«Mehr demokratische Mitsprache in entscheidenden aussenpolitischen Aspekten»

Interview mit Nationalrat Lukas Reimann

Professor S. J. Emmanuel (Bild thk)
Professor S. J. Emmanuel (Bild thk)

In den letzten Jahrzehnten hat die Aussenpolitik in der Schweiz eine immer grössere Bedeutung erfahren, gleichwohl wird sie ausschliess­lich vom Bundesrat bestimmt, ohne dass das Parlament über einzelne Entscheide abstimmen kann. Mit der Initiative für ein Staatsvertragsreferendum hat die SVP 2012 versucht, diesen Zustand zu verbessern – ohne Erfolg. Nationalrat Lukas Reimann versucht aktuell mit einer parlamentarischen Initiative, mehr Mitsprache bei aussenpolitischen Entscheiden zu erreichen. Es geht darum, dass das Parlament bei der Verhängung von internationalen Sanktionen, also Sanktionen gegen andere Staaten wie z. B. gegen Russland, Syrien oder auch Venezuela, in Form eines Bundesbeschlusses mitentscheiden kann. Bisher bestimmt darüber allein der Bundesrat. Was ihn zu diesem Vorstoss bewogen hat, legt Lukas Reimann in folgendem Interview dar.  

Das Bundeshaus in Bern. Die Bundesversammlung ist das oberste Organ der Eidgenossenschaft und direkt vom Volk gewählt.  (Bild thk)

Das Bundeshaus in Bern. Die Bundesversammlung ist das oberste Organ der Eidgenossenschaft und direkt vom Volk gewählt.  (Bild thk)

 

 

Zeitgeschehen im Fokus Was hat Sie veranlasst, diese parlamentarische Initiative einzureichen?

Nationalrat Lukas Reimann Ich halte wie 90 % der Schweizer Bevölkerung die Neutralität für sehr zentral, nicht nur für die Schweiz als Schutz, sondern auch als Friedensprojekt für die ganze Welt. Man kann als neutraler Staat in einem Konflikt versuchen, verschiedene Parteien an einen Tisch zu bringen. Wenn man für beide Seiten glaubwürdig sein will, darf man bei Sanktionen nicht mitmachen. 

Ist es nicht auch ein wirtschaftlicher Faktor, wenn Sanktionen den Handel einschränken?

Gewiss, aber es geht mir dabei nicht in erster Linie um die Schweizer Wirtschaft. Es geht mir um mehr demokratische Mitsprache in entscheidenden aussenpolitischen Aspekten. Ich will gar nicht so weit gehen und die Sanktionen stoppen. Ich möchte eine Demokratisierung dieses Vorgangs. Ich finde es falsch, dass der Bundesrat im stillen Kämmerlein so weitgehende Fragen alleine entscheiden kann. Dazu sollte es immer eine öffentliche Debatte geben, und das Parlament sollte ebenfalls dazu konsultiert werden. 

Ist hier nicht die Aufgabe der Schweiz in der internationalen Gemeinschaft tangiert?

Doch, natürlich. Zum einen ist das hochaktuell. Man sieht an den Beziehungen Iran-USA, dass sehr viel über die Schweiz abgewickelt worden ist. Wir haben seit 60 Jahren eine schwedisch-schweizerische Neutralitätsgruppe. Wer, wenn nicht die Schweiz, soll in der Welt Vermittler sein? Es bringt für einen Friedensprozess rein gar nichts, wenn man sich als Staat auf die eine oder andere Seite stellt. Ich habe in Ihrer Zeitschrift «Zeitgeschehen im Fokus» den Artikel von Michael Winkler gelesen und festgestellt, dass man sich in Liechtenstein zur Übernahme von Sanktionen Gedanken macht. In dem Fall ist es höchste Zeit, dass sich Bern auch etwas dazu überlegt.  

Wie ist jetzt der weitere Ablauf?

Es ist eine parlamentarische Ini­tiative, und hier muss das Parlament selbst über das Parlamentsrecht entscheiden und nicht der Bundesrat. Als nächstes geht es in die staatspolitische Kommission, in der ich selbst Mitglied bin. Hier muss ich eine Mehrheit dafür gewinnen. Wenn das gelingt, dann kommt das Ganze in den Ständerat. Wenn man in der Kommission keine Mehrheit findet, wird im Nationalrat darüber abgestimmt. 

Der Bundesrat hat also nichts dazu zu sagen. 

Ja, es ist allein die Entscheidung des Parlaments. Aus diesem Grund habe ich auch diesen Weg gewählt. In der Debatte wird sich auch die Staatspolitische Kommission äussern. Wenn die Kommission die Initiative ablehnt, dann wird sie kaum Erfolg haben.

Vor einigen Wochen hat der Bundesrat eine Vernehmlassung eröffnet für eine Verfassungsänderung, die dem Volk mehr Mitsprache in der Aussenpolitik geben will. Es geht um das Staatsvertragsreferendum. Ist das eine Reaktion darauf?

Nein, das hat im engeren Sinne nichts miteinander zu tun. Das, was der Bundesrat hier vorschlägt, ist auch eher schwach. Die SVP hatte selbst eine Initiative lanciert, die viel weiter ging als der Vorschlag des Bundesrates. Aber es ist sicher ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Ich werde das unterstützen, aber ich verspreche mir keine grossen Veränderungen in der Praxis. 

Ist das Ganze nur Augenwischerei? Der Bundesrat macht etwas, um das Volk zu beruhigen…

Der Bundesrat musste etwas bringen. Er hat damals, als es um die Initiative «Staatsverträge vors Volk» ging, versprochen, einen Gegenvorschlag auszuarbeiten. Ohne diesen Gegenvorschlag hätte er seine Glaubwürdigkeit völlig verloren.

Herr Nationalrat Reimann, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern

 

 

Parlamentarische Initiative von Lukas Reimann

Eingereichter Text

Gestützt auf Artikel 160 Absatz 1 der Bundesverfassung und Artikel 107 des Parlamentsgesetzes reiche ich folgende parlamentarische Initiative ein:

Das Bundesgesetz über die Durchsetzung von internationalen Sanktionen wird wie folgt ergänzt:

Art. 2 Zuständigkeit

Abs 1

… Der Erlass von Zwangsmassnahmen bedarf der Genehmigung der Bundesversammlung in der Form eines Bundesbeschlusses.

Begründung

Die Bundesverfassung erteilt dem Bundesrat und der Bundesversammlung den Auftrag, die Neutralität zu wahren (Art. 173 Abs. 1 Bst. a und Art. 185 Abs. 1 der Bundesverfassung). Gleichwohl ist für den Erlass von Zwangsmassnahmen nach geltendem Recht ausschliesslich der Bundesrat zuständig. In der schweizerischen Innenpolitik gilt die Staatsform der direkten Demokratie. In der Aussenpolitik hat der Bundesrat jedoch meist die alleinige Entscheidungsgewalt. Es ist deshalb an der Zeit, auch in der Aussenpolitik vermehrt demokratische Elemente einzubauen. Die Bundesversammlung ist das oberste Organ der Eidgenossenschaft und direkt vom Volk gewählt. Durch das Zustimmungserfordernis der Bundesversammlung bei internationalen Zwangsmassnahmen werden Aussenpolitik und ­Neutralität der Schweiz verstärkt demokratisch legitimiert, und die Kompetenzaufteilung zwischen Bundesversammlung und Bundesrat wird im Sinne der Bundesverfassung gewährleistet.

Debatte im Europarat: «Der Europarat ist das einzige paneuropäische Gremium, bei dem Russland mit dabei ist»

von Thomas Kaiser

Während der Herbstsession der Parlamentarischen Versammlung des Europarats stand eine wichtige Entscheidung an. Es ging darum, Fehler zu korrigieren, die im Jahre 2014 begangen worden waren. Damals, nach dem illegalen Putsch in der Ukraine gegen den gewählten Präsidenten Viktor ­Janukowitsch und der Abstimmung auf der Halbinsel Krim, bei der sich eine überwältigende Mehrheit der Stimmbeteiligten für den Anschluss der Krim an Russland ausgesprochen hatte, und diese auch von Russland aufgenommen wurde, entzog die Parlamentarische Versammlung der russischen Delegation das Stimm- und Wahlrecht, da die Mehrheit der Abgeordneten im Verhalten Russlands einen Verstoss gegen die Grundwerte des Europarats sah. 

Heute, vier Jahre später, besteht die Gefahr, dass Russland dem Europarat gänzlich fernbleibt und damit die Idee dieser Institution verlorengeht, nämlich ein Forum zu sein, in dem alle 47 europäischen Staaten den Dialog miteinander führen. 

Eine Resolution der belgischen Politikerin der Grünen, Petra De Sutter, die in Zukunft die Sanktionierung einer parlamentarischen Delegation nur mit einer Zweidrittelmehrheit erlauben würde, wurde nach einer heftigen Debatte, die beinahe in Tumult ausartete, zurückgezogen und an die verantwortliche Kommission zurückgewiesen. Die anti-russische Stimmung war massiv. Sie ging von der Mehrheit der ukrainischen Delegation aus, die mit allen Mitteln eine Rückkehr der russischen Delegation verhindern möchte. Dabei war ihr nahezu jedes Mittel recht. Den Rückzug der Resolution feierte sie als grossen Sieg.

Doch noch ist nichts entschieden. Auch wenn die nötige Zweidrittelmehrheit für die Annahme der Resolution aller Voraussicht nach nicht erreicht worden wäre, gab es doch einige Stimmen, die eine Rückkehr Russlands in den Europarat begrüssen würden. So wird es weitere Diskussionen brauchen, um eine konstruktive und mehrheitsfähige Lösung zu entwickeln.

Die nachfolgenden Interviews geben Einblick in den ganzen Ablauf und wie es in Zukunft weitergehen könnte.

Debatte im Europarat: Russland wieder an den Verhandlungstisch holen

Interview mit Andrej Hunko, Mitglied des deutschen Bundestags und Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie müssen wir die Debatte von heute Nachmittag einordnen?

Andrej Hunko Der Europarat hat eine Chance verpasst, einen Fehler zu korrigieren. 

Worin lag der Fehler?

Er lag darin, dass die Parlamentarische Versammlung in der Resolution 2014, gegen die ich damals gestimmt hatte, bestimmte, der russischen Delegation die Stimmrechte zu entziehen. Das ist ein Vorgang, der rechtswidrig und gegen die Satzung des Europarats ist. Eine Rechtsstudie hat bestätigt, dass die Versammlung nicht die Kompetenz hat, einer nationalen Delegation das Stimmrecht zu entziehen, was die Wahl der Richter oder des Generalsekretärs angeht. Das gilt für den gesamten Europarat. 

Das wollte man jetzt korrigieren?

Es gab heute einen guten Kompromissvorschlag, der die Geschäftsordnung dahingehend geändert hätte, dass ein solcher Stimmrechtsentzug nicht mehr möglich wäre, und der auch die Verweigerung der Beglaubigungsschreiben, der sogenannten ­Credentials, erschwert hätte.

Worum geht es bei diesen Beglaubigungsschreiben?

Jede nationale Delegation reicht zu Beginn des Jahres die Beglaubigungsschreiben ein. Diese werden normalerweise von der Versammlung akzeptiert. Es kann aber auch sein, dass sie verweigert werden, meistens aus formalen Gründen, z. B. wenn sich die Repräsentativität des nationalen Parlaments nicht in der Delegation widerspiegelt. 

Sind formale Gründe die einzigen?

Die Frage steht im Raum, ob man aufgrund von politischen ­Fragen einer Delegation die Beglaubigungsschreiben verweigern darf. Das war bislang mit einfacher Mehrheit möglich. Russland hat Bedenken, dass, wenn es im Januar seine Beglaubigungsschreiben schickt, diese mit einfacher Mehrheit abgelehnt würden. Dem wollen sie sich natürlich nicht ausliefern. Deshalb war der Vorschlag dieses Kompromisspapiers, diese Entscheidung zu erschweren und eine Zweidrittelmehrheit festzusetzen. 

Damit wird die Hürde erhöht, eine Delegation abzulehnen. 

Ja, wenn man die Tagesordnung einer Woche ändern will, und das habe ich in meiner Rede erwähnt, braucht die Versammlung eine Zweidrittelmehrheit. Aber um die Teilnahme einer nationalen Delegation zu verhindern, braucht es nur eine einfache Mehrheit, das ist völlig widersinnig. Solche Regularien anzupassen und stringenter zu fassen, das war der Gegenstand der heutigen Abstimmung. Aber der Elefant im Raum in der heutigen Abstimmung war natürlich die Frage der russischen Delegation. Diese zwei Fragen, nämlich die Beglaubigungsschreiben und das Stimmrecht, waren der Kern der Diskussion. Der Bericht von Frau De Sutter war ein guter Kompromiss. Wir hätten zwar gerne noch mehr Punkte hineingepackt. Er hätte es auf alle Fälle der russischen Seite erschwert, nicht wieder zurückzukommen. Es ist natürlich auch unangenehm, wieder zu kommen. 

Warum ist das unangenehm?

Der russische Aussenminister Sergej Lawrow war vor wenigen Wochen in Berlin und wurde auch dazu befragt. Er gab zur Antwort, dass die russische Delegation, wenn die Rechte wiederhergestellt seien, zurückkämen. Ich war selbst anwesend, als er dies sagte. Die Stimmrechte wären auf alle Fälle wiederhergestellt worden. Es wäre dann natürlich von russischer Seite schwierig gewesen, das abzulehnen. 

Hätte sich das mit ihren Forderungen gedeckt?

Die russische Position ist, dass die Beglaubigungsschreiben gar nicht angefochten werden können. Das ist auch die Position des Rechtsgutachtens und des Ministerkomitees. Das war sozusagen ein Kompromiss in diese Richtung. Dieser gut durchdachte Kompromiss ist im September in Paris im entsprechenden Ausschuss einstimmig angenommen worden. Die Gleichen, die dort zugestimmt haben, haben in der Zwischenzeit mobilisiert. Sie haben heute im Ausschuss dagegen gestimmt, haben Änderungsanträge gestellt, die die Substanz ins Gegenteil verkehrt hätte. 

Welches Ziel verfolgen jene?

Sie wollen verhindern, dass Russ­land zurückkommt. Sie tun alles, was sie nur können, damit wir aus dieser Sackgasse nicht herauskommen, um eine sinnvolle Lösung des Konflikts zu erreichen. 

Wer ist da vor allem aktiv?

Das sind die britischen Tories, das sind die ukrainischen Nationalisten, die 80 Prozent der ukrainischen Delegation stellen. Zum Teil kommen sie aus Polen oder einzelnen baltischen Staaten. Der Block stellt zwar nicht die Mehrheit dar, aber die Geschäftsänderung verlangt eine Zweidrittelmehrheit. Wenn sie ein Drittel zusammenbekommen, können sie die Lösung blockieren. Nach der Debatte am heutigen Vormittag konnte man ungefähr einschätzen, dass es bei einer Abstimmung sehr knapp werden könnte. 

Wer hat dann die Zurückweisung entschieden?

Die Einschätzung der Sozialdemokraten war, dass sie 54 Prozent für den Antrag erhalten werden. Deshalb haben sie eine Kehrtwende gemacht. Am Schluss gab es eine Mehrheit für eine Rücküberweisung des eigentlich guten Antrags in den Ausschuss, um zu verhindern, dass dieser zerstört wird. 

Wie hat die ukrainische Delegation darauf reagiert?

Sie hat es als grossen Sieg gefeiert. Es gab skandalöse Szenen direkt nach der Abstimmung in der Lobby des Parlaments. Die Ukrainer haben den faschistischen Bandera-Gruss aus dem Zweiten Weltkrieg – «Heil der Ukraine, Heil den Helden, Heil der Nation» – im Sprechchor gerufen. Das waren Szenen, die ich hier noch nicht erlebt habe. Viele Konservative aus Deutschland brachten zum Ausdruck, dass sich die Ukrainer immer mehr Sympathien verscherzen. Das radikalisiert sich in eine faschistische Richtung.

Welche Bedeutung hat das für den Europarat, wenn Russland nicht dabei ist? 

Der Europarat ist das einzige paneuropäische Gremium, bei dem Russland mit dabei ist. Das ist natürlich vielen Transatlantikern ein Dorn im Auge. Es gibt auch die Überlegungen eines gemeinsamen Wirtschaftsraums von Lissabon bis Wladiwostok. Im Grunde genommen ist der Europarat die Abbildung dieses Raums. Es ist eine internationale Organisation, die in dieser Form sicher erhaltenswert ist. Ein weiterer Punkt ist, dass der Europarat mit dem Gerichtshof für Menschenrechte einen Gerichtshof hat, der 830 Millionen Menschen ein Individualklagerecht ermöglicht. 

Was hätte ein Austritt Russlands zur Folge?

Eine Gefahr ist, dass sich immer mehr Staaten vom Europarat wegbewegen würden. Das System ist sehr labil, das Individualklagerecht existiert erst seit ungefähr 20 Jahren. Bis heute ist die EU noch nicht beigetreten, und die Staaten müssen erst einmal akzeptieren, dass ein externes Gericht sagt, dass man jemanden aus dem Gefängnis entlassen müsse oder jemandem Entschädigung zu zahlen sei. Wenn Russland die Richter aufgrund der Sanktionierung des Wahlrechts nicht mehr wählen kann, dann wird es den Gerichtshof nicht mehr akzeptieren. Kein Land würde das tun. 

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

Debatte im Europarat: «Es geht immer um den Dialog zwischen ganz unterschiedlichen Positionen»

Interview mit Filippo Lombardi, Schweizer Ständerat  und Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Ständerat Filippo Lombardi, CVP (Bild thk)
Ständerat Filippo Lombardi, CVP (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie beurteilen Sie den Ausgang der Abstimmung?

Ständerat Filippo Lombardi Die Zurückweisung an die Kommission ist schade, aber sie war vorauszusehen. Wir haben im Ad-hoc-Komitee versucht, die Regeln zu verschärfen und zu klären, was die ganze Problematik der Vertrauenswürdigkeit und den Entzug der Stimmrechte betrifft. Im Jahr 2014 hat die Parlamentarische Versammlung gewisse Entscheidungen getroffen, die jetzt Folgen haben, und nicht alle sind erwünschte Folgen. Man muss einige Anpassungen machen, damit künftig sowohl die Versammlung als auch die Mitgliedsstaaten ein klareres Verfahren haben, wenn gegen die eine oder andere Delegation Massnahmen getroffen werden müssen. Dazu muss klar sein, welche Rechte unantastbar sind. Die Diskussion müssen wir führen.

Die antirussische Stimmung in der Diskussion war massiv. 

Ja, diese Koalition hat sich gut vorbereitet und hat stark lobbyiert. Wir haben ganz viele Mails von aussen bekommen, was wir von der Schweiz her auch kennen, aber so ein organisiertes Lobbying ist eher die Ausnahme im Europarat.

Muss man den Rückzug des Antrags unter diesem Gesichtspunkt verstehen?

Die Entscheidung der Berichterstatterin Petra De Sutter, den Bericht in die Kommission zurückzunehmen, war wahrscheinlich die einzige Lösung, um die Sache nochmals zu prüfen und für die Zukunft zu diskutieren, losgelöst vom Zeitdruck der Vergabe der neuen Credentials im Januar 2019, was mit der russischen Frage notgedrungen verknüpft war.

Wie kann es sinnvoll weitergehen?

Das gibt der Versammlung mehr Spielraum, im Laufe des Jahres das Verfahren schrittweise anzupassen. Die russische Seite muss selbst entscheiden, ob sie die Geduld hat, auf eine Änderung zu warten, die vielleicht ihre Erwartungen nicht erfüllen wird. Andererseits wäre es auch wichtig, gewisse Schritte konkret in den Beziehungen Russland-Ukraine rund um den Minsker Friedensprozess zu realisieren, was vielleicht nach den ukrainischen Wahlen möglich werden könnte. Wenn das geschieht, sehe ich Möglichkeiten für eine positive Entwicklung, nicht nur für den Europarat.

Wenn das nicht geschieht, was passiert dann?

Dann haben wir bald einmal die Situation, dass die Russen auf der einen Seite ihre Mitgliedsbeiträge nicht mehr bezahlen und auf der anderen Seite die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofes nicht mehr anerkennen, weil ein wachsender Teil der Richter nicht mit ihrer Stimmbeteiligung gewählt worden ist. Wir würden das in der Schweiz als «fremde Richter» bezeichnen. Dann wird das Ministerkomitee ein Verfahren eröffnen müssen, das zum Ausschluss Russ­lands führen kann. Oder – wie es jetzt angekündigt wurde – Russ­land könnte sich selber zurückziehen, wie damals Griechenland unter dem internationalen Druck in Folge des militärischen Putsches.

Diese Schritte wären dann die logische Konsequenz. 

Ja, und das ist für mich – sowie für die ganze Schweizer Delegation – der schwerwiegendste Punkt. Denn ein Ausschluss oder Rücktritt Russlands würde die russische Regierung nicht besonders treffen, aber die russischen Bürger sehr.

Was möchte die Schweizer Delegation?

Grundsätzlich sind Parlamente nicht da, um sich gegenseitig zu sanktionieren. Aber wir sind trotzdem der Meinung, die Parlamentarische Versammlung soll weiterhin die Möglichkeit haben, gewisse Sanktionen in Extremsituationen auszusprechen. Dies aber unter klareren Bedingungen und mit höheren Schwellen. Was im De Suter-Bericht auch vorgeschlagen war, ist, dass allfällige Einschränkungen bezüglich Stimmrechts bei Wahlen der Richter, des Generalsekretärs, des stellvertretenden Generalsekretärs und des Menschenrechtskommissars nicht legitim sind. Das sind Grundrechte der Mitgliedsstaaten. Die Versammlung wählt diese Personen in Vertretung der Mitgliedsstaaten und im Dienst anderer Institutionen des Europarates. Es geht nicht um interne Geschäfte der Versammlung, und das Recht auf diese Wahlen kann man den Staaten nicht wegnehmen. Da wurde 2014 ein juristischer Fehler begangen.

Welche Massnahmen gegenüber anderen Abgeordneten dürfte dann die Versammlung ergreifen?

Sie könnte weiterhin alle Rechte entziehen, die den Betrieb der Versammlung betreffen: das aktive und passive Wahlrecht in allen Versammlungsorganen sowie das Stimmrecht über alle Motionen, Berichte, Resolutionen, Anträge usw. Das macht sie auch vereinzelt gegenüber Abgeordneten, die gegen die Regeln verstossen. Zum Beispiel dürfen jene, die ihre Interessenbindungen nicht angeben, nicht mehr Berichterstatter oder Wahlbeobachter werden.

Das ist interner Betrieb, und hier ist die Versammlung befugt, meines Erachtens als ultima ratio, Einschränkungen vorzunehmen. Aber die Wahlrechte für Organe der anderen Institutionen kann man den Mitgliedsstaaten nicht entziehen, auch wenn man eine parlamentarische Delegation sanktioniert. 

Würden Sie aus heutiger Sicht sagen, dass der Stimmrechtsentzug gegenüber der russischen Delegation ein Fehler war? 

Ich war zu diesem Zeitpunkt nicht dabei, ich bin erst seit 2016 in der Parlamentarischen Versammlung. Aber die Situation war verständlicherweise sehr emotional, und es war schwierig, das richtige Mass zu finden. Das Generalsekretariat hätte vor diesem juristischen Fehler warnen und von dem Schritt abraten müssen, tat es aber nicht. Die Reglementskommission hatte eine differenzierte Sanktionierung vorgeschlagen, aber die Versammlung beschloss ein bisschen chaotisch eine undifferenzierte Sanktionierung, was zur heutigen Sackgasse geführt hat. 

Wie haben sich die Russen danach verhalten?

Sie haben das ein Jahr ertragen, und sind brav geblieben, um den Kollegen zuzuhören. Im folgenden Jahr haben sie dann aber keine Delegation mehr entsendet. Und seit Mai 2017 bezahlen sie ihre Beiträge für den ganzen Europarat nicht mehr, was Mitte 2019 das oben erwähnte Verfahren auslösen sollte. 

Sind denn solche Sanktionen überhaupt sinnvoll?

Ich bin auch in anderen internationalen Gremien der Meinung, dass Parlamentarier nicht sanktioniert werden dürfen. Parlamente sind keine Regierungsorgane, sondern die Vertretung des Volkes. Parlamentarier sind da, um zu sprechen, sich auszutauschen und nicht, um den Dialog zu verweigern oder sich gegenseitig zu sanktionieren. Dass Regierungen das machen, ist etwas anderes. Sie haben ihre Strategien, sie betreiben Machtpolitik, sie erlassen Sanktionen, wobei deren Wirkung nicht immer bewiesen werden kann.

Was ist Ihr Fazit nach dieser Entwicklung?

Meine persönliche Meinung ist, dass ein Parlament nicht dazu da ist, andere auszuschliessen. Es geht immer um den Dialog zwischen ganz unterschiedlichen Positionen. Die Schweizer Delegation hat in ihrer Stellungnahme festgehalten, dass die Möglichkeit der Sanktionierung erhalten bleiben muss. Aber die Sanktionen müssen zielführend sein, dürfen nicht die unantastbaren Rechte entziehen und müssen mit einer höheren Schwelle versehen werden.

Herr Ständerat Lombardi, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

Debatte im Europarat: «Es ist absurd, wenn Abgeordnete Abgeordnete ausschliessen»

Interview mit Stefan Schennach, österreichischer Bundesrat und Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Bundesrat Stefan Schennach, SPÖ (Bild thk)
Bundesrat Stefan Schennach, SPÖ (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie beurteilen Sie den Ablauf der Debatte heute Nachmittag?

Bundesrat Stefan Schennach Die Sozialdemokraten haben die Resolution gerettet. Es war eine harte Arbeit. Das Ad-hoc-Komitee hat gut gearbeitet. Bis auf zwei Gegenstimmen ist die Resolution durchgegangen, und dann wird so ein Mobbing betrieben. Die Gefahr drohte, dass die Resolution in den Papierkorb wandert. Das haben wir verhindert, weil wir sie vorzeitig in den Ausschuss zurückgeschickt haben. 

Was sagen Sie zur Reaktion der Ukrainer?

Peinlich, nur peinlich.

Man hatte auch in der Debatte das Gefühl, dass die Ukrainer die Diskussion dominieren.

Ja, klar. Das ist die Fortsetzung des Konflikts auf anderer Ebene. Sie glauben, es sei ein Sieg, wenn Russland nicht anwesend ist. Gleichzeitig verlangen sie, dass Russland dieses und jenes alles zu erfüllen hat. Wenn man mit den Russen nicht reden kann, weil sie nicht anwesend sind, dann wird man mit ihnen auch keine Resultate erzielen. 

Wie muss man den Entzug des Stimmrechts der russischen Delegation ganz allgemein betrachten?

Was noch immer absurd ist, dass wir die Abgeordneten rauswerfen, aber nicht die Vertreter der Regierungen. Die russischen Abgeordneten haben mit den Entscheiden der russischen Regierung rein gar nichts zu tun. Man darf nicht vergessen, dass Mitglieder von allen Parteien Herrn Putin höchstens aus dem Fernsehen kennen. Es ist absurd. Wenn Abgeordnete Abgeordnete ausschliessen ist das ein Unsinn.

Wie ist jetzt das weitere Prozedere nach dem heutigen Tag?

Die Resolution rettet sozusagen den Zugang für 150 Millionen Menschen zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Das ist die Anstrengung wert. 

Die Resolution geht zurück in die Kommission. Was ist jetzt deren Aufgabe?

Wir müssen uns bemühen, ein noch grösseres gemeinsames Agreement zu erreichen. Aber die letzte Resolution war schon sehr breit abgestützt, und ich weiss nicht, was wir noch alles machen können, aber wir werden Lösungen finden. 

Das Ziel des Ganzen ist, dass Russ­land wieder in die Parlamentarische Versammlung zurückkommt. 

Ich nehme an, die nächste Diskussion wird um diese Frage erleichtert sein, weil ich nicht glaube, dass Russland im Januar Empfehlungsschreiben für ihre Parlamentarier (Credentials) schicken wird. Damit wäre die Debatte im Januar frei von diesem Druck.

Was bräuchte es, damit diese Resolution am Ende angenommen wird?

Es braucht nicht so viel. Es muss nur der heimliche Gast, nämlich Russland aus dem Spiel sein. Dann wirkt das Argument, es ginge nur darum, dass die Russen im Januar wieder dabei sind, nicht mehr. Damit wäre das Problem schon um die Hälfte reduziert. Auch muss im Juni der Ministerrat entscheiden, was mit Russland gemacht wird. Es gibt eine Regel: Wenn ein Land zwei Jahre nicht bezahlt, wird die Mitgliedschaft beendet. Es gibt hier Verpflichtungen, die man zu einem Zeitpunkt eingegangen ist, als kein Wurm im Kopf war. Diese hat ein Staat zu erfüllen.

Herr Bundesrat Schennach, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

«Kampfdrohnen dienen nicht der Landesverteidigung»

Interview mit Bundestagsabgeordnetem Andrej Hunko, Deutschland

In letzter Zeit hat der Einsatz von Drohnen, insbesondere zur gezielten Tötung, neue Dimensionen angenommen. Heute werden Drohnen verstärkt im Krieg eingesetzt, und zwar nicht nur zur Aufklärung. Erschreckend ist, dass auch unser Nachbarland verstärkt auf Drohnen setzt, aber nicht nur im Bereich der Aufklärung, sondern auch auf Kampfdrohnen, die bewaffnet sind und überall zum Einsatz kommen können. Im folgenden Interview äusserst sich der deutsche Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko zu dieser höchst besorgniserregenden Entwicklung.

Zeitgeschehen im Fokus Welche Bedeutung haben Drohnen bei der deutschen Bundeswehr?

Andrej Hunko Deutschland hat seit längerem grosse Aufklärungsdrohnen, die in Afghanistan und Mali im Einsatz sind. Ausserdem sollen drei riesige Spionagedrohnen gekauft werden. Seit Anfang 2013 ist bekannt, dass die Bundesregierung die Anschaffung von Kampfdrohnen plant. Die Drohnen, die schiessen können, sind dann mit «Wirkmitteln» versehen. Das stiess mehrheitlich immer auf Ablehnung in der Bevölkerung. Ungefähr 65 Prozent waren dagegen. 

Wie ist das zu erklären?

Wohl durch das Vorbild des US-Drohnenkriegs. Dazu kommt noch, dass Kampfdrohnen eine Angriffswaffe darstellen. Sie dienen nicht der Landesverteidigung. Das ist keine Defensivwaffe, sondern dient dem Einsatz in einem anderen Land. Die Drohnen sind auch sehr weit weg im Einsatz, und das senkt die Hemmschwelle der Politiker, einem Einsatz zuzustimmen, weil sie keine eigenen Verluste zu befürchten haben.

Damit ist einem Einsatz Tür und Tor geöffnet.

Ja, es führt zu einer Entgrenzung des Krieges, und zwar zeitlich und räumlich. Diese Auseinandersetzung führen wir seit vielen Jahren. Die Bundesregierung, die Koalition aus SPD und CDU/CSU, hat beschlossen, Kampfdrohnen anzuschaffen.

Wo werden diese Drohnen beschafft?

Die Regierung hat jetzt einen Vertrag mit dem Rüstungskonzern Airbus zum Leasing von Kampfdrohnen einer israelischen Firma abgeschlossen. Diese sollen dann auf einem militärischen Stützpunkt in Israel stationiert werden. Die deutschen Soldaten werden dort eingewiesen und trainieren an solchen Drohnen, dafür gibt es einen weiteren Vertrag mit der Regierung in Tel Aviv.

Wo sollen denn die Drohnen eingesetzt werden?

Im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika, dort, wo die Konflikte und Kriege ausgetragen werden, von Syrien bis Mali, und dort, wo man Bodenschätze findet. Die Drohnen werden dann aus Israel dorthin geschafft.

Wann wurde das beschlossen?

Das wurde jetzt im Sommer beschlossen, und der Leasingvertrag kostet 1 Milliarde Euro. Das ist aber nur eine Übergangslösung. Bis in ein paar Jahren, etwa 2025, soll eine eigene europäische Kampfdrohne gebaut werden. Das ist die Planung der Bundesregierung.

Hat die Bevölkerung ihre Meinung geändert?

Nein, sie ist nach wie vor dagegen und unsere Partei natürlich auch. Aber es findet keine Diskussion in der Öffentlichkeit statt. Man liest vielleicht ab und zu einen kleinen Artikel dazu. Aber das Ganze wird nicht in der Breite bekannt.

Wozu führt diese Umrüstung auf Drohnen?

Es ist ein weiterer Schritt in Richtung Automatisierung des Krieges. Wir haben ein grosses Problem, dass es eine sprunghafte Entwicklung zur Automatisierung des Krieges gibt. Systeme wie Kampfdrohnen werden manchmal nur als teilautonomes System angesehen, weil der Abschuss einer Rakete am Ende noch von Menschen entschieden wird. Das ist aber nur der Beginn der Entwicklung, am Schluss haben wir Kampfroboter, und der Mensch ist in der einmal ausgelösten Routine eines Angriffs gar nicht mehr vorhanden.

Wie reagiert die Bundesregierung darauf?

Sie beschwichtigt, dass eine Kampfdrohne nichts anderes sei als ein Kampfflugzeug. Einen automatisierten Krieg will sie auch nicht. Aber das ist nur ein taktischer Trick. Die Entwicklung geht verheerend schnell in die Richtung der automatisierten Kriegsführung.

Gibt es bei der Uno Bestrebungen, den Einsatz von Drohnen zu begrenzen?

Es gab vor etwa einem Monat eine Konferenz, die gescheitert ist und ergebnislos vertagt wurde, um dazu eine Konvention zu verabschieden. Die LINKE verlangt in Bezug auf Kampfdrohnen eine internationale Konvention, die weltweit Kampfdrohnen ächtet. Drohnen können z. B. im Umweltschutz nützlich sein, dürfen aber nicht gegen Menschen eingesetzt werden.

Ist es verfassungsmässig bzw. rechtlich zulässig, dass Drohnen in Israel stationiert sind und von dort aus zum Einsatz kommen?

Die Stationierung ist in einem Regierungsvertrag mit Israel geregelt, alle Details dazu sind geheim. Dort geht es nämlich auch um die Bewaffnung. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994 sind die Auslandseinsätze als verfassungskonform beschrieben worden, wenn sie vom Parlament beschlossen werden. Auf der einen Seite hat man hier die Verfassung aus meiner Sicht extrem interpretiert, denn in der Verfassung ist nur die Landesverteidigung erwähnt, Angriffskriege sind völlig verboten.

Wie hat das Gericht das begründet?

Diese Entwicklung zu internationalen Militäreinsätzen seit 1994 wurde mit Bündnisstrukturen bzw. solchen Aussagen wie «Deutschland wird am Hindukusch verteidigt», ein berühmter Satz des ehemaligen SPD-Bundesverteidigungsministers Hans Struck, begründet. Das Verfassungsgericht hat das traurigerweise akzeptiert, jedoch mit dem Parlamentsvorbehalt.

Ist das eine reale Bremse?

Bisher gab es 250 Parlamentsentscheide zu Kampfeinsätzen, von denen keiner von der Mehrheit des Parlaments abgelehnt wurde. Das spricht für sich.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

«Nord Stream 2»

Europa als Schauplatz eines geopolitischen Wirtschaftskonflikts

von Fritz Edlinger, Chefredaktor der österreichischen Zeitschrift «International»

Die politische Situation in ­Europa ist – knapp 25 Jahre nach der Implosion der Sowjet­union – nach wie vor damit konfrontiert, sich mit Problemen und Konflikten, welche ihre Ursachen in den Jahrzehnten mehr oder minder ungehemmter sowjetischer Dominanz sowie des Kalten Krieges haben, beschäftigen zu müssen. Manche sind aufgrund der Ost-Erweiterung der EU bereits interne EU-Probleme, andere spielen sich in den Randzonen des «vereinten» Europa ab.

Eine Gaspipeline als geo- und wirtschaftlicher Zankapfel (Grafik zvg)

Eine Gaspipeline als geo- und wirtschaftlicher Zankapfel (Grafik zvg)

 

Das klassische Beispiel dafür ist der nach wie vor ungelöste Ukraine-Konflikt, es gibt aber noch jede Menge ähnlicher Probleme. Eines der von seiner geopolitischen Bedeutung und auch von den finanziellen Implikationen her betrachtetes Problem betrifft die Energieversorgung Europas. Das vom russischen Staatskonzern Gazprom präsentierte Projekt «Nord Stream 2» soll die bestehende Gaspipeline, welche seit Jahren Teile Europas mit billigem russischem Erdgas versorgt, wesentlich erweitern und damit zusätzliche Kapazitäten schaffen. 

«Nord Stream 2» – Befürworter und Gegner

Das Projekt ist derzeit im allerletzten Planungsstadium, mit dem Bau soll in wenigen Monaten begonnen werden. Hinter Gazprom hat sich eine beachtliche Anzahl von europäischen Energiekonzernen wie Royal Dutch Shell, Wintershall, die Belgische und die Tschechische Gasvereinigung, NV Nederlands Gasunie, die französischen Engie, GRT Gaz und Uprigas sowie die österreichische OMV versammelt. Dagegen haben sich bislang – neben der EU-Kommission – die Central Europe Energy Partners, einige Umweltorganisationen, in erster Linie polnische Organisationen, ausgesprochen. Die Ukraine ist, da sie den Grossteil der gegenwärtig verrechneten Transitgebühren für russisches Erdgas verlieren würde, ebenfalls vehement gegen das Projekt. Einen offiziellen Einspruch gegen einen derzeit heftig debattierten Gesetzesvorschlag der EU-Kommission, der den Bau der Pipeline verhindern möchte, hat man mangels formalrechtlicher Möglichkeit als Nicht-EU-Mitglied nicht einbringen können. Dafür lobbyieren – in erster Linie wohl aus politischen Gründen – besonders transatlantisch eingestellte europäische Politikerinnen und Publizisten und nehmen damit nicht nur eine massive energiepolitische Abhängigkeit von den USA, sondern auch zu weitaus höheren Kosten für die europäischen Konsumenten in Kauf. Die rechtlichen Chancen für die Durchführung des Projektes haben sich zuletzt wesentlich verbessert, da sich der juristische Dienst des EU-Rates gegen den Vorschlag der EU-Kommission ausgesprochen hat. Die Kommission ist der Ansicht, dass mit dem Plan Russlands, verstärkt Gas über die Ostsee nach Deutschland zu pumpen, die traditionellen Routen über das Territorium des potentiellen EU-Beitrittskandidaten Ukraine umgangen werden können. Damit würden die Bemühungen der EU zu einer Verringerung der Abhängigkeit von Gaslieferungen aus Russland sowie auch ihre Unterstützung für Kiew untergraben. Obwohl der Disput zwischen Kommission und dem juristischen Dienst des Rates sich vordergründig um formalrechtliche Dinge dreht, verstecken sich dahinter ganz handfeste politische, wirtschafts- und energiepolitische Interessen. Und diese haben sehr viel mit der Energiepolitik der USA zu tun .

Russland und USA kämpfen um den europäischen Gasmarkt

Neben geopolitischen Gründen haben die USA massive wirtschaftliche Interessen, stärker in den europäischen Gasmarkt einzudringen.¹ 2017 war das Jahr der amerikanischen Gasexporteure. Dank neuer Terminals in Grossbritannien und Polen konnten die USA ihren Marktanteil auf dem EU-Gasmarkt von 0,6 % auf mehr als 5 % erhöhen. Das sollte aber nur der Anfang sein. In den nächsten zwei Jahren werden in den USA Exportterminals in Betrieb genommen, mit denen theoretisch rund ein Viertel des EU-Marktes beliefert werden könnte. Und wenn 2030 in den USA die volle Kapazität zur Verfügung steht, könnten die US-Exporteure mehr als die Hälfte der EU-Gasimporte abdecken und damit die russischen Gaslieferungen voll substituieren. In diesem Zusammenhang drängt sich also durchaus der Gedanke auf, dass es bei US-amerikanischen Sanktionen gegen Russland nicht nur um die Ukraine und die Krim geht, sondern um ganz konkrete wirtschaftliche Interessen. Es geht also sehr wohl auch um Marktanteile und viele Milliarden Euro, die gänzlich unsolidarisch von den europäischen Gaskunden aufgebracht und künftig nicht mehr nach Moskau, sondern an die Wall Street fliessen sollen.

Europas Erdgas Nachfrage und das künftige Erdgas-Angebot der USA

(Grafik zvg)

Um den Hintergrund des kommenden Gaskrieges zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf folgende Grafiken: Die Daten stammen aus der aktuellen Ausgabe der CRA-Insight-Analyse, die sich dem Thema US-Flüssiggas-Exporte für den europäischen Markt gewidmet hat. Demnach stehen in den USA momentan ohnehin nur Exportkapazitäten in Höhe von 19 Milliarden Kubikmeter pro Jahr zur Verfügung, die vom LNG-Terminal «Sabine Pass» stammen, das am Golf von Mexiko liegt und ursprünglich für den Gasimport projektiert wurde. Doch dank des Fracking-Booms sind die USA von einem Importeur zu einem der grössten Gas-Exporteure geworden und haben binnen kürzester Zeit Exportkapazitäten aufgebaut, die ihresgleichen und vor allem Kunden suchen. Spätestens, wenn in diesem Jahr die Terminals in Cove Point/Maryland, Freeport/Texas, Corpus Christ/Texas und Cameron/Louisiana in Betrieb gehen, steht den USA eine gigantische Infrastruktur zur Verfügung, mit der die Unmengen von Fracking-Gas, für das es momentan keine Abnehmer gibt, verflüssigt und dann mit Tankern exportiert werden können. Rein theoretisch könnten die USA bereits Ende dieses Jahres den kompletten deutschen Gasmarkt abdecken und zusammen mit den bereits genehmigten Investitionen würde es sogar zusätzlich noch für den zweitgrössten EU-Gasmarkt in Grossbritannien reichen.

«Auf dem freien Markt hätte US-Gas in Europa keine Chance»

Das Ganze hat jedoch zwei entscheidende «Schönheitsfehler». Zunächst einmal ist es weder ökologisch noch ökonomisch sinnvoll, Gas zuerst mit einem hohen Energieeinsatz zu verflüssigen, dann mit dem Tanker um die halbe Welt zu transportieren und am Zielhafen wieder in Gasform in Pipelines einzuspeisen. Momentan kostet eine Verrechnungseinheit (MMBTU) Erdgas in den USA (Henry Hub) rund 2,85 US-Dollar. Transportiert man dieses Gas als LNG nach Europa, kostet es am Terminal bereits mehr als das Doppelte, über sechs US-Dollar. Zum Vergleich: Der Monopolpreis der Gazprom für russisches Erdgas aus der Pipeline liegt je nach Endkunde meist leicht unter fünf US-Dollar. Auf einem freien Markt hätte US-Gas in Europa also keine Chance.

Wer diese Informationen im Hinterkopf hat, versteht die aktuellen politischen Vorgänge in Europa und die Spannungspolitik der USA und ihrer Verbündeter wahrscheinlich besser. Ohne die Sanktionen gegen Russland hätten die US-Exporteure wohl nie einen Fuss in den mittel- oder osteuropäischen Markt setzen können. Die vorhandenen LNG-Terminals in Grossbritannien, Frankreich, Spanien und den Niederlanden sind bereits recht ordentlich ausgelastet und bieten auch nicht die freien Kapazitäten für die geplanten US-Exporte. Nun hat im polnischen Swinemünde ein LNG-Terminal mit einer Kapazität von bis zu 7,5 Milliarden Kubikmeter pro Jahr den Betrieb aufgenommen und im lettischen Riga entsteht momentan ein LNG-Hub für das Baltikum. Aber selbst damit wären die freien US-Kapazitäten, die bereits in diesem Jahr zur Verfügung stehen, noch nicht einmal im Ansatz ausgelastet. 

Deutschland und Italien im Fokus der USA

Im Zentrum der Interessen der US-Konzerne stehen daher zwei Märkte, die zusammen mit fast 180 Milliarden Kubikmeter Nachfrage der Kernmarkt für US-Exporte sein könnten – Deutschland und Italien.

Interessanterweise sind diese beiden Länder momentan auch mitten im Fokus von scharfen Auseinandersetzungen rund um Pipeline-Projekte mit russischer Beteiligung. Geht es in Italien um den «südlichen Gaskorridor» mit den geplanten Projekten «Trans-Adria-Pipeline», «Turkish Stream» und «South Stream», geht es in Deutschland vor allem um «Nord Stream 2», die Parallelleitung zur bereits vorhandenen und fast vollständig ausgelasteten Ostseepipeline «Nord Stream». Es geht aber auch um viele Milliarden Euro Transitgebühren. Die Ukraine kassiert Jahr für Jahr rund drei Milliarden Euro Gebühren, die letztlich auf den Gaspreis geschlagen und von den Endkunden in den westeuropäischen Ländern bezahlt werden müssen. Polen kassiert Transitgebühren in ähnlicher Grössenordnung. Wenn nun also transatlantisch orientierte europäische Parlamentarier an die «europäische Solidarität» appellieren, so ist dies verlogen. Warum sollte es denn zur «europäischen Solidarität» gehören, wenn Europäer über ihre Heizungskosten indirekt die Ukraine finanzieren sollen? Ökonomisch ist amerikanisches Fracking-Gas in Europa nicht wettbewerbsfähig. Vor allem die wichtigen und grossen deutschen und italienischen Märkte werden sich daher nur politisch erschliessen lassen. Genau dies ist eines der Ziele der US-Sanktionen gegen Russland, die törichterweise auch von der EU übernommen wurden. Und der Krieg hinter den Kulissen nimmt Fahrt auf. Sowohl die USA als auch die EU-Kommission und transatlantisch orientierte europäische Politiker haben nun zum Frontalangriff auf «Nord Stream 2» geblasen und dabei sogar deutsche Umweltschützer eingespannt, die nun paradoxerweise Seite an Seite mit der Fracking-Lobby antreten. Es ist jedoch anzunehmen, dass auch dies nur das Vorspiel zum eigentlichen Konflikt ist, bei dem es darum gehen wird, die russischen Erdgasexporte in die EU ins Visier zu nehmen.

Dies könnte jedoch politisch, ökologisch und auch ökonomisch ein gefährlicher Bumerang werden. Energieexperten gehen davon aus, dass es durch Marktbereinigungen und den geplanten Abbau von Überkapazitäten auch in den USA mittelfristig zu Preissteigerungen beim Erdgas kommen wird. In fünf Jahren könnte der US-Gaspreis demnach die Fünf-Dollar-Grenze überschreiten, was für die europäischen Kunden der US-Konzerne aufgrund des immens teuren Transports nahezu eine Verdoppelung der Gaspreise bedeuten würde. So oder so – den Preis für den kommenden Gaskrieg werden die Endkunden im «Kriegsgebiet» zahlen… und das sind die Europäer. Eine von US-Interessen unabhängige, eigenständige Energiepolitik ist wichtiger denn je.

Quelle: «International. Die Zeitschrift für internationale Politik», 1/2018

¹ Die folgenden Ausführungen stellen teilweise wörtliche Zitate eines Berichts von Jens Berger in der deutschen Internetplattfom «NachDenkSeiten» dar. Dort ist am 02.03.2018 ein Aufsatz unter dem Titel «Der kommende Gaskrieg zwischen den USA und Russland» publiziert worden. www.nachdenkseiten.de 

Die grosse Wirkung von verbessertem Saatgut

DEZA-Projekt für Tschad

von Jens Lundsgaard-Hansen

Ohne fremde Hilfe können sich im Tschad mehrere Millionen Menschen nicht ernähren. Die landwirtschaftliche Produktion ist gering, es fehlt an Strukturen, und oft bleibt der Regen aus. Ein DEZA-Projekt will ein nationales Saatgutsystem aufbauen und den Bauernfamilien zu besserem Saatgut verhelfen.

Im Rahmen des DEZA-Projekts im Süden des Tschads überprüfen diese Bäuerinnen die Qualität des Samens. © Mahamat Guihini Dadi/DEZA

Im Rahmen des DEZA-Projekts im Süden des Tschads überprüfen diese Bäuerinnen die Qualität des Samens. © Mahamat Guihini Dadi/DEZA

 

«Die Suche der Bäuerinnen und Bauern nach qualitativ gutem Saatgut ist heute meist vergebens», stellt Mahamat Guihini Dadi, DEZA-Mitarbeiter im Tschad, nüchtern fest. Auf den lokalen Märkten findet sich kaum etwas zu kaufen, die Produktion und das Angebot im ganzen Land sind gering. Die ganze Saatgutkette – von der Entwicklung neuer Sorten, über deren Produktion bis hin zu Qualitätskontrolle, Verteilung und Vertrieb – funktioniert schlecht oder gar nicht.

Geprägt von Armut und Hunger

Diese Lücke ist fatal. Allein mit qualitativ gutem Saatgut liesse sich die Produktion von Getreide um über 20 Prozent steigern. Das wäre dringend notwendig: Gemäss Welthungerindex besteht im Tschad eine «Hungersituation», das Land liegt weltweit auf Platz 2 der Negativskala, zwei Drittel der 14 Millionen Menschen leben in starker Armut.

«Letztes Jahr war etwa ein Viertel der Bevölkerung auf externe Unterstützung angewiesen, um sich zu ernähren», sagt Mahamat Guihini Dadi. «Die Lage scheint sich eher zu verschlechtern als zu verbessern.»

Die Gründe für die verbreitete Unterernährung sind auch im Tschad vielfältig. Der Klimawandel scheint die Tendenz zu Dürren und Trockenheit zu verstärken. Früher fiel in einem von zwei oder drei Jahren genügend Regen, heute ist dies vielleicht in einem von vier Jahren der Fall. Doch die Natur ist nicht der alleinige Grund dafür, dass die Menschen hungern. Die schwache landwirtschaftliche Produktion und Produktivität haben auch mit unzureichenden Methoden, ungenügender Ausbildung und schlechten Arbeitsgeräten der Bäuerinnen und Bauern zu tun. Wer bitterarm ist, kann auch nicht investieren. Und wo Strukturen fehlen oder unklar sind, wie dies beim Saatgut der Fall ist, funktioniert das System als Ganzes nicht. 

Tragfähige Kette aufbauen

Das Ziel des von der DEZA finanzierten Projekts ist deshalb klar: Es soll eine funktionierende Saatgutkette aufgebaut werden, damit die Bäuerinnen und Bauern, die am Schluss der Kette stehen, über qualitativ besseres Saatgut verfügen. Dieses wird in den schwierigen klimatischen Verhältnissen und im Kampf gegen den Hunger grössere Ernten und höhere Einkommen ermöglichen.

Momentan besteht die Kette aus vielen nur dürftig oder überhaupt nicht funktionierenden und schlecht verknüpften Gliedern. Auch aus diesem Grund hat das Projekt vergangenes Jahr das tschadische Landwirtschaftsministerium dabei unterstützt, den gesetzlichen Rahmen für eine geordnete Saatgutkette zu schaffen. Dazu gehört unter anderem ein nationaler Aktionsplan für die Produktion und den Vertrieb von Saatgut. Beim landwirtschaftlichen Forschungsinstitut ITRAD stehen die Ausbildung der Mitarbeitenden sowie die Entwicklung neuer Saatgutsorten im Vordergrund. Zusätzlich sollen für die Qualitätsanalyse und -kontrolle effiziente Instrumente und Methoden eingeführt werden. Auf regionaler Ebene müssen landwirtschaftliche Betriebe die neuen und besseren Sorten herstellen und Vertriebskanäle entwickeln, die bis in die Dörfer und zu den Bauernfamilien reichen. Und diese schliesslich müssen dazu übergehen, neues und qualitativ besseres Saatgut auch einzusetzen.

«Es geht darum, Fähigkeiten und Instrumente aufzubauen, Rollen und Zuständigkeiten zu klären und Prozesse zu etablieren, die sich zuerst einmal einspielen müssen, um später autonom zu funktionieren», fasst Mahamat Guihini Dadi den anspruchsvollen Prozess zusammen. Es geht um Theorie und die Definition von neuen Arbeitsinstrumenten und -abläufen, aber auch um die konkrete Praxis: Die Projektverantwortlichen begleiten und unterstützen die Aktivitäten der verschiedenen beteiligten Instanzen, es werden Texte und Checklisten formuliert, Ausbildungen angeboten und durchgeführt, Zuständigkeiten geklärt und Formen der Zusammenarbeit eingeführt.

Frauen und Kinder im Fokus

Neben dem strukturellen, administrativen und ausbildungsbezogenen Aufbau trägt das Projekt auch bereits bei der Produktion von Saatgut Früchte. Im südlichen Tschad beispielsweise produzieren inzwischen verschiedene Frauengruppen verbessertes Saatgut und verkaufen es anschliessend auf den Märkten. Mit dem erzielten Einkommen sichern sie die Ernährung und den Schulbesuch ihrer Kinder. 

«Das Projekt fokussiert denn auch gezielt auf Frauen und junge Menschen», so Mahamat Guihini Dadi. Dies aus zwei ganz konkreten Gründen: Zum einen sind schwangere Frauen und Kinder übermässig vom Hunger betroffen. Zum anderen sind es oft die Frauen, die in den Dörfern bleiben, die landwirtschaftliche Produktion aufrechterhalten und im Bereich Saatgut über grosses Wissen verfügen. Die Männer hingegen ziehen in die Städte, um Arbeit zu finden.

Quelle: EINE WELT 01/2018

 

Riesiges Land, vernetztes Projekt

Die Republik Tschad zählt rund 14 Millionen Einwohner und ist flächen­mässig etwa so gross wie Deutschland, Frankreich und Italien zusammen. Das Projekt der DEZA zum Aufbau einer Saatgutkette im Tschad ist im Norden und Süden des Landes aktiv. Die erste Projektphase endet 2018, eine zweite Phase ist in Vorbereitung. Dabei sind eine Erweiterung des Projekts und der Einbezug der EU und Deutschlands als Finanzierungspartner denkbar. Die Weltbank hat bereits ein eigenes Projekt gestartet, welches die Wirkung des DEZA-Projekts verstärken soll. 

 

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