«Der Föderalismus ist für die normale, die besondere und die ausserordentliche Lage tauglich»

Interview mit Dr. iur. Christian Rathgeb*, Regierungspräsident des Kantons Graubünden

Dr. iur. Christian Rathgeb (Bild zvg)
Dr. iur. Christian Rathgeb (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Welche Bedeutung hat der Föderalismus geschichtlich gesehen für unser Land?

Regierungspräsident Christian Rathgeb Die geschichtliche Bedeutung des Föderalismus ist in unserem Land sicher gross. Die dezentralen Strukturen, die dezentrale Selbstverwaltung hat Tradition. Das verdeutlicht der grösste Kanton in der Schweiz, der Kanton Graubünden, ganz besonders. Unser Kanton war bis zum Beitritt zur Eidgenossenschaft im Jahre 1803 ein Staatenbund mit rund 50 kleinen Staaten, die bis zur Blutgerichtsbarkeit autonom waren. Der Föderalismus hat in unserem Staat eine Geschichte bis weit zurück ins Mittelalter.

Inwieweit hat der Föderalismus eine Bedeutung für die vier Sprachregionen?

Die verschiedenen Sprachregionen bedeuten Vielfalt, bedeuten kulturellen Mehrwert. Zum Teil sind die einzelnen Sprachregionen nochmals unterteilt. Das Romanische kennt fünf Idiome. Das sind eigentlich fünf unterschiedliche romanische Sprachen. Dezentrale Strukturen und eine dezentrale Verwaltung fördern, dass eine Sprache ein gewisses Mass an Autonomie, eine gewisse Selbstständigkeit besitzt, was auch Respekt verlangt, da in dieser Sprache geschrieben und gesprochen wird. Der Föderalismus ist sicher dienlich zur Erhaltung der Mehrsprachigkeit und zur Förderung von Minderheitssprachen.

Sie haben die Vorteile im Kulturellen und Sprachlichen als wichtige Aspekte des Föderalismus hervorgehoben. Aber ist er auch sinnvoll im Politischen, indem die Kantone eigene Regierungen, Parlamente mit eigener Gesetzgebung und mit eigenen Gerichten besitzen?

Ich glaube, es ist sehr sinnvoll, dass wir noch heute in den damaligen Gliedstaaten, den Kantonen, eigene politische Systeme haben. Das ermöglicht Bürgerinnen und Bürgern, am politischen Prozess teilzuhaben und mitwirken zu können. Es erlaubt aber auch, dass sich lokale und regionale Unterschiede in den gesetzlichen Grundlagen abbilden können. Wenn man sieht, dass die Gesetzgebung in den Kantonen rund 60 bis 70 Prozent Anschlussgesetzgebung an Bundesrecht darstellt, so ist es doch ganz wichtig, dass die regionalen Befindlichkeiten dort Eingang finden.

Nach Ihren Ausführungen ist der Föderalismus das «System der Schweiz». Dennoch mehren sich in letzter Zeit die Angriffe auf den Föderalismus. Was sind die Motive hinter diesen Angriffen?

Es ist in der Tat so, dass in den letzten Monaten und Jahren der dezentrale Ansatz in Frage gestellt wird. Der Zentralismus und der «Einheitsbrei» liegen irgendwie im Trend. Das ist sicher nicht richtig, weder in der normalen Lage noch in der Krise. In unserem Land hat der Föderalismus Tradition. Er motiviert die Bürgerinnen und Bürger, sich zu engagieren, um in der Region mitzuarbeiten und so Erfolg zu ermöglichen. Der Föderalismus gewährleistet auch, dass Massnahmen eines Staates umgesetzt werden können.

Haben Sie hier ein konkretes Beispiel?

Das sehen wir ganz aktuell in der Corona-Krise. Wir konnten sehr rasch die finanzielle Hilfe den Betroffenen zukommen lassen. In zentralistischen Staaten wurde viel versprochen, aber das Geld ist nie bei den Bürgerinnen und Bürgern angekommen. Der Föderalismus ist umsetzungsstark. Er ist aber auch «lernfähig». Ein Kanton ergreift Massnahmen wie z. B. der Kanton Wallis. Andere Kantone übernehmen diese Massnahmenpakete in der Corona-Krise, so auch mein Kanton. Wir können voneinander lernen und profitieren. Die Angriffe auf den Föderalismus sind sehr populistisch, weil es populärer ist, alles gleich zu machen und zentral zu regieren. Mehr sehe ich nicht dahinter.

Sie haben die Bedeutung des Föderalismus für das Mitwirken der Bürgerinnen und Bürger erwähnt. Einen wesentlichen Bestandteil bildet dabei auch die Gemeindeautonomie. Inwieweit bedingen sich die beiden demokratischen Ebenen?

Es ist gut, wenn man den Föderalismus im Zusammenhang mit der Gemeindeautonomie erwähnt, die eine grosse Bedeutung hat. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen einen Ansprechpartner auf der untersten staatlichen Ebene, dort, wo man die Exponenten kennt. Und umgekehrt ist es für die Verantwortungsträger in einer Gemeinde wichtig, die Sorgen und Nöte und somit die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger zu kennen. Bei vielen Fragen ist die Gemeinde für die Umsetzung zuständig. Es ist wichtig, dass sie nicht Verwaltungsvollzugsorgane sind, sondern dass die Gemeinden in der politischen Umsetzung eine gewisse Autonomie besitzen. Das ist attraktiv für die Amtsträger und für die Bürgerinnen und Bürger. Es führt aber auch dazu, dass lokal Lösungen gefunden werden, die für die jeweilige Gemeinde am besten passen. Es braucht gute funktionsfähige Gemeinden, die für die Bürgerinnen und Bürger die erste Ansprechebene bilden.

Ich möchte kurz auf die Corona-Krise zu sprechen kommen, denn hier wurden wieder Stimmen laut, die den Föderalismus in Frage stellen und behaupten, er sei bei der Bekämpfung gerade dieser Krankheit eher ein Hindernis als eine Hilfe.

Ich sehe, dass es diese Stimmen gibt, muss aber zunächst vorausschicken, dass bereits unsere Bundesverfassung sagt, Bund und Kantone sollen sich gegenseitig in der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen und gut zusammenarbeiten. Es ist jedoch kein Gegensatz zum Föderalismus, wenn die Kantone einmal, gerade in einer «ausserordentlichen Lage», vorübergehend auf Kompetenzen verzichten und einheitliche Lösungen in den Vordergrund stellen. Föderalismus bedeutet nicht stures Festhalten an Kompetenzen, sondern ist auch Flexibilität. Es ist ein System, das ermöglicht, dezentral, lagebezogen zu legiferieren und geeignete Massnahmen umzusetzen. Es ist auch ein System, bei dem es Sinn macht, einheitliche Lösungen zu implementieren.

Wo war das konkret zu erkennen?

Während der Covid-Krise war beispielsweise beim Fernverkehr und bei Grenzsituationen immer klar, dass es einheitliche Regelungen geben soll. Aber in Zeiten, als es in Genf sehr viele Ansteckungen gab und im Kanton Appenzell keine, war es richtig, unterschiedliche Regelungen zu treffen. Diese werden auch verstanden und deshalb akzeptiert. Der Föderalismus funktioniert in der Krise. Man muss aber die Instrumente, die er bietet, entsprechend zum Einsatz bringen. Wenn man sagt, die aktuelle Krise sei ein Fitnesstest oder ein Stress­test für den Föderalismus, dann stimmt das so.

Würden Sie sagen, der Föderalismus hat den Stresstest bestanden?

Es ist eine Fitnesskur für den Föderalismus, und wir haben dabei viel gelernt, z. B. dort, wo wir Mängel feststellen. Z. B. hängen bei einem integralen Krisenmanagement, das gesamtheitlich und das vorausschauend ist, diese Mängel nicht mit dem System zusammen. Sie sind nicht systembedingt, und darum muss man hier auch sauber differenzieren, wenn man Kritik übt. Da kann man berechtigte Kritik an gewissen Vorgehensweisen üben, an der Art und Weise, wie das Krisenmanagement aufgestellt ist, da es zu wenig antizipativ ist. Dort darf man das aber nicht mit dem Föderalismus vermischen. Der Föderalismus als Staatsprinzip, als Organisationsstruktur, der ist für die normale, die besondere und ausserordentliche Lage tauglich, aber man muss innerhalb dieses Prinzips fit sein. Insofern glaube ich, das Staatsprinzip Föderalismus hat sich bewährt, aber nicht alles, was darin oder damit gemacht wurde.

Was würde verlorengehen, wenn wir keinen Föderalismus mehr hätten?

Der Hauptpunkt, der verloren ginge, wäre die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger. Wir haben die Möglichkeit, auf tiefer staatlicher Ebene, auf Gemeindeebene, auf regionaler Ebene, auf Kantonsebene und etwas weniger auch auf Bundesebene mitzuwirken. Wenn wir auf ein anderes System, ein zentralstaatliches oder einheitsstaatliches, übergehen würden, dann fiele die Möglichkeit der direkten Mitsprache weg. Es gäbe nur noch dezentrale Verwaltungs- und Vollzugseinheiten, aber die Mitwirkung wäre nur noch national möglich, mit kaum einer Chance, selbst aktiv zu sein. Ich schätze es, wenn wir auf kommunaler und kantonaler Ebene alle in diesem Staatswesen mitmachen, mitregieren und mitwirken können. Das ginge sicher alles mit dem Ende des Föderalismus verloren.

Welche Funktion hat die Konferenz der Kantonsregierungen, deren Präsident Sie sind?

Die Konferenz ist an und für sich eine Plattform für die Kantone, für die Kantonsregierungen, aber nicht nur, sondern für die Kantone ist sie der Ansprechpartner für den Bund und auf der anderen Seite der Botschafter der Kantone beim Bund. Insofern ist sie ein Instrument, in dem die Kantone ihre Interessen auf Bundesebene vertreten und der Bund bei Anliegen, die alle Kantone betreffen, einen Ansprechpartner hat.

Es ist doch ein grosser Vorteil, dass die Kantone eigenständig Massnahmen ergreifen können…

Das sehe ich auch so. Es ist wichtig, in solch einer Krise unterschiedliche Massnahmenpakete auf die Lage bezogen verhängen zu können. Wenn ein Kanton sehr viele Ansteckungen hat, braucht er andere Massnahmen als ein Kanton mit wenigen oder gar keinen. Wenn allerdings die Lage praktisch in allen Kantonen gleich ist, dann ist es auch sinnvoll, dass man die gleichen Massnahmen anwendet.

Wo sehen Sie Verbesserungspotential?

Was sehr wichtig ist und noch besser gemacht werden muss, ist, dass sich die Kantone regional untereinander absprechen, gerade dort, wo wir enge Verhältnisse haben. Wenn also im Kanton Basel-Stadt und Basel-Land unterschiedliche Regelungen bestehen, dann haben die Bürgerinnen und Bürger wenig Verständnis, warum man auf der einen Strassenseite die Restaurants offenhält und auf der anderen Strassenseite die Restaurants geschlossen sind. Das sind Situationen, die nicht nachvollziehbar sind und zu fehlender Akzeptanz führen. Also, wichtig ist, dass unter den Kantonen die Massnahmen koordiniert und abgesprochen werden. Aber im Grundsatz sollen die Kantone die Möglichkeiten haben, lagespezifisch vorzugehen.

Herr Regierungspräsident Rathgeb, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

*Christian Rathgeb ist Rechtsanwalt und seit 2012 Regierungsrat des Kantons Graubünden. Für das Jahr 2020 ist er Regierungspräsident. Seit Juni 2020 präsidiert er auch die Konferenz der Kantonsregierungen.

 

Vorwärts in die Vergangenheit

Die Welt hat sich mit schwindelerregender Dynamik verändert. Wenn wir ehrlich sind, für die allermeisten unserer Zeitgenossen bringt das hohe Tempo auch etwas Bedrohliches mit sich. 

Bedrohlich, weil wir viele Hintergründe dieser Veränderungen weder verstehen noch nachvollziehen 

können. Zu oft fehlen Transparenz und eine der Sachlage angemessene öffentliche Diskussion. Es geschieht einfach, und Widerspruch ist nicht erwünscht. Erleichterung und gegenseitiges Verständnis beginnen mit einem offenen, ehrlichen ­Dialog. Andere Meinungen und Ansichten werden aufgenommen, reflektiert und, sollten ­Meinungskorrekturen notwendig sein, auch akzeptiert. Wäre es nicht an der Zeit, ganz der schweizerischen Tradition entsprechend, den Menschen in unserem Land wieder vermehrt Gehör zu schenken, unterschiedliche Standpunkte entgegenzunehmen, ­auszudiskutieren und damit der direkten Demokratie den Respekt entgegenzubringen, den sie seit der Gründung der Eidgenossenschaft mit Recht für sich beansprucht?

Reinhard Koradi

Die Schweiz steht vor Fragen, welche die direkte Demokratie essentiell betreffen

Mit Referendum und Volksinitiative können Bürgerinnen und Bürger politische Entscheidungen beeinflussen

von Thomas Kaiser

Die Medien berichten nur noch über eines: Corona rauf, Corona runter. Ein Thema dominiert den medialen Blätterwald und sein elektronisches Pendant. Nach den neulich vom Bundesrat erlassenen Massnahmen wird alles andere in den Hintergrund gestellt. Dabei steht die Schweiz vor schwerwiegenden Entscheiden, die, wenn man nicht rechtzeitig den Fokus darauf legt, ein böses Erwachen nach der Corona-Krise bedeuten können. 

Unser direktdemokratisches Land, ein Unikat unter den Demokratien, bietet seinen Bürgern ein hohes Mass an Freiheit und politischer Selbstbestimmung. Schon während seiner Entstehungsgeschichte stellte die Auseinandersetzung um die Ausgestaltung der Demokratie ein grosses Spannungsfeld gegensätzlicher Vorstellungen dar, wie der Schweizer Historiker Oliver Zimmer in seinem neusten, sehr lesenswerten Buch «Wer hat Angst vor Tell»¹ schreibt: «In vielen Teilen Europas manifestierte sich das Spannungsfeld zwischen Liberalen und Demokraten über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg. Die Schweiz liefert dafür reichlich Anschauungsmaterial.» (S. 42)

«Liberale Globalisten» versus «nationaldemokratisch gestimmte Liberale»

Die hier angedeutete Auseinandersetzung begleitet die Schweiz bis heute. Im Gegensatz zu den anderen europäischen Nationen ist es im 19. Jahrhundert der demokratischen Bewegung der Schweiz, die sich vornehmlich auf dem Land entwickelte, gelungen, einen direktdemokratischen Staat zu etablieren, der zu Recht einen Sonderfall in der Landschaft der demokratischen Staatsformen bildet.²

Die Auseinandersetzung um die Frage der angemessenen Staatsform und der Ausgestaltung der Volksrechte, die auch im 19. Jahrhundert den Diskurs bestimmt hat, wird heute neben innenpolitischen Themen auch in der Aussenpolitik, insbesondere der EU-Politik der Schweiz sichtbar. Oliver Zimmer macht darum auch einen legitimen Transfer: «Die Neuauflage des beschriebenen historischen Konflikts [zwischen Liberalen und Demokraten, A.d.V.] manifestiert sich am Ende des 20. Jahrhunderts auch in Europa in einem tiefen Graben zwischen liberalen Globalisten und nationaldemokratisch gestimmten Liberalen. Die moralischen Parameter, die beide Lager voneinander trennen, sind im Grunde genommen dieselben geblieben: Ein technokratischer Elitismus sieht sich einer demokratischen Bürgervision gegenüber.» (S. 44)

Dieser Konflikt ist nichts Neues, wie Zimmer in seinem Buch darlegt. Was daran aber neu ist, ist die Rolle der Medien, insbesondere der elektronischen. Die darin geführte Auseinandersetzung um die richtige Corona-Strategie oder  die grundsätzliche Beurteilung der Krankheit ist teilweise heftig und einem demokratischen sowie wissenschaftlichen Diskurs nicht förderlich. Mittels Einschüchterung, Verunglimpfung und gehässigen Kommentaren werden vom Mainstream abweichende Meinungen – unter ihnen auch die namhafter Professoren – abgetan, ohne zu differenzieren. Das ist einer offenen, pluralistischen und direktdemokratischen Schweiz nicht würdig.

Nationale und internationale Kritik am neuen Antiterrorgesetz

Unter der gleichen Prämisse steht auch das neue Antiterrorgesetz mit dem Titel «Polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus». Darin wird der Terrorismusbegriff extrem ausgeweitet, so dass eine Anzahl Sonderberichterstatter des Uno-Menschrechtsrats, darunter der Schweizer Rechtsprofessor Nils Melzer, Uno-Sonderberichterstatter über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen und Bestrafungen, grösste Bedenken darüber geäussert hat: «Die Ausweitung der Definition von Terrorismus auf jede gewaltfreie Kampagne, die die Verbreitung von Angst beinhaltet, geht weit über das derzeitige nationale Schweizer Recht hinaus und verletzt internationale Standards.»³

In der «Rundschau» des Fernsehens SRF vom 16. September gibt Melzer zu bedenken, dass Dinge unter Terrorismus gefasst werden, die nichts damit zu tun haben. Auch mahnen die Uno-Experten bei der Ausweitung der Kompetenzen auf die Bundespolizei zur Vorsicht: «Die Experten warnten auch vor Abschnitten des Gesetzentwurfs, die der Bundespolizei weitreichende Befugnisse geben würden, ‹potenzielle Terroristen› zu benennen und über Präventivmassnahmen gegen sie ohne sinnvolle richterliche Aufsicht zu entscheiden.»

Nebst den Experten der Uno, die sich mit vielen Fragen rund um den Terrorismus und dessen Abwehr beschäftigen, hatten sich auch in der Schweiz 50 Rechtsgelehrte gegen die Ausweitung der Terrorismusnorm gewehrt.⁴

Mit dem Referendum Schlimmeres verhindern

Die Versuche, eine Mehrheit des Nationalrats zum Umdenken zu bewegen, ist fürs erste gescheitert. Das Gesetz wurde angenommen, aber dank der direktdemokratischen Möglichkeiten können die Bürgerinnen und Bürger das Referendum ergreifen, was auch getan wurde. Die Unterschriftensammlung läuft noch bis Mitte Januar.⁵ 

Die Schweiz, die sich insbesondere für die Erhaltung und Ausbreitung der Menschenrechte einsetzen will, verstösst mit einem Gesetz, dessen Effizienz äussert fragwürdig ist und sich letztlich für die Initianten noch als Bumerang erweisen könnte, gegen grundlegende Menschen- und Persönlichkeitsrechte. Mit dem Referendum kann etwas dagegen unternommen werden.

In der Aussenpolitik vollziehen sich Dinge, die mit den Idealen unseres Landes wenig zu tun haben. So hat die Schweiz Sanktionen gegen Mitglieder der Regierung von Belarus erlassen und sich damit zum Komplizen der EU gemacht. So schreibt der Bundesrat zur Rechtfertigung seines Vorgehens in einer Pressemitteilung vom 11. Dezember ganz unverhohlen:  «Die Ausweitung der Sanktionen erfolgt im Einklang mit den von der EU am 6. November 2020 erlassenen Beschlüssen.»⁶ Mit diesem Schritt läuft die Schweiz Gefahr, die Möglichkeit, auf den Konflikt beruhigend einzuwirken, zu verspielen. Das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) hätte im Sinne der Neutralität Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition auf neutralem Boden oder als Mediator in Minsk anbieten können. Damit könnte unser Land einen wichtigen Beitrag zum Frieden in der Region leisten. (vgl. Interview mit Prof. de Zayas, S. 7 ff). Das hätte mehr Effizienz als im Uno-Sicherheitsrat Vorlagen des Westens abzunicken oder sich bestenfalls zu enthalten. Für den Frieden ist damit nichts getan.

Keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten 

Die Schweiz hätte allen Grund, eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates zu vermeiden, wie es im übrigen die Uno-Charta von den Mitgliedstaaten verlangt. Die Erfahrungen der Vergangenheit hätten unseren Bundesrat eines Besseren belehren müssen, angefangen beim Bankgeheimnis bis hin zum Steuersystem. 

Vor wenigen Tagen haben die US-Behörden erneut eine volle Breitseite gegen die Schweiz gefahren, dabei die Schweizerische Nationalbank (SNB) als Währungsmanipulatorin attackiert und auf eine Liste gesetzt. Die Argumentation ist bizarr. Weil die SNB Währungskäufe durchführt, um den Wert des Frankens nicht ins Unermessliche steigen zu lassen, wird ihr dieses Etikett angeheftet. Gleichzeitig belehren die USA die Schweiz, was sie zu tun hat: die Bundesverfassung zu ignorieren (Aufheben der Schuldenbremse), das Rentenalter anzuheben und mehr Frauen in den Arbeitsprozess zu integrieren. Alles Dinge, die einen anderen Staat nichts angehen. Nationalrat Cedric Wermut, Co-Präsident der SP, reagiert denn auch empört und weist den US-Vorstoss als unstatthafte Einmischung in die inneren Angelegenheiten zurück.⁷ Die richtige Reaktion eines Parlamentariers, die man sich auch vom Bundesrat in verschiedenen Bereichen wünschen würde. 

Als souveräner Staat sich Respekt verschaffen

Die Schweiz wird nur dann als souveräner Staat respektiert, solange wir Bürgerinnen und Bürger auf unserer Souveränität bestehen und sie im Notfall auch verteidigen. Nur von Souveränität zu sprechen und dann doch den Forderungen anderer Regierungen nachzugeben, weil es vielleicht bequemer ist, führt nicht weiter, sondern bestärkt den anderen Staat in seiner Vorgehensweise: Das Land nur ordentlich unter Druck setzen, dann knickt die Regierung schon ein.

Die Frage der Souveränität stellt sich für unser Land ganz besonders beim Rahmenabkommen. Auch hier kann man sich der autoritär auftretenden EU unterwerfen oder die Souveränität bewahren. Solange wir unsere demokratischen Rechte wahrnehmen, können wir in einer Abstimmung jeglichem Abbau unserer Freiheitsrechte entgegenwirken. 

Oliver Zimmer: Wer hat Angst vor Tell? Echtzeit Verlag Basel, 2020, ISBN 978-3-906807-21-8

Oliver Zimmer: Wer hat Angst vor Tell? Echtzeit Verlag Basel, 2020, ISBN 978-3-906807-21-8

 

Rahmenvertrag bricht staatliche Souveränität

Das viel gehörte Argument, der Rahmenvertrag sei eine Weiterführung des bilateralen Wegs, ist eine Nebelpetarde. Der bereits erwähnte Schweizer Historiker und Buchautor Oliver Zimmer, der in Oxford eine Professur bekleidet, hat hier eine ganz klare Position. Im SRF-Tagesgespräch vom 18. Dezember macht er deutlich: «Das Rahmenabkommen ist keine Fortsetzung der bilateralen Verträge, das Rahmenabkommen ist quasi das Vorzimmer einer EU-Mitgliedschaft.» Dazu kommt noch, dass das Abkommen eine «faktische Unkündbarkeit» besitzt. Die viel gehörte, von Vertretern aus Politik und Wirtschaft gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung, der Rahmenvertrag sei die Absicherung des bilateralen Wegs und keine Vorstufe zum EU-Beitritt, lässt Oliver Zimmer so nicht gelten: «Meiner Meinung nach beruht das auf Unkenntnis, auf einer mangelnden Analyse. Der qualitative Unterschied ist eklatant. Mit dem Rahmenabkommen – und das ist bei den Bilateralen in diesem Ausmass nicht der Fall – setzt man sich mit dem Europäischen Gerichtshof ein Verfassungsgericht ins Haus, das eingreifen kann. Die Angelegenheit mit dem Schiedsgericht halte ich für eine Augenwischerei. Der Europäische Gerichtshof ist die letzte Entscheidungsgewalt in dem ganzen Abkommen.»⁸ 

Wir sind die Nutzniesser historischer Errungenschaften

Wie schon oft in der Geschichte stehen wir auch heute vor Fragen und Entscheidungen, die ganz essentiell unsere Demokratie betreffen. Wie die Urväter vor 150 Jahren müssen heute die Bürgerinnen und Bürger überlegen, wie sie ihre Volksrechte bewahren können. Im Jahre 1891 hatte sich die demokratische Bewegung der Schweiz endgültig, das heisst durch Verankerung in der Verfassung, die weltweit einzigartigen Volksrechte, nämlich das Initiativ- und Referendumsrecht erkämpft und gesichert. Damals bestand der Kampf zwischen Liberalen und Demokraten wie Oliver Zimmer aufzeigt: «Wo Liberale Fortschritt mit der Vereinheitlichung von Währungen, Massen und Zöllen gleichsetzten, riefen die Demokraten nach einer Ausweitung politischer Mitbestimmung. Wer im 19. Jahrhundert Eisenbahnen baute, sah dem Ausbau politischer Rechte mit Argwohn entgegen.» (S. 39) Weiter heisst es: «Der damalige Liberalismus basierte auf der Überzeugung, dass dem Staat mit einer überschaubaren Führungsgruppe am besten gedient sei. Die nach unten hin offene Demokratie würde der Gesellschaft schaden, das behaupteten (damals noch ganz offen) die politisch tonangebenden wirtschaftsbürgerlichen Schichten. Denn die partizipatorische, über das rein repräsentative Regieren hinausgehende Demokratie unterlief schon damals den Herrschaftsanspruch einflussreicher Interessenvertreter.» (S. 40) 

Weil sich damals die (volks-)demokratischen Kräfte durchgesetzt haben, was in unseren Nachbarländern nicht gelungen ist und was zum Teil äusserst leidvolle Entwicklungen nach sich gezogen hat, sind wir heute die Nutzniesser dieser Errungenschaften. Die vielen Volksinitiativen und Referenden, für die auf eidgenössischer Ebene trotz erschwerten Umständen Unterschriften gesammelt werden, sind Ausdruck dieser lebendigen Demokratie. Die gilt es, zu hegen und zu pflegen und mit allen demokratischen Mitteln zu erhalten. 

¹ Oliver Zimmer; Wer hat Angst vor Tell? Echtzeit Verlag Basel, 2020, ISBN 978-3-906807-21-8
² Paul Widmer; Die Schweiz als Sonderfall, Verlag NZZ, 2008, ISBN 978-3-03823-495-1
³ www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=26224&LangID=E)
www.blick.ch/politik/praeventiver-hausarrest-gefaehrde-unseren-rechtsstaat-professoren-warnen-vor-terrorgesetz-id16109149.html)
willkuerparagraph.ch/
www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen/bundesrat.msg-id-81590.html
⁷ Tages-Anzeiger vom 18. Dezember 2020
www.srf.ch/play/radio/popupaudioplayer?id=41efe7b5-f81d-4e0d-ace4-fb7ce9a491cb

Wenn Corona ein Pflanzenschädling wäre …

von Roland Müller*

Es waren grosse und wirkungsvolle Schlagzeilen, als man in den letzten Wochen den Durchbruch von mehreren Impfstoffen gegen Corona vermeldete. Die Börsen zogen an, aber keiner fragt nach den möglichen Nebenwirkungen. Dabei wäre dies gerade mit Blick auf Diskussionen rund um die Nebenwirkungen bei Pflanzenschutzmitteln durchaus angebracht. Doch die in solchen Fragen normalerweise lauten Kreise bleiben stumm. 

Widersprüchlicher könnten die Schlagzeilen der letzten Tage und Wochen nicht sein. Am 9. und 16. November wird der Durchbruch bei einem Impfstoff gegen Covid-19 vermeldet, und fast die ganze Welt jubelt. Notabene ein Impfstoff gegen eine Viruskrankheit, die man noch vor einem Jahr nicht einmal kannte. Dieser soll nun Wunder vollbringen können, ohne dass man dabei die mittel- bis langfristigen Nebenwirkungen aufgrund der gesammelten Erkenntnisse kennt. 

Zum gleichen Zeitpunkt hat es der Bundesrat abgelehnt, das sehr übereilt verbotene Pflanzenschutzmittel «Gaucho» wieder zuzulassen, weil man gewisse Zweifel betreffend den möglichen Nebenwirkungen hegt, die vielleicht erst nach Jahrzehnten auftauchen können. Dafür gab es aus den grünen Kreisen wie auch von den Umweltverbänden viel Applaus. Sie sind überzeugt, dass man zuerst solche möglichen Nebenwirkungen auch auf Jahre oder gar Jahrzehnte hinaus abklären muss, um eine absolute Sicherheit ohne Nebenwirkungen zu kennen, bevor man diese zulässt. Und nun leiden die Menschen rund um den Globus seit Anfang 2020 unter demselben Virus, welches das alltägliche Leben erschwert, die persönliche Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit einschränkt und auch für eine wirtschaftliche Not sorgt. Alles schreit nach einem raschen Einsatz von Pharmazie, um dieses durchaus gefährliche Virus zu bekämpfen, obwohl es hier ohne die vielerorts und in breiten Kreisen der westlichen Gesellschaft verpönte oder gar geschmähte GEN-Technologie gar nicht geht. Doch gleichzeitig will niemand zuerst Langzeitstudien über mögliche Nebenwirkungen der Impfstoffe abwarten, sondern es kann nicht schnell genug gehen, bis auf Teufel komm‘ raus geimpft werden kann. Deshalb stellt sich die Frage, wer dann hier die Verantwortung einmal in einigen Jahren tragen wird, wenn plötzlich unerwartete, vielleicht auch sehr schlimme und gefährliche Nebenwirkungen auftreten. Was bei der Entwicklung von Pflanzenschutzmitteln oder auch anderen Medikamenten und Heilmitteln gilt oder von jenen Kreisen vehement mit langen Fristen für die Überprüfung gefordert wird, ist hier kein Thema. Zu sehr sorgt das Covid-19 Virus auch über alle politischen und ideologischen Kreise hinweg dafür, dass die eigene Freiheit massiv eingeschränkt wird. Deshalb nimmt die Gesellschaft plötzlich mögliche Nebenwirkungen unbekannter Art kritiklos hin, ohne sie in Frage zu stellen. 

Jahre oder gar Jahrzehnte

In der Fachliteratur ist zu lesen, dass es normalerweise viele Jahre oder gar Jahrzehnte dauert, um einen wirksamen und sicheren Impfstoff zu entwickeln und herzustellen. «Die Entwicklung von Impfstoffen unterliegt ähnlich strengen Grundsätzen wie die von Arzneimitteln. Allerdings müssen Impfstoffe im Vergleich zu anderen Arzneimitteln zusätzliche Anforderungen erfüllen, da sie vor allem gesunden Personen, einschliesslich Säuglingen und Kleinkindern verabreicht werden. Ihr eigentlicher Zweck ist die Vorbeugung einer Krankheit und nicht die Therapie. Dies setzt der Akzeptanz von Nebenwirkungen klare Grenzen», ist auf der Homepage von «Arzt und Karriere»¹ zu lesen. In jenem Beitrag ist gar von 10 bis 12 Jahren die Rede, um einen sicheren Impfstoff gegen ein neues Virus von der Erforschung bis zur Zulassung herzustellen. Dabei ist die Rede von einem fünfphasigen Aufbau, der zuerst im Labor in einem sehr kleinen Rahmen an Freiwilligen getestet wird. Dieser Start dauert dabei in der Regel mehrere Jahre, weil zuerst grössere Sicherheitsprobleme ausgeschlossen werden, und die Ärzte zuerst die richtige Dosierung ermitteln müssen. Erst in einer zweiten Phase kann dann der Impfstoff an einer grösseren Gruppe bis zu 1000 Personen breit getestet werden. Die anschliessend dritte Phase, die oftmals drei bis sieben Jahre dauern kann, dient dazu, abzuklären, ob der Impfstoff vor einer natürlichen Infektion schützt und Patienten besser versorgt als bisherige etablierte Verfahren. Zugleich wird abgeklärt, ob es zu keinen Wechselwirkungen mit Impfstoffen gegen andere Krankheiten gibt und ob sehr seltene Nebenwirkungen auftreten. «Impfstoffe zählen zu den Biologika und sind hochkomplexe Arzneimittel. Sie stammen von Viren, Bakterien und deren Toxinen ab, die die Krankheit auslösen und gegen die ein Impfstoff schützen soll. Biologika sind nicht leicht herzustellen. Darum beinhaltet die Phase 3 auch sogenannte «lot to lot consistency»-Studien. Diese belegen, «dass verschiedene Herstellungschargen vergleichbare Wirksamkeit und Sicherheit haben». 

In einem vierten Schritt erfolgt dann die eigentliche Zulassung, sofern die klinische Entwicklung in den ersten drei Phasen erfolgreich verläuft. Die Zulassung durch die Gesundheitsbehörden erfolgt erst, wenn die Wirksamkeit und Sicherheit belegt ist, wobei dieser Prozess etwa drei Jahre dauert. 

Diese wissenschaftlichen und auch ethischen Grundsätze der modernen hochstehenden Humanmedizin werden jetzt aber aufgrund des grossen öffentlichen Drucks völlig ignoriert. Es stellt sich deshalb in der heutigen Zeit, wo man einstige Forscher, Entdecker und andere Helden vom Sockel holt, die Frage, wer morgen oder übermorgen diese jetzt völlig ausgeklammerte Verantwortung übernehmen wird. 

¹ https://arztundkarriere.com/forschung/die-entwicklung-impfstoffen/

* Roland Müller ist Weinbauer und Journalist. Er führt zusammen mit seiner Frau einen erfolgreichen kleinen Weinbaubetrieb mit Eigenkelterung in Benken (ZH). 

 

Die Quelle aller Menschenrechte ist die Menschenwürde

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wenn wir über Menschenrechte sprechen, stellt sich die Frage nach der Definition? Wie würden Sie die Menschenrechte definieren?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Die universellen Menschenrechte bilden ein ganzheitliches System voneinander abhängiger Ansprüche und Freiheiten. «Universell» bedeutet jedoch nicht homologiert, gleichgeschaltet oder unempfindlich gegenüber kulturellen Besonderheiten. Der allgegenwärtige Slogan «Alle Rechte sind gleich» ist nur eine Plattitüde, die das Fehlen eines Sinns für Proportionen und von Unterscheidungsvermögen zum Ausdruck bringt. Man kann auch etwas von der Unesco-Verfassung lernen, denn es geht um die Menschenwürde von uns allen, «Wissen bewahren, erweitern und verbreiten» u. a. «durch Erhaltung und Schutz des Welterbes». Ferner: «Die Unabhängigkeit, Unverletzlichkeit und schöpferische Vielfalt der Kulturen […] sind zu wahren.»

Meinen Sie, dass es bedeutendere und weniger bedeutende Menschenrechte gibt?

In der Tat bestimmt die Menschenwürde, die Quelle aller Menschenrechte, notwendigerweise Prioritäten – eine Hierarchie, die auf gesundem Menschenverstand und gegenseitigem Respekt beruht: Erstens das Recht auf Leben, was notwendigerweise bedeutet in Würde leben, eine Verpflichtung zur Förderung und zum Schutz der Heiligkeit des Lebens, welche die körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Nahrung, Wasser, Wohnen, Gesundheitsversorgung, Kriegsfreiheit bzw. ein Menschenrecht auf Frieden umfasst. Zweitens das Recht, die eigene Persönlichkeit frei zu entwickeln, d. h. das Recht, so zu sein, wie wir sind, das Recht auf unsere Identität, das Recht, die Prioritäten unseres Lebens festzulegen – dieses wesentliche Selbstbestimmungsrecht, frei von künstlichen Zwängen, die von der Regierung oder von der Gesellschaft auferlegt werden – und als Folge davon die Pflicht, die Rechte anderer zu respektieren. Mit anderen Worten, Kultur und Identität sind Menschenrechte, die das Wesen des Menschen bestimmen. Dies benötigt aber den Frieden. So heisst es in der Unesco-Verfassung: «Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden.»

Eine treffende Aussage, die Mut gibt. Sind die Menschenrechte abschliessend definiert?

Die Kodifizierung der Menschenrechte wurde noch nicht abgeschlossen, da weiterhin Standards festgelegt werden müssen, um den praktischen Ausdruck und die Ausübung unserer Menschenwürde besser zu schützen. Alle Menschenrechte können unter den beiden oben genannten Kategorien zusammengefasst werden, mit der Einschränkung, dass der Buchstabe des Gesetzes nicht politisiert werden darf, um den Geist des Gesetzes zu untergraben – eben den Vorrang der «dignitas humana».

Was meinen Sie mit der Politisierung der Menschenrechte?

Darunter ist die Praxis zu verstehen, die immer wieder zu beobachten ist, insbesondere der westlichen Staaten oder Staatengruppen wie der USA und ihrer Verbündeten in der Nato oder der EU, die darin besteht, die Menschenrechte für politische Zwecke zu instrumentalisieren. 1999 wurde im Namen der Menschenrechte, angeführt von den USA und in deren Gefolge die Nato, ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen die Republik Serbien geführt. Auch der Angriff auf das Uno-Mitglied Irak im Jahre 2003 wurde unter dem Vorwand, die Menschenrechte zu schützen, geführt. In Libyen dasselbe. Bis heute, zehn Jahre nach dem Angriff der Nato, liegt Libyen in Trümmern und Zehntausende Menschen haben das Leben verloren. Das meine ich mit Politisierung der Menschenrechte. 

Äussert sich das nur in Kriegen?

Nein, wir haben insbesondere unter der Regierung Trump eine verstärkte Aktivität betreffend die Verhängung von Sanktionen gesehen. In Kuba, Venezuela, Iran oder Syrien, die mit Russland zusammenarbeiten, haben diese Sanktionen verheerende Auswirkungen, vor allem auf die Zivilbevölkerung, die unter diesen illegalen Zwangsmassnahmen fürchterlich leidet. Auch Russland gewärtigte Sanktionen und alle Länder, die weiterhin mit Russland zusammenarbeiten, soll das gleiche Schicksal ereilen. Die Sanktionen, die nicht von der Uno erlassen werden, sind völkerrechtswidrig und müssen daher abgelehnt werden.

Die Schweiz hat gegen die Regierung in Belarus Sanktionen verhängt und sich damit der EU angeschlossen. Wie beurteilen Sie das aus neutralitätsrechtlicher Sicht? 

Die Schweiz hätte das nicht machen dürfen. Sie könnte mit dem Angebot von Verhandlungen in die verfahrene Situation des Landes Ruhe hineinbringen und eine unabhängige Position einnehmen, anstatt sich der EU anzuschliessen, die die Sanktionen aus politischen Gründen gegen das Land verhängt hat. Sie sind unnütz und für ein neutrales Land wie die Schweiz unwürdig. So verspielt das Land den Goodwill, den es in vielen Regionen dieser Welt noch geniesst. 

Welche Errungenschaften sind in der Entwicklung der Menschenrechte zu begrüssen?

Die 1946 gegründete Menschenrechtskommission hat die Normierung der Menschenrechte gesichert – angefangen mit der Universellen Deklaration der Menschenrechte von 1948 (UDMR), gefolgt durch die Annahme von 10 Menschenrechtsverträgen – etwa gegen Folter bzw. gegen Rassendiskriminierung. Dann sind Expertenkomitees ins Leben gerufen worden, die bei den Vertragsstaaten regelmässig konstruktive Vorschläge machen. Die Schaffung des Büros des Hochkommissars für Menschenrechte im Jahre 1993 (Resolution der Generalversammlung 48/141 vom 20. Dezember 1993) war eine sehr positive Entwicklung, denn der Hochkommissar kann die menschenrechtlichen Aktivitäten der Uno koordinieren. Besonders wichtig war die Schaffung eines Petitionssystems, wobei sich Individuen an den Menschenrechtsrat, an den Menschenrechtsausschuss, an den Ausschuss gegen die Folter usw. mit konkreten Klagen wenden können. Insbesondere die Petitionsabteilung des Büros des Hochkommissars für Menschenrechte, die ich jahrelang leitete, hat vieles geleistet. Das Problem ist, dass diese Petitionsabteilung viel zu wenig Personal hat. Sowohl das Sekretariat des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) oder des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (IAGMR) sind personell sehr viel besser bedient. 

Was bedeutet es für das Zusammenleben der Völker, dass es den Kanon der Menschenrechte gibt?

Die Normierung der Menschenrechte ist die Voraussetzung, diese Rechte zu schützen und zu fördern. Man muss auch diese kodifizierten Rechte durch den Unterricht in den Schulen und Universitäten bekräftigen. Die Menschen sollten ihre Rechte und Freiheiten kennen, damit sie diese Rechte besser ausüben können. Sie müssen auch über die Mechanismen informiert werden, so dass sie diese in Anspruch nehmen können. Neben den Expertenkomitees gibt es auch die Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrates und die Arbeitsgruppen, etwa die Arbeitsgruppe über die willkürliche Inhaftierung von Menschen. Auch diese Expertenkomitees tragen dazu bei, den Kanon der Menschenrechte zu erweitern und in konkreten Fällen anzuwenden. Dadurch entsteht eine sich stets weiterentwickelnde, lebendige Jurisprudenz.

Wie beschreiben Sie die positive Entwicklung der Menschenrechte?

Die Schaffung einer Prozedur, die ein einzelnes Individuum befähigt, einen Staat zur Rechenschaft zu ziehen, stellt einen Quantensprung dar. Es ist ganz deutlich eine Verstärkung der Menschenrechte. Während der Zeit des Völkerbundes gab es Petitionen von Minderheiten, die von den Regierungen ignoriert wurden. Heute sind wir hier etwas weiter. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind verbindlich. So musste die Türkei 2003 der Zypriotin Titina Loizidou eine Entschädigung von über einer Million Euro bezahlen, oder es hätte dem Land der Ausschluss aus dem Europarat gedroht. 

Sind alle Entscheide des Gerichts verbindlich?

Die Urteile des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte und des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind verbindlich. Dagegen sind die Entscheidungen des Uno-Menschenrechtsausschusses, dessen Sekretär ich war, oder des Ausschusses gegen die Folter, nicht strictu sensu verbindlich, aber Gott sei Dank werden viele Urteile tatsächlich umgesetzt. Viele Staaten haben nach Entscheidungen der Uno-Expertenkomitees ihre Gesetzgebung entsprechend geändert, Kompensation an Opfer bezahlt und ungerecht inhaftierte Menschen freigelassen. 

Ist heute nicht das Problem, dass der Europäische Gerichtshof und die Uno-Expertenkomitees über Dinge urteilen, die ausserhalb ihrer Kompetenz liegen?

Das stimmt leider, und so verlieren sie an Autorität bzw. Kredibilität. Alle Richter und Experten sollen verstehen, dass sie sich an den Wortlaut der Verträge halten müssen, und dass sie die Menschenrechte in einer holistischen Weise anwenden sollen und nicht manche Rechte durch die Auslegung anderer Rechte schwächen. Hier wird leider Politik betrieben – und manche wesentlichen Rechte wie das Recht auf Familie, Religion, Tradition, Identität sind durch manche Urteile des EGMR in Gefahr geraten.

Wie könnte man verhindern, dass Menschenrechte, so wie Sie es am Anfang erklärt haben, für machtpolitische Zwecke missbraucht werden? 

Wir brauchen vor allem intellektuelle Redlichkeit und Professionalität. Aber wir wissen, dass der EGMR, der IAGMR, der Uno-Menschenrechtsausschuss usw. durch Menschen geleitet werden, und Menschen sind, wie sie sind. Nicht jeder «unabhängige Experte» ist tatsächlich unabhängig. Nicht jeder Richter hat einen Sinn für Verhältnismässigkeit. So werden die Menschenrechte manchmal korrumpiert, wenn man sie politisiert und selektiv anwendet. 

Man redet meist nur über die Menschenrechte, aber gibt es denn auch Pflichten?

Ja, unter Artikel 29 der UDMR heisst es:

«Jeder Mensch hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist.»

«Jeder Mensch ist in Ausübung seiner Rechte und Freiheiten nur den Beschränkungen unterworfen, die das Gesetz ausschliesslich zu dem Zwecke vorsieht, um die Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheiten der anderen zu gewährleisten und den gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und der allgemeinen Wohlfahrt in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen.»

«Rechte und Freiheiten dürfen in keinem Fall im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen ausgeübt werden.»

Damit werden den Menschen aber auch Pflichten auferlegt.

Ja. Dadurch wird klar gemacht, dass man auch Pflichten gegenüber seinen Mitmenschen hat. Menschen dürfen ihre legitimen Rechte und Freiheiten nur so ausüben, dass die Freiheit und das Recht des anderen nicht verletzt werden. So die Maxime: «Sic utere tuo, ut alienum non laedas». Auch gelten die Menschenrechte der Universellen Deklaration der Menschenrechte nicht als absolut.

Sie haben sich für das Menschenrecht auf Frieden eingesetzt, um Kriege zu verhindern und sie als Bruch der Menschenrechte verurteilen zu können. Ist das Recht auf Frieden in den Kanon aufgenommen worden?

Alle Bestandteile des Rechtes auf Frieden sind kodifiziert worden, etwa das Recht auf Leben, das Recht auf Entwicklung, das Recht auf Nahrung – so heisst es im Artikel 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: «Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können». Der Krieg aber zerstört die meisten Menschenrechte. Und die mächtigen Staaten haben es bisher verhindert, dass ein «Menschenrecht auf Frieden» endlich kodifiziert wird und dass ein Mechanismus erschaffen wird, dieses Recht zu schützen und zu fördern.

Welche Mechanismen gibt es, um die Staaten auf die Menschenrechte zu verpflichten?

Die Staaten haben sich wohl verpflichtet, aber es fehlt an «Treu und Glauben» – bona fides – wie es im Artikel 26 der Wiener Vertragsrechtskonvention heisst: «Pacta sunt servanda». Viele Staaten wenden das Völkerrecht und die Menschenrechte nach Belieben an. Da gibt es Menschenrechtsgerichte und sogar den Internationalen Gerichthof – der auch oft genug über Menschenrechtsfragen bestimmt – aber eine Umsetzungsgarantie gibt es bis heute nicht. Man darf aber nicht aufgeben. Ohne Frage haben wir seit 1945 enorme Fortschritte gemacht, und wir müssen Beharrlichkeit und Optimismus beweisen. Die Menschenrechte müssten Pflichtfach in den Schulen und Universitäten sein – vor allem in der Ausbildung von Juristen. Aber wir wissen, dass die meisten Universitäten keine Ethik lehren – sondern und überwiegend nur, wie man Geld verdient. Das muss sich ändern.

Herr Professor de Zayas, herzlichen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

No Man Is an Island

No man is an island,

Entire of itself;

Every man is a piece of the continent, 

A part of the main.

 

If a clod be washed away by the sea,

Europe is the less,

As well as if a promontory were:

As well as if a manor of thy friend's

Or of thine own were.

 

Any man's death diminishes me,

Because I am involved in mankind.

And therefore never send to know for whom the bell tolls;

It tolls for thee.

John Donne (1572–1631)

 

Venezuela: «CEELA* hat die Wahl im Rahmen der geltenden Verfassung für legitim und gültig erklärt»

Interview mit alt Botschafter Walter Suter

Alt Botschafter Walter Suter (Bild thk)
Alt Botschafter Walter Suter (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie sind die Parlamentswahlen vom 6. Dezember in Venezuela einzuschätzen?

Alt Botschafter Walter Suter Die Wahlbeteiligung lag bei 31Prozent. Manche wollten aus der zahlenmässig niedrigen Stimmbeteiligung Profit schlagen, was aber völlig unsinnig ist. Bei vielen Wahlen gibt es zum Teil kleinere Stimmbeteiligungen, aber niemand würde sie deswegen anzweifeln. Am gleichen Sonntag wurde in Rumänien gewählt. Hier lag die Stimmbeteiligung bei rund 30 Prozent. Meines Wissens hat die EU keine Annullation der Wahl gefordert.

Ist die Stimmbeteiligung für Venezuela aussergewöhnlich?

Die Parlamentswahlen haben in Venezuela traditionell eher eine niedrige Stimmbeteiligung. Das steht im Gegensatz zu den Präsidentschaftswahlen, die immer mehr Menschen an die Urne locken.

Hatte der Boykott der Opposition eine Auswirkung auf das Wahlergebnis?

Das hat sicher Wirkung gezeigt. Das geschah auch schon 2005, als sich die Opposition kurzfristig vom Wahlgang zurückgezogen hatte. Damals lag die Stimmbeteiligung bei 25 Prozent, und das ohne Pandemie. Das ist ein weiterer Punkt, der jetzt noch einschränkend hinzukam. Auch der öffentliche Verkehr, der die Menschen zu den Wahllokalen gebracht hätte, stand deshalb nicht in dem Umfang zur Verfügung wie sonst. Die Menschen sind weniger an die Urnen gegangen. Briefwahl kennt man in Venezuela nicht. Wäre das möglich gewesen, wäre die Zahl wohl etwas höher ausgefallen. Gemessen an all diesen Widrigkeiten, war es keine schlechte Beteiligung. 

Wie war das konkrete Ergebnis dieser Wahlen? 

Von den 31 Prozent, die zur Urne gegangen sind, haben über zwei Drittel, fast 70 %, für die PSUV, die Partei Nicolás Maduros und den Koalitionspartner, gestimmt. Dadurch wurde die amtierende Regierung bestärkt. Natürlich werden auch Wähler dabei gewesen sein, die die Regierungspartei als das geringere Übel im Vergleich mit den teilnehmenden Oppositionsparteien ansehen, die sich wie die boykottierenden Parteien nie richtig vom Embargo distanziert haben. 

Was sagt das über die Oppositionsparteien aus?

Die verschiedenen kleinen Oppositionsparteien haben offensichtlich keine Rolle gespielt. Aufgrund des Wahlsystems haben sie im Parlament auch nur eine geringe Anzahl Sitze. Die Wahlen sind also legitim und legal. Das bestätigte auch der ehemalige spanische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero. Er war als Wahlbeobachter mit weiteren bekannten internationalen Politgrössen, wie Rafael Correa oder Fernando Lugo sowie einer Anzahl von Europaparlamentariern vor Ort. Zapatero hat in einem Presseaufruf an die EU verlangt, dass die illegale Anerkennung des selbsternannten Interimspräsidenten Juan Guaidó ein Ende haben muss und die Wahlen vom 6.Dezember anzuerkennen sind.

Wie hat sich das Wahlbeobachtungsgremium von Lateinamerika CEELA (Expertenrat für Wahlen in Lateinamerika) dazu geäussert?

Es hat den ganzen Wahlprozess begleitet und war bereits drei Wochen vor den Wahlen vor Ort. Die Mitglieder des Expertenrates haben den Wahlen ein gutes Attest ausgestellt und keine Unregelmässigkeiten festgestellt. Es sei am Wahltag und im Vorfeld der Wahl alles sehr ruhig abgelaufen, ohne irgendwelche Zwischenfälle. Die Opposition hat die dem Wahltag vorangegangenen Kontrollschritte sowie die Auszählungen am Wahltag selber mitverfolgen können. CEELA hat deshalb die Wahl im Rahmen der geltenden Verfassung für legitim und gültig erklärt.

Dieses Wahlbeobachtungsgremium setzt sich aus Vertretern mehrerer lateinamerikanischer Staaten zusammen?

Ja, das sind Mitglieder von Wahlbehörden aus anderen lateinamerikanischen Staaten. Unter anderem ist der Vertreter aus Kolumbien ein ehemaliger Minister unter der Regierung Uribe dabei, wohl kaum Sympathisant der Regierung Maduro. Auch die Mehrheit der Ratsmitglieder steht politisch nicht auf der linken Seite. 

War die EU auch als Wahlbeobachter vor Ort?

Sie wurde offiziell von der Regierung dazu eingeladen, hat aber die Einladung ausgeschlagen. Wenn man die Einladung ausschlägt, hat man eigentlich keine Berechtigung, hier gross Einschätzungen abzugeben. Die EU hätte vor Ort sein und das Geschehen beobachten können. Wenn sie dann Kritik übt, muss sie ganz konkret werden und benennen, was nicht gut funktioniert hat.  

Juan Guaidó ist nach dieser Wahl – war es aber auch schon vorher –  ein no name. Wie gehen die Regierungen, die ihn als Präsidenten anerkannt haben, damit um?

Guaidó hat die Wahlen boykottiert. Er ist jetzt noch Mitglied des Parlaments bis am 4. Januar, dann wird das neue Parlament vereidigt und Herr Guaidó ist dann nicht mehr dabei. Damit gibt es auch für die EU keine Grundlage mehr, ihn als selbsternannten Präsidenten zu akzeptieren. Ob sie das auch so sieht, ist eine andere Frage. Aber wenn man die Rechtslage betrachtet, ist der Fall ganz klar. Guaidó hat sich mit seinem Wahlboykott selbst aus dem Rennen genommen. 

Es ist eigentlich absurd, was sich die europäischen Staaten hier erlauben.

Ja, vor allem wenn man weiss, dass mehrere EU-Mitgliedstaaten in Venezuela Botschaften aufrecht erhalten und diese auch mit Vertretern der jetzigen Regierung zusammenarbeiten müssen, wird das Ganze noch widersprüchlicher.  

Wie geht jetzt die Opposition mit dem Ergebnis um?

Ein Oppositionspolitiker, der in früheren Zeiten immer wieder aktiv war, konkret Henrique Capriles, der 2012 und 2013 Präsidentschaftskandidat war, hat die Truppe um Guaidó aufgefordert, mit «ihrer Politik» endlich aufzuhören und von ihrer Vorgehensweise abzurücken. Die Opposition müsse sich besser aufstellen. 

Gibt es eigentlich ein Programm bei der Opposition? 

Ausser Maduro mit verfassungswidrigen Methoden absetzen zu wollen, gibt es nichts Konkretes. Sie müssten ein Programm auf die Beine stellen, das eine überzeugende Alternative bilden könnte, aber da ist nichts. Nach der Wahl hat Maduro die Opposition erneut aufgefordert, dass ihre Abgeordneten im Parlament zusammen mit der chavistischen Mehrheit nun einen konstruktiven Dialog aufnehmen sollen, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise zu finden. 

Herr alt Botschafter Suter, vielen Dank für das Gespräch.   

Interview Thomas Kaiser

* Expertenrat für Wahlen in Lateinamerika

 

Ein besseres Leben mit wildem Tee

von Zélie Schaller

In der zerklüfteten Landschaft von Laos ernten Kleinbauernfamilien wilden Tee. Um das Produkt mit hoher Wertschöpfung zu  veredeln, stärkt die DEZA deren organisatorische Fähigkeiten  und das agroökologische Wissen. Dies lässt die Einkommen steigen und verbessert die Lebensbedingungen.

Blumiges Aroma, Kräuternoten und ausgeglichene Bitterstoffe: Der Geschmack  des laotischen Grüntees ist reichhaltig und komplex. Er wird von Hand an knorrigen, weit verzweigten Teebäumen (Camellia sinensis) geerntet. Rund 46 000 davon gibt es in Phongsali, der zwischen China und Vietnam eingeklemmten Provinz ganz im Norden des Landes. Manche sollen über 400 Jahre alt sein. Dank ihrer Langlebigkeit sind sie tief im Erdreich verwurzelt und gedeihen ohne Dünger und Pflanzenschutzmittel. Unter Kennern erfreut sich der biologische Wildtee grosser Beliebtheit.

Höheres Einkommen, gesicherte Biodiversität

Im Gegensatz zu den Teesträuchern der grossen Plantagen wachsen die Teebäume auf über 1200 m ü. M. in einem kühlen und feuchten Klima. Sie können zehn Meter hoch werden und sind ent-sprechend schwer zugänglich; die Erntearbeit ist anstrengend.

Das von der NGO Helvetas umgesetzte Lao Upland Rural Advisory Project (Luras) der DEZA wertet dieses Nischenprodukt auf, da dieses einen potenziell wichtigen Hebel für die wirtschaftliche Entwicklung vor Ort darstellt. Dabei werden die organisatorischen Fähigkeiten der Kleinproduzentinnen und Kleinproduzenten unterstützt, nachhaltige Wertschöpfungsketten entwi-ckelt und der Marktzugang vereinfacht. Im Fokus stehen neben Tee auch Kaffee, Reis und Mais. 

Bei allen Kulturen ist das Ziel dasselbe: Ernährungssicherheit und Einkommen der Bauernfamilien verbessern und gleichzeitig die Wälder in den Berggebieten und die Biodiversität erhalten. In Laos sind mehr als 60 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft und in der Bewirtschaftung von Nicht-Holz-Produkten tätig und tragen damit zur Armutsreduktion in abgelegenen und ländlichen Gebieten bei.

Gemeinsame Vermarktung

Zurück zu den Jahrhunderte alten wilden Teebäumen: Um die Produktion zu erhöhen und die steigende Nachfrage zu befriedigen, sammeln die Bäuerinnen und Bauern Teesamen im Wald und säen sie in ihrer Umgebung aus. Die Qualität der neuen Teeblätter ist hoch, und sie sind leicht zu ernten. «Mit der Teeplantage hat sich die Situation beträchtlich verbessert. Wir können unsere Kinder zur Schule schicken und Essen kaufen», erzählt Chanmany. Sie lebt im Dorf Phouxang in der Provinz Oudomxay, im Nordwesten des Landes, wo das Projekt ebenfalls umgesetzt wird.

Nach dem Pflücken werden die Teeblätter in speziellen Manufakturen verarbeitet und getrocknet. Ausserdem wird der Tee hier gelagert, bis ihn die Produzenten gemeinsam vermarkten. «Damit ­haben wir eine grössere Ver­handlungsmacht und erzielen höhere Preise», erklärt Somphet Phomtayaxai, der Gemeindevorsteher von Phouxang.

Wissen weitergeben

Als Hauptabnehmer des laotischen Tees diktiert China im Prinzip den Preis. «Die chinesischen Investoren kommen frische und getrocknete Teeblätter kaufen und verbessern so die Existenzgrundlage der Dorfbewohner», gibt  Syphan aus Yot Pieng in der Provinz  Xieng Khouang zu bedenken.

Um die technischen Fertigkeiten zu entwickeln und den Produzentenmarkt besser zu erfassen, werden Austauschbesuche mit anderen Regionen organisiert. Die Bauern aus Phongsali haben ihre Erfahrungen mit jenen aus den Provinzen Oudomxay und Xieng Khouang getauscht, welche sie an ihre Kollegen aus Houaphan weiterreichten. Auch das Schulungszentrum in Yot Pieng versteht sich als Ort des Austauschs. Es führt zusammen mit den Produzenten agroökologische Studien durch und schafft Produktions- und Vermarktungsgruppen. 

Die ausgebildeten Leute geben ihr Wissen dann an zehntausende Bäuerinnen und Bauern weiter. Bewährte Methoden werden mit einem Handbuch und in den sozialen Medien vermittelt. «Die Produzenten sind für ihresgleichen eine vertrauenswürdigere Informationsquelle als die externen Experten», erläutert Helvetas-Projektleiter Andrew Bartlett. Dieser horizontale Wissenstransfer passt sich zudem den ökologischen Bedingungen vor Ort und den Marktentwicklungen an.

Unterstützung für die Jungen

Ein zweites Zentrum für die Teebauern ist in der Provinz Houaphan im Bau; andere gibt es für die Kaffee-, die Reis- und die Maisproduzenten, aber auch für die jungen Agrounternehmer. Diese 18- bis 28-jährigen Arbeitslosen entstammen oft ethnischen Minderheiten. Sie absolvieren Praktika in Start-up-Unternehmen, lernen, einen Businessplan zu erstellen, erhalten technische Unterstützung und werden individuell begleitet, um ein Kleinstunternehmen zu gründen. 

Die Jungunternehmer werden so zur Inspirationsquelle für die nächste Generation. Sie erweitern ihr agroökologisches Wissen, verbessern ihre Anbaumethoden und erobern neue Märkte. Letztlich tragen sie zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung ihres Landes bei.

Quelle: Eine Welt Nr. 4/Dezember 2020

 

Wirtschaftliche Integration der Frauen 

Das Lao Upland Rural Advisory Project will auch die Rolle der Frauen in der Agrobranche aufwerten. Die Bäuerinnen werden in Gemeindeentwicklung geschult, damit sie ihr Wissen in ihrer Lokalsprache weitergeben können. «Sie verfügen über ein Tablet mit pädagogischen Unterlagen, vor allem Videos zu bewährten Methoden anderer Bäuerinnen. Dafür bekommen sie eine bescheidene monatliche Entschädigung», erklärt Helvetas-Projektleiter Andrew Bartlett. An den Austauschbesuchen nehmen gleich viele Männer wie Frauen teil.

 

«Berichte aller Kriege sind Berichte von Leiden, Krankheit und Tod, die man hätte verhindern können» (Buchbesprechung)

von Thomas Kaiser

Nicolette Bohn: Florence Nightingale – Nur Taten verändern die Welt.
Nicolette Bohn: Florence Nightingale – Nur Taten verändern die Welt.

Als Schüler begegnete mir der Name Florence Nightingale zum ersten Mal im Englischunterricht. In meinem Lehrbuch befand sich ein Text über ihr Leben, verbunden mit einer Würdigung ihrer Leistungen. Details sind mir leider kaum in Erinnerung geblieben, aber ein positiver Eindruck von einer Frau, die Bemerkenswertes in ihrer Zeit geleistet hat.

Wenn wir dieses Jahr ihres Zweihundertsten Geburtstags gedenken, so hilft uns hierbei eine neu erschienene Biographie, verfasst von Nicoletta Bohn. Sie zeigt auf, welch schweren Weg Florence Nightingale gehen musste, um das zu erreichen, wofür sie heute verehrt und zu Recht bewundert wird. Sie fühlte sich innerlich berufen und menschlich verpflichtet, sich in den Dienst von Kranken und Kriegsverwundeten zu stellen, und entschied sich damit, ein für eine Frau in der damaligen Zeit aussergewöhnliches Leben zu führen.  

Wie häufig bei herausragenden Persönlichkeiten ranken sich auch um das Leben und Wirken Florence Nightingales viele Legenden. Verschiedene Bewegungen, insbesondere Frauenbewegungen, sehen in ihr gerne eine grosse Feministin, eine Frauenpersönlichkeit, die mit den Konventionen der damaligen Zeit gebrochen und der Emanzipationsbewegung wesentliche Impulse gegeben habe. Das alles scheint wenig mit ihrem Anliegen und ihrem Selbstverständnis zu tun zu haben, sondern ist eher das Resultat aktueller politischer Auseinandersetzungen. Und wer schmückt sich nicht gerne mit herausragenden Persönlichkeiten?

Soziales und mitmenschliches Engagement

Dieser Ideologisierung und politischen Instrumentalisierung hat Nicolette Bohn mit ihrer Biographie mit dem Titel «Florence Nightingale – Nur Taten verändern die Welt» eine quellenbasierte und an den realen Gegebenheiten orientierte Lebensgeschichte entgegengesetzt und damit einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis dieser bewundernswerten Frau geleistet. Das gelingt der Autorin, indem sie vor allem Florence Nightingale mit Hilfe ihres Tagebuchs selbst zu Wort kommen lässt.

Ähnlich wie bei Henri Dunant, dem Gründer des Roten Kreuzes, der sich der grossen Leistungen Florence Nightingales bewusst war und sie auch persönlich getroffen hatte, ist auch bei ihr in den frühen Lebensjahren eine besondere Prägung zu erkennen, die das soziale und menschliche Engagement gefördert hat. Dunant selbst sagte einst über Florence: «Wohl bin ich der Gründer des Roten Kreuzes und der Schöpfer der Genfer Konvention. Aber die Ehre, die mir deswegen zuteil geworden ist, habe ich mit einer englischen Frau zu teilen – Florence Nightingale.» (S. 143)

Was bewog Florence Nightingale, sich in einem Bereich zu engagieren, der nach den damaligen Standesregeln ihrer nicht würdig war? Diese Frage wird mit Hilfe vieler Originalquellen beantwortet, in denen die Aussagen Florence Nightingales und weiterer ihr verbundener Persönlichkeiten, festgehalten sind. So ist es dem Leser möglich, nachzuempfinden, warum sie sich mit so grossem Engagement und Eifer für die menschliche Hilfe eingesetzt hat.

Florence' Berufung

Florence stammte aus einer wohlhabenden Familie und musste sich um ihre finanzielle Sicherheit keine Sorgen machen. Ihr Stand erlaubte es auch, mit berühmten und einflussreichen Persönlichkeiten Kontakte zu knüpfen, die sie bis hin zur britischen Königin Victoria führten. (S. 132) Das waren «positive» Voraussetzungen, die bei ihrem Einsatz für Kranke und Verwundete von Vorteil waren. So erfuhr sie auch aus diesen Kreisen Verständnis und Bestärkung für ihre «Berufung», wie sie selbst sagte. 

In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren «für die Krankenpflege nur die einfachsten Leute herangezogen worden, Menschen, denen der Ruf anhaftete, ohne Anstand und Sitte zu sein.» (S. 58) Der Zustand der Krankenpflege war unbeschreiblich schlecht, und so schien es auch nicht sehr verwunderlich, dass insbesondere sozial Geächtete den Beruf der Krankenpflegerin ergriffen. «Ein Krankenhaus mit über 300 Betten beschäftigte in der Regel nur ein Dutzend Pflegepersonen. Hinzu kam, dass Unzucht, Unsittlichkeit und Alkoholismus unter den Pflegerinnen weit verbreitet waren.» (S. 58) Florence Nightingale war sich dieses Umstandes sehr bewusst. «In einem Brief vom 29. Mai 1854 schrieb sie an eine Freundin: ‹Die Pflegerinnen schliefen in einer Art Holzgestell aussen vor den Stationen, wo eine Frau mit Charakter unmöglich die Augen schliessen würde.›» (S. 58) 

Doch trotz der gesellschaftlichen Anrüchigkeit des Pflegeberufes – denn wer Geld hatte, liess sich zu Hause pflegen – war Florence entschlossen, den Pflegeberuf zu ihrer Berufung zu machen. Doch das war mit grossen Hürden und Widerständen verbunden. 

Den schwersten Kampf, den sie austragen musste, führte sie gegen ihre eigene Familie, insbesondere gegen Mutter Fanny und Schwester Parthenope. Sie setzten alles daran, Florence' tiefste Überzeugung, sich der Kranken und Verletzten anzunehmen, zu behindern und ihren eingeschlagenen Weg zu untergraben. Für die grossbürgerliche Familie stellte die Berufung zur Krankenpflegerin, die gesellschaftlich nicht akzeptiert war, einen Schandfleck dar. 

Diakonissenanstalt in Kaiserswerth

Doch Florence blieb ihrem Ziel treu. Schwerste Auseinandersetzungen innerhalb ihrer Familie und der Widerstand von Mutter und Schwester führten zu einer tiefen Depression. So äusserte sie: «In meinem 31. Lebensjahr wünsche ich mir nichts als den Tod.» (S. 82) 

Durch einen der vielen Kontakte, die die Familie pflegte, erfuhr Florence von der Diakonissen-Anstalt in der deutschen Reichsstadt Kaiserswerth. Das war ein von Diakonissinnen geführtes Krankenhaus, die sich im Sinne der christlichen Ethik ganz der Nächstenliebe verschrieben hatten. Die Führung und die dort herrschenden Umstände waren nicht zu vergleichen mit denen anderer Krankenanstalten. Florence war von der Institution begeistert und schrieb in ihr Tagebuch: «Dort ist meine Heimat, dort sind alle meine Brüder und Schwestern am Werk. Dort ist mein Herz, und eines Tages hoffe ich, ganz dort zu sein.» (S. 63) Dieser Traum erfüllte sich. Während eines dreimonatigen Aufenthalts versuchte Florence, so viel wie möglich zu lernen und sich auszubilden. Sie war bei Operationen anwesend. Sie arbeitete im Waisenhaus und im Spital und lernte viel über Pflege und Betreuung. So reifte bei ihr die Überzeugung, dass der Krankenpflegeberuf einer Ausbildung bedürfe und sie diesen Weg gehen wolle. «Sie wollte sich unbedingt ausbilden lassen und an ein grösseres Krankenhaus in London gehen.» (S. 89) 

Um diesen Weg beschreiten zu können, musste sie sich von ihrer Familie lösen. Das war mit erheblichen Schwierigkeiten und Widerständen verbunden, aber unterstützt unter anderem vom Leibarzt Königin Victorias konnte sie diesen Schritt vollziehen. Sie wurde zur Leiterin der «Londoner Anstalt zur Pflege kranker Frauen aus höheren Schichten» ernannt und nahm somit ihre erste selbständige Stelle an. Sie setzte sich mit grossem Einsatz für die Menschen dort ein, sowohl für das dort arbeitende Personal als auch für die zu betreuenden Menschen.  

Einsatz in Skutari

Im Sommer 1854 brach in London die Cholera aus. Florence Nightingale wurde vom Pflegeheim beurlaubt und konnte sich in den Dienst des Middlesex-Hospitals stellen. Die Aufgabe dort markierte das Ende ihrer Lehrzeit. Bereits im März 1854 hatte der Krimkrieg begonnen, in dessen Zusammenhang sie ihre bis heute ungebrochene Berühmtheit erlangte.

Als im Oktober 1854 Berichte über die Schlachten und «schlimme Nachrichten über die Nachlässigkeiten im Militärsanitätswesen an die Öffentlichkeit» drangen, machten «Entsetzen und Mitleid […] sich in der Bevölkerung breit.» (S. 99f).

Dies führte dazu, dass sich Freiwillige meldeten, um das rudimentär ausgebildete Sanitätswesen der britischen Truppen zu unterstützen. Auch Florence war bereit, sich für die Verbesserung der Situation einzusetzen und liess ihren geplanten Einsatz vom Kriegsminister, Sir Sidney Herbert, einem Freund der Familie und Unterstützer von Florence' Plänen, genehmigen. 

Zusammen mit 38 Pflegerinnen reiste sie nach Skutari. Dort befand sich eine grosse türkische Militärkaserne, die teilweise den Briten als Lazarett zur Verfügung gestellt wurde. Die Zustände waren erbärmlich. «Florence stellte schnell fest, dass diese Umgebung weniger ein Lazarett als vielmehr eine Folterhöhle war. Die schrecklichen Verhältnisse, die in und um das Hospital herrschten, waren nicht zu beschreiben.» (S. 106) 

Das Bild des damaligen Soldaten, auch unter den Offizieren gang und gäbe, war äusserst negativ. Man nahm ihn kaum als gleichwertigen Menschen wahr. Obwohl er sein Leben für die Mächtigen aufs Spiel setzte und häufig opferte, brachte man ihm kaum Respekt entgegen. «Der Soldat galt als ‹gefährliche Bestie›, die nur durch Prügel, Drill, Strafe und eiserne Disziplin gebändigt werden konnte.» (S. 110) Dieses Bild des einfachen Soldaten änderte sich unter dem Einfluss von Florence Nightingale. «Florence sah in den Soldaten Opfer, die sie beschützen wollte. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, die Situation und den Ruf der Soldaten zu verbessern. Ihr war aufgefallen, dass diese nicht nur negative, sondern auch viele positive Eigenschaften besassen […] Sie teilte die landläufige Meinung über ihre Skrupellosigkeit, Zügellosigkeit und Nichtsnutzigkeit nicht. In ihren Briefen nannte sie sich ‹die Mutter von fünfzigtausend Kindern›» (S. 125)

«The Lady with the lamp»

Florence Nightingale arbeitete Tag und Nacht, um die Bedingungen im Lazarett und damit das Los der Verwundeten zu verbessern, ihre Schmerzen zu lindern. Ihre Schaffenskraft, ihre innere Überzeugung, ihr mitmenschliches Engagement waren vorbildhaft, und sie ging an die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit. Sie kümmerte sich nicht nur um die administrativen und organisatorischen Dinge im Lazarett, sondern nahm sich auch persönlich der Kranken und Verwundeten an. Wenn alles schon schlief, arbeitete sie noch oder machte Patientenbesuche. Sie kniete an den Betten der Verwundeten nieder, versorgte sie und sprach ihnen Mut zu. Diese aussergewöhnliche Menschlichkeit widerspiegelte sich in dem Bilde, «The Lady with the lamp» (Die Dame mit der Lampe), wie sie später in Andenken an diese menschliche Qualität vielfach auf Briefmarken abgebildet wurde. 

Neben dem Lazarett in Skutari inspizierte sie noch weitere Hospitäler und untersuchte die jeweiligen Zustände. So suchte sie das Lazarett in Kukali auf, das völlig desorganisiert war und in dem die Verantwortlichen von der Situation völlig überfordert waren. Weiter reiste sie nach Balaklawa auf die Halbinsel Krim. Hier erkrankte sie am sogenannten Krimfiber (Brucellose). Eine Krankheit, deren Folgen sie für den Rest ihres Lebens begleitete. 

Nach ihrer Genesung kam sie zurück nach Skutari. Neben ihren grossen Erfolgen sowie tiefgreifenden Verbesserungen, die sie während ihres Aufenthaltes durchsetzte, und der Nachhaltigkeit ihres Wirkens, sah sie sich auch mit den niederen Instinkten menschlicher Existenz wie Missgunst, Neid und Eifersucht konfrontiert. Während die Intrigen gegen sie bei den Offizieren zum Teil verfingen, war ihr Ruf bei den Soldaten und in der britischen Heimat unerschütterlich. «Florence hatte es geschafft, das Ansehen des einfachen Soldaten und der Pflegerin in der Öffentlichkeit zu wandeln. Die Leute waren stolz auf die Soldaten. Die Vorstellung vom uniformierten Trunkenbold wurde im Winter 1855/56 begraben und lebte nie wieder auf. Auch das Bild der Pflegerinnen als lüsterne Weiber hatte sich gewandelt. In den Wirren des Krimkrieges war eine tiefgreifende Umwälzung vor sich gegangen.» (S. 128)

Musste sich Florence während ihres Einsatzes im Krimkrieg mit Intrigen und Verleumdungen herumschlagen, war sie in Grossbritannien eine gefeierte Heldin. Die Menschen verehrten sie und waren zutiefst berührt von ihrem Wirken zum Wohle des Landes, zum Wohle der eigenen Soldaten. Ihre Rückkehr sollte mit allen Ehren gefeiert werden, aber sie wäre nicht Florence Nightingale, wenn sie sich dieser Empfangszeremonie ausgeliefert hätte. «Um all den Ehrungen zu entgehen und während der Fahrt nicht erkannt zu werden, reiste Florence mit ihrer Tante Mai inkognito, unter dem Familiennamen ihrer Tante, zurück nach England als Miss und Mrs. Smith.» (S. 129)

Katastrophale Zustände in zivilen Krankenhäusern

Die Erfahrungen des Krim-Kriegs und die katastrophalen Zustände in den Lazaretten und Krankenhäusern liessen Florence Nightingale auch nach ihrer Rückkehr nach Grossbritannien keine Ruhe. Sie arbeitete mit grossem Eifer daran, ein Bewusstsein für die mangelnde Hygiene und Desorganisation der Spitäler zu schaffen. Darin wurde sie von der Königin Viktoria und ihrem Gemahl unterstützt. «Florence konnte die Königin und ihren Mann von den Reformvorstellungen überzeugen […]» (S. 132) Mit einem ungeheuren Einsatz setzte sie sich für Reformen in den Krankenhäusern ein. Dabei erfuhr sie von einem Freund der Familie Unterstützung, dem Politiker Sidney Herbert. Als er unerwartet starb, war sie zutiefst betroffen, auch wenn im Verlauf ihrer Zusammenarbeit verstärkt Meinungsverschiedenheiten sichtbar geworden waren. 

In einer zu seinen Ehren verfassten Schrift äussert sich die Autorin gegen den Krieg. «Wer kann sagen, inwieweit systematische von allen Völkern gemachte Versuche, die Schrecken dieses grossen Fluchs des Krieges zu verringern, nicht dazu beitragen könnten, ihn ganz von der Erde verschwinden zu lassen? Die getreuen Berichte aller Kriege sind Berichte von Leiden, Krankheit und Tod, die man hätte verhindern können.» (S. 140) 

Entsetzt war Florence, als sie gewahr wurde, dass der Zustand von zivilen Krankenhäusern sich teilweise schlimmer darstellte als in Militärhospitälern. «Bald dehnte sie ihre Arbeit auch auf das zivile Gesundheitswesen aus.» (S. 143) Dabei war sie international tätig: «Sie erstellte Gutachten über Krankenhauspläne in Deutschland, Portugal, Holland. Sie kümmerte sich um die Organisation der Wochenpflege, Hebammenschulung, Armenhauskrankenpflege, Hauspflege und der Pflege für Wöchnerinnen.» (S. 143)

Berufsausbildung für Krankenpflege

Neben ihrem konkreten humanitären Wirken widmete sie sich vermehrt der publizistischen Tätigkeit und veröffentlichte nach dem Krimkrieg ihre «Bemerkungen zur Krankenpflege». Ein Standardwerk, das bis heute noch Bedeutung hat. «In ihrem Hauptwerk entwickelte Florence die Theorie der Krankenpflege, die sich vor allem durch eine ausgewogen, gesundheitsbewusste Lebensführung der Pflegerinnen und sorgsame Pflege der Patienten auszeichnete.» (S. 146) 

Um diesen Anspruch zu erfüllen, war sich Florence bewusst, brauchte es eine gezielte und qualitativ hochwertige Ausbildung. Mit gespendeten Geldern gründete sie in London eine Schwesternschule, «in der künftige Krankenpflegerinnen ihre Berufsausbildung erhielten.» (S. 146) Der Einsatz, den Florence für die Ausbildung und Bildung der Krankenpflegerinnen leistete, «führte zu einer deutlich erkennbaren gesellschaftlichen Aufwertung der Krankenpflege und zu einer Verbesserung der Organisationsstrukturen in den Krankenhäusern.» (S. 148) Ihr ganzes Sinnen und Trachten galt der Verbesserung der Gesundheitspflege. In verschiedenen Veröffentlichungen machte sie auf bestehende Missstände aufmerksam und bemühte sich, diese konstruktiv zu lösen. 

Innere Grösse

Als sich der Gesundheitszustand ihrer Eltern zusehends verschlechterte, musste sie ihre Lebensaufgabe vorübergehend ruhen lassen und wandte sich vermehrt ihren kranken Eltern zu. Hier zeigte sich einmal mehr ihr grosses Verantwortungsgefühl und ihre innere Verpflichtung, Menschen zu helfen. «Florence litt unter der Trennung von ihrer Arbeit. Aber ihr Gewissen liess es nicht zu, die alten, hilflos gewordenen Eltern alleine zu lassen.» (S. 150) 1874 verstarb ihr Vater und sechs Jahre später ihre Mutter. Obwohl sie schwerste Auseinandersetzungen vor allem mit der Mutter und Schwester hatte, konnte sie das Gewesene beiseite legen. «Innerlich hatte sich Florence mit Fanny und Parthe vollkommen versöhnt.» (S. 154) Auch ihre Schwester, die an schwerer Arthrose litt und von Florence in dieser Zeit unterstützt wurde, schloss 1890 für immer ihre Augen. Florence wurde zunehmend von einer ab 1895 beginnenden Altersdemenz, die sie letztlich ans Bett fesselte, heimgesucht. Sie starb 1910 im Haus, das ihr Vater 1865 für sie erworben hatte. 

Henri Dunant verehrte Florence Nightingale

Parallel zum Wirken Florence Nightingales betritt der Genfer Bankier und Kaufmann Henri Dunant die Weltbühne mit der Gründung der grössten Hilfsorganisation der Welt, des Roten Kreuzes. Auch Nicolette Bohn erwähnt die Bekanntschaft der beiden in ihrem Buch: «Dunant verehrte Florence Nightingale sehr, aber er zog aus seinen Erfahrungen in Solferino andere Konsequenzen als sie. Er vertrat die Meinung, dass nur freiwillige Krankenpfleger, die im Frieden geschult wurden, das Massenelend im Krieg lindern können. Florence hingegen sah diese Aufgabe allein bei den staatlichen und militärischen Verwaltungen für den Heeressanitätsdienst.» (S. 44)

Neben vielen anderen Persönlichkeiten, die sich zum Wohle der Menschheit eingesetzt und Entscheidendes für die Menschheit geleistet haben, verdient Florence Nightingale zu Recht einen Platz in der Ahnengalerie der Frauen und Männer, die Menschlichkeit gelebt und gefördert haben. Es ist das Verdienst Nicoletta Bohns, das Leben Florence Nightingales in einer äussert angenehmen und informativen Art dem Leser zu vermitteln und somit das Andenken an diese herausragende Persönlichkeit hochzuhalten. 

Nicolette Bohn: Florence Nightingale – Nur Taten verändern die Welt. ISBN: 978-3-8436-1225-8

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