Schweizer Volkssouveränität und EU-Zentralismus sind nicht kompatibel

Warum die Schweiz den Rahmenvertrag nicht unterschreiben darf

von Thomas Kaiser

Die Volkssouveränität ist ein hohes Gut. Sie gewährt im Grundsatz der Bevölkerung eines Staates die Mitbestimmung in politischen Belangen. Jedoch besitzen die Staatsbürgerinnen und Staatbürger in den meisten demokratischen Staaten nahezu keine Möglichkeiten, politische Entscheide direkt zu beeinflussen, Gesetze abzulehnen sowie anzunehmen oder gar mit einer Initiative die Verfassung zu ändern. Bestenfalls darf ein Volk bei einer Verfassungsrevision oder in Einzelfällen über einzelne grundlegende Verfassungsänderungen abstimmen. Häufig haben Volksabstimmungen aber nur konsultativen Charakter und sind nicht rechtsbindend. Wie anders ist das doch in der Schweiz mit ihrer direkten Demokratie.

Wenn man z. B. bei Demokratien wie Deutschland oder Italien von der Souveränität des Volkes spricht, ist diese nur zu einem äusserst geringen Masse vorhanden. Die Stimmberechtigten haben einzig das Recht, Parlamentarier bzw. Volksvertreter zu wählen, und delegieren somit ihre Souveränität an die gewählten Politiker. Diesen obliegt es, den Volkswillen, wenn dieser überhaupt erfasst wird, umzusetzen – häufig tun sie das aber nicht.

Vier oder fünf Jahre, vorgezogene Wahlen einmal ausgeschlossen, sind die Bürgerinnen und Bürger dann jeweils zum Ausharren verdammt: Entscheidungen fällen Parlament und Regierung. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger können ihr Missfallen über die jeweilige Politik bei Umfragen, im «Stimmungsbarometer», oder in Diskussionen am Stammtisch zum Ausdruck bringen, aber direkte Auswirkungen auf die Politik haben sie damit nicht, auch wenn die Umfragewerte für die Regierungen häufig tief liegen und die Unzufriedenheit gross ist – nach drei, vier Jahren ist alles wieder vergessen.

Keine Mitbestimmung in politischen Sachfragen

Solche politischen Systeme, wie sie in allen EU-Mitgliedsländern gang und gäbe sind, gewähren ihrem jeweiligen Staatsvolk kein Mitentscheidungsrecht in politischen Sachfragen. In den meisten Fällen halten Politiker das Volk, dessen Angestellte sie eigentlich sind, auch für unfähig, über politische Sachverhalte mitzuentscheiden und mitzubestimmen. Entschieden wird in den politischen Gremien ohne Einfluss der Stimmberechtigten, meist fernab von der Lebensrealität der betroffenen Menschen. Parlament und Regierung sind in der Regel völlig von der Aussenwelt abgeschottet und haben kaum Verbindung zu den Wählern. Ein Gang in die Öffentlichkeit verlangt vielfach ein aufwendiges Sicherheitsdispositiv, was einen spontanen Kontakt zwischen Volk und Regierung schon gar nicht zulässt.

Bundesrat in der selbstverschuldeten Zwickmühle

Mit der EU, die aus solchen Demokratien besteht, die eigentlich Parteienoligarchien sind, soll nun die Schweiz das institutionelle Abkommen, was landläufig als «Rahmenabkommen» bezeichnet wird, abschliessen. Der vom Bundesrat unter der Ägide von Didier Burkhalter und seinem Nachfolger im Amt, Ignazio Cassis, ausgehandelte Vertrag wurde anfänglich als ein für die Schweiz vorteilhaftes Abkommen angepriesen. Inzwischen scheint der Bundesrat selbst an seiner diplomatischen Kunst zu zweifeln und hat zur vorläufigen Schadensbegrenzung den zuvor hochgelobten Schweizer Chefunterhändler mit der EU, Staatssekretär Roberto Balzaretti, aus dem «Rennen genommen» und auf einen anderen Posten abgeschoben. Staatssekretärin Livia Leu soll nun retten, was eigentlich dem Untergang geweiht ist. Es ist ein Taktieren des Bundesrats, zum einen mit der EU, die langsam den Druck erhöht und damit unserem auf Harmonie mit der EU ausgerichteten Bundesrat zusetzt, zum anderen mit dem Parlament und der Bevölkerung, die dem Abkommen mehrheitlich kritisch gegenüberstehen.

Soll der Europäische Gerichtshof über die Geschicke der Schweiz bestimmen?

Es ist schon bemerkenswert, dass bereits drei Chefunterhändler mit dem Abkommen befasst waren. Es ist die Quadratur des Kreises, mit einem Staatenbund à la EU, der der Schweizer Volkssouveränität keine Rechnung trägt, ein Abkommen zu schmieden. Das kann nur eine Mogelpackung sein. Nach dem heutigen Stand würden die Volksrechte massiv eingeschränkt. Denn würde das Rahmenabkommen angenommen, wäre die Schweiz verpflichtet, in den entsprechenden Abkommen der Bilateralen I jede Weiterentwicklung des EU-Rechts zu übernehmen. Will sie das nicht, weil die Bevölkerung in einem Referendum die Vertragsänderung abgelehnt oder das Parlament direkt «Nein» gesagt hat, bestimmt der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), was die Schweiz darf und was nicht. Hält sich die Schweiz dennoch nicht an das Urteil des EuGH – schliesslich sind in unserem Land Volksabstimmungen rechtsbindend –, behält sich die EU das Recht vor, Schiedsgericht hin oder her, «Ausgleichsmassnahmen» zu ergreifen, was nichts anderes bedeutet, als Strafmassnahmen in Form von Sanktionen gegen die Schweiz zu verhängen. Die Ablehnung der Schweizer Börsenäquivalenz durch die EU ist ein deutliches Signal.

Für die EU ist es störend, wenn das Volk mitsprechen kann. Denn wenn es doch einmal die seltene Gelegenheit bekommt, sich zu Verträgen oder Abkommen zu äussern, nimmt es häufig gegen die ausgehandelten Abkommen Stellung. Das war bei wiederholten Abstimmungen in Irland der Fall so wie in Frankreich, den Niederlanden und zuletzt bei der Brexit-Abstimmung in Grossbritannien.

Erhalten der Volkssouveränität

Es wird deutlich, dass ein Rahmenvertrag, auch wenn man da und dort noch etwas inhaltliche Kosmetik (Unionsbürgerrichtlinie, staatliche Beihilfen und Lohnschutz) betreibt, für unser Land nicht in Frage kommen kann. Die Ursache liegt ganz klar darin, dass die Schweizer Volkssouveränität und der EU-Zentralismus im Grundsatz nicht kompatibel sind. Die Schweiz, in der das Volk tatsächlich das letzte Wort hat, kann keinem Vertrag zustimmen, der gerade diese Volkssouveränität in entscheidenden Punkten einschränkt und diese Einschränkung mit der EU-Gerichtsbarkeit, die nichts, aber auch gar nichts mit der Schweiz zu tun hat, durchsetzen will. Wer das nicht klar sieht, wird am Schluss so aufwachen wie alle Bürgerinnen und Bürger in den Staaten, deren Regierungen der EU beigetreten sind und mit Wehmut auf die Schweiz blicken, der es bisher gelungen ist, im Grossen und Ganzen ihre Volkssouveränität zu bewahren. Wir können uns dann erinnern, wie viel Freiheit wir doch preisgegeben haben.

Sorgen wir dafür, dass es nicht so weit kommt. 

Wenn der Zeitgeist keine anderen Meinungen mehr zulässt

von Reinhard Koradi

Keiner von uns möchte intolerant sein. Wir sind doch alle so weltoffen und haben uns mit dem Patchwork-Multikulturalismus angefreundet. In der Realität hat diese Freundschaft allerdings mehrheitlich zum Unterdrücken der eigenen Meinung geführt. Viele sind verstummt, wenn sie mit der veröffentlichten Meinung nicht übereinstimmen können oder wollen. Die veröffentliche Meinung hat das Zepter übernommen, bestimmt unser Denken und Handeln. In den vergangenen Monaten hat das freie Wort schwer gelitten. Für einen Staat, dessen Selbstverständnis auf direkter Demokratie, Freiheit und Eigenverantwortung beruht, eine vernichtende Perspektive.

Was ist passiert?

Die gesamte Entwicklung hat sehr unterschiedliche Hintergründe und ist bestimmt nicht einfach zu orten. Trotzdem können wir den Kopf nicht länger in den Sand stecken. Einer der wesentlichen Gründe ist unsere Passivität. Wer seine Freiheit nicht mehr verteidigt, darf sich nicht wundern, wenn er sie verliert. Die sogenannte Demokratiemüdigkeit hat sich allerdings nicht so einfach eingeschlichen. Die Wurzeln der Verweigerung, «Verantwortung und Eigeninitiative» zu übernehmen, liegen zu einem grossen Teil in dem bewusst vorangetriebenen Wertezerfall. Es begann mit Angriffen auf tragende Säulen und Institutionen unserer Gesellschaft. Kirche, Schule und Staat wurden angegriffen und verunglimpft. Familie, Erziehung und Religion gerieten unter das Messer der Revisionisten, die mit einer unerhörten Selbstgerechtigkeit die über Generationen entwickelten Erkenntnisse und Errungenschaften zerschlugen. In der modernen Lehre über Change-Management wird dieser Prozess als Defreezing (Auftauen) beschrieben. Sogenannte Missstände werden an den Pranger gestellt (Schule als Zahnradschleiferei, Staat wird als totalitär verunglimpft, Erziehung erhält das Etikett autoritär). Neben Institutionen werden auch angesehene Berufe und Persönlichkeiten angegriffen. Die Untergrabung natürlicher Autorität hat System und darf bezüglich ihrer Wirkung nicht unterschätzt werden. Bedenklich an der gesamten Entwicklung ist, dass die Angegriffenen selbst den Zerfallsprozess vorantreiben, indem sie darauf verzichten, Würde und Status angemessen zu verteidigen.

Die Geschichte erlebt ebenso eine Revision wie die bisher geltenden Normen und Lebenserfahrungen. Die Schweizer sind stolz auf die Geschichte ihres Landes. Der Widerstand gegen die fremden Mächte, der Kampf für die Freiheit und Unabhängigkeit hat sich tief in unserem Selbstbewusstsein verwurzelt. Ein solches Bewusstsein ist jedoch in einer globalen Welt ein Fremdkörper. Es muss aufgelöst werden, indem die Geschichte einer Nation zur Makulatur wird und vor allem das staatstragende Ethos ausgelöscht wird.

Bedenklich, dass sich Wissenschaft und Kultur relativ unbedacht vor den Karren des Change-Managements spannen lassen. Sie spielen das Spiel mit, das den Menschen die Orientierung nimmt und sie zu stummen Mitläufer degenerieren lässt.

Inwieweit der neoliberale Zeitgeist die Entwurzelung der Menschen vorantreibt, ist schwer einzuschätzen. Tatsache ist allerdings, dass das Regime neoliberaler Diktatur chaotische Zustände geschaffen hat, die sich mit unheimlicher Geschwindigkeit über den gesamten Globus ausbreiten. Noch nie war die Welt in einem derart desolaten Zustand.

Chaos als Tor zur Veränderung

Entwurzelung und Chaos schaffen viel, sehr viel Raum für Veränderung. Die Konfrontation mit der Unzulänglichkeit ist schwer auszuhalten. Der Ruf nach Neuerungen findet in derartigen Lebensumständen sehr schnell Gehör. Mit äusserst subtilen Methoden wird diese Neuorientierung eingeleitet und umgesetzt. Wir werden manipuliert, respektive wir lassen uns manipulieren. Entgegen den Fakten wird behauptet: «Die Schweiz muss auf einen Teil ihrer Souveränität verzichten, will sie keinen wirtschaftlichen Schaden erleiden» oder «unsere Kinder verlieren den Anschluss, wenn sie nicht schon im Kindergarten digitale Kompetenzen erlernen». Es gäbe noch viele andere Beispiele, die beweisen, dass wir infolge fehlender Orientierung Ansichten und Forderungen mittragen, denen wir bei einer genauen Auseinandersetzung mit Fakten nicht folgen würden. Diese stumme Zustimmung wird uns durch eine verhaltensökonomische Methode abgerungen, bei der versucht wird, das Verhalten von Menschen auf vorhersagbare Weise zu beeinflussen, ohne dabei jedoch auf Verbote, Gebote oder ökonomische Anreize zurückzugreifen. Hierzu werden die Rahmenbedingungen der Entscheidungsoptionen bewusst so verändert, dass der Entscheidende sich unbewusst in die gewünschte Richtung führen lässt. Dabei haben wir nie den Eindruck manipuliert zu werden. Nudging (von engl. to nudge: anstossen, anschubsen) heisst diese Meinungsmanipulationsmethode und darf keinesfalls auf die leichte Schulter genommen werden. Durch diese Methode verlieren wir unsere Unabhängigkeit, Selbständigkeit und unsere Würde.

Zivilcourage

Zugegeben, der Auflösungsprozess ist schon weit fortgeschritten. Trotzdem oder gerade deswegen sollten wir unsere Kräfte bündeln. Aufgetautes wieder einfrieren und zu unserer eigenen Meinung stehen. Dabei geht es nicht nur darum, die eigene Meinung zu vertreten, sondern auch um die Fähigkeit, andere Ansichten anzuhören, einen Dialog so zu führen, dass letztlich ein tragfähiger Kompromiss entsteht. Wohl an vorderster Front im Kampf um die Meinungsfreiheit steht die Bildung. Bildung, indem die erfahrene, ältere Generation wieder aufsteht und den Mut aufbringt, das freie Wort zu verlangen und Lehrer, Pädagogen und Eltern den Mut aufbringen, Widerspruch einzulegen, wenn sie feststellen, dass die Bildungsreformen, den Kindern die Zukunft rauben. Bürgerinnen und Bürger sind aufgerufen, ihre Macht zurückzufordern und den Regierungen und Volksvertretern Stoppsignale zu setzen, wenn diese die Interessen der Schweiz verraten. Gefordert ist auch Zivilcourage von den Institutionen. Ihre Werte müssen sie verteidigen und die Angriffe mit Würde und Anstand abwehren. Wissenschaft und Kultur sind aufgerufen, ihre Verantwortung wahrzunehmen indem sie die Weiterentwicklung und nicht die Zerstörung fördern.

Der souveräne Bürger hat allen Grund, sich dem destruktiven Zeitgeist entgegenzustellen, der die freie Rede als Grundstein der direkten Demokratie zerstören will. Dazu braucht es mutige Menschen, inneren Zusammenhalt und die Bereitschaft seine eigene Meinung und seine Werthaltungen in der Öffentlichkeit zu vertreten.

Covid-19 – «Wir brauchen Massnahmen, die auf Dauer durchgehalten werden können»

Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Margit Osterloh*

Prof. Dr. Margit  Osterloh (Bild zvg)
Prof. Dr. Margit Osterloh (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Wie schätzen Sie die Corona-Massnahmen des Bundesrats in der heutigen Lage ein?

Prof. Dr. Margit Osterloh Wichtig ist, dass der Bundesrat angemessene Massnahmen ergreift, und das hat er meines Erachtens jetzt getan. Er scheint mehr oder weniger auf die Strategie Schwedens einzuschwenken. Das heisst, es hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass wir mit dem Corona-Virus leben müssen. Die Jo-Jo-Strategie oder Hammer- und Tanz-Strategie, die man früher propagierte, hat sich nicht bewährt. Erst mit dem Hammer dreinschlagen und dann wieder lockerlassen, führt zu Jo-Jo-Effekten. Es ist richtiger, eine gemässigte Strategie zu wählen, die man durchhalten kann. Der Bundesrat scheint das eingesehen zu haben.

Was für einen Vorteil hat eine solche Strategie?

Wenn ich die jungen Leute einsperre, ist das keine langfristige Lösung. Das wäre für sie auf Dauer eine Überforderung, zumal sie statistisch gesehen, kaum ein Gesundheitsrisiko haben. Das steigt erst ab 65 massiv an. Die über 65jährigen sind in der Tat gefährdet, aber sie haben ihre gesicherte Rente, können zu Hause bleiben und haben nur eine relativ geringe Einschränkung ihrer Lebensqualität. Die Lebensqualität der jungen Leute wird hingegen mehrfach eingeschränkt. Nicht nur, dass sie sich an ihren gewohnten Plätzen nicht mehr treffen können, sondern ihre Ausbildung ist in Gefahr. Die Schulschliessungen und der Unterricht zu Hause haben negative Auswirkungen, besonders auf die bildungsfernen Schichten. Ausserdem müssen die Jungen die Renten der älteren Generation und zusätzlich die Corona-Schulden der öffentlichen Hand finanzieren. Wenn das so weitergeht, werden sie das nicht mehr lange mitmachen.

Was wäre hier zu tun?

Wir müssen eine Strategie entwickeln, die für mehr Generationengerechtigkeit steht. Wenn ich die jungen Leute wieder einsperre und von Hammer auf Tanz wechsle, dann werden sie sich wieder in den Clubs treffen. Das kann man auch verstehen. Sie wollen einen Partner oder eine Partnerin finden und sich amüsieren. Wir Älteren können zufrieden zu Hause sitzen und fernsehen. Die Jungen wollen und müssen raus. Sonst beginnt die Jo-Jo-Strategie wieder von vorne. Das ist auf Dauer keine gute Strategie.

Was wäre eine bessere Strategie?

Wir können das Virus nicht stoppen. Auch wollen sich nur 50 % der Bevölkerung impfen lassen. Der Bundesrat hat eingesehen, dass am Ende eine Strategie nötig ist, die den Jo-Jo-Effekt nicht fördert, ob man das nun Schweden-Strategie nennt oder nicht. Wir brauchen Massnahmen, die auf Dauer durchgehalten werden können, vor allem von den jungen Leuten, die ein Recht darauf haben, nicht die Zeche für alle bezahlen zu müssen. Der zweite Punkt ist, dass man aufhören sollte mit der Alarmierungspolitik, und hier scheint der Bundesrat auch zu dieser Einsicht gekommen zu sein.

Wie beurteilen Sie retrospektiv die Politik des Bundesrats?

Er hat viele Fehler gemacht. Das fing mit den Masken an, dann kamen die Schulschliessungen, die nicht nur überflüssig, sondern auch falsch waren. Auch die Quarantänepolitik für Auslandreisende war unnötig und nicht zielführend. Statt einer Alarmierungspolitik, die den Bundesrat mit der Zeit unglaubwürdig macht, müsste er viel mehr Vergleichszahlen liefern, an denen man sich orientieren könnte.

Welche Vergleichszahlen helfen hier weiter?

Die wichtigste Vergleichszahl ist die Übersterblichkeit. Bis jetzt hat es im Herbst keine Übersterblichkeit gegeben. Heute (3. November) sind die Zahlen allerdings am oberen Rand des Übersterblichkeits-Bandes angekommen. Das ist eine wichtige Information. Wichtig ist auch die Information über die Anzahl der Intensivbetten in den Krankenhäusern. Die Belegung von Intensivplätzen in den Spitälern wegen Covid-19 hat sich erhöht, die Gesamtzahl von belegten Intensivplätzen hat sich nicht wesentlich erhöht. So etwas muss man auch kommunizieren.

Wie entstehen die Zahlen zum Beispiel von «an oder mit Corona» Gestorbenen?

Das weiss ich nicht. Im Herbst, wenn das schlechte Wetter kommt, haben wir immer einen Anstieg der Hospitalisierungen. Ich will aber damit die Entwicklung nicht verharmlosen. Dass wir bei der Übersterblichkeit an der oberen Grenze angekommen sind, gibt mir zu denken, aber es ist kein Grund, in Alarmismus zu verfallen. Diejenigen, die am meisten gefährdet sind, müssen sich schützen. Das sind die über 70jährigen. Wer in unserem Alter ins Kino oder in dichtem Gedränge in ein Restaurant geht, ist selbst schuld. Natürlich erkranken auch Junge. An einer Grippe erkranken auch junge Menschen und können sogar daran sterben. Wir müssen das statistisch betrachten und nicht den Einzelfall, sonst bekommen wir kein klares Bild. An die Stelle des Alarmismus sollte sachliche Information treten.

Wer treibt den Alarmismus voran?

Das machen die Medien und im Frühjahr in der ersten Phase der Pandemie auch der Bundesrat, der meines Erachtens für eine unangemessene Panik gesorgt hat. Das hat sich jetzt geändert, aber in anderen Ländern ist es immer noch so, z. B. in Deutschland. Frau Merkel schwebt auf einer Erfolgswelle. Sie war noch nie so populär, genauso wie Herr Söder, weil sich beide zu Corona-Sheriffs aufgeschwungen haben.

Man hat in der Schweiz öffentliche Veranstaltungen wie Theater oder Kinos verboten. Finden Sie das nicht sinnvoll?

Man muss sich schon fragen, ob das angemessen ist. Meines Wissens hat sich noch niemand im Theater angesteckt. Sie haben dort ausgezeichnete Schutzkonzepte ausgearbeitet und viel Geld in die Hygienemassnahmen gesteckt. Man weiss nur bei einem Drittel der Ansteckungen, wo sie passiert sind: Am häufigsten in der Familie. Man muss sich schon überlegen, ob es gerechtfertigt ist, den Kulturbetrieb so stark einzuschränken. Das sind aber Detailfragen. Im Grossen und Ganzen ist die Schweiz vernünftiger vorgegangen als z. B. Deutschland.

Sie haben vorhin das Schwedenmodell erwähnt. Was können wir daraus lernen?

In Schweden sind die Todeszahlen sehr stark gesunken. Sie waren im Frühjahr hoch, worüber bis heute heftig diskutiert wird. Aber die Strategie der Freiwilligkeit, die auch bei uns angewendet wird, ist viel nachhaltiger als jede Strategie des Zwangs. In Schweden ist ein hoher Prozentsatz der Menschen freiwillig zu Hause geblieben. Corona wird uns noch eine Weile beschäftigen. Wir können doch nicht für ein Jahr kulturelle Veranstaltungen unterbinden. 

Dazu gehören doch auch die Weihnachtsmärkte, die überall abgesagt wurden…

Im Freien wäre es kaum ein Problem. Da hat sich noch kaum jemand angesteckt. Man könnte alles mit grösseren Abständen gestalten und eine Maskenpflicht einführen, dann könnte man wenigstens diese Märkte zulassen. Alle Massnahmen, die Menschen über einen längeren Zeitraum einhalten werden, sind langfristig gesehen am nützlichsten. Wir müssen auch die Notwendigkeit der Kurzarbeit so schnell wie möglich aus der Welt schaffen. Kurzarbeit führt zu einem grossen Schaden für unsere Volkswirtschaft, den am Ende die Jungen tragen müssen. Dass bei uns die Jungen noch mitmachen, sehe ich als das Ergebnis der heute vernünftigen Politik des Bundesrats. In anderen Ländern geht es ganz anderes zu und her. 

Wir müssen zum einen lernen, mit dem Virus zu leben. Daher müssen die Einschränkungen so gehalten sein, dass sie langfristig einzuhalten sind, auch von den Jungen. Zum anderen braucht es keine Alarmierungspolitik, sondern solide Informationen und Vergleichsrechnungen.

Frau Professor Osterloh, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* Margit Osterloh ist ständige Gastprofessorin an der Universität Basel und emeritierte Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Zürich.

 

«Der Bürger muss das Recht verlangen, über die Politik direkt bestimmen zu dürfen»

Gedanken zu den Wahlen in den USA

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Herr Professor de Zayas, Sie sind amerikanischer Staatsbürger. Was halten Sie von dem Verlauf der Wahl und dem offensichtlichen Sieg Joseph Bidens?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Vorweg möchte ich sagen, dass ich seit 1968 Mitglied der Republikanischen Partei bin – damals war ich Student an der Harvard University, und meine Überzeugung galt eher einer sozialen, ethischen Marktwirtschaft. Die Zeiten ändern sich, und natürlich bin ich kein «Republikaner» mehr, aber in den USA ist es nicht notwendig, sich abzumelden. Ich habe keine Veranlassung mehr, einer Partei anzugehören. Meines Erachtens verlief die Kampagne 2020 undemokratisch, unwürdig, gehässig. Sie war von Fake News und von einer sehr einseitigen Berichterstattung durch die Medien begleitet. Sie ähnelte gewissermassen einem Football Match – und dabei meine ich amerikanischen Football (Rugby) und nicht den europäischen Fussball (Soccer).

Wie stehen Sie heute zur Republikanischen und Demokratischen Partei?

Ich bin jenseits von beiden – jenseits von rechts oder links. Manchmal bin ich mit den Republikanern einverstanden, manchmal mit den Demokaten – und oft genug gegen die Politik von beiden.

Haben Sie sich 2020 an der Wahl beteiligt?

Ja, ich habe abgestimmt – aber weder für Trump, den ich keinesfalls als einen echten Republikaner ansehe – noch für Biden, den ich für inkompetent erachte. Kamala Harris halte ich für ausgesprochen gefährlich. Ich habe die Möglichkeit genutzt, für einen «write-in candidate» zu stimmen – dies ist in jedem Wahlzettel vorgesehen. 

Für wen haben Sie dann gestimmt?

Eigentlich für eine Demokratin – Mitglied des Repräsentantenhauses für Hawaii – Tulsi Gabbard.

Damit haben Sie etwas zum Ausdruck gebracht…

…ja, ich wollte damit meine Unzufriedenheit gegenüber dem System und gegenüber beiden Kandidaten zum Ausdruck bringen. Ähnlich verfuhr ich 2016, als ich weder für Trump noch für Hillary Clinton stimmte. Ich habe es satt, dass unsere «Demokratie» nur eine Wahl zwischen Pest und Cholera zulässt.

Was erwarten Sie aussenpolitisch von einer Biden/Harris Präsidentschaft?

Eine Fortsetzung von vielen der Trump-Massnahmen. Tatsächlich ähneln sich Trump und Biden in den wesentlichen Punkten – beide befürworten den Militarismus, den Unilateralismus, die Grossbanken, die Politik der Wirtschaftssanktionen, Waffenverkäufe an Saudi-Arabien und an die Vereinigten Arabischen Emirate sowie die blinde Unterstützung Israels. Biden wird die US-Botschaft kaum zurück nach Tel Aviv bringen. Und die ungerechte Behandlung der Palästinenser wird fortgesetzt.

Wie wird das Verhältnis zu Russ–land und China sein?

Ich erwarte genauso viel Hetze und Kriegspropaganda gegen China und Russland wie bei Trump. Joe Biden und sein Sohn waren in eine Affäre in der Ukraine verwickelt und haben dort (korrupte) Beziehungen. Auch ist mit weiteren Provokationen, Aggressionen und «False Flag»-Inszenierungen (etwa wegen des angeblichen Einsatzes von Chemiewaffen durch die syrische Armee) gegen die Regierungen von Syrien, Libanon und Iran zu rechnen. Hoffen wir, dass es nicht zu grösseren militärischen Interventionen wie 2003 im Irak und 2011 in Libyen kommt, und hoffentlich keine weiteren «Regime Change»-Aggressionen bzw. Putsch-Aktionen in Latein-Amerika wie z. B. 2019 gegen Bolivien, und den lächerlichen «Guaidó-Unruhen» 2019 in Venezuela. Vielleicht ist die Gefahr eines dritten Weltkriegs etwas kleiner geworden, aber man wird sehen.

Was erwarten Sie innenpolitisch?

Ich befürchte noch mehr Korruption und linken Populismus, vor allem in sozialpolitischen Entwicklungen. Ich erwarte eine Verschlechterung der Lage bezüglich Meinungsfreiheit – auch in den Universitäten, eine systematische innenpolitische Indoktrination bei sozialpolitischen Themen und totale Intoleranz gegenüber traditionellen Werten, der christlichen Ethik, der Familie und gegenüber der katholischen Kirche. Die Macht der Mainstreammedien wird wachsen, und die Orwellsche National Security Agency's Bürger-Beobachtung wird intensiviert. Wir erinnern uns an Edward Snowden und an seine Warnungen von 2013. Sein 2019 erschienenes Buch lässt uns viel darüber nachdenken.¹

Wo unterscheiden sich Trump und Biden?

Trump ist ein Elefant im Porzellanladen. Er betreibt einen Kult um seine Person – ist narzisstisch, impulsiv, megaloman. Biden ist gemässigter und langweiliger. Trump meinte, sich leisten zu können, mehrere internationale Verträge zu brechen, einen unverhohlenen Militarismus zu vertreten. Biden – wie seinerzeit Obama – macht imperialistische Politik mit einem Lächeln. Aber unter Biden wird die Ausbeutung der Welt durch die USA sicherlich fortgesetzt werden. Nur nicht so offensichtlich und dreist. Die «default position» bei Trump und Biden ist eben der Imperialismus.

Was haben wir von Biden sonst noch zu erwarten, ausser einer Fortführung der imperialistischen Politik?

Bei Biden wird die Political Correctness in den USA wirklich Orwellsche Zustände erreichen und zu einer Schwächung der traditionellen Werte und ethischen Grundlagen der christlichen Kultur führen. Zensurpraktiken bei Google, Twitter und Amazon werden verschärft. Selbst-Zensur wird das «New Normal». Auch will Biden den Krieg gegen die Whistleblower generell fortsetzen – nicht nur gegen Julian Assange und Edward Snowden.

Wenn Sie Bilanz ziehen, können Sie Trumps Politik auch etwas Positives abgewinnen?

Sein Kampf gegen die Mainstreammedien, den er zwar verloren hat, war ein wichtiges Signal gegen die Allmacht der Medien. Sie erlauben sich alles, sogar einem Präsidenten in einer Diskussion das Wort abzuschneiden. Heute wissen die Menschen mehr über die Manipulation durch die Presse. Viele in Amerika wissen heute, dass CNN, die «New York Times» und «Washington Post» Fake News verbreiten und wichtige Informationen unterschlagen – wenige Leute hatten es gewagt, das zu sagen, bevor Trump die Medien frontal attackierte. Das ist sicher etwas, was man als positive Entwicklung ansehen kann. Auch hat er drei exzellente Juristen im Obersten Gerichtshof plaziert und zur Aufdeckung der Korruption bei «Planned Parenthood» beigetragen.

Wo sehen Sie Trumps grösste aussenpolitische Fehler?

Er hat die völkerrechtswidrige und absolut inhumane Sanktionspolitik weitergeführt, ja verschäft. Hier sind die schwer betroffenen Staaten wie Kuba, Venezuela, Syrien und der Iran zu nennen. Aber auch gegen Russland und alle Firmen, die mit diesen erwähnten Staaten zusammenarbeiten. Es ist eine fürchterliche Waffe, mit der Trump operiert hat. Sanktionen töten Menschen!

Wie beurteilen Sie seine Nahost-Politik

Sie steht unter dem Zeichen einer Missachtung aller völkerrechtlichen Grundlagen und Uno-Resolutionen bezüglich des Nahen Ostens. Der absurde – und deshalb abzulehnende «Deal of the century» zwischen Israel und den Palästinensern sowie die Anerkennung der israelischen Hoheit über die Golan Höhen gehören zu Trumps Willkür, genau wie die neuen Verträge zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten und Israel – wobei die Rechte der Palästinenser völlig ausser Acht gelassen werden.

Wir haben bei Trump und seinen Vorgängern jedwelcher Couleur gesehen, dass demokratische Grundsätze kaum respektiert werden. Wie könnte man diesen Respekt erreichen?

Der Bürger muss das Recht verlangen, über die Politik direkt bestimmen zu dürfen, so über die Prioritäten im Haushalt, über den Verkauf von Waffen an Saudi-Arabien, über die Sanktionspolitik usw. Das schweizerische Staatsmodell ist entschieden besser – man hat das Initiativrecht, und praktiziert es auch, sowie das Referendumsrecht über die Bundesgesetze. Dies einzuführen kann ohne eine Änderung der US-Verfassung geschehen. Leider gibt es keine direkt-demokratische Tradition in den USA. Zunächst müsste man eine Referendumskultur entwickeln, auf kommunaler und auf Länderebene, bevor man das bundesweit einführen könnte.

Müsste man nicht auch etwas am Wahlsystem ändern?

Man sollte das sogenannte «Electoral College» endlich abschaffen. Die Wahl sollte direkt sein. Es war kaum demokratisch, als z. B. Al Gore mehr Stimmen hatte als George W. Bush, und dennoch wurde Bush Präsident. Dasselbe passierte 2016, als Hillary Clinton mehr Stimmen hatte als Trump.

Man hat den Eindruck, dass in den letzten Jahrzehnten US-amerikanischer Präsidentschaft viele Kriege angezettelt wurden. – Stimmt das?

Ja, beide Parteien sind militaristisch und interventionistisch. So tragen für den Vietnamkrieg zwei demokratische Präsidenten, John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson die Verantwortung. Der Republikaner Ronald Reagan hat die Aggressionen gegen Grenada und Nicaragua auf dem Gewissen. Der Republikaner George H.W. Bush hat den «Regime Change» in Panama forciert und dabei 6 000 Zivilisten getötet und den Krieg 1991 gegen den Irak inszeniert mit Zehntausenden von Toten. Der Demokrat Bill Clinton hat die Aggressionen auf dem Balkan, vor allem die Nato-Angriffe gegen Jugoslawien durchgeführt, und die Mainstreammedien haben mit Desinformation und Fake News dabei geholfen. Der Republikaner George W. Bush hat die genozidale Aggression gegen Afghanistan 2001 und den Irak 2003 zu verantworten. Der Demokrat Barak Obama hat seine Hände voller Blut wegen Libyen und Syrien, des «Regime Changes» in der Ukraine und eines ständigen Drohnenkriegs gegen «Terroristen», dem unendlich viele Zivilisten zum Opfer gefallen sind.

Gab es in den letzten Jahrzehnten keine amerikanischen Präsidenten, die den Frieden wollten?

Obwohl das System stets nach Hegemonie strebt, haben manche Präsidenten auch versucht, den Frieden zu fördern. Auf republikanischer Seite hat Präsident Dwight Eisenhower die Aggression Englands und Frankreichs gegen Ägypten im Jahre 1956 gestoppt. Eisenhower erkannte auch die Gefahr für die Demokratie im «military-industrial complex». Tatsächlich hat er die Warnung in seiner Abschiedsrede an die Nation im Januar 1961 eindrücklich formuliert und so den Begriff geprägt.²

Bei den Demokraten gab es keinen?

Auf demokratischer Seite versuchte Jimmy Carter, einen gerechten Frieden zwischen den Israelis und den Arabern zu ermöglichen. Darüber hat er auch zwei Bücher geschrieben: «We Can Have Peace in the Holy Land» und «Palestine Peace, not Apartheid». Die Tatsache, dass er nicht 100 %ig auf der israelischen Seite lag, hat ihm wahrscheinlich 1980 die Wiederwahl gekostet. Ich habe Gelegenheit gehabt, mit Carter persönlich über viele völkerrechtliche Krisen am Carter Center in Atlanta zu diskutieren. Ich halte ihn ethisch für den besten US-Präsidenten der letzten 100 Jahre.

Jimmy Carter und Alfred de Zayas. «Ich halte ihn ethisch für den besten US-Präsidenten der letzten 100 Jahre.» (Bild zvg)

Jimmy Carter und Alfred de Zayas. «Ich halte ihn ethisch für den besten US-Präsidenten der letzten 100 Jahre.» (Bild zvg)

 

Was für eine Politik müsste ein Präsident der USA betreiben?

Er sollte sich an die christliche Ethik und die christlichen Grundwerte, an die US-Verfassung, an die Uno-Charta und an internationale Verträge halten. Aussenpolitisch bedeutet das, den Multilateralismus neu zu beleben und mit der Uno zusammenzuarbeiten, um künftige Generationen vor ständigen Kriegen zu bewahren, wie es in der Präambel der Uno-Charta heisst. Er soll die Heiligkeit des Lebens achten, keine Kriege anzetteln, sondern Konflikte friedlich durch Verhandlung und Kompromisse lösen. Die Unverletzlichkeit von Verträgen muss auch geachtet werden. Wenn die Verträge z. B. obsolet werden, sollen sie durch Verhandlungen ersetzt werden.

An welche Verträge denken Sie?

Dies ist besonders wichtig bei den Verträgen zur Begrenzung der Nuklearwaffen. Eigentlich gilt dies für alle militärischen Programme, auch bei konventionellen Waffen. 2013 haben die USA den Uno-«Arms Trade Treaty» unterschrieben, jedoch niemals ratifiziert. 2019 hat Präsident Trump die US-Unterschrift zurückgenommen. Was wir brauchen, ist ein Vertrag, um die Produktion von Waffen zu begrenzen, nicht nur deren Verkauf. Wir brauchen die totale nukleare Abrüstung und eine generelle Abrüstung, so dass eine lebensfördernde Politik geführt werden kann, vor allem im Gesundheitswesen. In den USA waren wir total unvorbereitet auf die Covid-19-Krise, z. T. deshalb, weil die Haushaltsprioritäten in den USA falsch gesetzt waren und Forschungsgelder in die Entwicklung von fürchterlichen Waffen flossen, die sog. «Killing Robots» usw. Dagegen hinkte die Forschung im Bereich der Prävention von Pandemien, die Modernisierung der Krankenhäuser usw. völlig hinterher.

Was für eine Politik müsste Europa gegenüber den USA vertreten?

Europa sollte selber keine imperialistische oder neo-koloniale Politik in der Welt betreiben. Europa sollte sich mehr an die Uno-Charta und an das Völkerrecht halten. Es sollte aufhören, das Völkerrecht nach Belieben anzuwenden, aufhören, Russland zu provozieren, aufhören, «Color Revolutions» zu finanzieren und aufhören zu versuchen, die Ukraine oder Georgien in die Nato zu integrieren. Europa sollte seine eigenen Sanktionen gegenüber Russland, Belarus und Syrien aufheben. Wenn Europa das tut, dann kann es mit mehr Glaubwürdigkeit Retorsionsmassnahmen gegen die USA vertreten. Europa sollte Gegenmassnahmen ergreifen, wenn die USA sich anmasst, US-Gesetze extra-territorial anzuwenden, wenn deutsche oder schweizerische Konzerne von den USA bedroht oder bestraft werden, wenn sie Geschäfte mit Russland betreiben bzw. beim Bau von Nordstream 2.

Welche Rolle können hier internationale Organisationen spielen?

Der Internationale Gerichtshof sollte ein oder mehrere Gutachten zur Völkerrechtswidrigkeit der US- und EU-Sanktionspolitik verfassen. Man müsste zunächst eine Resolution in der Uno-Generalversammlung annehmen (gemäss Art. 96 Uno-Charta). Die völkerrechtlichen Fragen müssen endlich klar definiert werden, und man muss auch entsprechend agieren. 

Welche Möglichkeiten sehen Sie in Bezug auf die völkerrechtswidrige Sanktionspolitik? 

Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) sollte eine Untersuchung gemäss Art. 7 des Statuts von Rom veranlassen, um festzustellen, dass die Wirtschaftssanktionen gegen Kuba, Nicaragua, Iran, Syrien und Venezuela ein Verbrechen gegen die Menschheit darstellen, weil sie bereits Hunderttausende von Toten verursacht haben – durch einen Mangel an Nahrungsmitteln und Medikamenten und durch die Schwächung der Gesundheitssysteme dieser Staaten, vor allem heute in Hinblick auf Covid-19.

Das ist ein Verlust aller humanen Grundlagen…

Ja, diese Wirtschaftssanktionen können mit der mörderischen Belagerung von Städten im 30-jährigen Krieg oder mit der Belagerung Leningrads durch die Nazis 1941 bis 1944 verglichen werden. Präsident Biden sollte sofort in den Uno-Sonderorganisationen wie der Weltgesundheitsorganisation, der Unesco usw. mitmachen. Und die USA sollten zurück in den Menschenrechtsrat kommen – denn man braucht auch die Stimme der Vereinigten Staaten. Trump wollte «Amerika wieder gross machen» – ich sage: Um Amerika wieder respektiert und vielleicht sogar geliebt zu machen, müsste man die Initiativen und Beispiele von Eleanor Roosevelt beleben und sich an die universelle Erklärung der Menschenrechte halten. Es gibt genügend anständige Menschenrechtsaktivisten und Experten in Amerika – u. a. die Professoren Noam Chomsky, Jeffrey Sachs, Dan Kovalik, John Quigley, Francis Boyle – aber sie werden kaum von Biden berufen. Ich erwarte «business as usual» – bzw. eine fortgesetzte Ausbeutung der Welt durch Biden und seine neo-konservative bzw. neo-liberale Mannschaft.

Sie sehen trotzdem Möglichkeiten, das Zusammenleben der Völker zu verbessern?

Ja, dafür hat man die Uno und die Sonderorganisationen ins Leben gerufen. Die Menschheit hat sich unzählige Instrumente geschaffen, die ein friedliches Zusammenleben der Völker garantieren könnten. Man müsste sie nur umsetzen und zur Geltung bringen, dann könnten wir in eine friedlichere Zukunft schreiten. Europa und die USA haben eine Verantwortung, diese Instanzen zu fördern und adäquat zu finanzieren.

Was kann Trump bis zum Ende seiner Amtszeit tun?

Um einen würdevollen Abgang zu haben, könnte Trump die Verfolgung von Julian Assange, Chelsea Manning, Edward Snowden und anderen Whistleblowern sofort stoppen. Eine Begnadigung von allen Whistleblowern wäre eine christliche Tat. Ich denke an die Oper «Der Rosenkavalier», wo im 3. Akt der skandalöse Baron von Lerchenau am Ende alles verliert und abziehen muss. Da sagt ihm die Marschallin: «… So bleibt er quasi doch noch eine Stand'sperson.»

Sie haben sich als Unabhängiger Uno-Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung sehr für ein friedlicheres Zusammenleben der Völker eingesetzt. Ihre Reden vor der Uno-Generalversammlung und dem Uno-Menschenrechtsrat wurden jeweils mit Applaus bedacht, was höchst aussergewöhnlich ist. Haben Sie von den Staaten persönliche Rückmeldungen erhalten, und wie verhielten sich die USA, ihr Ursprungsland?

Als ich noch Sonderberichterstatter war (2012–2018), hatte ich ständigen Kontakt mit vielen Botschaftern in Genf, vor allem Botschaftern aus Lateinamerika, Afrika und Asien. Es kam zu einem gegenseitigen, sogar freundlichen Austausch von Ideen und Initiativen, wobei ich stets auf meiner Unabhängigkeit bestand. Ich versuchte stetig, meinen Botschafter aus den USA zu informieren, und habe die US-Mission in Genf ständig mit Berichten und Vorschlägen versorgt. Ich habe ferner versucht, meine Kontakte mit den europäischen Botschaftern sowie dem Botschafter der Schweiz, von Japan, Süd-Korea, Australien, Neuseeland usw. zu pflegen, u. a. in sozialen Veranstaltungen und Podiumsdiskussionen. Es war mir natürlich klar, dass die Europäische Union meine Unabhängigkeit nicht gerade schätzte. Gerne hätten sie es begrüsst, wenn ich ihr Lied gesungen hätte.

Wie waren die Reaktionen, als Ihr Mandat zu Ende war?

Nachdem ich mein Mandat beendet hatte, wurde ich von vielen Botschaftern ermuntert, mich für andere Mandate der Uno-Sonderberichterstattung zur Verfügung zu stellen. Dies habe ich zweimal getan, meine Kandidatur wurde auf die erste kurze Liste aufgenommen, ich wurde jedesmal 50 Minuten von 5 Botschaftern interviewt. Die Interviews verliefen prima – aber ernannt wurde ich nicht. Dies ist auch insofern verständlich, denn ich bin kein «unbeschriebenes Blatt» und meine Berichte an den Menschenrechtsrat und die Generalversammlung haben nicht nur Applaus geerntet. Ich bleibe natürlich dem Büro des Uno-Hochkommissars für Menschenrechte sehr verbunden und bin bereit, noch einmal zu dienen. Aber, wie gesagt, ist die Unabhängigkeit der Experten bei vielen Staaten wenig gefragt.

Herr Professor de Zayas, ich danke Ihnen für das Gespräch

Interview Thomas Kaiser

¹ Edward Snowden: Permanent Record. Meine Geschichte, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019, ISBN 978-3-10-397482-9
² www.youtube.com/watch?v=Gg-jvHynP9Y

«Der Westen möchte Belarus in den eigenen Einflussbereich ziehen»

«Es gibt ein hohes Mass an Unzufriedenheit»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wird Weissrussland von einer inneren Auseinandersetzung getrieben oder sind ausländische Kräfte am Werk?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Es gibt ein hohes Mass an Unzufriedenheit in Belarus, insbesondere unter den jüngeren Leuten in den Städten. Es ist ein sehr autoritäres System. Zugleich gibt es einen im regionalen Vergleich relativ hohen Lebensstandard und praktisch keinen Einfluss von Oligarchen. Die Macht ist, anders als in vielen post-sowjetischen Ländern, weiterhin sehr zentralisiert. Das System wird mit Polizeistaatmethoden durchgesetzt und stösst an seine Grenzen. Das ist die innere Dynamik.

Und wie sieht es aussenpolitisch aus?

Belarus ist sehr stark verbunden mit Russland, politisch, wirtschaftlich und militärisch. Russland hat sehr wichtige militärische Einrichtungen in Belarus, insbesondere eine Radarstation, die in der Bedeutung mit der Schwarzmeerflotte auf der Krim zu vergleichen ist, die im Ukraine-Konflikt eine entscheidende Rolle gespielt hat. Durch die Verbindung in einem Unionsstaat ist Belarus institutionell eng an die Russische Föderation gebunden.

Wie verhält sich dabei der Westen?

Der Westen ist an einer Destabilisierung Russlands interessiert und möchte Belarus in den eigenen Einflussbereich ziehen. Ich beobachte aber eine interne Dynamik, und es scheint nicht primär von aussen initiiert. Auch wenn sicher westliche Akteure seit Monaten dort aktiv sind, waren die politischen Führer der EU eher überrascht über das Ausmass der Proteste nach den Präsidentschaftswahlen und das Durchhaltevermögen. Ich hatte nicht den Eindruck wie 2013/14, als auf dem Maidan in der Ukraine die Proteste und Ausschreitungen vom Westen, besonders von den USA und der EU, systematisch vorangetrieben wurden. Man merkt auch, dass in der Protestbewegung in Belarus eine mögliche EU-Orientierung eine viel geringere Rolle spielt als in der Ukraine. Das entspricht laut Umfragen auch der Stimmung im Land.

Spielt also Belarus geopolitisch eine untergeordnete Rolle?

Die Entwicklung in Belarus ist vorhanden, und die geopolitischen Rivalitäten nehmen natürlich ihren Platz darin ein. Was mich sehr erstaunt hat, ist, dass man wenig Interesse gezeigt hat, um von den Wahlen ein Bild zu bekommen, um herauszufinden, wie gross die Manipulation eigentlich gewesen sei bzw. was eine realistische Einschätzung von dieser Wahl ist. Das spielte gar keine Rolle. Es gab auch kaum Interesse daran, nach Möglichkeiten zu suchen, um mit Dialogformaten den Konflikt innerhalb des Landes zu lösen.

Wie waren denn die Reaktionen?

Es gibt einen neuen Konflikt, man baut sofort Sanktionen auf und hat sie trotz anfänglichem Widerstand umgesetzt. Viel mehr gab es aber nicht. Ich hatte mich für einen Dialog aller Betroffenen im Land eingesetzt, was mir sehr scharfe Reaktionen der Medien einbrachte. Ich bin als Diktatorenfreund oder Ähnliches hingestellt worden, also ziemlich heftige Attacken.

Gibt es denn irgendwelche Informationen über das Ausmass der Wahlmanipulation?

Es gibt eine regierungskritische Wahlbeobachtungsorganisation namens Golos, die sagt, dass sie Fotos von Listen mit den Wahlergebnissen von etwa 20 Prozent der Wahllokale haben. Sie hatten breit dazu aufgerufen, diese ausgehängten Listen zu fotografieren und einzusenden. Laut Golos entsprachen diese Ergebnisse etwa einem repräsentativen Schnitt von Stadt- und Landbevölkerung. Nach diesen Dokumenten hat Tichanowskaya in den betroffenen Wahllokalen ungefähr 25 Prozent der Stimmen erhalten und Lukaschenko etwa 60 Prozent. Wenn man diese Zahlen zugrunde legt, bestätigen sie zwar eine massive Manipulation der Ergebnisse – offiziell kam Lukaschenko ja auf über 80 Prozent. Der Sieger hätte aber dennoch Lukaschenko geheissen. Das ist doch eine interessante Information, die man in die Bewertung miteinfliessen lassen muss. Aber das geschieht praktisch nicht. Allerdings halte ich nach den ganzen Ereignissen Neuwahlen für angezeigt.

Viele Medien berichteten, dass die OSZE eine Neuwahl fordere.

Streng genommen ist es keine Forderung der OSZE. Es ist die Schlussfolgerung aus einem Bericht, der von 17 Teilnehmerstaaten der OSZE beauftragt und vom österreichischen Völkerrechtler Wolfgang Benedek verfasst wurde. Grundlage ist der sogenannte Moskauer Mechanismus von 1991, der gewährleisten soll, dass die OSZE-Teilnehmerstaaten ihre Verpflichtungen einhalten. Inhaltlich beschäftigt sich der Bericht mit Menschenrechtsverletzungen im Kontext der Präsidentschaftswahlen und dabei geht es auch um den Wahlprozess selbst. Sein Urteil ist eindeutig: Die Wahlen haben internationalen Standards in vielen verschiedenen Bereichen nicht genügt. Auffällig ist, dass alle 17 Staaten, die den Mechanismus aktiviert haben, Mitglieder der Nato sind. Natürlich horcht man da auf, und der Vorgang wirkt geopolitisch aufgeladen. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn entsprechend der Funktion der OSZE eine Einigung auf eine breiter aufgestellte Untersuchung geschaffen worden wäre.

In den meisten Medien wurden ja Zahlen herumgeboten, die von nahezu 80 % der Stimmen für Tichanowskaya gesprochen hatten…

Ja, das behauptet auch das Auswärtige Amt in Deutschland unter Bezug auf Golos, dass es in Wirklichkeit ein fast genau umgekehrtes Stimmenverhältnis gegeben habe. Das gibt der Golos-Bericht aber nicht her, auch wenn manche widersprüchliche Formulierungen dahingehend missverstanden werden können. Ich halte es nicht für unrealistisch, dass Lukaschenko bei der Wahl eine Stimmenmehrheit erreicht hat, die dann aber durch Manipulation der Ergebnisse aufgebläht wurde. Diese Mehrheit dürfte inzwischen durch seine brutale Reaktion auf die Proteste geschmolzen sein.

Welche Strategie verfolgt Lukaschenko?

Mit starker Repression die Situation unter Kontrolle zu bekommen und auf dieser Grundlage Gesprächsangebote zu machen, zunächst intern mit der Opposition, und anschliessend auf internationaler Ebene die Kontakte zu pflegen. Er hat viel Porzellan zerschlagen, die Sanktionen sind in Kraft. Die richten sich zwar nicht gegen das Land, und die diplomatischen Beziehungen wurden auch nicht abgebrochen. Man will aber offenbar auch kein Szenario wie in Venezuela. Das ist die Haltung von Deutschland, aber auch von der EU.

Finden diese Gespräche mit der Opposition statt?

Es gab inzwischen ein Treffen mit dem sogenannten Ko-Regierungsrat im Gefängnis, denn die Mitglieder sitzen mittlerweile alle im Gefängnis. Lukaschenko hatte diesen für illegal erklärt. Er will also einen kontrollierten Dialog.

Wie reagiert der Westen darauf?

Tichanowskaya wird vom Westen als grosse Gestalt aufgebaut mit der Unterstützung des German Marshall Fund, einer US-Lobbyorganisation. Tichanowskaya war zu Gast in mehreren Ausschüssen des Bundestags, und dort konnte ich ihr ein paar Fragen stellen. Ihre Reaktionen sind schon auffällig. Sie deklariert sich selbst nicht als Präsidentin. Das ist ganz klar. Sie ist kein Pendant zu Guaidó in Venezuela. Aber inzwischen spricht sie sich für die Sanktionen aus, obwohl sie selbst und andere Oppositionelle zunächst dagegen waren. Sie vertraten die Meinung, dass der Dialog dadurch noch schwieriger werde.

Dann hat sich da etwas verändert?

Ja, und was ich sehr alarmierend empfand, ist, dass sie Magnitski-Sanktionen, ein Magnitski-Gesetz, fordert. Das ist der Versuch von einigen westlichen Staaten wie den USA und Grossbritannien, bei Menschenrechtsverbrechen Strafmassnahmen durchführen zu können. Das Hauptproblem dabei ist aber, wer auf welcher Grundlage über Schuld und Unschuld entscheidet. Bei den Magnitski-Sanktionen sind es politische Entscheidungen, keine juristischen. Einige Länder haben schon entsprechende Gesetze umgesetzt. Auch im Europarat gab es eine Resolution, die das gefordert hat. Dabei werden Menschenrechtsfragen mit einer Strafe und einem antirussischen Spin verbunden. Magnitski war ja ein russischer Oppositioneller. Der ganze Fall ist äusserst mysteriös. Dazu gibt es einige sehr kritische Analysen.

Warum ist das jetzt wieder Thema?

Für die antirussischen Transatlantiker in Europa ist die Durchsetzung der Magnitski-Gesetze in den einzelnen Ländern ein wichtiges Projekt. Das wird jetzt auch im Bundestag verhandelt und Tichonowskaya hat die Vorlage geliefert. Die Forderung kommt vermutlich von ihren Beratern. Dass sie das im deutschen Bundestag gefordert hat, gehört zur Kernstrategie der Transatlantiker.

Was ist das politische Programm von Tichonowskaya?

Sie war eigentlich nicht in der Politik tätig, sondern ist die Ehefrau eines Oppositionellen, der im Gefängnis sitzt. Ihr politisches Programm besteht darin, faire Wahlen zu organisieren. Sie vertrat die Haltung, Politik sei nichts für sie, sie wolle nur gewählt werden, damit faire und freie Wahlen abgehalten werden könnten. Das war das Minimalprogramm. Sie hat auch viele Stimmen bekommen, denn sie war die Projektionsfläche für alle Unzufriedenen mit dem Versprechen nach «freien und fairen» Wahlen. Man merkt heute, wie sie von ihren Beratern in eine bestimmte Richtung gelenkt wird, und das macht mir schon Sorgen.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Uno-Organisationen und internationale NGOs fordern den Schutz der palästinensischen Olivenbauern

Gemeinsame Erklärung von OCHA, OHCHR, dem Sektor Ernährungssicherheit und AIDA, der über 80 internationale NGOs vertritt

Internationale NGOs und Uno-Organisationen fordern die israelischen Behörden auf, die an der derzeit laufenden Olivenernte teilnehmenden Palästinenser sowie deren Eigentum vor Gewalt durch israelische Siedler zu schützen und sicherzustellen, dass die Bauern freien und sicheren Zugang zu ihrem Land haben.

Allein in den ersten vier Wochen der Saison (vom 7. Oktober bis 2. November) verzeichnete das Büro für die Koordination humanitärer Angelegenheiten (Office for Coordination of Humanitarian Affairs OCHA) 33 Vorfälle, bei denen bekannte oder mutmassliche israelische Siedler Palästinenser angriffen oder deren Bäume oder Erzeugnisse beschädigten. 25  Palästinenser wurden verletzt, über 1000 Olivenbäume verbrannt oder anderweitig beschädigt und grosse Mengen an Produkten wurden gestohlen. In einigen Fällen griffen israelische Sicherheitskräfte in Zusammenstösse zwischen Palästinensern und Siedlern ein, unter anderem indem sie Tränengas und Gummigeschosse abfeuerten, was zu Verletzungen von Olivenpflückern führte, und sie zwang, die Olivenhaine zu verlassen.

Eine palästinensische Bauernfamilie bei der Olivenernte in der Westbank in der Nähe von Salfit. Für viele Familien sind die Olivenhaine Grundlage ihrer Existenz. (Bild hhg)

Eine palästinensische Bauernfamilie bei der Olivenernte in der Westbank in der Nähe von Salfit. Für viele Familien sind die Olivenhaine Grundlage ihrer Existenz. (Bild hhg)

 

 

Wie in den vergangenen Jahren gestatten die israelischen Behörden während der gesamten Saison den Bauern nur 2 bis 4 Tage lang, ihr Ackerland in der Nähe bestimmter Siedlungen zu erreichen, angeblich um Reibungen mit den Siedlern zu vermeiden. Dies beeinträchtigt nicht nur die Produktivität der Bäume und grenzt die Möglichkeit der palästinensischen Bauern, diese abzuernten, ein, sondern hindert auch die Siedler nicht  daran, Bäume zu zerstören, wenn die Bauern abwesend sind.

Um Zugang zu den Olivenhainen hinter der Mauer zu erhalten, müssen die Bauern Sondergenehmigungen einholen. In den letzten Jahren wurden die meisten Anträge aus den unterschiedlichsten bürokratischen Gründen abgelehnt, zum Beispiel weil der Landbesitz nicht nachgewiesen werden konnte. Im Vorfeld der diesjährigen Saison wurden bei den israelischen Behörden auch Bedenken wegen einer möglichen Übertragung von COVID-19 in ihren überfüllten Büros vorgebracht, wo Palästinenser Genehmigungsanträge einreichen müssen. Als Reaktion darauf wurden kürzlich einige verfahrenstechnische Erleichterungen angekündigt: Eine seit langem geltende Beschränkung der Zahl der Bauern, die Zugang zum Land jenseits der Mauer haben, wurde am 24. Oktober, 17 Tage nach Beginn der Saison, nach einem langwierigen Gerichtsverfahren aufgehoben.

Die jährliche Olivenernte ist ein zentrales wirtschaftliches, soziales und kulturelles Ereignis für die Palästinenser. Die Gewalt der Siedler und die Zugangsbeschränkungen untergraben die Sicherheit und die Existenzgrundlage vieler Menschen, was in der gegenwärtigen, durch die Pandemie verursachten Wirtschaftskrise mehr denn je besorgniserregend ist.

Die jüngsten Erleichterungen sind zwar zu begrüssen, aber es ist noch mehr erforderlich: Organisationen der Uno und internationale Nichtregierungsorganisationen fordern die israelische Regierung auf, ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen, den Palästinensern den rechtzeitigen und ausreichenden Zugang zu ihren Olivenhainen zu erleichtern, die Palästinenser und deren Eigentum vor Gewalt, Beschädigung und Diebstahl zu schützen und dafür zu sorgen, dass die israelischen Sicherheitskräfte die Bauern schützen und die Täter zur Rechenschaft ziehen. 

Quelle: www.ochaopt.org/content/un-agencies-and-international-ngos-call-protection-palestinian-olive-harvesters

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

 

Keine Freunde im Westen

Der Nahostkorrespondent Robert Fisk ist gestorben – er hat Geschichte geschrieben

von Karin Leukefeld

«Na, auch hier?» – Robert Fisk und Michael Jansen, zwei Veteranen der Nahostberichterstattung, schütteln sich die Hände. Es ist Juli 2006, und es ist Krieg im Libanon. Jansen ist Korrespondentin der «Irish Times», Fisk Korrespondent des britischen «Independent». Beide stehen in «Smith’s Info Village» in Hamra, einem Stadtteil von Beirut. «Der einzige Ort mit Internet», meint Fisk; er sortiert gerade Seiten beschriebenen Papiers, die vor ihm auf dem Tisch liegen. Es folgt ein knappes Gespräch, wie es zwischen Journalisten typisch ist, die sich seit Jahrzehnten immer wieder an den Frontlinien begegnen. Dann machen sich beide an die Arbeit, tippen ihre Reportagen, um sie rechtzeitig vor Redaktionsschluss per E-Mail abzuschicken.

Robert Fisk (Bild wikimedia)

Robert Fisk (Bild wikimedia)

 

Robert Fisk arbeitete 40 Jahre als Nahostkorrespondent für «The Times» und den «Independent». Er hatte die britische und irische Staatsangehörigkeit, lebte in Beirut und Dublin. Dort ist er am 30. Oktober im Alter von 74 Jahren gestorben.

Mit seinen unzähligen Reportagen von den Kriegsfronten in Beirut, Palästina, Syrien, Irak und Afghanistan hat Robert Fisk im wahrsten Sinne des Wortes «Geschichte geschrieben». Im Februar 1982 war er im syrischen Hama, als der Aufstand der syrischen Muslimbruderschaft blutig niedergeschlagen wurde. Im September desselben Jahres erlebte er die Invasion der israelischen Armee in den Libanon. Er berichtete über das Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila im Süden von Beirut, wo christliche Milizen zwischen dem 16. und 18. September 1982 mehr als 2000 Menschen ermordeten. Zustimmung hatten sie von der israelischen Armee, die die Lager umzingelt hatte.

In einer Filmaufnahme beschreibt Fisk später, was er am Tag nach dem Massaker vorfand: zerschossene und verbrannte Männer, Frauen, Kinder. «Wir waren ziemlich lange dort herumgelaufen, als wir Schüsse hörten. (…) Meine zwei Kollegen waren ein Stück vorgegangen, und (…) ich kletterte auf einen Sandhügel, um sie zu finden. Doch als ich oben war, merkte ich, wie sich der Boden unter mir bewegte. Es war, als stünde ich auf einem Schwamm. Dann merkte ich, dass das, worauf ich stand, kein Sandhügel war, sondern nur mit Sand bedeckt worden war. Ich sah unter mir ein Gesicht, einen Ellenbogen, einen Magen, ich stand auf Leichen. Erschrocken hielt ich die Luft an und sprang hinunter auf die andere Seite.»

Am 16. Dezember 1982 verurteilte die Uno-Generalversammlung das Massaker von Sabra und Schatila mit der Resolution 37/123 als Völkermord. «Es ist schwer, Massaker zu vergessen, wenn du die Toten gesehen hast», sagte Fisk, der sich mit seinen Berichten über die Grausamkeit der israelischen Armee und ihrer Verbündeten, die «mit amerikanischen Waffen kämpften», im Westen keine Freunde machte. Fisk hatte einen Standpunkt, der vielen nicht passte. Bis heute wird er von manchen als «umstrittener» Journalist bezeichnet. Seine Reportagen, Analysen, Filme und Berichte gehören allerdings zum Besten, was aus der Kriegs- und Krisenregion des Nahen und Mittleren Osten jemals berichtet worden ist.

Als Korrespondent und Zeitzeuge legte Fisk Zeugnis über politischen Verrat und Illusionen der lokalen und regionalen Akteure ebenso ab wie über eine westliche Politik, die – bis heute – die Nationen und Menschen der Region in politische und militärische Katastrophen führt.

Fisk war ein Korrespondent vor Ort. An der Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan wurde er nach dem 11. September 2001 von aufgebrachten afghanischen Flüchtlingen verprügelt, weil westliche Streitkräfte ihre Landsleute ermordeten. Die Brutalität der Männer und Jungen gegen ihn sei «ausschliesslich das Produkt von anderen, von uns selber», schrieb Fisk in einer Reportage. «Wir hatten sie für den Kampf gegen die Russen bewaffnet, wir haben ihr Leid ignoriert und ihren Bürgerkrieg verhöhnt. Wir haben sie dann wieder bewaffnet und bezahlt, um im ‹Krieg der Zivilisation› zu kämpfen. Und dann haben wir ihre Häuser bombardiert, ihre Familien zerrissen und sie ‹Kollateralschaden› genannt.»

Nicht Facebook, Twitter oder andere «soziale Medien», sondern Strasseninterviews mit den Akteuren im Geschehen waren der Stoff, aus dem seine Berichte entstanden. Das machte ihn zu «einem der besten Berichterstatter, den der Journalismus je gekannt» habe, schrieb der irische Präsident Michael D. Higgins in seinem Nachruf. Generationen, «nicht nur in Irland», hätten seine kritischen und informierten Berichte gebraucht, um zu verstehen, was «in den Konfliktzonen der Welt geschieht und – was noch wichtiger ist – welche Einflüsse dort möglicherweise die Konflikte auslösten».

In Deutschland wird Robert Fisk weitgehend ignoriert. Seine Bücher «Pity the Nation» über den Libanon-Krieg (1975–1990) und «The Great War for Civilisation: The Conquest of the Middle East» wurden nie ins Deutsche übersetzt. 

Quelle: www.jungewelt.de/artikel/389934.nachruf-keine-freunde-im-westen.html

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