responsiblestatecraft.org/2022/09/02/diplomacy-watch-why-did-the-west-stop-a-peace-deal-in-ukraine/

19 ebd.

20 http://en.kremlin.ru/events/president/news/69390

21 Den Krieg mit einem Verhandlungsfrieden beenden: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/sonderausgabe-vom-28-august-2023.html

 

 

Anhang: Zeittafel

24. Februar 2022

Angriff der russischen Streitkräfte auf die Ukraine

28. Februar/3. und 7. März

Ukrainisch-russische Verhandlungen in Gomel/Belarus 

4. März

Scholz und Putin telefonieren

5. März 

Bennett trifft Putin in Moskau

6. März 

Bennett und Scholz treffen sich in Berlin

7. März 

Die USA, Grossbritannien, Frankreich und Deutschland besprechen sich in einer Videokonferenz zum Thema

8. März 

Macron und Scholz telefonieren

10. März 

Kuleba und Lawrov in Ankara

12. März 

Scholz und Selenskyj, Scholz und Macron telefonieren

14. März 

Scholz und Erdoğan in Ankara

14. bis 19. März 

In der 3. Märzwoche: Grundzüge zu einer Friedensverabredung

24. März

Sondergipfel der NATO in Brüssel: De facto Absage der ukrainisch-russischen Verhandlungen durch die Bedingung, dass erst alle russischen Truppen zurückgezogen werden

27. März 

Selenskyj verteidigt das Ergebnis der Verhandlungen vor russischen Journalisten

28. März 

Putin erklärt: Russland zieht als Zeichen des guten Willens Truppen aus den Regionen Charkow und Kiew zurück

29. März 

Ukrainische und russische Delegationen verhandeln in Istanbul: Das Istanbuler Kommuniqué

29. März 

Scholz, Biden, Draghi, Macron und Johnson telefonieren. Das Ende der ukrainisch-russischen Verhandlungen  

31. März 

Die Verbrechen von Butscha werden bekannt

9. April 

Boris Johnson verlangt in Kiew, das ukrainisch-russische Abkommen nicht abzuschliessen und erklärt, der «kollektive Westen» sei nicht zu einem Kriegsende bereit 

12. April

Die Neue Zürcher Zeitung informiert über die Fortsetzung des Krieges

25. April

US-Verteidigungsminister Austin in Kiew

26. April 

Austin in Ramstein: Er fordert den Sieg der Ukraine 

21. September

Putin erklärt, eine friedliche Lösung passe dem Westen nicht

veröffentlicht 26.Oktober 2023

Uno-Expertin drängt auf sofortigen Waffenstillstand und humanitären Zugang, da der Gesundheitssektor im Gazastreifen «an der Belastungsgrenze» ist

Die anhaltende gewaltsame Vertreibung und die Androhung weiterer Angriffe auf den belagerten Gazastreifen stellen ein grosses Risiko für die öffentliche Gesundheit und einen Notfall dar, erklärte heute eine Uno-Expertin, nachdem seit der Eskalation der Gewalt in der Region mindestens 12 Mitarbeiter des Gesundheitswesens getötet wurden und 24 Gesundheitseinrichtungen im Gazastreifen betroffen waren. 

«Alle Konfliktparteien und ihre internationalen Partner müssen den raschen und ungehinderten Zugang zu lebenswichtigen humanitären Gütern wie Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten, Treibstoff und Strom sicherstellen», sagte Tlaleng Mofokeng, die Uno-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Gesundheit. «Die medizinische Infrastruktur des Gazastreifens ist irreparabel beschädigt, und die Gesundheitsdienstleister arbeiten in einer schwierigen Situation mit eingeschränktem Zugang zu medizinischen Gütern und unter Bedingungen, die es ihnen nicht erlauben, eine zeitnahe und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung zu gewährleisten», sagte Mofokeng.

«Humanitäre Helfer, Ärzte, die Zivilgesellschaft, Menschenrechtsorganisationen und Journalisten sind weiterhin in der Region tätig, obwohl sie selbst unter Beschuss stehen», so die Expertin.

Die Weltgesundheitsorganisation hat mehr als 111 Angriffe auf Gesundheitsdienste in den besetzten palästinensischen Gebieten dokumentiert, darunter 48 Angriffe auf den Gazastreifen, bei denen mindestens 12 Mitarbeiter des Gesundheitswesens getötet wurden.

Mofokeng sagte, Israel verhindere die Einfuhr lebenswichtiger Güter in den Gazastreifen, darunter Lebensmittel, Wasser, Treibstoff, Medikamente, medizinisches Verbrauchsmaterial und Ausrüstung. «Der Gazastreifen ist ständigen Bombardierungen und massiven Zerstörungen ausgesetzt», sagte sie. «Der Gesundheitssektor in der Enklave steht vor dem Zusammenbruch.»

Mofokeng forderte die internationale Gemeinschaft auf, unverzüglich einzugreifen, um eine Eskalation des Konflikts zu verhindern und das Recht aller auf Gesundheit zu schützen und zu respektieren, indem sie den Zugang durch humanitäre Korridore, den Schutz der Gesundheitsinfrastruktur und des medizinischen Personals fordert. Die palästinensischen Familien benötigen dringend Nahrungsmittel, Wasser, Unterkünfte, Brennstoffe, medizinische Notversorgung, psychosoziale Unterstützung und psychologische Erste Hilfe, so die Expertin.

Die jüngste Eskalation und Aggression in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten dürfe nicht aus dem Zusammenhang gerissen werden, forderte die Expertin. Sie stellt einen erdrückenden Moment der andauernden strukturellen, systemischen und anhaltenden Gewalt dar, die die Palästinenser seit der Besetzung jeden Tag erleben, sagte sie. «Ich fordere einen sofortigen Waffenstillstand und dass die Mitgliedstaaten aufhören, die Kriegstrommeln zu schlagen», sagte Mofokeng.

«Das palästinensische Volk ist seit mehr als 75 Jahren vertrieben worden. Die besetzten palästinensischen Gebiete sind seit mehr als 56 Jahren militärisch besetzt – eine Besetzung, die mit mangelnder Rechenschaftspflicht, ständigen Vertreibungen und Zerstörungen, Bewegungseinschränkungen und systematischer Rassendiskriminierung einhergeht», sagte sie.   

Die Sonderberichterstatterin erinnerte daran, dass die Uno-Mitgliedsstaaten ihr Engagement für die Wahrung der souveränen Gleichheit aller Staaten und die Achtung ihrer territorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit bekräftigt und die Jahre 2019 bis 2028 als «Nelson-Mandela-Dekade des Friedens» anerkannt haben. In der Erklärung wird ein umfassender Ansatz zur Erhaltung des Friedens unterstützt, indem Konflikte verhindert und ihre Ursachen bekämpft werden, sagte sie. 

«Schritte zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser sind mit ihrer Würde und Souveränität verbunden», sagte Mofokeng. «Man kann den menschlichen Wunsch nach Freiheit nicht auslöschen». 

Quelle: www.ohchr.org/en/press-releases/2023/10/un-expert-urges-immediate-ceasefire-and-humanitarian-access-gaza-health

Genf, 17. Oktober 2023

Tlaleng Mofokeng, Sonderberichterstatterin für das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmass an körperlicher und geistiger Gesundheit.

Sonderberichterstatter gehören zu den so genannten Sonderverfahren des Menschenrechtsrats. Sonderverfahren, das grösste Gremium unabhängiger Experten im UN-Menschenrechtssystem, ist die allgemeine Bezeichnung für die unabhängigen Untersuchungs- und Überwachungsmechanismen des Rates, die sich entweder mit spezifischen Ländersituationen oder mit thematischen Fragen in allen Teilen der Welt befassen. Die Experten der Sonderverfahren arbeiten auf freiwilliger Basis; sie sind keine UN-Mitarbeiter und erhalten kein Gehalt für ihre Arbeit. Sie sind unabhängig von jeder Regierung oder Organisation und dienen in ihrer individuellen Funktion.

veröffentlicht 26.Oktober 2023

Steht dem Nahen Osten ein neuer Krieg bevor?

von Karin Leukefeld, freie Journalistin und Nahost-Expertin

Es sei «der schlimmste Angriff auf Israel seit dem Krieg 1973», sagte US-Aussenminister Anthony Blinken im US-Nachrichtensender CNN am vergangenen Wochenende. Blinken reagierte damit auf eine Militäroperation der palästinensischen Qassam-Brigaden gegen Israel am Samstagmorgen. Washington werde «Israel mit allem unterstützen, was es braucht, um mit der Lage umzugehen». Als einen Grund hinter dem Angriff sah Blinken den Versuch, die US-Bemühungen zu unterbrechen, die Beziehungen Israels mit den arabischen Staaten zu normalisieren. Insbesondere nannte Blinken die Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien, auf deren «Normalisierung» sich die US-Aussenpolitik seit Monaten konzentriert. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin ordnete die Entsendung des Flugzeugträgers Gerald Ford ins östliche Mittelmeer an. Die US-Administration werde die israelische Armee mit zusätzlicher Ausrüstung, Nachschub und Munition versorgen, hiess es. 

Die Vorgeschichte

Der Oktober-Krieg 1973, den der US-Aussenminister erwähnte, war der fünfte Krieg, mit dem die arabischen Staaten versuchten, die Landnahme arabischen Bodens durch den 1948 gegründeten Staat Israel zu stoppen. Der israelischen Staatsgründung war die Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus Palästina 1948 vorausgegangen, an die in der arabischen Welt als «Nakba», als Katastrophe, erinnert wird. 75 Jahre später, 2023, wurde daran erstmals mit einem internationalen Gedenktag erinnert, den die Vereinten Nationen ausgerufen haben.

Der Oktober-Krieg folgte dem Sechs-Tage-Krieg 1967, mit dem Israel die syrischen Golan-Höhen, das Westjordanland und Jerusalem besetzte und später annektierte. Es folgte ein Abnutzungskrieg (1969/70), den der ägyptische Präsident Anwar Sadat versuchte, mit einer arabisch-israelischen Einigung entsprechend der UN-Resolution 242 zu beenden. Israel sollte die 1967 besetzten Gebiete zurückgeben und sich zurückziehen. Im Gegenzug würden die arabischen Staaten das Recht Israels anerkennen, «in Frieden innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen zu leben».

Israel lehnte den Rückzug aus den besetzten Gebieten und damit den ägyptischen Vorschlag ab. Die militärischen Auseinandersetzungen hielten an und mündeten in den Überraschungskrieg, den Ägypten und Syrien am israelischen Feiertag Yom Kippur (Versöhnungsfest) im Oktober 1973 begannen. Der Befreiungskrieg endete für die arabischen Länder mit einer Niederlage. Syrien konnte lediglich einen kleinen Teil der besetzten Golan-Höhen zurückerobern.

50 Jahre ist das her und trotz zahlreicher Verhandlungen, Konferenzen und Abkommen hat es nie Frieden zwischen Israel und den Palästinensern gegeben, die ihr Heimatland Palästina nicht aufgeben. Generationen palästinensischer Flüchtlinge sind weiter mit Vertreibung, Enteignung, Hauszerstörungen und Landnahme durch die israelische Besatzungsmacht konfrontiert. 5,9 Millionen registrierte palästinensische Flüchtlinge und ihre Nachfahren leben heute im Nahen und Mittleren Osten. Selbst in ihrer Heimat Palästina, im besetzten Westjor­danland und im Gazastreifen leben die Menschen dichtgedrängt in Lagern von Almosen, die UN-Organisationen und andere Hilfsorganisationen verteilen. Weil Israel den Palästinensern bis heute ihr Recht auf einen souveränen Staat verweigert, sind sie bis heute staatenlos und ohne Rechte.

«Genug ist genug»

Vor diesem Hintergrund kündigte der Oberkommandierende der palästinensischen Qassam-Brigaden, Mohammed Deif, in den frühen Morgenstunden am vergangenen Samstag (07. 10. 2023) die militärische Operation «Al-Aksa-Flut» gegen Israel an. «Genug ist genug», sagte Deif, die militärische Operation sei eine Antwort auf die anhaltende Entwürdigung der Al-Aksa-Moschee durch die (israelischen) Besatzungstruppen, auf die Entwürdigung der muslimischen Gläubigen dort und vor allem der Frauen. Mehr als 200 Palästinenser seien allein in diesem Jahr von den Besatzungstruppen getötet worden, Israel habe sich geweigert, einem Gefangenenaustausch zuzustimmen. Ausdrücklich hiess es, dass die «Normalisierung» mit Israel keine Option sei.

Es sei der Tag des palästinensischen Widerstandes, sagte Deif in seiner morgendlichen Botschaft. «Heute ist Euer Tag, um dem Feind klarzumachen, dass seine Zeit vorüber ist.» Die Palästinenser im von Israel besetzten Westjordanland rief er auf, «Operationen gegen die Siedlungen» zu organisieren, um die Besatzung zu verjagen. Es gehe um den Kampf gegen die israelische Besatzung auch in Jerusalem, dem sollten sich auch die 1948 vertriebenen Palästinenser in den Nachbarländern anschliessen. Alle «Fronten und Fahnen» des Widerstandes im Libanon, in Syrien, Irak und Iran sollten sich vereinen. Die Menschen in Algerien, Marokko, in Jordanien und Ägypten sowie im Rest der arabischen Welt sollten die Operation «Al-Aksa-Flut» unterstützen.

Die Qassam-Brigaden sind der militärische Arm der Hamas, die im Januar 2006 deutlich die palästinensischen Parlamentswahlen gewonnen hatte. Die Stimmabgabe war von internationalen Wahlbeobachtern – darunter auch der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter – begleitet worden. Mit den Wahlen sollte ein neues Kapitel aufgeschlagen werden, was nicht gelang. Israel und die USA lehnten eine Zusammenarbeit mit der Hamas ab, die in früheren Jahren für zahlreiche Selbstmordattentate in Israel verantwortlich gezeichnet hatte. Hamas wurde von den USA und der EU als Terrororganisation isoliert, Zusammenarbeit mit einer «Terrorregierung» wurde ausgeschlossen. Es folgten Sanktionen gegen die Hamas und den Gaza­streifen, der bereits vor den Wahlen 2005/2006 von Israel abgeriegelt worden war. Seit 2007 gibt es eine komplette Belagerung des Gazastreifens durch Israel zu Wasser, zu Land und aus der Luft.

Gegen Siedlungen, Siedler und israelische Besatzungsarmee

Seit den frühen Morgenstunden waren am Samstag (07.10.2023) tausende Raketen aus dem Gazastreifen auf die israelischen Städte Aschkalon, Aschdod und Tel Aviv abgefeuert worden, die nördlich des Gaza­streifens liegen. Unter dem Feuerschirm waren Hunderte palästinensische Kämpfer mit Fahrzeugen, Motorrädern, zu Fuss, mit Gleitschirmen und mit Schnellbooten in die von Israel besetzten Gebiete eingedrungen. Die Kämpfer zerstörten den Trennzaun, drangen in israelische Siedlungen entlang des Gazastreifens ein, lieferten sich Feuergefechte mit israelischen Soldaten und bewaffneten Siedlergruppen, von denen viele von dem Angriff offenbar im Schlaf überrascht wurden. 

Videoaufnahmen zeigten Siedler, die über Felder flohen, andere Videos zeigten Fahrzeuge, deren Insassen – vermutlich fliehende Siedler – tot auf den Sitzen oder hinter den Lenkrädern lagen. Manche hatten offenbar versucht zu entkommen und lagen erschossen am Strassenrand. Israelische Soldaten wurden gefangen genommen und mit Motorrädern abtransportiert. Zahlreiche der israelischen Militärs trugen nicht mehr als ihre Unterwäsche, als sie von den schwer bewaffneten Kämpfern abgeführt wurden. Immer wieder mussten die Gefangenen vor wütenden und aufgebrachten Menschenmengen abgeschirmt werden, die unter anderen Umständen die Israelis und Siedler vermutlich gelyncht hätten. Die Kämpfer brachten mehr als 100 israelische Militärs und Siedler als Gefangene in den Gazastreifen zurück, während ihre Mitkämpfer die eingenommenen Siedlungen sicherten. Auch am Sonntag gingen die militärischen Operationen in den Siedlungen im Osten des Gazastreifens und nördlich davon weiter. 

Im besetzten Westjordanland wurde am Sonntag ein Generalstreik verkündet, mit dem gegen die israelische Bombardierung des Gazastreifens protestiert wird. In palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon demonstrierten am Samstag zahlreiche Menschen ihre Solidarität mit der Hamas und den Kämpfern des Gazastreifens. Am Sonntag gab es zwei Kundgebungen zur Unterstützung der Palästinenser. Im Süden der Stadt demonstrierte die Hisbollah ihre Solidarität, im Zentrum von Beirut hatte die Kommunistische Partei Libanons zu einer Kundgebung aufgerufen.

Überrascht

Der Angriff war für Israel eine Überraschung. Die Menschen feierten das Ende des Sukkot, des Laubhüttenfestes, und weder das Militär noch der Geheimdienst noch die Regierung oder die Bevölkerung hatten offenbar mit einer solchen Entwicklung gerechnet. Man habe sich an die Lage im Gazastreifen gewöhnt, sagte ein Siedler einem israelischen Sender. Als man die Armee und Polizei von dem Vormarsch der palästinensischen Kämpfer informierte, habe man lange keine Antwort erhalten. Ein israelischer Journalist, der von den Angriffen berichtete, äusserte die Vermutung, man habe die Lage in Regierungs- und Armeekreisen zunächst gar nicht ernst genommen.

Während die Bewohner in den israelischen Städten die Schäden durch den Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen begutachteten, die Feuerwehr Brände löschte und die Menschen die Bunker aufsuchten, transportierte die Armee Kampfjets von einer Luftwaffenbasis ab, dem die palästinensischen Kämpfer sich näherten. Eine erste Stellungnahme von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu folgte am Mittag, nach einer ersten Besprechung mit dem Verteidigungsminister. Der musste einräumen, dass die Luftabwehr Iron Dome – ein Exportschlager der israelischen Rüstungsindustrie – von den Massen an Raketen aus dem Gaza-Streifen deutlich überfordert war. Am Abend befanden sich nach israelischen Armeeangaben noch «hunderte» Kämpfer an mindestens 22 Orten in Israel, Armeesprecher Richard Hecht sprach von einer «robusten Bodenoffensive». 

In einer Erklärung am Samstagabend vor Journalisten erklärte Ministerpräsident Netanjahu, die Hamas habe einen «grausamen und bösartigen Krieg begonnen. Wir werden diesen Krieg gewinnen, aber der Preis wird hoch sein.» Was am Samstag geschehen sei, werde nicht wieder vorkommen in Israel, so Netanjahu weiter. «Ich werde dafür sorgen, dass es nicht wieder geschieht.» Die gesamte Regierung stehe hinter der Entscheidung, dass die israelische Armee umgehend alle Macht einsetzen werde, um die Möglichkeiten der Hamas zu zerschlagen. «Wir werden sie totschlagen», so ­Netanjahu. «Wir werden Rache für diesen schwarzen Tag nehmen.»

Zu dem Zeitpunkt hatte die ­israelische Luftwaffe bereits ihre Angriffe auf den Gazastreifen gestartet. Das palästinensische Gesundheitsministerium in Gaza-Stadt meldete am Sonntag mehr als 400 Tote und 2300 Verletzte, die in den Krankenhäusern eingeliefert worden seien. Die israelische Luftwaffe zerstörte Hochhäuser im Zentrum von Gaza-Stadt. In Rafah, einem Ort im Süden des Gazastreifens nahe der Grenze zu Ägypten, wurden bei einem Angriff auf das dicht bevölkerte Flüchtlingslager Shaboura 19 Mitglieder einer Familie getötet, darunter auch Kleinkinder.

Israel konnte auch am Sonntag keine genauen Angaben über Tote, Verletzte und Vermisste machen. Der israelische Sender N12 sprach am Samstagabend von mindestens 200 getöteten und 1100 verletzten Israelis. Am Sonntag wurden die Zahlen auf 700 Tote und mehr als 2000 Verletzte korrigiert. Unklar ist weiterhin, wie viele israelische Militärs und Siedler in palästinensische Gefangenschaft kamen.

Israel sperrte sämtliche Grenzübergänge zu den besetzten ­palästinensischen Gebieten im Westjordanland. Strassen zu palästinensischen Ortschaften wurden vom Militär blockiert. Zwischen der jordanischen Grenze über das gesamte besetzte Westjordanland bis Jerusalem wurde die höchste Alarmstufe verhängt. Die Grenzübergänge zum Gaza­streifen wurden gesperrt, Israel stoppte die Stromversorgung der Gebiete sowie die Einfuhr von Öl und Waren. In Jerusalem wurde der Zugang zur Al-Aksa-Moschee von den Besatzungsbehörden gesperrt, Gläubige wurden am Zugang gehindert. Die Regierung verhängte den Kriegszustand, die Armee mobilisierte die Reservisten. Die Opposition bot Netanjahu eine gemeinsame Notstandsregierung an, um mit einer eisernen Faust die Hamas zu zerschlagen. 

UN-Sicherheitsrat
hinter verschlossenen Türen

Am Sonntag tagte in New York der UN-Sicherheitsrat hinter verschlossenen Türen. Israel machte deutlich, dass die Hamas die Verantwortung trage und die Konsequenzen tragen müsse. Israel müsse seine Bürger und sein Land vor den «Terrorangriffen aus dem Gazastreifen» schützen.

Russland und China forderten Verhandlungen zwischen beiden Seiten. Das russische Aussenministerium erklärte, nur die Gründung eines Staates Palästina könne die seit 75 Jahren anhaltenden Spannungen beenden. Das chinesische Aussenministerium zeigte sich «tief besorgt» über die Spannungen und Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern. «Der fundamentale Weg aus dem Konflikt ist die Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung und die Gründung eines unabhängigen Staates Palästina», hiess es in einer Erklärung. 

US-Präsident Joe Biden erklärte wie auch die EU-Kommissionsführung, eine «unerschütterliche Solidarität» mit Israel. Die deutsche Aussenministerin Baerbock betonte das «Selbstverteidigungsrecht» Israels. Die Bundesregierung liess das Brandenburger Tor in Berlin in den Farben der israelischen Fahne erleuchten und verbot im Voraus mögliche Sympathiekundgebungen für die Sache der Palästinenser als «antisemitisch». Im Aussen- und Entwicklungshilfeministerium wird darüber beraten, ob die Hilfszahlungen an palästinensische zivilgesellschaftliche und Hilfsorganisationen eingestellt werden sollen.

Wird es einen neuen Krieg geben?

Ausser massiven militärischen Reaktionen und anhaltender Repression hat Israel den Palästinensern nichts anzubieten. Das Gleiche gilt für die Europäische Union, die zwar Hilfsgelder für Projekte der zivilen Infrastruktur im Gazastreifen und in den besetzten palästinensischen Gebieten zahlt, die allerdings immer wieder von Israel zerbombt werden. 

Man wird abwarten müssen, ob die Hisbollah im Libanon oder Kräfte in Syrien oder Jordanien sich der Operation anschliessen werden. Sollten die arabischen Staaten die Palästinenser zukünftig mit mehr als mit schönen ­Worten – beispielsweise durch wirtschaftlichen Boykott Israels – unterstützen, könnte Israel massiv in die Enge getrieben werden. Die Regierung Netanjahu ist innerlich zerstritten und in einer schwachen Position, auch weil die USA sehr kritisch gegenüber der neuen, rechtsradikalen Regierung ist. Die Märkte reagierten in Israel am Sonntag mit deutlichen Kursabfällen. Unternehmen schlossen, internationale Fluggesellschaften stellten ihre Flüge in das Land ein. Erst am Montagmorgen war bekannt geworden, dass auch der internationale Flughafen Ben Gurion von den Raketen aus dem Gazastreifen getroffen worden war.

Ein neuer Krieg in der Region wird unvorhersehbare Folgen haben. Er wird nicht auf Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete beschränkt bleiben, sondern Libanon, Syrien, Jordanien und weitere Teile der Region einbeziehen. Die schrecklichen Folgen für Leben und Gesundheit der Zivilbevölkerung, die in den besetzten palästinensischen Gebieten und den arabischen Nachbarstaaten schon lange am Limit lebt, sind bereits bei der aktuellen Bombardierung des Gaza-Streifens zu sehen. Ob mit oder ohne Krieg deuten sich massive Machtverschiebungen in der Region an, die Israel – und seine Verbündeten im Westen – schwächen und die Kräfte der Region stärken werden. 

«Für uns war es wie der Ausbruch aus einem Gefängnis», sagte eine in Gaza lebende Palästinenserin, die eine Angehörige telefonisch vom Tod eines Cousins informierte, der sich den Kämpfen angeschlossen hatte. Trotz Angst vor der israelischen Rache und den Bombardierungen und trotz Sorge um die eigene Familie haben die Menschen ihre Hoffnung auf die Befreiung aus ihrer unerträglichen Lebenssituation nicht aufgegeben. Die israelische Politik von Einschüchterung, Belagerung, Entrechtung und Entwürdigung der Palästinenser, die Verwüstung und Bombardierung werden auch Israel keinen Frieden bringen. Die völkerrechtswidrige Besatzung der palästinensischen Gebiete muss beendet und ein souveräner Staat Palästina anerkannt werden. Dazu gibt es keine Alternative. 

Quelle: Nachdenkseiten

https://www.nachdenkseiten.de/?p=104968, 09.10.2023

veröffentlicht 26.Oktober 2023

 

Dem Meinungsterror entgegentreten

Die kompetente Nahostkorrespondentin Karin Leukefeld wird wegen ihrer ausgewogenen Berichterstattung aus dem Nahen Osten von der nd-Redaktionsleitung mit einem Schreibverbot abgestraft.

Wir werden zum Schweigen gebracht, dürfen keine eigene Meinung mehr haben und wer es wagt, eine andere Meinung als die, durch die Medien und den dahintersteckenden Meinungsmachern vorgegebene Denkrichtungen zu verlassen, wird diffamiert, ausgeschlossen und abgestraft. Hatten wir solche Zustände nicht auch schon einmal? Damals haben die Menschen die Meinungsdiktatur ebenfalls unterwürfig hingenommen. Was auf die unterdrückten eigenen Meinungen folgte, wissen wir alle: Ein totalitäres Regime! Wollen wir das wirklich? Wohl kaum! Daher müssen wir endlich wieder Zivilcourage aufbringen und dem Meinungsterror entschlossen entgegentreten.

Merken wir uns: Wer sich duckt und drückt, wird irgendwann durch die Ereignisse erdrückt.

Reinhard Koradi

veröffentlicht 26.Oktober 2023

«Es braucht eine tragfähige Lösung für Israelis und Palästinenser»

Frieden gibt es nur auf der Grundlage des Völkerrechts

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Wie ist der Angriff der Palästinenser auf Israel aus völkerrechtlicher Sicht zu beurteilen?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Zunächst muss man ganz klar sagen, dass jedes Opfer dieses Krieges eines zu viel ist und zu bedauern ist – jedes Leben, das geopfert worden ist, jede Verletzung und Verstümmelung – sowohl die erlittenen Verluste bei den Israelis als auch bei den Palästinensern: Touristen, Kinder, Greise. Es gibt eine Priorität: Die USA müssen alles tun, um einen Waffenstillstand zu vermitteln und um einen gerechten Frieden zu ermöglichen. 

Grundsätzlich haben wir einen schon lang andauernden, ungelösten Konflikt: den Kampf der Palästinenser für ihre Selbstbestimmung und für ihre Befreiung von unmenschlichen Lebensbedingungen und Unterdrückung. Dieser Konflikt währt schon mehr als ein halbes Jahrhundert. Die Palästinenser – und das ist unabhängig von der Hamas – wollen einen eigenen Staat in garantierten Grenzen. Wäre die Hamas nur gegen das israelische Militär vorgegangen, könnte man das als Kampf gegen Unterdrückung legitimieren. Das wäre im Einklang mit der Uno-Charta. Aber das gezielte Töten von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen, ein terroristischer Akt, und durch nichts zu rechtfertigen, auch dann nicht, wenn die Gegenseite auch so handeln würde. Dass es in einem Krieg immer auch Unschuldige trifft, ist kaum zu verhindern. Deshalb ist ein Krieg im Grunde genommen nicht zu führen, und Konflikte muss man immer mit friedlichen Mitteln lösen. Wenn aber klar ist, dass mehrere Hunderte oder gar Tausende von Zivilisten auf beiden Seiten aufgrund der Kriegsführung zu Tode kommen, ist das ebenfalls scharf zu verurteilen. Die Hauptaufgabe der Uno ist es, eben solche Konflikte zu vermeiden und dafür zu sorgen, dass feste Vereinbarungen wie zum Beispiel die Osloer Abkommen eingehalten werden.¹   Das Nichteinhalten von Vereinbarungen wie diejenigen von Oslo I und II oder Minsk führt unweigerlich zu Gewalt.

Wie wurde das Selbstbestimmungsrecht für die Palästinenser völkerrechtlich legitimiert? 

In etlichen Resolutionen des Sicherheitsrats, der Generalversammlung und des Menschenrechtsrats ist das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser bestätigt worden. Auch ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 9. Juli 2004,² das die Völkerrechtsverletzungen des israelischen Staats gegenüber den Palästinensern dokumentiert und das Selbstbestimmungsrecht bekräftigt, ist von Israel in keinem einzigen Punkt umgesetzt worden. Die Rechte der Palästinenser stehen nur auf dem Papier, denn die Palästinenser sind sehr weit von einem eigenen Staat entfernt, sehr weit von der Realisierung ihres Selbstbestimmungsrechtes.

Warum ist man hier noch nicht weiter?

Hier geht es um ein totales Versagen der Welt bzw. der Uno, präventive Massnahmen im Sinne der Uno-Charta rechtzeitig zu ergreifen. Resolutionen, die nicht eingehalten werden, zerstören die Hoffnung der Menschen und die Glaubwürdigkeit der Organisation. Hunderte Resolutionen sind ohne Folgen geblieben. Zum Beispiel verabschiedete die Uno-Generalversammlung etliche Resolutionen wie 194 (III), 67/19, 75/22, 76/10, 77/25 über die friedliche Lösung der palästinensischen Probleme, die für jeden Staat Gültigkeit haben, die aber nicht verwirklicht wurden. Für eine friedliche Weltordnung bräuchte man auch die Umsetzung der Resolution 2625, die besagt: 

«Jeder Staat hat die Pflicht, jede Gewaltmassnahme zu unterlassen, welche die Völker […] ihres Rechts auf Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit beraubt. Bei ihren Massnahmen und ihrem Widerstand gegen solche Gewaltmassnahmen im Bemühen um die Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts sind diese Völker berechtigt, im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen der Charta Unterstützung zu suchen und zu erhalten.»³ 

Auch in diesem Sinne stipuliert der Artikel 7 der Resolution 3314 der Generalversammlung, die Uno-Deklaration über die «Aggression»:⁴ 

«Diese Definition, insbesondere ihr Artikel 3, kann in keiner Weise das sich aus der Charta herleitende Recht auf Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit von Völkern beeinträchtigen, die dieses Rechtes gewaltsam beraubt wurden und auf die in der Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen Bezug genommen wird, insbesondere nicht von Völkern unter kolonialen oder rassistischen Regimen oder anderen Formen der Fremdherrschaft; noch das Recht dieser Völker, im Einklang mit den Grundsätzen der Charta und in Übereinstimmung mit der genannten Erklärung für dieses Ziel zu kämpfen und Unterstützung zu suchen und zu erhalten.»

Mit anderen Worten, es gibt ein von der Uno anerkanntes Recht auf Widerstand, ein Recht, für die Realisierung des Selbstbestimmungsrechtes zu kämpfen. Leider geht es hier um Tausende von unschuldigen Opfern, die auf beiden Seiten nicht hätten leiden oder sterben müssen. Wenn man das Agieren wie im Falle der Hamas als Terrorismus verurteilt, muss man sich bei der Gegenreaktion dennoch an die Regeln des Völkerrechts und des humanitären Völkerrechts halten, andernfalls gibt es Kriegsverbrechen auf beiden Seiten. Das Bombardieren von Spitälern, wie es bei den massiven Luftangriffen der israelischen Luftwaffe auf Gaza in Kauf genommen wird, ist gegen das humanitäre Völkerrecht. Die Zahl der medizinischen Einrichtungen, die hier betroffen sind, ist enorm: Tlaleng Mofokeng, die Uno-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Gesundheit, sprach von 48 Einrichtungen, die in Gaza durch Bomben oder Raketen getroffen wurden.⁵ Wenn man das Verhalten der Hamas als Terrorismus bezeichnet, wie soll man das Bombardieren der Zivilbevölkerung und medizinischer Einrichtungen in Gaza bezeichnen? Haben wir es nicht mit Staatsterrorismus zu tun, mit kollektiver Bestrafung jenseits von jedem rechtsstaatlichen Gefühl, jenseits von Barmherzigkeit und Menschlichkeit? Alle Uno-Stellen haben gegen den Angriff auf das Al-Ahli Hospital scharf protestiert.⁶ Schrecklich, aber auch nicht das erste Mal. So war es auch während früherer Kriege gegen Gaza, etwa 2014.⁷ Man muss einen modus vivendi suchen – in gutem Glauben und mit der Solidarität aller Staaten der Welt. Es braucht eine tragfähige Lösung für Israelis und Palästinenser. Man verschiebt diese seit Jahrzehnten.

Was sagt die Uno-Charta zur Gewaltanwendung? 

Artikel 2(4) der Uno-Charta verbietet die Anwendung von Gewalt (use of force), aber genauso verbietet sie Androhung von Gewalt und Provokation.

Art. 1 und 55 der Uno-Charta und Art. 1 des Pakts über bürgerliche und politische Rechte stipulieren das Recht auf Selbstbestimmung für alle Menschen. Artikel 1 IPBPR besagt:

(1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit, ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung. 

(2) Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.

(3) Die Vertragsstaaten, einschliesslich der Staaten, die für die Verwaltung von Gebieten ohne Selbstregierung und von Treuhandgebieten verantwortlich sind, haben entsprechend den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung zu fördern und dieses Recht zu achten.

Artikel 2(4) verbietet ausserdem jede Anwendung von Gewalt, die gegen die Prinzipien der Uno-Charta verstösst. Das heisst, auch Massnahmen wie Blockaden, unilaterale Zwangsmassnahmen – fälschlicherweise Sanktionen genannt, obwohl nur die Uno-Sanktionen so bezeichnet werden können – das bewusste Aushungern einer Bevölkerung, kollektive Bestrafung, willkürliche Verhaftungen, unbegrenzte Inhaftierungen⁸ und so weiter. Das alles stellt illegale Gewaltanwendung dar.

Wird nicht ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs erwartet?

Ja, das dürfte, wenn es verfügbar ist, von Bedeutung sein. Es geht dabei um «Legal Consequences arising from the Policies and Practices of Israel in the Occupied Palestinian Territory, including East Jerusalem.»⁹ 

Auf Bitte der Uno-Generalversammlung untersucht der Internationale Gerichtshof zur Zeit die folgenden Fragen:

Part II (A) 1– Israeli Settlements

Part II (A) 2 – Living Conditions of the Palestinian People

Part II (A) 3 – Palestinian Children and Women

Part II (A) 4 – Permanent Sovereignty over Natural and National Resources

Part II (A) 5 – Right to Self-Determination

Part II (A) 8 – Special Committee to Investigate Israeli Practices Affecting the Human Rights of the Palestinian People

Part II (A) 9 – United Nations Relief and Works Agency for Palestine in the Near East (UNRWA)

Das Gutachten des IGH wird entscheidend sein für eine friedliche Lösung des Konfliktes. Man soll auch die Berichte der Kommission des Menschenrechtsrates zur Frage der Apartheid in Israel/Palästina nicht ausser Acht lassen.10 Präsident dieser Kommission ist die ehemalige Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay.

Denken Sie, man hätte schon früher die Eskalation des Jahrzehnte andauernden Konflikts verhindern können?

Wenn die Resolutionen des Sicherheitsrates wie die Resolution 242 vom 22. November 196711 und die Hunderte von Resolutionen der Generalversammlung und des Menschenrechtsrates respektiert worden wären, hätten wir diese Tragödie nicht.

US-Präsident Jimmy Carter hat einen Anfang der Annäherung zwischen Israel und Palästina versucht. Präsident Bill Clinton hat auch die Oslo Agreements vermittelt.12 Die Umsetzung des Friedensprogramms von Oslo hätte die Situation zumindest stabilisieren können. Aber ein radikaler israelischer Nationalist hat den israelischen Ministerpräsident Jitzhak Rabin ermordet, und jede israelische Regierung nach Rabin – ob Ariel Sharon, Benjamin Netanjahu oder Naftali Bennett – hat jede Möglichkeit der Annäherung torpediert. Und dies mit der Zustimmung Washingtons und unter Duldung der Europäischen Union. 

Israel hat seit 2007 eine gegen das Völkerrecht verstossende und daher illegale Blockade gegen Gaza verhängt. Dies hat die Wirtschaft der Palästinenser lahmgelegt, verursachte eine humanitäre Krise, die die Welt aber nicht zurKenntnis nehmen will. Gaza ist wie ein riesiges Gefängnis, in dem die Menschen an Hunger und medizinscher Unterversorgung leiden oder gar sterben. 

Es gibt verschiedene internationale Stimmen, die sagen, dass die Palästinenser bis heute keinen Staat hätten, sei der Ursprung dieses langen Konflikts. Kann man dieser These zustimmen?

Ja. Aber warum haben sie keinen Staat? Weil die Welt es toleriert hat, dass Israel das Territorium auf Kosten der Palästinenser immer weiter ausdehnte. Es genügt, die Karte Palästinas und Gazas anzusehen – 1947, 1967, 2023. Nachdem die Uno-Generalversammlung 1947 eine Teilung des Gebiets festgelegt hatte und der israelische Staat gegründet wurde, kam es zu einer weiteren Ausdehnung des Territoriums, die erst 1967 mit der Uno-Sicherheitsrats Resolution 242 gestoppt wurde. Aber Israel hat sich nicht daran gehalten, und 56 Jahre später ist Palästina noch immer durch Israel besetzt und der Landraub wird fortgesetzt.

Man redet über eine sogenannte «Zwei-Staaten Lösung» – Israel und Palästina. Aber ist das nicht Augenwischerei? Ist ein palästinensischer Staat überhaupt unter den heutigen Bedingungen vorstellbar?

Es gibt vier Kategorien, für einen Staat als solcher zu funktionieren und anerkannt zu werden. Die Konvention von Montevideo13 vom 26. Dezember 1933 nennt sie:  Bevölkerung, Regierung, Territorium und die Fähigkeit, in Beziehung zu anderen Staaten zu treten. Alles ist vorhanden – ausser Territorium. Es wird keinen palästinensischen Staat geben, es sei denn, Israel gibt das besetzte Land zurück. Man hat das Motto «Land for Peace» oft bemüht, aber Israel scheint kein Interesse zu haben, Land an die Palästinenser zurückzugeben. Die USA genehmigen die laufende Enteignung von Land, und die Europäer klopfen hypokritische Parolen.14 Mit dem jetzigen Territorium ist Palästina wirtschaftlich nicht lebensfähig. 

Was sagen andere international bekannt Grössen zu einer Befriedung in Palästina/Israel? 

Professor Richard Falk15, selbst jüdischen Glaubens, hat viele Bücher geschrieben, und seine Position ist stets von der Ethik und Gerechtigkeit für alle geprägt.16 Als Rapporteur war er mutig und deswegen wurde er systematisch diffamiert. Wie Noam Chomsky und Virginia Tilley will Falk eine dauerhafte Lösung für Israel, Palästina und die Welt. Aber Washington, Brüssel und Tel Aviv wollen dies offenbar nicht. Ähnlich argumentiert Professor Norman Finkelstein, Sohn von Holocaust Überlebenden, und Autor des Buches GAZA, (University of California Press, 2018).

Lässt sich – wie Netanjahu ankündigte – die Bombardierung des Gaza-Streifens völkerrechtlich rechtfertigen?

Netanjahus Argumente dienen der innenpolitischen Machtdemonstration und sind menschenverachtend und gegen das Völkerrecht. Man kann die kollektive Bestrafung eines Volkes niemals rechtfertigen, man kann die Vertreibung einer Million Palästinenser nicht beschönigen. Das humanitäre Völkerrecht bzw. die Haager und Genfer Konventionen stipulieren zwei Hauptnormen: the principle of distinction und the principle of proportionality, d. h. das Verbot von Angriffen gegen die Zivilbevölkerung und das Gebot der Verhältnismässigkeit. Beide werden von Netanjahu bewusst verletzt. Hinzu kommt die Anwendung von verbotenen Waffen wie weisser Phosphor.

Es geht um ein Verbrechen gegen die Menschheit im Sinne des Nürnberger Urteils von 1946 und auch im Sinne des Artikels 7 des Statuts von Rom.17 

Solche Fälle gab es immer wieder in der Geschichte…

Leider ja. In der Vergangenheit haben mächtige Armeen alle zu oft Gewalt­orgien an Zivilbevölkerungen ausgeübt, die sie manchmal als Strafe oder «Rache» zu rechtfertigen suchten. Man denke zum Beispiel an den Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto im Mai 1943. Der jüdische Widerstand gegen die Blockade und andere Verbrechen der Nazis war verständlich und zweifellos legitim. Die Zerstörung des Warschauer Ghettos durch die Nazis wurde zu Recht in Nürnberg als Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt.

Sehen Sie eine Lösung für den seit über einem halben Jahrhundert schwelenden Konflikt?

Ja, man muss die Uno-Resolutionen über Palästina umsetzen. Dies wollen aber die USA, Grossbritannien, die EU und Israel offensichtlich nicht, sonst gingen die Bemühungen in eine andere Richtung.

Vielleicht sollte sich die «Global Majority» in Lateinamerika, Afrika und Asien zu Wort melden und ein Ende der Feindseligkeiten und Frieden fordern bzw. Frieden vermitteln, damit das Blutvergiessen auf beiden Seiten ein Ende hat und nicht noch mehr Menschen sterben müssen. Es ist ein Skandal, dass die USA, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Japan am 16. Oktober gegen die Resolution des Sicherheitsrates stimmten, die einen Waffenstillstand beschlossen hätte.18 

Welcher Staat oder welche Staatengruppe könnte hier vermittelnd eingreifen?

Die Schweiz hat durch ihr Verhalten ihre Glaubwürdigkeit als Vermittler verloren. Sie hat sich weitestgehend mit den Interessen Washingtons und Brüssels identifiziert und ist lange nicht mehr ein «honest Broker». Man hat die Neutralität der Schweiz dem billigen Opportunismus geopfert – schändlich und dumm zugleich. Weder Europa noch die USA können als Vermittler fungieren, denn sie sind vollkommen auf der israelischen Seite und tragen die Mitverantwortung für die massiven Menschenrechtsverletzungen Israels gegen die Palästinenser. Der Westen hat als moralische Instanz versagt. Anstatt Israel zur Mässigung zu bewegen, hat man sein Vorgehen gegen die Palästinenser unterstützt oder schweigend hingenommen. 

Als Vermittler würde ich einen Staat aus der Region vorschlagen, etwa Ägypten, Jordanien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Tunesien, vielleicht sogar Algerien. Eventuell könnte ein nicht-beteiligter asiatischer Staat wie Indien oder China neue Ideen und Perspektiven einbringen.  

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

¹ www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/275803/osloer-abkommen-als-meilensteine-im-nahost-friedensprozess/
² www.icj-cij.org/case/131
³ www.un.org/depts/german/gv-early/ar2625.pdf
www.un.org/depts/german/gv-early/ar3314_neu.pdf
www.ohchr.org/en/press-releases/2023/10/un-expert-urges-immediate-ceasefire-and-humanitarian-access-gaza-health
www.dailypioneer.com/2023/top-stories/un-strongly-condemns-attack-on-al-ahli-arab-hospital-in-gaza-that-killed-hundreds.html  www.theguardian.com/world/2023/oct/18/they-believed-it-was-safe-death-toll-rising-blast-gaza-hospital
www.msn.com/en-us/news/world/abbas-condemns-israel-for-hideous-war-massacre-after-gaza-hospital-attack/ar-AA1ipSUs
news.un.org/en/story/2023/10/1142472
www.gmanetwork.com/news/topstories/world/885512/who-several-countries-condemn-gaza-hospital-strike/story/
www.thenews.com.pk/print/1120319-world-leaders-condemn-israel-s-barbaric-attack-on-hospital-in-gaza
www.amnesty.org/en/latest/news/2014/07/israelgaza-attacks-medical-facilities-and-civilians-add-war-crime-allegations/
www.un.org/depts/german/gv-early/ar3314_neu.pdf
www.icj-cij.org/case/186
10 www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/co-israel/index
11 unscr.com/en/resolutions/242
12 www.aljazeera.com/news/2023/9/13/what-were-oslo-accords-israel-palestinians
www.bbc.com/news/world-middle-east-66751704
13 www.hlrn.org/img/documents/Montevideo_Convention.pdf
14 www.theguardian.com/world/2023/oct/10/what-will-end-the-cycle-of-israel-palestine-violence
15 richardfalk.org/author/richardfalk/
16 daysofpalestine.ps/richard-falk-the-civilian-population-in-the-gaza-strip-was-and-still-a-victim-of-collective-punishment/
17 Siehe auch UN Doc. E/CN.4/Sub2/1997/23 und die Erklärung über die Völkerrechtswidrigkeit der ethnischen Säuberungen, veröffentlicht auch in A. de Zayas, Heimatrecht ist Menschenrecht, Universitas, München 2001.
18 news.un.org/en/story/2023/10/1142427

 

Uno-Experten beklagen Angriffe auf Zivilisten, rufen zu Waffenstillstand auf und fordern die internationale Gemeinschaft auf, die Ursachen der Gewalt zu bekämpfen

Unabhängige Uno-Experten verurteilten heute unmissverständlich die gezielte und tödliche Gewalt gegen Zivilisten in Israel sowie die gewalttätigen und wahllosen Angriffe gegen palästinensische Zivilisten im Gazastreifen und die weitere Verschärfung der rechtswidrigen Blockade, die verheerende Auswirkungen auf die gesamte Zivilbevölkerung haben wird.

«Wir verurteilen aufs Schärfste die schrecklichen Verbrechen der Hamas, die vorsätzliche und weit verbreitete Tötung und Geiselnahme von unschuldigen Zivilisten, darunter auch ältere Menschen und Kinder. Diese Handlungen stellen abscheuliche Verstösse gegen das Völkerrecht und internationale Verbrechen dar, für die dringend Rechenschaft abgelegt werden muss», so die Experten.

«Wir verurteilen auch die wahllosen militärischen Angriffe Israels gegen die bereits erschöpfte palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens, die aus über 2,3 Millionen Menschen besteht, von denen fast die Hälfte Kinder sind. Sie leben seit 16 Jahren unter einer rechtswidrigen Blockade und haben bereits fünf grosse, brutale Kriege hinter sich, über die keine Rechenschaft abgelegt wurde», so die Experten.

«Dies kommt einer kollektiven Bestrafung gleich», so die Uno-Experten. «Es gibt keine Rechtfertigung für Gewalt, die wahllos auf unschuldige Zivilisten abzielt, sei es durch die Hamas oder ­israelische Streitkräfte. Dies ist nach internationalem Recht absolut verboten und stellt ein Kriegsverbrechen dar.»

Die Experten äusserten sich auch besorgt über Berichte, wonach Journalisten und Medienschaffende, die über den Konflikt berichten, ins Visier genommen wurden. Berichten zufolge wurden sieben palästinensische Journalisten und Medienschaffende bei israelischen Luftangriffen getötet.

Im Morgengrauen des 7. Oktober 2023 feuerten bewaffnete palästinensische Gruppen aus dem Gazastreifen mehr als 5000 Raketen wahllos auf Israel ab und durchbrachen die stark befestigte Sperranlage des Gazastreifens, um Bodenangriffe auf mehrere Orte in Israel zu starten. Die Angriffe richteten sich wahllos sowohl gegen Zivilisten als auch gegen Sicherheitskräfte. Die Hamas erklärte, ihre Aktionen seien eine Reaktion auf die anhaltende Gewalt Israels gegen Palästinenser im besetzten Westjordanland, einschliesslich Ost-Jerusalem. Berichten zufolge wurden mehr als 1200 Israelis und Ausländer, die meisten von ihnen Zivilisten, getötet und mehr als 3000 verwundet. Berichten zufolge wurden mehr als 100 Israelis und Ausländer, darunter Kinder und ältere Menschen sowie einige bekannte Menschenrechtsaktivisten, von der Hamas im Gazastreifen als Geiseln genommen.

«Die Geiselnahme im Rahmen von Feindseligkeiten stellt ein Kriegsverbrechen dar. Die von der Hamas entführten Zivilisten müssen unverzüglich freigelassen werden, bis ihr Schicksal und ihr Aufenthaltsort bekannt gegeben werden», so die UN-Experten.

Bei den israelischen Luft-, Land- und Seeangriffen auf den Gaza­streifen wurden mindestens 1100 Palästinenser getötet, darunter ältere Menschen und 290 Kinder, und mehr als 5000 verletzt. Die Luftangriffe zielten offenbar auf dicht besiedelte Gebiete, darunter Märkte und zwei Krankenhäuser, zerstörten Wohnhäuser und beschädigten 20 Einrichtungen des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge (UNRWA), darunter Schulen, in denen vertriebene Zivilisten untergebracht sind. Mit Stand vom 11. Oktober schätzten die Vereinten Nationen, dass mindestens 340 000 Menschen im Gazastreifen vertrieben wurden und fast 218 600 Menschen in 92 UNRWA-Schulen im gesamten Gazastreifen untergebracht sind.

«Die wahllose Tötung von Zivilisten im Rahmen von Feindseligkeiten unter Missachtung der Grundsätze der Unterscheidung, der Vorsorge und der Verhältnismässigkeit ist ein Kriegsverbrechen», so die Experten.

Sie betonten ausserdem, dass wahllose Raketenangriffe, die Bombardierung ziviler Infrastrukturen und der Beschuss dicht besiedelter Gebiete schwere Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht darstellen, unabhängig davon, ob sie von bewaffneten palästinensischen Gruppen oder von den israelischen Streitkräften begangen werden.

Am 9. Oktober kündigte der israelische Verteidigungsminister an, dass die Behörden die Versorgung des Gazastreifens mit lebenswichtigen Gütern vollständig einstellen würden, da sie «menschliche Tiere» bekämpfen würden. Der Minister drohte, diejenigen zu bombardieren, die versuchten, humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu bringen. Am 9. und 10. Oktober bombardierte Israel Berichten zufolge den Grenzübergang Rafah an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten, wodurch der Verkehr in und aus dem Gazastreifen unterbrochen wurde, der Übergang geschlossen und die Enklave vollständig blockiert wurde.

«Neben dieser entsetzlichen Sprache, die das palästinensische Volk entmenschlicht, insbesondere diejenigen, die seit 16 Jahren unrechtmässig in Gaza ‹eingesperrt› sind, verurteilen wir die Vorenthaltung lebenswichtiger Güter wie Lebensmittel, Wasser, Strom und Medikamente. Solche Massnahmen werden zu einer schweren humanitären Krise im Gazastreifen führen, wo die Bevölkerung nun unausweichlich vom Hungertod bedroht ist. Vorsätzliches Aushungern ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit», so die Experten.

Die Experten erinnerten die internationale Gemeinschaft an ihre Verantwortung, die Ursachen des gegenwärtigen Konflikts zu bekämpfen, einschliesslich der 56 Jahre alten Besetzung und der von Israel betriebenen Annexion. Sie forderten die internationale Gemeinschaft auf, gangbare Wege zu finden, um weitere Verstösse gegen das Völkerrecht, menschliches Leid und Blutvergiessen zu verhindern.

Angesichts der entmenschlichenden Sprache, die zunehmend sowohl gegen Palästinenser als auch gegen Israelis verwendet wird, sei eine friedliche Lösung unabdingbar, so die Experten.

«Angesichts der zunehmenden Zahl von Todesopfern unter der Zivilbevölkerung fordern wir eine sofortige Deeskalation der Spannungen in der Region und eine wirksame Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf der Grundlage des Völkerrechts und des Schutzes der gleichen Rechte und der Würde aller Menschen», erklärten sie.

Kurzfristig drängten die Experten darauf:

Eine sofortige Beendigung der Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte, insbesondere des Rechts auf Leben. Zu diesem Zweck sollten die von der Untersuchungskommission für die besetzten palästinensischen Gebiete, einschliesslich Ost-Jerusalem, und Israel eingeleitete Untersuchung aller seit dem 7. Oktober gemeldeten Verstösse, einschliesslich unrechtmässiger Tötungen und gewaltsamen Verschwindens, sowie die Untersuchung durch den Internationalen Strafgerichtshof unterstützt werden;

Die Vereinbarung eines Waffenstillstands, der von einem unabhängigen internationalen Gremium überwacht werden soll;

Die Freilassung von Geiseln, die von der Hamas genommen wurden, und von Palästinensern, die von Israel willkürlich festgehalten werden, insbesondere Frauen, Kinder, ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen und Schwerkranke;

Die Einrichtung einer internationalen Schutzpräsenz in den besetzten palästinensischen Gebieten;

Die Bereitstellung aller notwendigen finanziellen und humanitären Hilfe und die Schaffung von humanitären Korridoren, die es den Menschen ermöglichen, den Gazastreifen zu verlassen und zurückzukehren, sobald die Feindseligkeiten eingestellt werden; und

Die Würde der Toten der jüngsten Gewalttaten ist zu respektieren, und sie sind den trauernden Angehörigen rasch zu übergeben.

«Der Kreislauf der Gewalt in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten muss unbedingt durchbrochen werden», so die Experten. «Bewaffnete Angriffe und militärische Reaktionen haben sich bereits als unfähig erwiesen, zu Sicherheit und Achtung der Menschenrechte aller zu führen. Die Wiederherstellung der internationalen Rechtmässigkeit, der Rechenschaftspflicht und der Achtung der Menschlichkeit und der Würde aller muss Vorrang haben, einschliesslich eines Endes der 56-jährigen militärischen Besetzung durch Israel.» 

 

Quelle: www.ohchr.org/en/press-releases/2023/10/israeloccupied-palestinian-territory-un-experts-deplore-attacks-civilians

Genf, 12.Oktober 2023

Die Experten: Francesca Albanese, Special Rapporteur on the situation of human rights in the Palestinian Territory occupied since 1967; Pedro Arrojo Agudo, Special Rapporteur on the human rights to safe drinking water and sanitation; Balakrishnan Rajagopal, Special Rapporteur on the right to adequate housing; Aua Baldé (Chair-Rapporteur), Gabriella Citroni (Vice-Chair), Angkhana Neelapaijit, Grażyna Baranowska, Ana Lorena Delgadillo Pérez, Working Group on enforced or involuntary disappearances; Reem Alsalem, Special Rapporteur on violence against women and girls, its causes and consequences; Mama Fatima Singhateh, Special Rapporteur on the sale, sexual exploitation and sexual abuse of children; Morris Tidball-Binz, Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions; Ian Fry, Special Rapporteur on the promotion and protection of Human Rights in the context of Climate Change; Javaid Rehman, Special Rapporteur on the situation of human rights in the Islamic Republic of Iran; Siobhán Mullally, Special Rapporteur on trafficking in persons, especially women and children; Ashwini, K.P, Special Rapporteur on contemporary forms of racism, racial discrimination, xenophobia and related intolerance; Tomoya Obokata, Special Rapporteur on contemporary forms of slavery, including its causes and consequences; Fernand de Varennes, the Special Rapporteur on Minority issues; Michael Fakhri, Special Rapporteur on the right to food; Irene Khan, Special Rapporteur on the protection and promotion of freedom of opinion and expression; Mary Lawlor, Special Rapporteur on the situation of human rights defenders; Dorothy Estrada Tanck (Chair), Ivana Radačić (Vice-chair), Elizabeth Broderick, Meskerem Geset Techane and Melissa Upreti, Working Group on discrimination against women and girls; Farida Shaheed, Special Rapporteur on the right to education; Mohamed Abdelsalam Babiker, Special Rapporteur on the Situation of Human Rights in Eritrea; Clément Nyaletsossi Voule, Special Rapporteur on the rights to freedom of peaceful assembly and of association; Attiya Waris,  Independent Expert on the effects of foreign debt and other related international financial obligations of States on the full enjoyment of all human rights, particularly economic, social and cultural rights; Vitit Muntarbhorn, Special Rapporteur on the situation of human rights in Cambodia; Barbara G Reynolds (Chair), Bina D’Costa, Catherine S. Namakula, Dominique Day, Miriam Ekiudoko, Working Group of Experts on People of African Descent; Isha Dyfan, Independent Expert on the situation of human rights in Somalia; Alexandra Xanthaki, Special Rapporteur in the field of cultural rights; José Francisco Calí Tzay, Special Rapporteur on the rights of Indigenous Peoples; Richard Bennett, Special Rapporteur on the situation of human rights in Afghanistan; Obiora C. Okafor, Independent Expert on human rights and international solidarity; David Boyd, Special Rapporteur on the issue of human rights obligations relating to the enjoyment of a safe, clean, healthy and sustainable environment; Livingstone Sewanyana, Independent Expert on the promotion of a democratic and equitable international order; Alice Jill Edwards, Special Rapporteur on Torture and other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment; Muluka-Anne Miti-Drummond, Independent Expert on the enjoyment of human rights by persons with albinism; Ravindran Daniel (Chair-Rapporteur), Sorcha MacLeod, Chris Kwaja, Carlos Salazar Couto, Working Group on the use of mercenaries; Surya Deva, Special Rapporteur on the right to development, and Ms. Paula Gaviria Betancur, Special Rapporteur on the human rights of internally displaced persons

veröffentlicht 26.Oktober 2023

Verschiedene Stimmen zum Palästinakonflikt

Seit dem 7. Oktober liest man mehrheitlich in den Massenmedien über das grosse Leiden der Israelis nach dem völkerrechtswidrigen Angriff der Hamas auf die Zivilbevölkerung. Unschuldige sind zu Tode gekommen, Schmerz, Trauer und Wut sind gross. Was aber kaum thematisiert wird, sind die Folgen der Bombardierungen des Gaza-Streifens für die Zivilbevölkerung, was ebenfalls Leid, Trauer und Wut erzeugt. Wenn Zivilisten Opfer einer kriegerischen Auseinandersetzung werden, ist das inakzeptabel. Wir möchten an dieser Stelle Menschen zu Wort kommen lassen, die auf das Elend der Zivilbevölkerung auch im Gazastreifen aufmerksam machen. Wenn Rache und Vergeltung die Motive sind, wird es keine Versöhnung, keinen Frieden geben.

Die Not und das Elend sind gross

Der Nahostkonflikt ist einmal mehr explodiert, in einem bisher nicht gekannten Ausmass.

Nein, es ist kein Konflikt, es ist eine Tragödie, die sich der griechischen weiter annähert. 

Die Schlächtereien der Hamas-Kämpfer in Israel sind fürchterlich und deshalb nicht zu relativieren.

Hier mache ich deshalb bewusst einen Schnitt.

Seit 75 Jahren ist Palästina, Westbank, Ostjerusalem und seit 2005 Gaza indirekt, nun von Israel besetzt.

Was heisst das? Nakba, Vertreibung, Unterdrückung, Verfolgung, Landraub, Trennmauer, Abriegelung, Blockade, Tötungen und Entwürdigungen von inzwischen über 5 Millionen Palästinenserinnen und Palästinensern, die aufrecht gehen möchten, Würde suchen.

Wo steckt für sie Hoffnung? Das wurde ich am 20. Oktober von einer Journalistin von 10 vor 10 mehrmals gefragt.

Im Kleinen, in Beziehungen, Freundschaften  zu Palästinenserinnen und Palästinensern hier in der Schweiz und in Palästina sowie mit Jüdinnen, Juden hier und in Israel. Es sind Brücklein zu Menschen, an denen ich seit 1979 arbeite und weiter bauen möchte im Kleinen, oft im Stillen.

Bei all dem begleiten mich Trauer und Ohnmacht.

Jochi Weil
Jochi und Anjuska Weil waren 2001 Mitbegründer des Vereins Kampagne Olivenöl aus Palästina. Jochi Weil, der Verwandte im Holocaust verloren hat, engagiert sich unter anderem bei Medico International Schweiz, die in Gaza und in der Westbank tätig ist und engagiert sich auch bei Ina autra senda – Swiss Friends of Combatants for Peace.

 

Braucht die israelische Regierung die Hamas?

«Ja, genau. Es ist schon erstaunlich. Sie mochten die Hamas, weil sie wussten, dass die Hamas extremistische Ansichten über eine Zweistaatenlösung hat. Mit anderen Worten: Keine Zweistaatenlösung. Und die Leute auf der rechten Seite in Israel wollten keine Zweistaatenlösung. Die Israelis verbündeten sich also in gewissem Masse – wir müssen hier vorsichtig mit der Sprache sein – mit der Hamas, um die Palästinensische Autonomiebehörde zu untergraben, zunächst unter Arafat, dann unter Mahmud Abbas, weil diese an einer Zwei-Staaten-Lösung interessiert war. In einer sehr wichtigen Hinsicht war Israel also bereit, mit der Hamas zu leben. Und das ist der Grund, warum sie die Hamas nicht als so grosse Bedrohung ansahen, denn bis zu einem gewissen Grad – auch hier müssen wir unsere Worte sorgfältig wählen – war die Hamas ein Partner Israels bei der Unterminierung der Palästinensischen Autonomiebehörde, die an einer Zweistaatenlösung interessiert war.»

John Mearsheimer,
US-amerikanischer Politologe

Quelle: www.youtube.com/watch?v=ZUtkCbQpw-0

 

Viele lassen sich nicht täuschen

«Glücklicherweise gab es auch unterschiedliche Reaktionen auf die Ereignisse der letzten Tage. 

Wie schon in der Vergangenheit lassen sich grosse Teile der westlichen Zivilgesellschaften nicht so leicht von dieser Heuchelei täuschen, die bereits im Fall der Ukraine deutlich wurde. 

Viele Menschen wissen, dass seit Juni 1967 eine Million ­Palästinenser mindestens einmal in ihrem Leben inhaftiert waren. Und mit der Inhaftierung kommen Misshandlung, Folter und permanente Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren.»

Ilan Pappé ist ein israelischer Historiker, dessen Eltern in den 30er Jahren aus Deutschland geflohen sind

Quelle: www.palestinechronicle.com/my-israeli-friends-this-is-why-i-support-palestinians-ilan-pappe/

 

US-Regierung krebst zurück

In seiner Rede im Indian Treaty Room sagte Biden am Mittwoch vor einer Gruppe jüdischer Führer: «Ich mache das schon sehr lange. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Bilder von Terroristen, die Kinder enthaupten, sehen und bestätigen würde.»

Später am Abend erklärte ein Beamter der Regierung gegenüber CNN, dass weder Biden noch die Regierung Bilder gesehen oder Berichte über von der Hamas enthauptete Kinder oder Säuglinge bestätigt hätten. Der Beamte stellte klar, dass sich die Äusserungen des Präsidenten auf öffentliche Kommentare von Medien und israelischen Beamten bezogen. 

Quelle: edition.cnn.com/2023/10/12/politics/joe-biden-photos-children-hamas-israel/index.html

 

Keine palästinensische Rakete ins Krankenhaus?

«Keine der palästinensischen Gruppen hat eine Rakete, die beim Einschlag in einem Spital ­Hunderte töten kann. Was diese bewirken können, ist ein Feuerwerk, kleinere Schäden und ein oder zwei Todesopfer.» «Das Video des Einschlags selbst zeigt jedoch, dass eine unglaublich grosse und starke Waffe eingesetzt wird. Hören Sie sich das Geräusch an, das die Rakete kurz vor dem Einschlag macht – dieses zischende Geräusch wird durch ihre phänomenale Geschwindigkeit verursacht, wenn sie durch die Luft fliegt. Das ist nicht das Geräusch einer fallenden palästinensischen Rakete.

Wenn Sie sich Videos ansehen, in denen palästinensische Raketen abgefeuert werden, bemerken Sie, wie langsam sie sich bewegen. Fast im Schneckentempo. 

Sie fallen in der Geschwindigkeit des freien Falls, nicht mit der nahezu Überschallgeschwindigkeit der Rakete, die das Krankenhaus getroffen hat. Wer das anders sieht, hat die Gesetze der Physik nicht verstanden.» 

Dies ist ein weiterer irakischer WMD-Moment. Wir werden in die Irre geführt. Es ist nicht nur «unwahrscheinlich», dass eine palästinensische Rakete das Krankenhaus in Gaza getroffen hat. Es ist unmöglich.» 

Jonathan Cook, ein englischer Journalist, der während 20 Jahren aus Nazareth über den Nahen Osten berichtet

Quelle: www.jonathan-cook.net/blog/2023-10-18/ahli-hospital-gaza-gaslit/

 

Blockade als Kollektivstrafe?

«Es wird den Menschen in Gaza jegliche Nahrung, Wasser, Treibstoff, Öl, Elektrizität verweigern […] das ist es, was es tun wird. […] So sieht es in der Praxis aus. Wenn man Israel pauschal unterstützt, unterstützt man pauschal die Ausrottung des palästinensischen Volkes.» «Nach internationalem Recht stellt die Blockade eine Form der Kollektivstrafe dar, also ist sie nach internationalem Recht illegal.» 

Norman Finkelstein,
Sohn Holocaust Überlebender 

Quelle: rumble.com/v3okvw3-gaza-israel-and-the-hamas-attacks-w-prof.-norman-finkelstein.html

 

Horror in Gaza

«Und ich habe das Gefühl, dass jedes Wort, das ich sage, hohl ist, weil es nicht ausreicht. Die Worte, die ich brauche, gibt es in unseren Wörterbüchern nicht, um den Horror zu beschreiben, den meine Freunde in Gaza jetzt durchmachen. […]

Meine Freundin, die mir geschrieben hat, ihr Schwager sitzt im Rollstuhl, ist halbseitig gelähmt. Sie konnten nicht weggehen, weil sie sagten: «Wie können wir mit ihm das Haus verlassen? Und wir können ihn nicht zurücklassen.» Und ihre Mutter ist alt. Also sind sie dort. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was sie durchgemacht haben. Sie hat mir gerade heute Morgen eine Blume geschickt. Sie hatten einen kleinen Fetzen Internet, also schickte sie mir eine Blume als Antwort auf meine WhatsApp-Nachricht einige Stunden zuvor. Ich habe Freunde, die in einer Schule im Flüchtlingslager Nuseirat eingepfercht sind. Und eine Mutter, ein Flüchtling von 1948, sie war ein Kind von 1948 und hat seitdem so viele Kriege gesehen, vertrieben aus ihrer Heimat.»

Amira Hass,
Tochter Holocaust Überlebender langjährige Journalistin bei der israelischen Zeitung Haaretz, die 30 Jahre aus dem Gaza-Streifen berichtet hat.

Quelle: www.democracynow.org/2023/10/19/amira_hass_on_gaza_humanitarian_crisis

 

Zwei Väter – ein Israeli und ein Palästinenser – gemeinsam für Frieden und Gerechtigkeit

Im Nahostkonflikt waren der Israeli Rami Elhanan und der Palästinenser Bassam Aramin Feinde. In diesem Konflikt verloren beide eine Tochter. Aufgrund dieses bitteren Erlebnisses entschieden sie sich, gemeinsam für den Frieden zu kämpfen.

Rami Elhanan: «Die letzten zwei Wochen haben die Bemühungen der Friedensarbeit um Jahre zurückgeworfen. All die Vorträge in den Schulen, all die Gespräche mit Kindern – das wurde in wenigen Stunden ausgelöscht. Hass, Wut und Opfermentalität haben unsere ganze Arbeit überschrieben. Das ist unerträglich.»

Bassam Aramin: «Wenn wir von unserer Bruderschaft erzählen, sehen wir, wie sich die Gesichter der Kinder verändern. Wir schlagen feine Risse in ihre Mauer des Hasses. Sie werden dadurch nicht zu Martin Luther King oder Gandhi aber sie überdenken vermeintliche Realitäten. Und das ist unser Ziel. […] Für uns gibt es nur einen Weg. Aufhören kommt nicht in Frage. Wir verbreiten unsere Botschaft weiter, auch wenn wir dafür Hass und Wut ernten. […] Wir können Frieden schaffen. Die Menschen brauchen dafür eine Perspektive. Wie Rami immer sagt: Es gibt keine Freiheit für die Palästinenser ohne Sicherheit für Israel. Und es gibt keine Sicherheit für Israel ohne Freiheit für die Palästinenser.»

Quelle: Thurgauer Zeitung vom 21.10.2023

 

veröffentlicht 3.Oktober 2023

Aufruf zum Frieden

von Dr. Stefan Nold

Auf zum Frieden

Frieden schrei ich, Frieden!

Macht doch endlich Frieden!

Doch mein Land kann nur noch hassen,

Russen hassen, Russen hassen.

Und so kämpft es wieder Adolfs Kampf;

Braver Bürger glaubt den bösen Krampf.

 

Versteht doch endlich eure Feinde!

Nur so wird euch der Feind zum Freunde!

Glaubt nicht, was die Grossen sagen;

ihr müsst alle Kosten tragen.

Dreck schwimmt oben und kassiert;

doch das Volk wird angeschmiert.

 

Scheiss auf die pathetischen Parolen!

Soll das Pack der Teufel holen!

Schlaue Waffen, schwache Köpfe,

alte Sprüche, alte Zöpfe.

Hau doch weg den ganzen Mist

und zeig endlich, wer du bist.

 

Werde endlich wieder frei!

Such dein Glück und bleib dabei!

Hohle Phrasen, tralala,

Kriege sind zum kriegen da.

Nicht für dich, du armer Tropf;

du verlierst nur deinen Kopf.

Stefan Nold, 24. September 2023

 

 

Das Gedicht «Auf zum Frieden» habe ich am frühen Sonntag morgen des 24. September von Hand in unserem Wohnwagen geschrieben, der zu der Zeit in der Nähe von Augsburg auf dem Grundstück unseres guten Freundes Klaus stand. Dieser hat uns in viele Winkel dieser tollen und sehenswerten Stadt geführt. Tags zuvor hatten wir dort das Bert-Brecht-Haus besucht. Vielleicht war das eine Quelle der Inspiration. Jedenfalls waren wir in dieser Zeit weitgehend abgeschnitten vom Internet. Als ich die vorletzte Zeile der ersten Strophe «und so kämpft es wieder Adolfs Kampf» zu Papier brachte, fand ich das etwas überzogen und war mir unsicher, ob ich es so veröffentlichen sollte. Dennoch liess ich die Zeile stehen.

Was ich an diesem Sonntag morgen nicht wusste: Zwei Tage zuvor, am Freitag, den 22. September, hatte das kanadische Parlament bei einem Empfang für den ukrainischen Präsidenten Selenskyj Yaroslaw Hunka, einem ehemaligen Soldaten der 14. SS-Division Galizien, stehend applaudiert, «because he fought for Ukrainian independence against the Russians […] He was an Ukrainian hero, he was a Canadian hero and we thank him for his service.» [...weil er für die ukrainische Unabhängigkeit gegen die Russen kämpfte. Er war ein ukrainischer Held, er war ein kanadischer Held und wir danken ihm für seinen Dienst.]¹ So formulierte es  Anthony Rota, der Sprecher des kanadischen Parlaments. Der Dienst der 14. Division der Waffen-SS Galizien bestand darin, Partisanen, die gegen die Nazis kämpften, zur Strecke zu bringen, tausende von Zivilisten zu massakrieren und hunderte polnischer Dorfbewohner bei lebendigem Leibe zu verbrennen². Und beide, Hunka, der alte SS-Mann, und Selenskyj, der frühere jüdische Komiker, standen im gleichen Raum und reckten vor aller Augen stolz ihre Fäuste in Erinnerung an diese Vergangenheit³.

Es geht weder um Yaroslaw Hunka noch geht es darum, jeden Angehörigen der Waffen-SS zu verurteilen. Mein Vater hat erzählt, man habe ihn auf einer Polizeiwache als Siebzehnjährigen einen ganzen Tag lang «bearbeitet», sich doch zur Waffen-SS zu melden. Er habe stets geantwortet, er habe sich nun einmal vorgenommen, bei der Wehrmacht zu dienen. Er hatte stets grosses Verständnis für junge Leute seiner Generation wie Günter Grass, die keine gute Ausrede parat hatten und dann kurz vor Kriegsende bei der Waffen-SS gelandet sind.

Es sind nicht die jungen Kerle, die die Hauptschuld tragen; es sind Generäle, Direktoren, Richter, Professoren, Ministerialräte, Journalisten und all die anderen Opportunisten, die Kriegstreiberei als Mittel für die eigene Karriere betrachten, so wie jetzt der Sprecher des kanadischen Parlaments – und allen voran: Wolodymyr Selenskyj. Nach der Eroberung Mariuopols durch die Russen besuchte der in St. Petersburg lebende deutsche Blogger und Buchautor Thomas Röper⁴ das Hauptquartier des Asow-Bataillons und zeigte ein Video davon. Man sieht diverse Nazi-Devotionalien, darunter eine grosse vergoldete Büste von Adolf Hitler. Daneben liegen wie Trophäen die Visitenkarten eines deutschen und eines kanadischen Diplomaten. Das Video ist auf YouTube längst gelöscht worden und ähnliche Videos auf anderen Plattformen⁵ haben sehr lange Ladezeiten. Ich erinnere mich nur an den Titel des deutschen Diplomaten: Es war ein Legationsrat.

Nach heftigen Protesten des Simon Wiesenthal Zentrums hat sich der kanadische Premier bei der jüdischen Gemeinde Kanadas entschuldigt, aber nicht bei Russen oder Polen.⁶ Für Justin Trudeau und Konsorten sind getötete Russen oder Polen nebensächlicher Kollateralschaden, so wie die unzähligen kleinen gelben oder roten bösen Männchen, die in James Bond-Filmen im Dienste ihrer Majestät zum Heil der freien Welt über den Haufen geschossen werden. Leider trifft mein Gedicht auf den Punkt. Ich wünschte sehr, es wäre anders. 

¹ www.youtube.com/watch?v=eMnxokpvP0E
² thegrayzone.com/2023/09/28/nazigate-canadas-general-ukrainian-waffen-ss/
³ peoplesworld.org/article/trudeau-and-zelensky-lead-canadian-parliament-in-honoring-member-of-hitlers-ss/
www.anti-spiegel.ru
altcensored.com/watch?v=dSKqqw511do
www.youtube.com/watch?v=SjQqplzoZDc

 

Stefan Nold, 17. Oktober 2022
Internet-Seiten abgerufen am 17.10.2023

Ein tragischer Unfall zerstört Teile der KidStar Academy – jetzt brauchen die Kinder Ihre Hilfe!

«Kindern im grössten Slum Afrikas eine Zukunft geben» 

Good Hearts Organisation

sl. Im Jahr 2009 hat der Toggenburger Alex Weigel in Kibera, einem der grössten Slums Afrikas, in der Hauptstadt Kenias, Nairobi, eine Schule eröffnet: die «KidStar Academy». In einer kleinen Lehmhütte empfing er zusammen mit einer Lehrerin die ersten Kinder. Heute, nur 13 Jahre später, kümmern sich unter seiner Leitung 24 kenianische Mitarbeiter um nahezu 200 Kinder und Jugendliche und geben ihnen das Rüstzeug für und die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben. Die Kinder und Jugendlichen lernen neben Lesen und Schreiben alles, was es für ein selbstständiges und menschenwürdiges Zusammenleben braucht. Alex Weigels Schule, die in einer Lehmhütte begann, ist aus Kibera nicht mehr wegzudenken. Sie ist zu einer Schule fürs Leben geworden, zu einer Schule, in der Menschlichkeit gelebt wird. «Zeitgeschehen im Fokus» berichtete in der Weihnachtsausgabe vom 22. Dezember 2022 ausführlich über dieses Hilfsprojekt.

Vor wenigen Tagen erreichte uns folgende dringende Botschaft der «Good Hearts Organisation», dem Schweizer Trägerverein, der das Hilfsprojekt «KidStar Academy» in Nairobi tatkräftig unterstützt: 

Ein tragischer Unfall zerstört Teile der Schule

«Wir wenden uns heute mit einer dringlichen Botschaft an Sie, um Ihre Unterstützung in einer ausserordentlichen Situation zu erbitten:

Am Samstag, 30. September, ereignete sich ein schreckliches Unglück: Ein Lastwagen verlor auf der Autobahn die Kontrolle und krachte in unser Schulgelände. Die Auswirkungen sind verheerend. Das Gebäude, das unsere Kinder und Jugendlichen täglich besuchen, wurde schwer beschädigt. Glücklicherweise befanden sich keine Schülerinnen und Schüler im Gebäude, als der Unfall passierte. Doch die Schäden sind enorm:  zwei Klassenzimmer sowie die Bibliothek sind total zerstört, der Multimedia-Raum und die Spielgruppe sind verschüttet und das Dach ist kaputt. 

Zum Glück geschah der Unfall nicht tagsüber, als die Kinder in der Schule waren. Erst nach und nach wird das Ausmass des Schadens ersichtlich. Bibliothek, Klassenzimmer und Computerraum sind völlig zerstört. (Bilder Good Hearts Organisation)

Unsere Schule ist für die gut 200 Kinder aus dem Slum ein Ort der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Es liegt an uns, sicherzustellen, dass die Kinder und Jugendlichen ihre Schulräume weiterhin haben können. Die Mittel, um die notwendigen Reparaturen durchzuführen und den Schulbetrieb wieder herzustellen, übersteigen unsere finanziellen Möglichkeiten bei Weitem. 

Jetzt brauchen wir Sie. Wir sind auf Ihre grosszügige Unterstützung angewiesen, um unsere Schule wieder aufzubauen und den Kindern weiter eine sichere Lernumgebung zu bieten. Jede Spende, sei sie gross oder klein, wird einen erheblichen Beitrag dazu leisten, unsere Schule wieder zu beleben und den Kindern eine hoffnungsvolle Zukunft zu ermöglichen.» 

Vielen Dank und herzliche Grüsse

Alex Weigel
(Gründer/Geschäftsführer), Mareike Senn
(Co-Präsidentin),
Manfred Senn
(Co-Präsident)

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