Schweiz – EU: Ist ein Rahmenabkommen noch zeitgemäss?

von Reinhard Koradi

Merkwürdig ist es schon. Die EU hat bei genauem Hinsehen Glanz und Gloria schon längstens verloren. Einst als Friedensprojekt gepriesen, ist die Europäische Union zur kriegführenden Union mutiert. 

Vor allem heizt sie im Konflikt zwischen der Ukraine und Russ­land mächtig ein. Sie macht sich damit mitschuldig, dass auf europäischem Boden wieder Krieg geführt wird. Die Wirtschaft innerhalb der EU verliert zusehends an Boden. Vor allem der Mittelstand gerät immer mehr in Schieflage, und der sogenannte Euro-Raum kämpft erfolglos gegen eine kontinuierliche Vermögens- und Kaufkraftabwertung, ausgelöst durch eine unverantwortliche Geldschwemme der Europäischen Zentralbank (EZB). 

Gegenüber dem Schweizerfranken ist der Euro innerhalb eines Jahres  um gut sieben Prozent eingebrochen. Die Eurozone verliert auch als Wirtschaftsraum laufend an Attraktivität. Der asiatische Raum, Süd­amerika und die BRICS-Staaten laufen der maroden alten Dame namens EU den Rang ab. Die Regierungen der in der EU zusammengefassten Staaten kämpfen alle gegen ihre eigene Bevölkerung, weil sie gesellschafts-, wirtschafts- und sicherheitspolitisch versagt haben (Bauernproteste, Demonstration gegen Sozialabbau, Kluft Reichtum und Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Zuwanderung). 

Die EU-Beitrittsbefürworter von der Vergangenheit überholt

Der Bundesrat und mit grösster Wahrscheinlichkeit auch die Bundesverwaltung argumentieren immer noch gleich wie vor der EWR-Abstimmung im Jahr 1992. Ebenso bringt die Konferenz der Kantonsregierungen keine neuen, der Situation angepassten Argumente, die für ein Rahmenabkommen mit der EU sprechen. Vielmehr pochen sie auf die Bedeutung des Abkommens für die Wirtschaft und den Wohlstand in unserem Land. Dabei beweist die Vergangenheit eindrücklich, dass die Schweiz auch ohne Anbindung an die EU sowohl ihren Wohlstand als auch ihre Wirtschaft auf Erfolgskurs halten kann. Eine Schweiz unter dem Diktat der EU würde sehr schnell in den Strudel des EU-Niedergangs geraten und hätte keine Chance, sich aus der negativen Spirale zu befreien, da sie ihre Selbstbestimmung zu grossen Teilen an Brüssel verschachert hätte. Befremdend ist, wie nachlässig mit den Trümpfen der Schweiz umgegangen wird. Sie werden nicht einmal ausgespielt, so dass die EU ihre Interessen durchsetzen kann und ohne grossen Widerstand an das Geld der Schweizer Steuerzahler herankommt (Kohäsionsfonds mit Milliardenforderungen).

Die Entwicklungen der Vergangenheit belegen, dass die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Zukunft der Schweiz nur über die Souveränität und Eigenverantwortung gesichert werden kann. Auch in der Sicherheitspolitik oder der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern hilft keine Anbindung an Bündnisse und Institutionen ausserhalb unseres Einflussbereiches. Es werden lediglich Abhängigkeiten geschaffen, die unser Land erpressbar machen und den politischen Spielraum einengen. Es mag ernüchternd sein, aber Freiheit und Selbstbestimmung haben eben ihren Preis: Eigenverantwortung und Eigenleistung.

EU-Turbos blenden Nachteile aus

Sowohl der Wirtschaftsverband «Economiesuisse» als auch die Konferenz der Kantonsregierungen gehen offensichtlich mit Scheuklappen an die Auseinandersetzung mit den bevorstehenden Verhandlungen mit der EU heran. Negative Einflüsse eines allfälligen Abkommens bleiben unerwähnt. Dabei müssten vor allem die Kantonsregierungen mit äusserster Wachsamkeit ihre hoheitsrechtlichen Privilegien verteidigen. Doch es fehlen Vorbehalte gegen den Verlust der kantonalen Souveränität. Sowohl die Staatsgarantien bei den Kantonalbanken, die Alleinstellung bei der Gebäudeversicherung und die kantonalen Stromunternehmen wird es bei einer EU-Anbindung in der bisherigen Form nicht mehr geben. Da die Kantonalbanken eine erhebliche Bedeutung bei der Eigenheimfinanzierung haben, könnten die im Rahmenabkommen verfolgten Marktliberalisierungen auf verschiedenen Seiten ein böses Erwachen auslösen. 

Die Sensibilität für politische Konsequenzen fehlt

Die politischen Verluste sind praktisch kein Thema. Auf Seiten der Befürworter gibt es keine Bedenken gegenüber dem Abbau der Direkten Demokratie, der Einmischung von Brüssel in innere Angelegenheiten oder die Auflösung von Föderalismus und Gemeindeautonomie. Es wird dem Zentralismus aus einer EU-Zentrale gehuldigt und Vorteile dezentraler Entscheidungsstrukturen werden völlig ausser Betracht gelassen. Dass die beitrittswilligen Kreise in der Schweiz in Bezug auf das Rahmenabkommen keine Sensibilität für politische Anliegen erkennen lässt, spricht eine deutliche Sprache. Es fehlt schlicht an politischer Bildung. Solche Leute wollen die Schweiz in die Zukunft führen!

Das letzte Wort haben die Stimmberechtigten

Momentan äussern sich nur Personen und Organisationen zu den bevorstehenden Verhandlungen über das Rahmenabkommen, die entweder nur ausführende Organe sind oder über keine politisch relevante Entscheidungsbefugnisse verfügen. Abschliessend entscheiden werden die Stimmberechtigten. Das Schweizer Volk dürfte dann wohl eine gesamtheitliche und politisch reifere Analyse über das ausgehandelte Unterwürfigkeitsabkommen machen. Es bleibt zu hoffen, dass sich in der Schweiz bis zu diesem Zeitpunkt wieder eine wahrheitsgetreue und offene Diskussionskultur durchgesetzt hat. Es würde der staatspolitischen Bedeutung eines Rahmenabkommens mit der EU nicht gerecht werden, sollten noch Spuren des Meinungsdiktates, der Vertuschung von Fakten oder der Manipulation durch öffentliche Massenmedien aus den letzten Monaten zurückgeblieben sein.

Auf alle Fälle sind wir Bürger gefordert, unsere demokratischen Rechte und Pflichten zu verteidigen und uns eine eigenständige Meinung zu den bevorstehenden politischen Entscheidungen zu machen. Dazu gehört auch die Einforderung einer Informationskultur, die auf gleicher Ebene und transparent geführt wird.

Was bekommt die Schweiz wirklich, wenn sie das Rahmenabkommen in Kraft setzen würde? Eine zentralistische Befehlsausgabe aus Brüssel und einige happige Zahlungsforderungen. Dafür sollen wir unsere Werte, unsere Souveränität und Freiheit opfern? Wohlstand und eine positive Entwicklung der Wirtschaft beruhen auf Leistungen, Effizienz und Eigenverantwortung. Daher muss die Schweiz ihre Zukunft auf diesem Fundament aufbauen – und zwar frei von Fesseln einer lahmen Europäischen Union.

veröffentlicht 13.Februar 2024

Die Kriege gehen weiter…, aber die Kritik wird grösser

von Thomas Kaiser

Israels Krieg gegen die Palästinenser geht mit unverminderter Härte weiter. Stimmen, die zur Einstellung der Kampfhandlungen aufrufen, gibt es immer mehr, aber bisher versucht Israel, sie zu ignorieren. Kanzler Scholz, der zurzeit bei seinem Befehlshaber Joe Biden weilt, bemühte zum x-ten Mal das Selbstverteidigungsrecht Israels, was zunehmend unglaubwürdiger wirkt. Denn nach Meinung renommierter Völkerrechtler kann dieses Recht hier nicht zu Anwendung kommen, da Palästina keinen Staat, sondern ein von Israel kontrolliertes Territorium darstellt.

Dass Scholz Israel an die Einhaltung des Völkerrechts erinnert und gleichzeitig das Selbstverteidigungsrecht betont, zeigt einerseits den Eiertanz, den die deutsche Regierung aufführt, andrerseits die Unkenntnis über völkerrechtliche Normen.

Seit vier Monaten beruft sich Israel auf dieses Recht, dem bereits 30 000, vornehmlich Zivilisten, in der überwiegenden Mehrheit Frauen und Kinder, zum Opfer gefallen sind. Seit Jahrzehnten leiden sie unter der Besatzung und werden jetzt in verbotener Kollektivhaftung grundlos attackiert. Die Missachtung des Völkerrechts und des humanitären Völkerrechts ist offensichtlich. Handelt es sich um mehr als «nur» um Vergeltung, ist es nicht nur ein Krieg gegen die Hamas?

Kann Israel sein Ziel erreichen?

Die Bevölkerung im Gazastreifen ist den Luftangriffen schutz- und wehrlos ausgeliefert. Seit vier Monaten will das israelische Militär die Hamas zerschlagen, was ihm trotz pausenloser Luftschläge und immenser Zerstörungen bisher nicht gelungen ist und so auch kaum gelingen wird. Das Vorgehen der israelischen Armee erinnert an die Strategie der US-amerikanischen Streitkräfte, die bei ihren Angriffen auf den Irak 2003 innert kürzester Zeit den Tod Zehntausender Zivilisten in Kauf genommen haben, nur um einen Regime-Change zu erreichen.

Der Konflikt hat zunehmend das Potential, sich zu einem Flächenbrand mit unvorstellbaren Konsequenzen auszuweiten. Die Vorschläge der Hamas für einen Waffenstillstand und eine Beendigung des Krieges werden von Israel abgelehnt. Der Krieg geht weiter. Die angekündigte Operation gegen die Stadt Rafah im Süden des Gaza-Streifens erntet internationale Kritik. Sowohl der Uno-Generalsekretär, António Guterres, als auch der Aussenbeauftragte der EU, Josep Borell, warnten vor den verheerenden Auswirkungen des geplanten Vorgehens. Ob und wann Israel seine Invasion abschliessen wird, steht in den Sternen. Es macht den Eindruck, als ob Israels Ziel darin bestünde, den Gazastreifen vollständig zu zerstören. Ob so die Strukturen der Hamas zerschlagen werden, was immer als offizielles Ziel vorgeben wird, ist unwahrscheinlich. Die tatsächlichen Erfolge gegenüber der Hamas scheinen bescheiden, da nach vier Monaten noch kein durchschlagender Erfolg gemeldet wurde. Möglicherweise hat Israel seinen Gegner unterschätzt.

Einen Hoffnungsschimmer, dass der Krieg bald zu Ende ist, bietet das erste Urteil des IGH, das Israel vor dem «Begehen eines Völkermords» warnt. Eingereicht hatte die Klage Südafrika mit Unterstützung mehrerer, vor allem lateinamerikanischer Staaten, in der es Israel des Völkermords bezichtigte. Während der Westen, wie Bundeskanzler Scholz in Washington betonte, nach wie vor an der Seite Israels stehe, regt sich in anderen Teilen der Erde vermehrt deutliche Kritik. Länder wie Kuba, Chile, Bolivien verurteilen das Vorgehen im Gaza-Streifen unmissverständlich. Auch Chile zieht vor den Internationalen Gerichtshof, um Israel zu verklagen, und wird von anderen Staaten darin unterstützt.

Leise Töne des Umdenkens

Scholz’ Besuch bei Joe Biden hatte auch den Krieg in der Ukraine zum Thema. Beide forderten den Kongress auf, weitere Milliarden freizugeben, damit Putin nicht als Sieger aus dem Konflikt hervorgehen kann. Erstaunlich: Scholz mischt sich hier in die inneren Angelegenheiten der USA ein. Die Aussichten der Ukraine auf einen Sieg standen und stehen jedoch mehr als schlecht. «Die Ukraine braucht neue Kräfte für den Krieg.», schreibt der Tagesanzeiger am 15. Januar 2024. Während Selenskyj im Westen ständig neue Waffen fordert, fehlen Soldaten, die diese Waffen bedienen können. Rekrutiert werden ganz junge und ältere Menschen – zum Teil ohne militärische Erfahrung – , um die Lücken zu füllen. Die meisten noch übriggebliebenen wehrfähigen Männer haben sich ins Ausland abgesetzt, um verständlicherweise einem sinnlosen Fronteinsatz, der nur Tote generieren wird, zu entfliehen. Doch von den westlichen Regierungen wird weiterhin die Kriegshysterie geschürt, obwohl langsam Bedenken aufkommen, ob der Weg so weitergegangen werden kann. Nachdem selbst der deutsche Verteidigungsminister Pistorius in einem Interview mit der Bildzeitung davon gesprochen hat, dass Waffen aus dem Westen trotz der Hoffnung bisher kein «Game-Changer» gewesen seien, stellt sich vermehrt die Frage, wann die Politik endlich zur Einsicht gelangt, dass der Krieg gegen Russland nicht zu gewinnen ist.

Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, der sich bisher als «Falke» zu erkennen gab, setzt seit kurzem auf eine Verhandlungslösung und fordert ein Minsk III-Abkommen. Findet hier ein langsames Umdenken statt?

Erschreckend ist zwar, dass in Deutschland alle etablierten Parteien von links bis rechts auf Kriegskurs sind und die Vernunft sich abgemeldet hat. Der CDU-Abgeordnete Kiesewetter scheint jeglichen Bezug zur Realität verloren zu haben und fordert eine Ausweitung des Krieges auf russisches Territorium. Ist man in Deutschland ins Jahr 1941 zurückgefallen? Waren 25 Millionen getötete Russen nicht genug? Man kann sich nur an den Kopf fassen.

Zum Glück gibt es in der deutschen Parteienlandschaft etwas Neues. Die Anfang Jahr gegründete Partei Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), deren Ziel es unter anderem ist, aktuelle Kriege mit Diplomatie zu beenden und zukünftige zu verhindern, lässt Hoffnung aufkommen. Sie ist eine ermutigende Alternative zu den übrigen kriegstreibenden deutschen Parteien. Sie hat aber auch in vielen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Fragen etwas zu bieten.

Wo steht die Schweiz?

Die Schweiz hat aufgrund ihrer Haltung im Ukraine-Krieg die Bedeutung als neutraler Staat verloren, auch wenn sie sich nach wie vor als neutral betrachtet. Doch das Verhalten des Bundesrats spricht eine ganz andere Sprache. Bereits hat man das 12. EU-Sanktionspaket gegen Russland übernommen und sich damit erneut auf die Seite der Ukraine gestellt. 

Sanktionen sind Waffen, die den betroffenen Staat zur Verhaltensänderung – im Falle Russlands zum Rückzug aus der Ukraine – zwingen sollen. Damit ist die Übernahme von Sanktionen ein «kriegerischer Akt» und keineswegs mit der Schweizer Neutralität vereinbar. In dieser Situation Friedensgespräche zu lancieren, bei denen Russland nicht mit am Tisch sitzt, ist ein Rohrkrepierer und zum Scheitern verurteilt. Russ­land hat klar signalisiert, dass die Schweiz ihre Neutralität verloren habe. Die Idee des Bundesrats und von Teilen des Parlaments, das Völkerrecht zu Gunsten der Ukraine zu verändern, indem es internationalen Organisationen erlaubt sein soll, Vermögen der russischen Zentralbank oder russischer Staatsbetriebe zu konfiszieren und an die Ukraine weiterzugeben, ist gefährlich. Undiplomatischer kann man sich nicht mehr verhalten. In der Frage der Neutralität versagt der Bundesrat auf ganzer Linie, insbesondere Ignazio Cassis und Viola Amherd.

In Anbetracht der zunehmenden Entfernung unseres Bundesrats von der Neutralität kommt der Neutralitätsinitiative enorme Bedeutung zu. Mit ihr haben wir die Möglichkeit, dem Treiben des Bundesrats ein Ende zu setzen. Die Schweiz könnte wieder ihren Platz als Vermittlerin und Mediatorin in der Völkergemeinschaft einnehmen, zum Wohle unseres Staates und seiner Bevölkerung. Aber auch als Chance in internationalen Konflikten eine konstruktive Rolle zu spielen.

veröffentlicht 13. Februar 2024

«Der Westen sollte sich nicht länger Schuld am tragischen Schicksal des ukrainischen Volkes aufbürden»

Interview mit General a. D. Harald Kujat*

General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)
General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)

Zeitgeschehen im Fokus In den USA ist das finanzielle Unterstützungspaket für die Ukraine noch immer nicht unter Dach und Fach. Jetzt ist die EU mit 50Milliarden Euro in die Bresche gesprungen. Die Zweifel nehmen zu, ob die USA die Ukraine auch langfristig unterstützen werden, insbesondere falls Trump als Präsident gewählt werden sollte. Könnten die Europäer die USA, wie es heisst, so lange es nötig ist, ersetzen?

General a. D. Harald Kujat Zu Beginn des dritten Kriegsjahres ist es offensichtlich, dass sich in diesem Jahr wahrscheinlich das Schicksal der Ukraine entscheiden wird. Die Zukunft des Landes liegt in der Hand des Westens. Sie hängt jedoch auch davon ab, welche Kriegsziele Russland verfolgt. Will Russland verhindern, dass die Ukraine zu einem Vorposten der Nato wird, und die bisherigen, überwiegend von einer russischsprachigen Bevölkerung bewohnten Eroberungen konsolidieren, oder ist es so, wie jetzt behauptet wird, dass Russland die gesamte Ukraine erobern will, um von dieser Ausgangsbasis Angriffe gegen andere Staaten – auch Nato-Staaten – zu führen?

Die Ukraine braucht Geld, sie braucht militärische Ausrüstung, Waffen und Munition, aber ihr fehlen vor allem Soldaten. «Wir sind auf finanzielle Unterstützung angewiesen, sonst verlieren wir», erklärte Selenskyj. Fast die Hälfte des ukrainischen Staatshaushalts wird vom Westen finanziert. Jede Verzögerung oder Verringerung des Mittelflusses könnte die staatliche Insolvenz auslösen, obwohl die Ukraine durch die allgegenwärtige Korruption selbst erheblich zu ihren finanziellen Problemen beiträgt. Solange der Krieg dauert, ist die Ukraine auf die umfassende militärische Unterstützung des Westens angewiesen. Noch viele Jahre darüber hinaus erfordern der Wiederaufbau und die wirtschaftliche Gesundung des Landes ein grosses, langfristiges Engagement, vor allem der Europäer.

Bundeskanzler Scholz hat sich bereits vor einiger Zeit an die Spitze der Staaten gesetzt, die es der Ukraine ermöglichen sollen, den Krieg so lange fortzusetzen, wie sie es für erforderlich hält, und er hat die europäischen Staaten zu grösserer Leistungsbereitschaft aufgefordert. Der Bundeskanzler hat offenbar auch einen wesentlichen Anteil daran, dass alle EU-Staaten, also auch Ungarn, dem europäischen Finanzierungspaket zugestimmt haben. Allerdings soll das letzte Paket über 50 Milliarden Euro auf die Jahre 2024 bis 2027 aufgeteilt werden. Das ist im Vergleich zum amerikanischen Unterstützungspaket in Höhe von 60 Milliarden US-Dollar nicht viel und deckt weder den ukrainischen Finanzbedarf zur Aufrechterhaltung der Regierungsfunktionen noch den militärischen Unterstützungsbedarf ab. Es verdichtet sich jedoch der Eindruck, dass die Europäer die USA möglicherweise vollständig ersetzen müssten, falls diese als Hauptunterstützer ausfallen. Sei es wegen der Weigerung des Kongresses, weitere Mittel freizugeben, oder weil die Unterstützung nach einem Regierungswechsel nicht nur finanziell, sondern ganz eingestellt wird. Wegen der andauernden Schwierigkeiten, das aktuelle Unterstützungspaket durchzusetzen, werden bereits Ersatzlösungen diskutiert. Beispielsweise könnten Japan und Südkorea, die keine Waffen in Kriegsgebiete liefern, Waffen an die USA zur Weiterleitung an die Ukraine abgeben. Eine andere Option wäre, dass die Europäer amerikanische Waffen bezahlen, die für die Ukraine bestimmt sind. Ausserdem soll die militärische Unterstützung nicht mehr von den USA im sogenannten Ramstein-Format, sondern von der Nato koordiniert werden. Das sind bedeutende Schritte zu einer Europäisierung des Krieges.

Beschränkt sich die Unterstützung auf Waffen und Geld?

Die USA liefern nicht nur Geld und Waffen. Sie leisten einen erheblichen Beitrag zur Ausbildung ukrainischer Soldaten, liefern zeitnah Aufklärungs- und Zieldaten und wirken ganz entscheidend bei der Operationsplanung mit. Diese Leistungen können die europäischen Staaten nicht erbringen, falls Trump nach seiner Wahl zum Präsidenten einen radikalen Kurswechsel einleitet. Deshalb ist es verständlich, dass europäische Politiker, die ausschliesslich in Kriegsführungs-szenarien denken, die ersten Erfolge Trumps im Vorwahlkampf mit ziemlichem Entsetzen verfolgen.

Seit dem Beginn des Gaza-Kriegs sind die Informationen über den Krieg in der Ukraine spärlich geworden. Wird die Ukraine weiter versuchen, mit der Unterstützung durch westliche Waffenlieferungen die von Russland besetzten Gebiete einschliesslich der Krim zurückzuerobern, oder wird sie wegen der in der Offensive deutlich gewordenen Schwäche ihrer Streitkräfte einen Waffenstillstand anstreben?

Die ukrainischen Streitkräfte haben nach der gescheiterten Offensive die Fähigkeit zu einer offensiven Landkriegsführung weitgehend verloren. Deshalb versuchen sie, durch Angriffe auf russisches Territorium zu demonstrieren, dass sie weiter militärisch handlungsfähig sind. Dazu gehören auch Angriffe auf die Zivilbevölkerung, beispielsweise in Belgorod oder Donezk. Künftig werden sicherlich auch die Anschläge durch Spezialkräfte auf die kritische Infrastruktur Russlands verstärkt.

An der militärischen Front haben die russischen Streitkräfte die Initiative übernommen. Allerdings sind sie nicht wie die ukrainischen Streitkräfte zu einer grossangelegten Offensive angetreten, sondern setzen lokale Angriffsschwerpunkte mit dem Ziel, die bisherigen Eroberungen zu konsolidieren und grössere Verluste zu vermeiden. Die gegenwärtigen russischen Schwerpunkte sind Awdijiwka, deren vollständige Eroberung den Weg für die Konsolidierung der östlichen Donbas-Region freimachen würde. Im Raum Kupjansk haben die Russen eine grosse Anzahl von Truppen zusammengezogen, die offenbar die Region Charkiw erobern soll. Wahrscheinlich wollen die Russen auch Odessa einnehmen.

Wie reagieren die USA auf diese Entwicklung?

Die kritische Lage der Ukraine hat die USA bewogen, eine neue Strategie zu entwickeln. Die ukrainischen Streitkräfte sollen vorerst in die strategische Defensive gehen, um aus fest ausgebauten Verteidigungsstellungen das Territorium, das sich noch unter ihrer Kontrolle befindet, zu halten und die hohen personellen Verluste zu reduzieren. Damit sollen die Voraussetzungen für eine langfristige Stärkung und grössere Durchhaltefähigkeit des Militärs und der Wirtschaft geschaffen werden. Die 4-Phasen-Strategie (fight, build, recover and reform), soll die Ukrainer davon überzeugen, dass in zehn Jahren ukrainische Streitkräfte mit grosser Kampfkraft und somit einem hohen Abschreckungsfaktor entstehen. Aber bereits bis Ende 2024 soll die Kampfkraft der ukrainischen Streitkräfte wesentlich grösser als heute sein.

Das bedeutet jedoch, dass der ukrainische Präsident sein Ziel, die Rückeroberung aller von Russland besetzten Gebiete einschliesslich der Krim, aufgeben müsste. Für die Umsetzung dieser Strategie sollen die europäischen Verbündeten zehn Jahre lang spezifische Verpflichtungen zur militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung eingehen, die in verbindlichen nationalen Dokumenten festgelegt und in bilateralen Abkommen mit der Ukraine vereinbart werden. Die zehnjährige Verpflichtung ist als Sicherung gegen die von Trump angekündigte Beendigung der Ukraine-Unterstützung gedacht. Sie soll jedoch auch verhindern, dass ein Regierungswechsel in einem europäischen Staat zu einem Kurswechsel führt. Grossbritannien hat bereits einen entsprechenden Vertrag mit der ukrainischen Regierung geschlossen. Die Bundesregierung ist offenbar ebenfalls bereit, diese zehnjährige Unterstützung- und Beistandsverpflichtung einzugehen. Falls alle Nato-Staaten diesem Beispiel folgen, käme dies einer Nato-Mitgliedschaft durch die Hintertür gleich, jedenfalls soweit es um die kollektive Verteidigung nach Artikel 5 des Nato-Vertrages geht. Deshalb gibt es in den USA auch Überlegungen, mit der Ukraine einen Mechanismus vergleichbar dem nach Artikel 4 zu vereinbaren, wonach die Mitgliedsstaaten «einander konsultieren (werden), wenn nach Auffassung eine(s) von ihnen die Unversehrtheit des Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht sind.»

Wird die Ukraine sich auf diesen langfristigen Plan einlassen?

Bisher scheint das nicht der Fall zu sein. Der ukrainische Präsident hat sich zu einer Defensivstrategie bereits mehrfach, unter anderem in Davos, negativ geäussert. Er setzt nach wie vor auf eine offensive Operationsführung, zu der die ukrainischen Streitkräfte allerdings für die vorhersehbare Zukunft nicht in der Lage sind.

In diesem Zusammenhang erhält das Zerwürfnis zwischen Selenskyj und dem militärischen Oberbefehlshaber, General Saluschnyj, das zu dessen Entlassung führte, besondere Bedeutung. Zuletzt ging es darum, wer die Verantwortung für die Mobilisierung von 500 000 Soldaten zum Ausgleich der hohen personellen Verluste übernehmen soll. Entscheidend waren aber die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten über die Operationsführung, die Erreichbarkeit der politischen Ziele in diesem Krieg und die öffentliche Darstellung der militärischen Erfolge beziehungsweise Misserfolge.

Saluschnyj hatte vor der vom Westen mit grossen Erwartungen und unrealistischen Erfolgsaussichten begleiteten ukrainischen Offensive die Voraussetzungen für einen Erfolg präzise definiert und seine Skepsis geäussert, falls diese nicht erfüllt würden. Er hat auch anders, als es der vor allem von amerikanischen und britischen Offizieren erarbeitete Operationsplan vorsah, einen abweichenden Kräfteansatz gewählt, der stärker den aktuellen Gegebenheiten auf dem Gefechtsfeld Rechnung trug. Schliesslich hat er Anfang November 2023 öffentlich eingestanden, dass die Offensive ein Fehlschlag war. Saluschnyj setzte sich damit in einen offenen Gegensatz zu seinem Präsidenten, der die Lage durchwegs übertrieben positiv darstellte und dafür bei den westlichen Politikern und in den Medien grösste Aufmerksamkeit und Bestätigung erfuhr. Saluschnyj geniesst dagegen – nach meiner Auffassung – zu Recht höchstes Ansehen in den Streitkräften und in der Bevölkerung.

Vor kurzem hat Saluschnyj in einem persönlichen Beitrag erneut die Voraussetzungen für einen militärischen Sieg der Ukraine genannt. Er fordert, dass der Westen die ukrainischen Streitkräfte mit Systemen ausrüstet, die ihnen eine technologische Überlegenheit über den Angreifer verschafft. Ich bin überzeugt, er weiss, dass dies innerhalb von fünf Monaten, wie er es verlangt, unmöglich ist, und dass die USA dazu auch nicht bereit sind. Selenskyj hatte Saluschnyj vor kurzem zum Rücktritt aufgefordert, was dieser ablehnte. Seine Entlassung erfolgt in einer äusserst kritischen Phase. Es wird sich schon sehr bald zeigen, dass Selenskyjs Entscheidung ein grosser Fehler ist.

Nach dem Scheitern der ukrainischen Offensive wächst in Europa die Furcht, Russlands strategisches Ziel sei die Eroberung der gesamten Ukraine, um danach das Baltikum beziehungsweise Polen anzugreifen und einen Krieg mit der Nato zu beginnen. In der Nato bereitet man sich auf diese Bedrohung vor, wozu beispielsweise auch das grosse Manöver gehört, das vor kurzem angelaufen ist.

In deutschen Medien wird schon seit einiger Zeit die These verbreitet, dass der Angriff auf die Ukraine Teil einer langfristigen imperialen Strategie sei, den Einflussbereich der Sowjetunion zurückzuerobern. Seit sich die militärische Lage eindeutig zugunsten Russlands neigt, wird von «Militärexperten» geradezu hysterisch anschwellend Kriegsfurcht verbreitet. Ob dies aus Unkenntnis, ideologischer Verengung, purer Wichtigtuerei geschieht oder, um damit das Bemühen um die Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit zu rechtfertigen, ist nicht immer eindeutig erkennbar. Dass die Nato nach vielen Jahren wieder ein grösseres, wenn auch vergleichsweise bescheidenes Manöver durchführt, halte ich für selbstverständlich. Schliesslich haben sich die strategischen Rahmenbedingungen seit dem letzten grossen Manöver 1988 erheblich verändert. Durch die von einem russischen Angriff ausgehende öffentlich gemachte Ausgangslage trägt die Nato jedoch offensichtlich bewusst dazu bei, die Kriegshysterie zu schüren.

Wie reagiert die deutsche Bevölkerung darauf?

Ich habe nicht den Eindruck, dass die Stimmungsmache in weiten Teilen der Bevölkerung Kriegsfurcht auslöst. Offensichtlich wollen vor allem diejenigen, die noch vor einiger Zeit den militärischen Sieg beziehungsweise den Kriegsgewinn der Ukraine prognostizierten, bedenkenlos die weitere Unterstützung der Ukraine mobilisieren, indem sie behaupten, eine ukrainische Niederlage werde Russlands Machthunger nicht befriedigen, und es werde deshalb vor einem Angriff auf Nato-Staaten nicht zurückschrecken. Deutschland und Europa stünden vor einem Jahrzehnt der Konfrontation durch Russland.

Es ist schon bemerkenswert, dass Politiker mit der Vermutung eines angeblich bevorstehenden russischen Angriffskrieges die Forderung nach einer deutlichen Erhöhung der Verteidigungsausgaben zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit begründen. Mehr als ein Jahrzehnt haben sie den Verfassungsbruch hingenommen, der 2011 durch die sogenannte «Neuausrichtung» der Bundeswehr entstanden ist. Um es ganz deutlich zu sagen: Wir brauchen keine – im übrigen auch gefährliche Kriegshysterie – um zu begründen, dass die Bundeswehr zur Landes- und Bündnisverteidigung fähig sein muss. Es reicht, endlich den Verfassungsauftrag zu erfüllen.

Bleibt also die Frage, ob es überzeugende Belege dafür gibt, dass Russland in wenigen Jahren nicht nur dazu fähig sein wird, die Nato anzugreifen, sondern sich auch darauf vorbereitet, weil es dies beabsichtigt. Eine Voraussetzung für einen Angriff auf Nato-Staaten wäre die Eroberung der gesamten Ukraine, um sich für den Angriff eine geeignete Ausgangsbasis zu schaffen. Bei seinem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat Russland etwa 190 000 Soldaten gegen eine mehr als doppelt so starke ukrainische Streitmacht eingesetzt, die vom Westen hervorragend ausgebildet und ausgerüstet worden war. Dass damit die Eroberung der gesamten Ukraine unmöglich war, musste auch der russischen Führung klar gewesen sein. Im Zuge der Istanbuler Friedensverhandlungen Ende März 2022 hat Russland dann aufgrund des für beide Seiten positiven Verlaufs und als Zeichen des guten Willens seine Truppen aus den eroberten Gebieten um Kiew abgezogen und den vollständigen Rückzug auf den Stand vor Angriffsbeginn vertraglich zugesichert.

Insofern gehe ich davon aus, dass der Angriff auf die Ukraine nicht Teil eines imperialen Plans zur Rückeroberung des ehemaligen sowjetischen Einflussbereiches beziehungsweise darüber hinaus ganz Europas ist. Natürlich können sich Kriegsziele im Verlauf eines Krieges ändern. Ob die Vermutungen der russischen Angriffsabsichten zutreffen, liesse sich übrigens durch einen Waffenstillstand und anschliessende Friedensverhandlungen feststellen. Zudem könnte das Verhandlungsergebnis Regelungen enthalten, die ausschliessen, dass ukrainisches Territorium von Russland als Aufmarschgebiet für einen Angriff auf Mitteleuropa genutzt werden kann. Darüber hinaus könnten mit Russland Vereinbarungen geschlossen werden, die vor allem die Sicherheit der baltischen Staaten erhöhen, aber auch insgesamt zu grösserer Stabilität zwischen der Nato und Russland beitragen. Ich denke beispielsweise an einen aktualisierten KSE-Vertrag über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte mit neuen Flankenregelungen und an vertrauensbildende militärische Massnahmen, die zu grösserer Transparenz und Vorhersehbarkeit des politisch-militärischen Handelns beitragen.

Offenbar geht es Moskau jedoch vor allem darum, die Ausweitung der Nato durch die Mitgliedschaft der Ukraine bis an die russische Grenze zu verhindern. Russland hat bereits Mitte der neunziger Jahre das Ziel einer strategischen Pufferzone zur Nato – eines «cordon sanitaire» – verfolgt und diese Idee seit einiger Zeit wieder in der Form einer entmilitarisierten Zone auf ukrainischem Territorium aufgebracht. In letzter Zeit zeigt die russische Operationsführung jedoch auch, dass Russland Vorkehrungen gegen das Risiko trifft, dass westliche Truppen in den Krieg eingreifen könnten, um eine totale Niederlage der Ukraine abzuwenden.

Sie erwähnten die mangelhaften Fähigkeiten der Bundeswehr. Plädieren Sie grundsätzlich dafür, dass die Bundeswehr im Rahmen der Nato verteidigungsfähig sein muss?

Unabhängig von den sich immer wieder verändernden sicherheitspolitischen und geostrategischen Rahmenbedingungen sollten alle Mitgliedsstaaten der Nato einen angemessenen Beitrag zur kollektiven Verteidigung leisten, um ihre Freiheit, Unabhängigkeit und territoriale Integrität gemeinsam zu gewährleisten. Ich frage mich in letzter Zeit oft, wie Helmut Schmidt auf die gegenwärtige Sicherheitslage in Europa reagieren würde. Er würde wohl sagen, dass ein militärisches Gleichgewicht ein notwendiges, aber kein hinreichendes Element ist, den Frieden zu sichern. Hinzukommen muss das Bemühen, ein militärisches Gleichgewicht politisch zu stabilisieren. Hinzukommen muss der Wille, mit der anderen Seite zu reden und auf ihre Interessenlage einzugehen. Hinzukommen müssen Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen sowie Vereinbarungen über grössere Transparenz und militärische vertrauensbildende Massnahmen.

Sowohl auf der militärischen wie auf der politischen Seite liegt seit dem Beginn dieses Jahrhunderts einiges im Argen. Deshalb plädiere ich dafür, die Anstrengungen darauf zu richten, die Bundeswehr wieder in die Lage zu versetzen, ihren verfassungsmässigen Auftrag der Landes- und Bündnisverteidigung zu erfüllen. Dazu muss sie über aufwuchsfähige Strukturen verfügen, um durch eine problemlose Integration von Reservisten schnell einen aufgabengerechten Verteidigungsumfang zu erreichen, mit einem Personalumfang, der das notwendige Fähigkeitsspektrum abdeckt, und mit einer bedrohungsgerechten und technologisch zukunftsfesten Ausrüstung und Bewaffnung in allen Fähigkeitskategorien. Unsere Verbündeten fürchten nicht ein starkes, sondern ein schwaches Deutschland. Da müssen wir ansetzen und die Bundeswehr wieder zu einer leistungsfähigen Armee auf der Höhe der Zeit entwickeln. Dies wäre übrigens auch ein überzeugendes Signal der Entschlossenheit, keine Verschiebung des militärischen Gleichgewichts zu unseren Ungunsten zuzulassen. Letztendlich ist dies jedoch allein keine hinreichende Bedingung für Frieden und Sicherheit. Deshalb muss der Wille dazu kommen, das militärische Gleichgewicht durch politische Vereinbarungen zu stabilisieren.

Wie ist es denn zu verstehen, dass nun sogar von der Gefahr eines dritten Weltkriegs gesprochen wird? Der ehemalige deutsche Aussenminister Joschka Fischer ist sogar der Auffassung, dass die EU eine eigene atomare Abschreckung braucht.

Ich möchte vorausschicken, dass ich es eigentlich nicht für sinnvoll halte, auf derartige Äusserungen von Laien zu reagieren. Aber die Diskussion nimmt inzwischen ja einen grösseren Raum ein. Wir haben bereits über die Bedeutung eines konventionellen militärischen Gleichgewichts gesprochen. In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass eine starke konventionelle Verteidigung die nukleare Schwelle deutlich, möglicherweise sogar entscheidend anhebt. Denn dadurch wird das Risiko einer nuklearen Eskalation verringert. Einerseits, weil wir durch die Fähigkeit zu einer erfolgreichen konventionellen Verteidigung nicht zu einem nuklearen Ersteinsatz gezwungen wären. Andererseits, weil die Abschreckung eines potenziellen Angreifers grundsätzlich erhöht wird, denn er hätte von Anfang an zu berücksichtigen, dass er zur Durchsetzung seines Angriffs möglicherweise einen nuklearen Ersteinsatz riskieren müsste.

Gegenwärtig werden zwei Varianten diskutiert, Europa soll Nuklearmacht werden, beziehungsweise Deutschland soll über Nuklearwaffen verfügen. Frankreich und Grossbritannien nehmen als Nuklearmächte und ständige Mitglieder des Uno-Sicherheitsrats eine Sonderstellung in Europa ein. Die Entscheidung über den Einsatz ihrer Nuklearwaffen bleibt den nationalen Regierungen vorbehalten. Sie werden diese Entscheidungskompetenz nicht mit anderen europäischen Regierungen teilen und schon gar nicht an die Europäische Union abtreten. Die britischen und französischen Nuklearpotentiale sind Teil der nuklearen Abschreckungskomponente der Nato und damit komplementär zu US-amerikanischen Nuklearwaffen zu sehen.

Wenn wir einmal davon absehen, dass Deutschland verbindlich auf den Besitz von Nuklearwaffen verzichtet hat, stellt sich die Frage, ob die Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen für uns ein Zugewinn an Sicherheit wäre und was dies für die Stellung Deutschlands in der Nato bedeuten würde. Eine ausschliesslich nationale Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen ohne deren Integration in das Bündnis und ohne Abstimmung mit unseren Verbündeten würde zwar das Risikokalkül eines potenziellen Gegners erschweren, wäre jedoch ein extrem hohes Risiko für Deutschland und für unsere Verbündeten. Denn die Bundesregierung müsste ihre Bereitschaft, diese Waffen im Notfall einzusetzen, glaubwürdig vermitteln können, wissend, dass jeder Nuklearwaffeneinsatz eine Kette von nicht vorhersehbaren Reaktionen mit schicksalhaften Folgen auslösen kann, die unsere Welt für immer verändern. Deshalb würden weder die beiden europäischen Nuklearstaaten noch die USA den Besitz oder die Verfügungsgewalt Deutschlands über Nuklearwaffen unterstützen. Sollten wir jedoch ein deutsches Nuklearwaffenpotential ausschliesslich nur im Rahmen der Nato und in Anwendung der Nato-Verfahren einzusetzen beabsichtigen, wäre der Besitz von Nuklearwaffen weder für Deutschland noch für unsere Verbündeten ein Zugewinn an Sicherheit. Und auch unter diesen Bedingungen, würden wir von unseren Verbündeten keine Unterstützung erhalten.

In Davos hat Selenskyj erneut für seinen «Friedensplan» geworben. Vor nahezu zwei Jahren lag ein Friedensplan auf dem Tisch, der das bis heute anhaltende Schlachten hätte verhindern können. Obwohl beide Konfliktparteien das Abkommen «ad referendum» akzeptiert und paraphiert hatten, wurde es von der Ukraine auf Druck des Westens nicht abgeschlossen. Warum hat man vom Westen den Friedensvertrag damals torpediert? Hat der aktuell vom Westen gefeierte «Friedensplan» Selenskyjs eine reelle Chance, mit Russland ausgehandelt zu werden?

Bisher hat Selenskyj ja noch nicht einmal die Absicht erkennen lassen, den Plan mit Russland zu verhandeln. Auch Selenskyjs Dekret von Anfang Oktober 2022, das Verhandlungen mit Russland verbietet, ist bisher nicht aufgehoben worden. Ausserdem würde wohl kein souveräner Staat eine derartige Friedensvereinbarung unterschreiben, es sei denn, er sei gezwungen zu kapitulieren. Offensichtlich gehen Selenskyj und die den Krieg unterstützenden westlichen Staaten noch davon aus, die Ukraine könnte den Krieg gewinnen. Oder – wie es oft heisst – die Ukraine wird siegen, weil sie siegen muss.

In Deutschland wird schon die Tatsache, dass Ende März 2022 in Istanbul eine von beiden Seiten paraphierte Vereinbarung erzielt wurde, unterdrückt oder geleugnet, obwohl das nicht einmal die ukrainische Regierung abstreitet und ukrainische Verhandlungsteilnehmer es bestätigen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Eine nähere Beschäftigung mit dem Inhalt des Abkommens würde zeigen, dass die Ukraine ein sehr gutes Ergebnis erreicht hatte, das den Krieg nach sechs Wochen zu durchaus annehmbaren Bedingungen beendet hätte. Jeder vernünftige Mensch würde dann jedoch fragen, weshalb Selenskyj nicht bereit war, durch seine Unterschrift den Tod hunderttausender Ukrainer und die Zerstörung des Landes zu verhindern, nachdem er sich sogar in russischen Medien positiv zu den Verhandlungen geäussert hatte. Und jeder vernünftige Mensch würde weiter fragen, warum er und die ihn unterstützenden westlichen Staaten immer noch nicht bereit sind, dem Frieden eine Chance zu geben. Die Politiker, die Anfang April 2022 den Frieden zwischen Russland und der Ukraine verhindert hatten, waren offensichtlich überzeugt, die Ukraine könne Russland mit ihrer Unterstützung besiegen. Dass dies eine Fiktion war, sollte inzwischen eigentlich jedem klargeworden sein. Die Ukrainer haben erreicht, wozu ihre Streitkräfte durch westliche Unterstützung in der Lage waren. Der Westen sollte sich nicht länger Schuld am tragischen Schicksal des ukrainischen Volkes aufbürden.

Herr General Kujat, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* General a.D. Harald Kujat, geboren am 1. März 1942, war unter anderem Generalinspekteur der Bundeswehr und als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses höchster Militär der Nato. Zugleich amtete er als Vorsitzender des Nato-Russland-Rates sowie des Euro-Atlantischen-Partnerschaftsrates der Generalstabschefs. Für seine Verdienste wurde Harald Kujat mit einer grossen Zahl von Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Kommandeurskreuz der Ehrenlegion der Republik Frankreich, dem Kommandeurskreuz des Verdienstordens Lettlands, Estlands und Polens, der Legion of Merit der Vereinigten Staaten, dem Grossen Band des Leopoldordens des Königreichs Belgien, dem Grossen Bundesverdienstkreuz, sowie mit weiteren hohen Auszeichnungen, unter anderem aus Malta, Ungarn und der Nato.

veröffentlicht 13. Februar 2024

«Mehr und mehr werden die USA und Israel von der globalen Mehrheit verurteilt und isoliert»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Professor Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Professor Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat Israel angehalten, dafür zu sorgen, dass die Armee keinen Genozid im Gaza-Streifen verübt und dass humanitäre Hilfe zugelassen werden muss. Wie sehen Sie das Urteil aus völkerrechtlicher Sicht?

Professor Dr. Alfred de Zayas Der IGH hätte einen Waffenstillstand anordnen sollen. Artikel 41 des IGH-Statuts bestimmt:

«1. Der Gerichtshof ist befugt, sofern es seines Erachtens die Umstände erfordern, diejenigen vorsorglichen Massnahmen zu bezeichnen, die zum Schutze der Rechte jeder Partei getroffen werden müssen. 

2. Vorbehältlich des endgültigen Entscheids wird den Parteien und dem Sicherheitsrat von den vorgesehenen Massnahmen sofort Kenntnis gegeben.»

Was hätte das für Konsequenzen?

Viele oder gar keine. Viele, wenn die Weltgemeinschaft endlich agiert. Keine, wenn wir es tolerieren, wie wir es toleriert haben, dass Aserbaidschan und die Türkei im November 2023 das Gebiet von Nagorno Karbach ethnisch säuberten, indem sie 120 000 Armenier vertrieben – eine Fortsetzung des Genozids von 1915 bis 1923.

Vorsorgliche Massnahmen sind verbindlich. Israel muss sie respektieren, wird es aber nicht, weil Israel die bedingungslose Unterstützung der USA geniesst. Mehr und mehr werden die USA und Israel von der globalen Mehrheit verurteilt und isoliert.

Können Sie an der Reaktion Israels feststellen, dass es beide Massnahmen einhält und sich so eine Änderung der militärischen Vorgehensweise erkennen lässt?

Nein. Seit Jahrzehnten befindet sich Israel in einer Rebellion gegen die Uno, gegen das Internationale Humanitäre Recht, gegen das Völkerrecht grundsätzlich. Die Weltgemeinschaft sollte die Konsequenzen daraus ziehen und Israel mit einem wirtschaftlichen Boykott belegen, diplomatische Beziehungen abbrechen und israelische Politiker und Militärangehörige gemäss dem Prinzip der «universellen Jurisdiktion» verhaften und aburteilen, wie es zum Beispiel Schweden mit iranischen Bürgern getan hat, die naiver Weise für einen Familienbesuch nach Schweden geflogen waren.

Verschiedene Menschenrechtsorganisationen, aber auch die Palästinenser im Gaza-Streifen, der Westbank und in der Diaspora waren enttäuscht vom Urteil, weil der IGH keinen Waffenstillstand gefordert hat.

Ehre gebührt diesen Menschenrechtsorganisationen. Südafrika hatte sich um neun Punkte beim Gerichtshof bemüht. Der Gerichtshof hat sechs Punkte bestätigt.  Diese sechs Punkte reichen vollkommen, um dem Völkermord ein Ende zu setzen. Man kann die sechs Punkte nur dann umsetzen, wenn es zu einem Waffenstillstand kommt. Aber gewiss wäre eine deutliche Waffenstillstandsforderung besser gewesen. Viele Menschen hätten das gewünscht, denn es hätte eine grosse symbolische Bedeutung.

Müssten die Kampfhandlungen nicht sofort eingestellt werden, um einen Genozid, wie ihn Südafrika anprangert und vor dem der IGH warnt, zu verhindern?

Genau. Aber so oder so wollen weder Israel noch die USA einlenken. Beide haben sich verrannt. Es wird nicht leicht sein, aus dieser misslichen Situation herauszukommen. Israel und die USA setzen auf Eskalation. Dies könnte den ganzen mittleren Osten in Flammen setzen: Irak, Iran, Jemen, Ägypten, Jordanien, Syrien, Libanon und so weiter – sogar die Türkei.

Israel behauptet, mit seiner Militäraktion die Hamas auslöschen zu wollen, und beruft sich dabei auf das Selbstverteidigungsrecht. Inzwischen sind etwa 30 000 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet worden, insbesondere Frauen und Kinder. Kann man die Argumentation Israels aus völkerrechtlicher Perspektive aufrechterhalten?

Nein, keinesfalls. Israel ist ein Okkupant, ein Besetzer-Staat, und deshalb kann es sich nicht auf das Selbstverteidigungsrecht berufen. Israel ist seit 1947 der Angreifer. Dagegen haben die Palästinenser – wie alle Völker unter Okkupation – ein Widerstandsrecht, auch mit Waffen, wie wir das von der Entkolonialisierung kennen und von vielen Uno-Resolutionen, unter anderem die Resolution 2625, die das Recht auf Widerstand bestätigen. Israel muss zunächst das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser umsetzen, wie Hunderte von Uno-Resolutionen und das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes von 2004 verlangen. Artikel 51 der Uno-Charta bestimmt: 

«Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Massnahmen getroffen hat. Massnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen.»

Israel behauptet, es habe ein Recht auf Selbstverteidigung. Dieses Recht gilt allerdings nur, wenn der «Verteidiger» nicht der eigentliche Angreifer ist. Der Krieg fing nicht am 7. Oktober 2023 an, sondern mit der Nakba von 1947/48. Es sind die Palästinenser, die ein Recht auf Selbstverteidigung gegen Landraub und Apartheidspolitik Israels haben. Ausserdem erlaubt das Recht auf Selbstverteidigung weder Kollektivstrafen noch Vergeltung und schon gar nicht Völkermord!

Die Sache ist bereits vor dem Sicherheitsrat, aber die USA sind gemäss Artikel III e der Völkermordskonvention selbst mitverantwortlich für den Völkermord. Die Waffen, die Palästinenser töten, sind US-Waffen, und die USA hat sogar gegen die Resolution des Sicherheitsrats für einen Waffenstillstand das Veto eingelegt.

Die Zeit ist gekommen, dass die Generalversammlung auf der Basis der Resolution «Uniting for Peace» sich der Sache annimmt und eine Resolution gegen Israel und alle Staaten, die Israel unterstützen und mit Waffen beliefern, erlässt.1Danach müssen die individuellen Staaten eigene Massnahmen gegen Israel durchsetzen. Es geht um Leben und Tod der Palästinenser.

Pnina Tamano-Shata, die israelische Ministerin für Einwanderung und Integration, sagte in einem NZZ-Interview: «Die Einzigen, die einen Genozid wollen, sind die Hamas.» Was sagen Sie zu dieser Einschätzung? Hat sie eine Berechtigung?

Das ist dreist, menschenverachtend. Auf Jiddisch nennt man das Chuzpe, eine Umkehrung der Realität, eine Frechheit ohne Gleichen. Und das sage nicht nur ich, das sagen auch Freunde von mir, bekannte jüdische Professoren und Kritiker der Politik von Benjamin Netanjahu wie Ilan Pappe, Norman Finkelstein, Jeffrey Sachs. Tamano-Shatas verkündet klassische Propaganda und Desinformation bezüglich dem Israel-Palästina-Konflikt: Die Opfer werden zu Tätern und umgekehrt. Tacitus schrieb schon vor 2000 Jahren, es liege in der menschlichen Natur, die zu hassen, gegen die man Unrecht getan hat: Proprium humani ingenii est odisse quem laeseris (Tacitus, Agricola, 42). Und – was ärgerlich ist – die NZZ druckt diesen Unsinn ab.

Welche friedlichen Massnahmen könnten noch ergriffen werden, um dem Schlachten im Gaza-Streifen, aber auch in der Westbank, was sogar die USA kritisieren, ein Ende zu setzen?

Es wäre hilfreich, wenn 100 Uno-Mitgliedsländer die diplomatischen Beziehungen zu Israel abbrechen würden. Man kann dem Völkermord nicht tatenlos zusehen.

Was erstaunt, ist, dass noch keine Stimmen laut wurdenoder man hört sie nicht, die das Töten von Frauen als einen Akt der Frauenverachtung darstellen und Israel dafür anklagen.

Die Uno-Sonderberichterstatterin über «Violence against Women», Reem Alsalem, hat etliche Male das Töten von Frauen und Kindern verurteilt. Aber die Medien ignorieren sie.²

Wenn eine russische Rakete in der Ukraine fünf Zivilisten tötet, was sicher nicht tolerierbar ist, gibt es eine Empörung in den westlichen Medien darüber. Dass in vier Monaten Krieg im Gaza-Streifen mehr Zivilisten umgekommen sind als im zwei Jahre andauernden Ukrainekrieg, wird möglichst vertuscht

Weil die westliche Presse – New York Times, Washington Post, BBC, FAZ, DIE ZEIT, sogar die NZZ – eben nicht als unabhängig betrachtet werden können. Diese «Lügen- und Lückenpresse» steht weitestgehend im Dienste Washingtons und Brüssels. Nicht nur Reem Ansalem, auch Rapporteure wie Richard Falk, Michael Lynk, John Dugard, Alena Douhan, Idriss Jazairy oder Michael Fakhri werden schlichtweg von der Presse des Establishments ignoriert.

Herr Professor de Zayas, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ https://legal.un.org/avl/ha/ufp/ufp.html
https://www.un.org/en/ga/sessions/emergency.shtml

² www.middleeasteye.net/opinion/war-gaza-israels-killing-women-and-children-bodes-ill-world
www.ohchr.org/en/press-releases/2023/11/women-bearing-brunt-israel-gaza-conflict-un-expert

veröffentlicht 13. Februar 2024

Der juristische Arm der Nato

Der Internationale Gerichtshof (IGH) weist Klage der Ukraine gegen Russland zurück – Berlin, Washington und Nato planen Sondertribunal zur Aburteilung Moskaus unter Vermeidung der etablierten Weltjustiz

Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hat eine Klage der Ukraine gegen Russland weitestgehend abgewiesen und damit zum zweiten Mal binnen weniger Tage klar gegen westliche Interessen geurteilt. Kiew hatte bereits im Jahr 2017 ein Verfahren gegen Moskau angestrengt; die Vorwürfe lauteten vor allem auf finanzielle Unterstützung ostukrainischer Separatisten und auf Unterdrückung der ukrainischen und der tatarischen Minderheit auf der Krim. Der IGH teilt die Auffassung nicht; er wirft Moskau lediglich vor, auf der Krim den ukrainischsprachigen Schulunterricht nicht ausreichend zu fördern. Mit Blick darauf, dass die Internationale Justiz inzwischen manchmal auch gegen den Westen entscheidet, beginnen Berlin, Washington und die Nato mit dem Aufbau von Parallelstrukturen.

So soll ein Sondertribunal eingerichtet werden, um Russlands Angriff auf die Ukraine aburteilen zu können. Es soll nur zu diesem Zweck installiert werden; so sollen Klagen wegen des Führens völkerrechtswidriger Angriffskriege gegen den Irak oder Jugoslawien verhindert werden. Damit verabschiedet sich der Westen vom Gedanken der Gleichheit aller Staaten vor dem Völkerrecht.

Klage gegen Russland

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat am Mittwoch eine Klage, die die Ukraine bereits 2017 gegen Russland angestrengt hatte, in den meisten Punkten abgewiesen. Kiew hatte Moskau vorgeworfen, seit 2014 prorussische Separatisten im Donbas sowie auf der Krim zu finanzieren, sie mit Waffen auszurüsten und sie militärisch auszubilden. Damit habe es gegen die Uno-Konvention zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus verstossen.¹ Zudem habe es sich eines Bruchs der Uno-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung schuldig gemacht, indem es auf der Krim Tataren und Ukrainer unterdrücke; der Anwalt der Ukraine hatte behauptet, auf der Halbinsel würden seit ihrer Aufnahme in die Russische Föderation die Rechte dieser beiden Minderheiten verletzt und ihre «Kultur ausgemerzt».² Die Ukraine hatte damals Schadensersatz von Russland gefordert und dies auch auf den Abschuss des malaysischen Flugzeuges MH17 im Juli 2017 über der Ostukraine bezogen, bei dem alle 298 an Bord befindlichen Menschen zu Tode kamen. Schliesslich hatte Kiew den IGH noch aufgefordert, in einer einstweiligen Verfügung die russische «Aggression» zu stoppen. Der IGH kam Letzterem nur insofern nach, als er verlangte, beide Seiten müssten jeglichen Schritt zu einer Eskalation unterlassen.

Weitestgehend abgewiesen

Am Mittwoch gab der IGH der Ukraine lediglich in wenigen marginalen Punkten recht. So stellte er fest, Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 habe die Lage eskaliert und damit gegen die einstweilige Verfügung verstossen.³ Darüber hinaus habe Moskau Vorwürfe aus Kiew, russische Bürger finanzierten Terrorismus in der Ukraine, nicht sorgfältig genug untersucht. Zudem habe es auf der Krim den Schulunterricht in ukrainischer Sprache nicht im erforderlichen Umfang gefördert. Sämtliche weiteren Vorwürfe gegen Russland wies der IGH ganz ausdrücklich zurück. So sei eine finanzielle Unterstützung für ukrainische Separatisten durch Russland nicht nachzuweisen. Die Frage, ob Moskau Separatisten in der Ostukraine oder auf der Krim mit Waffen ausgestattet oder militärisch ausgebildet habe, falle nicht unter die zitierte Uno-Konvention. Auch für eine angeblich umfassende Diskriminierung der ukrainischsprachigen Minderheit oder der Krim-Tataren habe die Ukraine in Den Haag keine einschlägig aussagekräftigen Belege präsentiert. Der IGH kam nun in seinem Urteil am Mittwoch zu dem Schluss, die ukrainischen Vorwürfe seien in der überwiegenden Mehrheit unzutreffend. Davon, Russland zur Zahlung von Schadensersatz zu verpflichten, sah der Gerichtshof dementsprechend ab.4

Gegen die Interessen des Westens

Die Entscheidung des IGH ist bereits die zweite innerhalb kurzer Zeit, bei der das oberste Gericht der Vereinten Nationen nicht im Sinne der westlichen Staaten und ihrer Verbündeten Recht spricht. Zuletzt war dies am vergangenen Freitag bei der einstweiligen Anordnung des IGH gegen Israel der Fall gewesen, in der die israelische Regierung dazu verpflichtet wurde, Massnahmen zur Verhinderung eines Genozids im Gazastreifen zu treffen (german-foreign-policy.com berichtete5).

Das Sondertribunal

Weil sich offenbar nicht mehr verhindern lässt, dass die internationale Justiz auch gegen Interessen der westlichen Staaten entscheidet, beginnen diese nach neuen Wegen zu suchen, um Rivalen und Gegner justiziell abzuurteilen. Das betrifft aktuell Bemühungen, Russlands Präsidenten Wladimir Putin wegen Führens eines Angriffskrieges vor Gericht zu stellen. Prinzipiell denkbar wäre, diesbezüglich Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu erheben. Allerdings wurden, wie Beobachter bereits vor einem Jahr feststellten, die formalen Voraussetzungen für eine Verurteilung durch den IStGH wegen des Führens eines Angriffskrieges auf Druck der westlichen Staaten «eng formuliert»: Es habe «Furcht» bestanden, «selbst vor den IStGH gezogen zu werden» – dies «zum Beispiel wegen des Krieges im Irak».⁶ Um zu vermeiden, dass ein Verfahren gegen Russland zum Präzedenzfall für ein Verfahren gegen die USA (wegen des Irak-Kriegs) oder gar gegen die Bundesrepublik (wegen des Angriffskriegs gegen Jugoslawien 1999) wird, plädiert etwa Aussenministerin Annalena Baerbock schon seit mehr als einem Jahr dafür, speziell für den Ukraine-Krieg ein «Sondertribunal» zu schaffen.7 Es solle zumindest «internationale Elemente» enthalten und womöglich in Den Haag angesiedelt werden, hiess es.

Nur gegen Russland

Inzwischen konkretisieren sich die Pläne. Zuletzt wurden sie am 19. Januar von Vertretern von rund 40 westlichen Staaten sowie einigen multinationalen Organisationen bei einem Treffen in Luxemburg vorangetrieben. Die Entwürfe, die zur Diskussion standen, stammten von der EU-Kommission und vom Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD). Ihnen zufolge soll eine kleine Gruppe von Staaten ein Sondertribunal organisieren; als Core Group, die aktuell mit den Planungen befasst ist und nach Lage der Dinge als Organisatorin eines Tribunals in Frage käme, werden Deutschland und Frankreich, weitere EU-Staaten und EU-Institutionen, Grossbritannien sowie die USA genannt, darüber hinaus die Parlamentarische Versammlung der Nato.8 Das Sondertribunal soll sich ausschliesslich gegen Personen richten, «die verdächtigt oder beschuldigt werden, das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine begangen zu haben». Eingegrenzt werden soll das auf Personen, die «tatsächlich die Kontrolle über das politische oder militärische Handeln der Russischen Föderation» innehaben. Das treffe, so heisst es, nur auf einige wenige Personen zu, insbesondere auf Präsident Wladimir Putin, Aussenminister Sergej Lawrow und Verteidigungsminister Sergej Schojgu. Das Sondertribunal soll ausschliesslich auf Antrag Kiews tätig werden dürfen.

Keine Gleichheit vor dem Recht

Sorgen machen sich die Initiatoren, wie berichtet wird, noch um die Legitimierung ihres Sondertribunals. Idealerweise solle die Uno-Generalversammlung die Pläne absegnen, heisst es. Unklar ist freilich, welches Interesse insbesondere der Globale Süden daran haben soll, zumal ein Tribunal, das einzig und allein der Aburteilung eines Staates dient, von der zentralen Idee der Gleichheit aller vor dem Völkerrecht endgültig Abschied nähme. Richtet der Westen aber ein Sondertribunal ohne Legitimierung durch die Vereinten Nationen ein, dann müsste er damit rechnen, dass der Globale Süden seinerseits Sondertribunale errichtete, so zum Beispiel gegen die Aggressoren des Krieges gegen den Irak.

¹ World court rejects bulk of Ukraine’s terrorism charges against Russia. news.un.org 31.01.2024.
² Ukraine verklagt Russland vor Internationalem Gerichtshof. rsw.beck.de 07.03.2017.
³ World court rejects bulk of Ukraine’s terrorism charges against Russia. news.un.org 31.01.2024.
4 IGH weist Klage gegen Russland weitgehend ab. rsw.beck.de 01.02.2024.
5 S. dazu Der Westen, der Süden und das Recht.
⁶ Matthias Wyssuwa: Wer kann russische Kriegsverbrecher verurteilen? Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.01.2023.
7 Baerbock wirbt für Sondertribunal. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.01.2023. S. dazu Das Sondertribunal.
8 Jan Diesteldorf, Paul-Anton Krüger: Ein Gericht, massgeschneidert für Putin und seine Helfer. Süddeutsche Zeitung 19.01.2024.

Quelle: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9473, erschienen am 2. Februar 2024

Wir danken GERMAN FOREIGN POLICY für die Abdruckgenehmigung.

veröffentlicht 13. Februar 2024

Leserzuschrift

Sehr geehrte Redaktion

Ihre Aussage in der ersten Frage des Interviews mit Andrej Hunko («Eine galloppierende Geopolitisierung aller Debatten», in Nr. 1/2024) über die Bauern in Schlüttsiel ist nicht korrekt. Sie hatten die Fähre keineswegs am Anlegen gehindert, wie aus einem Video zweifelsfrei ersichtlich ist. Sie hatten lediglich lautstark ein Gespräch mit Herrn Habeck gefordert, was dieser ablehnte. Daraufhin erst legte die Fähre wieder ab. 

Mit freundlichen Grüssen
Cornelius Junghans, Neu Ulm

veröffentlicht 13. Februar 2024

«Israel hat die falschen Strategien angewendet»

«Es ist das einzige Land der Welt, das den Terrorismus in über 75 Jahren nicht unter Kontrolle gebracht hat»

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild zvg)
Jacques Baud (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Der Krieg Israels gegen die Hamas dauert nun schon bald vier Monate. Ist das Ziel, die Hamas zu vernichten, erreicht worden?

Jacques Baud Nein. Im Oktober 2023 erklärten die israelischen Behörden auf etwas chaotische Weise zwei Ziele: die operativen Fähigkeiten der Hamas zu zerstören und die Geiseln zu retten. Doch Anfang Februar 2024 stellte sich heraus, dass die Hamas noch über ihre volle Führungsfähigkeit verfügte,¹ die einzigen toten Geiseln waren von der israelischen Armee getötet worden.²

Eines der Ziele der israelischen Regierung ist die Zerstörung der Führungsstruktur der Hamas. Ende November, als die israelischen Truppen einen Grossteil von Gaza-Stadt besetzt und das ihrer Ansicht nach wichtigste Hauptquartier der Hamas unter dem Al-Shifa-Krankenhaus eingenommen hatten, wurde ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen. Theoretisch wurden die Führungsstrukturen der Hamas schwer getroffen. Dennoch traf man eine Vereinbarung über einen ersten Austausch von Gefangenen/Geiseln. Dabei zeigte sich, dass die Hamas in der Lage war, das Feuer im gesamten Operationsgebiet gleichzeitig einzustellen, die für den Austausch vorgesehenen Gefangenen zu bergen und sie dann perfekt koordiniert in kleinen Gruppen an verschiedenen Punkten der zerstörten Stadt freizulassen.

Das bedeutet, dass die Führung der Hamas voll funktionsfähig und in der Lage ist, eine komplexe Aktion an verschiedenen Punkten im Gazastreifen in einer Umgebung zu koordinieren, die quasi militärisch besetzt ist. Mit anderen Worten: Die Hamas hat eine stark dezentralisierte Führungsstruktur, die nichts mit dem zu tun hat, was das israelische Militär im Sinn hat, und ihr C3I (Command, Control, Communications & Intelligence) ist trotz der israelischen Zerstörungen und Kriegsverbrechen voll funktionsfähig.

Die israelischen Operationen gegen Krankenhäuser, insbesondere gegen das Al-Shifa-Krankenhaus, in dem sich angeblich das Hauptquartier der Hamas befand, waren klare Niederlagen der Israelis, da sie nicht nachweisen konnten, was sie in den Medien behauptet hatten: dass die Hamas diese Krankenhäuser entgegen dem Völkerrecht für kriegerische Zwecke nutzte. Die von der israelischen Armee gedrehten Videos wurden in den sozialen Netzwerken zum Gegenstand des Spotts.

Aber diese Operationen haben noch etwas anderes gezeigt: Der israelische Geheimdienst hat absolut nichts von seinen Gegnern verstanden. Man hatte bereits festgestellt, dass es ihm nicht gelungen war, die Vorbereitungen für die palästinensische Operation aufzudecken, doch nun stellt man fest, dass er die Palästinenser nicht kennt.

Gerade hier haben die Worte eine Bedeutung. Die Hamas ist eine Widerstandsbewegung. Mit anderen Worten: Sie ist eine Bewegung, die in einem Gebiet operiert, das von Israel beherrscht wird. Die Hamas konnte die israelischen Besatzungstruppen nicht bekämpfen, da sie durch einen Zaun getrennt waren. Daher musste sie die Israelis in ihr Gebiet locken.

Die Führungsstruktur der Hamas kann nicht die einer konventionellen Armee sein: Sie ist stark dezentralisiert und nutzt Kommunikationsmittel, die sich dem israelischen elektronischen Nachrichtendienst entziehen.

Anfang Februar erklärte der israelische Verteidigungsminister, dass die israelische Armee 18 der 24 Hamas-Phalanxen ausgeschaltet habe. In Wirklichkeit hat sie vor allem Führungskräfte der Bewegung ausgeschaltet, aber nicht das Kampfpotential. Wir sind es im Westen und in Israel gewohnt zu glauben, dass die Tötung eines Anführers die Struktur funktionsunfähig macht. Das ist eine vereinfachte Vorstellung.

Die Franzosen haben in Mali und Niger denselben Fehler gemacht, weshalb sie ihre Mission nicht erfüllen konnten. Tatsächlich führt die Ausschaltung eines Anführers nur dazu, dass ein anderer Anführer kommt, der oftmals fähiger und aggressiver ist. Andererseits wird die Widerstandsbewegung dadurch viel weniger vorhersehbar.

Anfang Februar 2024 haben die Israelis laut Uno-Zahlen etwas weniger als 28 000 palästinensische Zivilisten getötet, davon 70 Prozent Frauen und Kinder, also etwas weniger als 19 000.³ Sie haben also etwa 9 000 Männer getötet. Wenn der Minister sagt, sie hätten 10 000 Hamas-Kämpfer getötet, wird deutlich, dass dies nicht kohärent ist. Die Hamas hat eine Stärke von etwa 50 000 Mann, was etwa zwei Prozent der Bevölkerung in Gaza entspricht. Das würde bedeuten, dass sich unter diesen 9 000 nur ein paar hundert Hamas-Kämpfer befunden hätten. Das ist natürlich Theorie. Wir kennen die Realität nicht, aber die israelische Zahl ist sehr unglaubwürdig.

Vor allem aber zeigt sich, dass die israelische Armee vier Monate nach Beginn der Operation «Eiserne Schwerter» trotz der Zerstörungen und der Behauptung einer «absoluten operativen Kontrolle» in einigen Gebieten im nördlichen Gazastreifen nicht in der Lage ist, eine dauerhafte Präsenz aufzubauen.

In einigen Fällen sehen israelische Soldaten, wie die Raketen nur wenige Meter von ihrer Position entfernt starten und in Israel einschlagen. Wir stellen fest, dass

- die palästinensischen Kämpfer durch die israelische Präsenz anscheinend nicht behindert werden und sich in einem Gelände, das sie sehr gut kennen, frei bewegen können;

- die palästinensischen Führungsstrukturen perfekt zu funktionieren scheinen. Hinterhalte und andere Aktionen gegen israelische Truppen werden perfekt koordiniert. Komplexe Aktionen wie Hinterhalte mehrerer Kommandos gegen israelische Einheiten in Tunneln 80 Meter unter der Erde werden perfekt in Koordination mit den oberirdischen Truppen durchgeführt. Es werden sogar konzentrische Hinterhalte auf israelische Truppen aus mehreren getrennten Tunnelsystemen beobachtet, was auf intakte Führungsfähigkeiten hindeutet.

Israel hat die Lage nirgendwo im Norden des Gazastreifens unter Kontrolle. Die Hamas feuerte am 1.  Januar 2024, eine Minute nach Mitternacht, 27 Raketen aus einem von der israelischen Armee besetzten Gebiet auf Tel Aviv ab!

Eines der Ziele der Operation vom 7. Oktober war es, das israelische Militär in das Gebiet des Gazastreifens zu locken, um es dort zu vernichten. Die Israelis verstanden nichts davon und begaben sich in ein Gebiet, das sorgfältig für Guerilla-Aktionen vorbereitet worden war. Es gibt Hunderte von sogenannten «Kampftunneln», die es den palästinensischen Kämpfern ermöglichen, hinter israelischen Panzern hervorzukommen, auf sie zu schiessen und dann wieder zu verschwinden.

Im Verlauf der israelischen Operation hat man das Gefühl, dass die palästinensischen Streitkräfte in ihrem Element sind. Sie filmen alle ihre Einsätze mit Hilfe von Kameras, die am Gewehr oder am Kopf befestigt sind. In manchen Fällen folgt ein Kameramann dem Kämpfer: Sie benutzen denselben Tunnel, um sich den Israelis zu nähern und dann wieder abzuziehen. Ihre Erfolge sind daher ziemlich umfassend dokumentiert.

Am 6. Januar 2024 sind Generalleutnant Herzi Halevi, Stabschef der IDF, und Ronen Bar, Direktor des SHABAK, in Khan Younes, um einen Tunnel der Hamas zu besichtigen und um die Erfolge der israelischen Armee zu demonstrieren.4 Dies ist der Zeitpunkt, den die Hamas für einen massiven Raketenangriff auf Tel Aviv von Khan Younes auswählt. Normalerweise besteht ihre Taktik darin, einen Schuss abzufeuern und dann schnell die Stellung zu verlassen, bevor die Israelis Gegenfeuer geben. Doch dieses Mal feuerten die Palästinenser ihre Raketen ab, langsam, eine nach der anderen, als wollten sie zeigen, dass sie trotz der Anwesenheit der höchsten israelischen Generäle die volle Kontrolle über das Gebiet haben.

Am 29. Januar, dem 115.  Tag der Operation, feuern die Palästinenser 15 Raketen von einem nicht offengelegten Standort in Gaza auf Tel Aviv und das israelische Kernland ab. Mit anderen Worten: Die Palästinenser zeigen, dass ihre operativen Fähigkeiten nicht erschöpft sind, und die israelische Strategie versagt hat. Sie hat lediglich dazu geführt, dass völkerrechtswidrige Praktiken aufgedeckt wurden, ohne eine militärische Lösung zu bieten. Es ist Israel und dem Westen nie gelungen, wirksame Überlegungen und Strategien gegen die Aufstände im Nahen und Mittleren Osten zu entwickeln, die über das Töten hinausgehen.

Es ist festzustellen, dass die individuelle Ausbildung der israelischen Soldaten sie nicht auf diese Art von Kampf vorbereitet hat. Der Kampf in Stadtgebieten, insbesondere in einer Stadt wie Gaza, ist physisch und psychisch extrem anspruchsvoll. Er entwickelt sich oft zu einem Einzelkampf, bei dem man auf jedes Detail achten muss, da jeder Gegenstand oder jedes Trümmerteil eine Gefahr darstellen kann.

Der internationale Protest wird etwas lauter auch von sogenannten befreundeten Staaten. Ist das ernst gemeint oder nur zur Beruhigung der Öffentlichkeit?

Es ist möglich, dass es Israel gelingt, die Hamas zu zerschlagen. Es ist jedoch sicher, dass es ihm nicht gelingen wird, den Geist des palästinensischen Widerstands zu zerschlagen. Israel hat systematisch die falschen Strategien angewendet, um den palästinensischen Widerstand auszuschalten. Es ist übrigens das einzige Land der Welt, das den Terrorismus in über 75 Jahren nicht unter Kontrolle gebracht hat!

Heute scheint Israel nur eine einzige Methode zur Bekämpfung des Terrorismus zu kennen: die  Bevölkerung im Gazastreifen mit Bomben zu zerschmettern. Die Briten mussten Belfast jedoch nicht zerstören, um die irisch-republikanische Armee zu bekämpfen. Entweder haben die Israelis in 75 Jahren nichts begriffen und haben ein intellektuelles Problem, oder sie verfolgen ein anderes Ziel. Deshalb hat die Initiative Südafrikas beim Internationalen Gerichtshof Aussicht auf Erfolg.

Aber in der Welt haben die Gemüter das bereits begriffen. Laut einer Harvard-Harris-Umfrage vom Dezember 2023 wären 51 Prozent der jungen Amerikaner bereit, «Israel zu beenden und es der Hamas zu geben»!5

Paradoxerweise wird das Verbot, Israel zu kritisieren, dazu beitragen, es unglaubwürdig zu machen und Antisemitismus zu fördern. So wurde beispielsweise eine französische Influencerin, die sich über die Nachricht lustig machte, dass die Hamas ein Baby in einem Ofen verbrannt habe, wegen «Verherrlichung des Terrorismus» angeklagt.6 Das Problem ist, dass am 7. Oktober 2023 kein Baby im Ofen verbrannt wurde. Die Geschichte ist jedoch nicht erfunden, sondern hat sich tatsächlich in Palästina ereignet, allerdings am 9. April 1948 in Deir Yassin– ein von den jüdischen Milizen begangenes Verbrechen7 …

Israel kann auf taktischer Ebene gewinnen, aber wahrscheinlich auf Kosten einer strategischen Niederlage. Der Internationale Gerichtshof hat bereits die «Plausibilität eines Völkermords» in Gaza festgestellt. Wenn der IGH diese Feststellung in einem Urteil bestätigt, werden nur noch sehr wenige Länder Waffen von einem Land kaufen wollen – wie es die Schweiz tut – , das des Völkermords beschuldigt wird.

Wenn in der Ukraine eine russische Rakete angeblich ein Spital getroffen hat, gibt es im Westen einen Aufschrei. Israel hat Dutzende von Spitälern bombardiert, aber der Protest ist sehr verhalten. Wie kann man das erklären?

Aus unklaren Gründen ist Israel davon überzeugt, dass eine «grosse Zahl» von Palästinensern Krankenhäuser «als Basis für die Planung von terroristischen Aktivitäten und die Durchführung von Anschlägen» nutzt.8 Das ist möglich, aber bis Ende Januar 2024 fanden die israelischen Streitkräfte keine Beweise für diese Behauptung, nachdem sie die Krankenhäuser im nördlichen Gazastreifen unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Abgesehen davon, dass dies tendenziell auf einen mangelhaften militärischen Nachrichtendienst hindeutet, lässt ihre Wiederholung berechtigterweise vermuten, dass sie nur ein Vorwand ist, um völkerrechtswidrige Handlungen zu rechtfertigen.

Von Beginn der Operation «Eisernen Schwerter» an war es das Ziel der Israelis, den Gazastreifen zu «leeren»: zunächst die Zivilbevölkerung und dann die palästinensischen Kämpfer. Das Problem ist, dass die Krankenhäuser durch die israelischen Luftangriffe zu einer essentiellen Infrastruktur geworden sind, die die Bevölkerung zurückhält. Sie müssen daher zerstört oder funktionsunfähig gemacht werden, um die Gaza-Bevölkerung in den Süden zu treiben.

So behauptet Israel, dass das indonesische Krankenhaus eine Basis beherberge, die der Hamas zum Abschuss von Raketen auf Israel diene.⁹ Diese Information wird von der indonesischen Regierung, die den Betrieb des Krankenhauses finanziert, und von MER-C, der Wohltätigkeitsorganisation, die das Krankenhaus betreibt, entschieden dementiert.10

Es gibt immer wieder Scharmützel zwischen der Hisbollah und Israel. Menschen aus dem Libanon befürchten einen Angriff Israels. Sehen Sie die Gefahr auch?

Unsere Schwierigkeit, zu verstehen, was entlang der Nordgrenze Israels vor sich geht, hängt damit zusammen, dass die Informationen, die unsere Medien liefern, sehr summarisch sind. Tatsächlich führt Israel fast täglich Luftangriffe oder Aufklärungsflüge über Syrien oder dem Libanon durch.

Laut der Website Air Pressure hat Israel zwischen 2007 und 2022 mehr als 22 000 Mal den libanesischen Luftraum verletzt:11 8 231 Kampfflugzeuge und 13 102 Drohnen.12 Diese Luftraumverletzungen (manchmal sogar im Überschallmodus, der einen «Knall» erzeugt, um die Zivilbevölkerung zu erschrecken13) werden regelmässig von den im Südlibanon stationierten Uno-Streitkräften gemeldet, aber nie von der internationalen Gemeinschaft verurteilt. Die Hisbollah reagiert auf die israelischen Provokationen, weil sie weiss, dass Israel ein Problem im Süden hat und ihre Antwort daher mehr Wirkung zeigen wird.

An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Hisbollah deshalb existiert, weil Israel weiterhin – illegal – libanesische Gebiete entlang der gesamten Grenze und in der Zone der «Shaba-Farmen» besetzt hält. Das Problem ist, dass Israel glaubt, seine Sicherheit hänge vom Chaos ab, das es in den Nachbarländern verursacht: Wenn die Araber sich gegenseitig bekämpfen, denken sie nicht daran, Israel anzugreifen. Das ist genau das Gegenteil der Doktrin der Schweizer Sicherheitspolitik, die ihre Sicherheit in Stabilität und Kooperation sieht. Diese israelische Politik ist natürlich nur dank der Unterstützung der USA möglich.

Das bedeutet, dass diese Länder potenziell jeden Tag Gründe haben, um gegen Israel zurückzuschlagen. In den Tagen vor dem 7. Oktober flog Israel mehrere Luftangriffe gegen die Hisbollah und den Südlibanon, und im September warf das Washington Institute die Frage nach einem möglichen Krieg zwischen Israel und dem Libanon auf.14 Es ist daher schwierig zu unterscheiden, was auf diese regelmässigen Fieberschübe zurückzuführen ist und was mit der palästinensischen Operation zusammenhängen könnte.

Das Problem ist, dass Israel kein rationaler Akteur ist. Am 12. November rief der US-Verteidigungsminister General Austin seinen israelischen Amtskollegen Yoav Gallant an, um ihm die wachsende Besorgnis des Weissen Hauses über die israelischen Militäraktionen im Libanon mitzuteilen, die die Spannungen entlang der Grenze verschärfen. Mitglieder der Biden-Administration befürchten, dass Israel die Hisbollah provozieren und einen Vorwand für einen umfassenderen Krieg schaffen will, der die USA in einen regionalen Konflikt hineinziehen könnte.15

Die Ermordung von Saleh Al-Arouri in Beirut durch einen israelischen Terroranschlag am 2. Januar 2024 veranschaulicht diese Irrationalität. Denn Israel scheint – wieder einmal – nicht in der Lage zu sein, seine Gegner einzuschätzen. So hat dieses Attentat eine Spirale der Vergeltung in Gang gesetzt:

- Die Hisbollah führte einen Schlag gegen die Station für elektronische Kriegsführung auf dem Berg Meron (Har Miron) in Nordisrael durch. Interessanterweise hat nicht die Hamas, sondern die Hisbollah die Antwort auf diesen Angriff angekündigt. Der Grund für den Gegenschlag war, dass die Israelis den libanesischen Luftraum verletzt hatten. Nicht zu reagieren hätte bedeutet, Israel einen Freibrief für weitere Operationen dieser Art zu erteilen.

- Auf diesen Schlag folgte die Eliminierung von Wassim Al-Tawil, einem Hisbollah-Kommandeur in der Nähe von Khirbet Selm im Südlibanon am 8. Januar.16

- Die Hisbollah antwortete daraufhin mit einem Schlag gegen das Hauptquartier des israelischen Nordsektors in Safad.17

Israel hat wahrscheinlich begonnen zu verstehen, dass die Situation nicht mehr zu seinen Gunsten ist. Das israelische Gesundheitsministerium forderte die medizinischen Einrichtungen im Norden des Landes auf, ihre Bereitschaft zu erhöhen und sich auf die Behandlung von Tausenden von Opfern vorzubereiten.18

Im Januar 2024 geht der Schlagabtausch zwischen der Hisbollah und Israel weiter. Die Hisbollah versucht, das System «Iron dome», das den Luftschutz des Landes gewährleistet, sowie die Überwachungseinrichtungen im Nordsektor anzugreifen. Israel befindet sich in Gaza in Schwierigkeiten, wo der IGH die Plausibilität eines Völkermords festgestellt hat, während seine Praxis, auf die eigenen Truppen zu schiessen, breite Proteste der Bevölkerung in den grossen Städten des Landes ausgelöst hat. Die Versuchung, in einem neuen Konflikt mit dem Libanon wieder eine nationale Einheit herzustellen, ist daher verlockend.

Darüber hinaus hielten sich die israelischen und westlichen Medien zu einem anderen Ereignis sehr bedeckt. Am 8.  Januar bekannte sich der Islamische Widerstand im Irak zum Abschuss einer AL-ARQAB-Rakete auf eine strategische Einrichtung in der Nähe der israelischen Stadt Haifa, also in einer Entfernung von über 400 km.19 Über diesen Abschuss wollte vermutlich niemand sprechen, um nicht zu einem Gegenschlag gezwungen zu werden und sich auf eine Verschärfung der Situation einzulassen, die für Israel durchaus ungünstig sein könnte.

Israel bombardiert immer wieder «Stellungen» im Libanon und in Syrien. Ausser Israel tun dies auch die USA. Will Israel einen grösseren Krieg provozieren, oder sind das Nebenkriegsschauplätze?

Zunächst muss klargestellt werden, dass die Hisbollah der Hamas wahrscheinlich bei der Bewaffnung geholfen hat. Es ist aber unwahrscheinlich, dass der Iran oder die Hisbollah zur Operation der Hamas beigetragen haben. In der Schweiz hatte RTS am 12.  Oktober die Idee aufgegriffen, dass der Iran aktiv zu der Operation beigetragen habe,20 bei der Ausbildung der Piloten von Ultraleichtflugzeugen geholfen habe.21 RTS vermutete sogar, dass der Iran «hinter den Massakern [vom 7.  Oktober]» stehe, und rechtfertigte damit die israelischen Angriffe gegen Syrien.22 Doch wie üblich lügt das Westschweizer Medium, denn vier Tage zuvor, am 8.  Oktober, hatte Antony Blinken in der Washington Post erklärt, dass «wir noch keine Beweise dafür haben, dass der Iran diesen speziellen Anschlag angeführt hat oder dahinter steckt».23 Am nächsten Tag erklärte der israelische Journalist Yossi Melman: «Der Sprecher der IDF, Brigadegeneral Danny Hagari, sagte, es gebe keine Hinweise auf eine iranische Beteiligung am Krieg in Gaza.»24 Selbst Reuters erklärte am 11. Oktober, dass laut US-Geheimdienst der Iran von dem Angriff der Hamas überrascht wurde.25

Dies wirft einen wichtigen Punkt auf: die Objektivität unserer Medien in Bezug auf den Konflikt. Denn es ist zu beobachten, dass sie alle eine Politik unterstützt haben, die der Internationale Gerichtshof als «plausibel völkermörderisch» bezeichnet hat. Wie wir beim Ukraine-Konflikt gesehen haben, arbeiten unsere Medien nicht faktenorientiert, sondern ideologieorientiert. Ich erinnere daran, dass ein Westschweizer Journalist des RTS sogar den rechtsextremen Terroristen Anders Breivik inspiriert hat,26 wie Sie in meinem Buch «Vaincre le terrorisme djihadiste» nachlesen können. Mit anderen Worten: Wieder einmal sind unsere Medien nicht um Beschwichtigung bemüht, sondern zeigen den bewussten Willen, Meinungen zu polarisieren und zu radikalisieren.

Selbst die Aussetzung der Finanzierung der UNRWA durch einige europäische Länder, darunter die Schweiz, allein auf der Grundlage israelischer Erklärungen und ohne jegliche Beweise, zeigt ein erratisches, emotionales und von rechtsstaatlichen Grundsätzen losgelöstes politisches Verhalten. Belgien, das sich weigerte, seine finanzielle Unterstützung für die UNRWA auszusetzen, musste mit ansehen, wie sein Gebäude für Entwicklungszusammenarbeit in Gaza am nächsten Tag von Israel zerstört wurde – ohne Erklärung!27 Es ist diese Politik, die wir unterstützen, getragen von einen antiarabischen Rassismus, der von den Mainstream-Medien verbreitet wird.

In Wirklichkeit sind der Iran und die Hisbollah im Gegensatz zu Israel rationale Akteure in dem Konflikt. Sie haben bereits mehrfach erklärt, dass sie sich nicht an einer gross angelegten Auseinandersetzung in der Region beteiligen wollen. Das Problem läge vielmehr bei Israel, das um jeden Preis versucht, die USA mit hineinzuziehen. Obwohl Israel angeblich die stärkste Armee in der Region hat, ist sie wahrscheinlich nicht in der Lage, einen Zweifrontenkrieg zu führen. So besitzt Israel etwa 220 MERKAVA IV-Panzer und über 600 MERKAVA III-Panzer. Nach Angaben der Hamas wurden bei der Gaza-Operation 1108 Kampfpanzer zerstört oder beschädigt, was auch Panzer einer älteren Generation einschliesst. Diese Zahlen sind nicht überprüfbar, scheinen aber mit den Bildern, die in den sozialen Netzwerken kursieren, übereinzustimmen. Angenommen, sie stimmen, bedeutet dies, dass das israelische Potenzial, sich der Hisbollah im Norden des Landes zu stellen, sehr begrenzt ist.

Trotz der schrecklichen Zerstörungen, die dem Libanon 2006 zugefügt wurden, galt Israel als Verlierer des Krieges, den es gegen die Hisbollah angezettelt hatte. Sich heute gleichzeitig mit dem Krieg in Gaza auf einen Krieg im Norden einzulassen, würde ein enormes Risiko bedeuten. Deshalb schlagen die Israelis in Syrien zu, weil sie auf diese Weise einen grösseren Konflikt provozieren wollen, in den die USA fast gezwungen wären, einzugreifen. Das ist auch der Grund, warum Russland damit begonnen hat, im Luftraum an der israelischen Grenze zu patrouillieren, und Truppen an der israelischen Grenze zu den Golanhöhen stationiert hat, die nach internationalem Recht syrisches Territorium sind, das Israel jedoch illegal annektiert hat.

Nachdem die USA sich geweigert haben, seine Operation in Rafah zu unterstützen, scheint Israel derzeit auf der internationalen Bühne immer mehr isoliert zu werden. Israel geniesst zwar noch eine gewisse Unterstützung aus dem Westen, aber der Zeitpunkt, an dem niemand mehr für einen Staat kämpfen will, der des Völkermords beschuldigt wird, rückt immer näher. Israel wird dann vor die Wahl gestellt werden, seine Politik radikal zu ändern oder …

Die Tötung von ungefähr 100 Menschen bei der Gedenkfeier für den iranischen General Kassem Soleimani ist eine massive Provokation. Was wollen die dafür Verantwortlichen bezwecken? Ist es realistisch, dass der IS dahinter steht?

Heute versucht man, alle «Bösen» in einer Art Logik zusammenzufassen. Unsere gelehrten Experten wiederholen gebetsmühlenartig, dass der Iran die Hamas finanziere und anführe.28 Wie die Journalistin Anne Sinclair erklärt man laut und deutlich, dass der Islamische Staat die Hamas sei,29 während andere «Experten» in der Operation vom 7.  Oktober den Ausdruck eines zivilisatorischen Kampfes sehen.30 Wir befinden uns in der absoluten Fantasie. Am 8.  Januar 2024 verurteilte31 der Sprecher des IS die Hamas und bekannte32 sich zu dem Anschlag vom 2.  Januar33 auf die Gedenkfeier für General Soleimani im Iran.34 Das Narrativ des Westens und unserer «Experten» ist in einer Art Teufelskreis gefangen, in dessen Zentrum sich angeblich die Hamas befindet. Fakt ist:

Die Hamas ist nicht mit dem Iran assoziiert, auch wenn sie Hilfe von der Hisbollah erhält.

Der Islamische Staat wurde nicht von Israel gegründet, aber er ist ihm nicht feindlich gesinnt, und Israel sieht ihn nicht als Bedrohung an.35

Der Islamische Staat sieht die Hisbollah und ihre iranische Unterstützung als Bedrohung an, da sie – zusammen mit Syrien – das grösste Hindernis für sein geplantes Kalifat zwischen dem Irak und Syrien darstellen.

Die Hamas wird vom Islamischen Staat als Feind wahrgenommen. In der Februarausgabe 2016 seiner Zeitschrift Dar al-Islam kritisierte der Islamische Staat die palästinensische Hamas ziemlich heftig,36 und erklärte ihr sogar den Krieg, weil sie nicht für die Religion, sondern für ein Land kämpfe!37

Vor diesem Hintergrund gehen unsere Medien seit dem Ausbruch der Hamas-Operation mit Verschwörungstheorien hausieren, die auf eine Beteiligung des Iran hindeuten. Doch ausser unseren Vorurteilen gibt es keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Iran an der Vorbereitung, Organisation und Auslösung der Hamas-Operation beteiligt war.

Jemen wird immer wieder von den USA bombardiert, um die Huthi-Rebellen auszuschalten. Welche Gefahr stellen die Huthis wirklich dar?

Im Roten Meer haben die Huthis eine Blockade gegen Israel verhängt, bis es einen Waffenstillstand in Gaza akzeptiert, und greifen Schiffe, die Israels Häfen anlaufen, mit Raketen an. Diese Blockade gilt nicht für andere Schiffe, und selbst die Schiffe ihres saudischen Feindes können passieren.38 Sie taten genau das, was der Westen mit anderen Ländern tut – nur mit ihren Mitteln. Die Vergeltungsmassnahmen der USA und Grossbritanniens zur Verhinderung der von den Huthis verhängten Blockade haben keine abschreckende Wirkung. Präsident Biden gibt zu, dass ihre Luftschläge gegen den Jemen unwirksam sind, wird sie aber weiterhin anordnen.39

Tatsächlich stellen die Huthis keine Bedrohung dar. Sie führen weder einen Krieg gegen die Welt noch einen Krieg gegen Israel. Ihr Vorgehen besteht darin, eine Blockade Israels zu errichten, um es zu zwingen, einem Waffenstillstand zuzustimmen. Natürlich kann man ihre Methode in Frage stellen, aber sie bedienen sich nur der gleichen Methoden wie der Westen! Sie wenden eine Form von Sanktionen an.

Die von einzelnen Ländern verhängten Sanktionen sind zwar illegal, aber man darf nicht vergessen, dass das, was für die Huthis gilt, auch für andere Länder gilt. Auch die Schweiz hat einseitige Sanktionen gegen Russ­land verhängt!

Auch wenn ich die Methode der Huthis für falsch halte, erteilt uns die südliche Hemisphäre hier eine meisterhafte Lektion in Sachen Mut und zeigt dem Planeten, wie feige und korrupt unsere westliche Welt ist. Unsere sogenannten politischen Eliten taugen nichts. Der 7.  Oktober ist nur der vorläufige Höhepunkt einer Situation, die wir – und Israel in erster Linie – haben verkommen lassen.

Herr Baud, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ «Hamas ‹far from collapsing› in north Gaza: Israeli media», The Cradle, 27 novembre 2023 (new.thecradle.co/articles-id/13815)
² «Hamas armed wing: More than 60 hostages are missing due to Israeli airstrikes», Reuters, 4 novembre 2023 (www.reuters.com/world/middle-east/hamas-armed-wing-more-than-60-hostages-are-missing-due-israeli-airstrikes-2023-11-04/)
³ www.ochaopt.org/content/hostilities-gaza-strip-and-israel-reported-impact-day-124
4 Yonah Jeremy Bob & Gadi Zaig, «IDF, Shin Bet chiefs visit tunnels in heart of Khan Yunis», The Jerusalem Post, 6 janvier 2024 (www.jpost.com/israel-hamas-war/article-781089)
5 harvardharrispoll.com/wp-content/uploads/2023/12/HHP_Dec23_KeyResults.pdf
www.tf1info.fr/justice-faits-divers/en-direct-proces-warda-anwar-influenceuse-ironisant-sur-la-mort-d-un-bebe-dans-un-four-israel-hamas-jugee-a-paris-aujourd-hui-2277029.html
7 youtu.be/Bwy-Rf15UIs?t=1498
8 «Cisjordanie : un commando israélien tue trois membres du Hamas et du Jihad islamique dans un hôpital», franceinfo / AFP, 30 janvier 2024 (www.francetvinfo.fr/monde/proche-orient/israel-palestine/cisjordanie-occupee-trois-terroristes-palestiniens-tues-dans-un-raid-israelien-sur-un-hopital_6334144.html)
⁹ Emanuel Fabian, «IDF releases new intel detailing Hamas use of Gaza hospitals for terror purposes», The Times of Israel, 5 novembre 2023 (www.timesofisrael.com/idf-releases-new-intel-detailing-hamas-use-of-gaza-hospitals-for-terror-purposes/)
10 «IDF says Hamas using Indonesian Hospital to hide terror base; Jakarta pushes back», AFP/The Times of Israel, 7 novembre 2023 (www.timesofisrael.com/jakarta-pushes-back-as-idf-says-hamas-using-indonesian-hospital-to-hide-terror-base/)
11 Anna Ahronheim, «Israel flew in Lebanese airspace over 22,000 times in last 15 years – study», The Jerusalem Post, 12 juin 2022 (www.jpost.com/israel-news/article-709182)
12 www.airpressure.info/
13 «Israeli jets said to cause sonic boom over Lebanon», The Times of Israel/AFP, 10 septembre 2017
14 www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/new-israel-hezbollah-war-looming
15 www.axios.com/2023/11/12/israel-lebanon-lloyd-austin-yoav-gallant-military
16 Laila Bassam & Maya Gebeily, «Israeli strike kills a Hezbollah commander in Lebanon», Reuters, 8 janvier 2024 (www.reuters.com/world/middle-east/israeli-strike-lebanon-kills-senior-commander-elite-hezbollah-unit-security-2024-01-08/)
17 www.timesofisrael.com/liveblog_entry/hezbollah-claims-to-target-idf-northern-command-hq-with-drones-no-comment-from-army/
18 www.palestinechronicle.com/israel-orders-hospitals-to-prepare-for-treating-thousands-of-wounded/
19 NDA: L’expression «Résistance Islamique en Irak» désigne collectivement toute une série de grtoupemnents de résistance en Irak, mais il n’y a plus de groupe portant spécifiquement cette désignation aujourd’hui en Irak. 
20 www.rts.ch/info/monde/14384696-mahmoud-abbas-exige-la-fin-immediate-de-lagression-contre-le-peuple-palestinien.html
21 www.rts.ch/info/monde/14381098-le-hamas-affirme-avoir-libere-une-otage-et-ses-deux-enfants.html
22 www.rts.ch/play/tv/redirect/detail/14386304
23 John Hudson & Ellen Nakashima, «Biden administration scrambles to deter wider Mideast conflict», The Washington Post, 8 octobre 2023 (www.washingtonpost.com/national-security/2023/10/08/israel-hamas-intelligence-middle-east/)
24 twitter.com/yossi_melman/status/1711253641573584970
25 Jonathan Landay & Matt Spetalnick, «Hamas attack surprised some Iranian leaders, says US source, citing initial intelligence», Reuters, 11 octobre 2023 (www.reuters.com/world/initial-us-intelligence-shows-hamas-attack-surprised-iranian-leaders-ny-times-2023-10-11/)
26 Mattias Gardell, «Crusader Dreams: Oslo 22/7, Islamophobia, and the Quest for a Monocultural Europe», Terrorism and Political Violence, 26:129–155, 2014.
27 www.lesoir.be/567420/article/2024-02-09/destruction-des-locaux-denabel-la-belgique-na-toujours-pas-eu-de-clarification
28 youtu.be/9j9Gs0PdXzU
29 www.dailymotion.com/video/x8p2qe3
30 Gaétan Supertino, «Hugo Micheron, spécialiste du djihadisme: ‹Depuis le 7 octobre, l’EI et Al-Qaida cherchent à s’emparer de l’engouement déclenché par le Hamas contre Israël›», Le Monde, 5 novembre 2023 (mis à jour 8 novembre 2023) (www.lemonde.fr/le-monde-des-religions/article/2023/11/05/hugo-micheron-specialiste-du-djihadisme-depuis-le-7-octobre-l-ei-et-al-qaida-cherchent-a-s-emparer-de-l-engouement-declenche-par-le-hamas-contre-israel_6198310_6038514.html)
31 shorturl.at/inF58
32 Parisa Hafezi, Elwely Elwelly & Clauda Tanios, «Islamic State claims responsibility for deadly Iran attack, Tehran vows revenge», Reuters, 4 janvier 2024 (www.reuters.com/world/middle-east/iran-vows-revenge-after-biggest-attack-since-1979-revolution-2024-01-04/)
33 www.longwarjournal.org/archives/2024/01/islamic-state-announces-new-global-campaign-to-rally-members-and-supporters.php
34 www.reuters.com/world/middle-east/iran-vows-revenge-after-biggest-attack-since-1979-revolution-2024-01-04/
35 Efraim Inbar, «ISIS No Threat to Israel», POV-Boston University, 18 septembre 2015 (www.bu.edu/articles/2015/pov-isis-no-threat-to-israel/)
36 «Comment connaître la vérité», Dar al-Islam, no 8, p. 61, Rabi ath-Thani 1437, janvier-février 2016.
37 Iyad Abuheweila & Isabel Kershner, «Islamic State declares war on Hamas as Gaza families disown sons in Sinai», The Irish Times, 11 janvier 2018 (www.irishtimes.com/news/world/middle-east/islamic-state-declares-war-on-hamas-as-gaza-families-disown-sons-in-sinai-1.3351899)
38 www.reuters.com/world/middle-east/yemens-houthis-say-they-do-not-seek-expand-red-sea-attacks-2024-01-19/
39 Oren Liebermann & Nikki Carvajal, «Biden concedes Houthis haven’t been deterred from carrying out attacks as US launches further strikes», CNN, 18 janvier 2024 (edition.cnn.com/2024/01/18/politics/biden-houthi-strikes/index.html)

Aus den Französischen übersetzt mit www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version). Bearbeitung Zeitgeschenen im Fokus.

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete unter anderem für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

veröffentlicht 13. Februar 2024

Neue Partei in Deutschland: «Unser Parteiprogramm beinhaltet eine differenzierte Integration in Bezug auf die EU»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Bundestagsabgeordneter A. Hunko, BSW (Bild thk)
Bundestagsabgeordneter A. Hunko, BSW (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie hat sich die Gründung der neuen Partei Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) auf das politische Treiben in Deutschland ausgewirkt?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Die Partei hatte sich Anfang des Jahres formal gegründet. Am 8. Januar kam es zu einer kleinen Gründungszusammenkunft. Am 27.  Januar gab es einen 1. Parteitag mit 400 Mitgliedern. Damit steht die Partei mit einem Vorstand, einer Satzung, einer Finanzordnung, einem Europawahlprogramm und mit einer eigenen Liste von Kandidaten für die Europawahl bereit. Diese Wahl wird Anfang Juni unser erster Lackmustest sein. Bisher hat sich alles ganz gut entwickelt, um die Parteienlandschaft in Deutschland aufzumischen.

Was braucht es, damit man zur EU-Wahl antreten kann?

Man muss eine Partei oder «sonstige politische Vereinigung» sein. Man braucht 4 000 Unterstützerunterschriften aus dem Bundesgebiet. Die müssen mit Stempel vom Einwohnermeldeamt beglaubigt werden. Das lässt sich in der Regel gut bewerkstelligen. Wir haben zwar nicht viel Zeit und werden in den nächsten Wochen diese Unterschriften sammeln. Ich denke aber nicht, dass das ein Problem darstellt. Man muss natürlich eine rechtssichere Liste mit Kandidaten aufstellen. Normalerweise macht das eine Partei. Deutschland hat in Brüssel 96 Parlamentssitze. Über den Daumen gepeilt sind das etwa ein  Prozent der Wählerstimmen für einen Sitz. Kleine Parteien können deshalb leicht mit einem beziehungsweise einer Abgeordneten vertreten sein. So gibt es diverse Kleinstparteien dort. Aber es braucht eine Liste. Wenn man zum Beispiel sieben Prozent bekommt, dann können die ersten sieben ins Parlament einziehen. Wenn ein Platz frei wird, kann der nächste nachrücken. Das Ganze muss nach rechtlichen demokratischen Standards ablaufen. Dafür gibt es Voraussetzungen, und die erfüllt in der Regel eine Partei. Das haben wir alles am 27. Januar klar gemacht. Wir haben eine Liste mit 20 Kandidaten aufgestellt.

Wer möchte denn für BSW an der Europawahl kandidieren?

Wenn man die Liste anschaut, dann sieht man, dass die Liste die Idee von BSW abbildet. Wir haben mit Fabio de Masi, der ursprünglich aus der Linken kommt, einen ausgesprochenen Finanzexperten als Spitzenkandidaten. Aus verschiedenen Bereichen sind Menschen auf der Liste, die nicht aus dem Berliner Parteienbetrieb kommen. Konkret ist zum Beispiel auf Platz drei der Top-Diplomat Michael von der Schulenburg, der sein ganzes berufliches Leben mit Diplomatie und dem Versuch, Kriege zu verhindern und Verhandlungen zu führen, befasst war. Er tritt an, um das Signal auszusenden, wie wichtig Diplomatie in einer Zeit ist, in der in Europa eine aktive Diplomatieverweigerung an der Tagesordnung ist. Auf Platz sechs dieser Liste steht etwa Friedrich Pürner, ehemaliger Gesundheitsamtsleiter in Bayern, der gegen die Art und Weise der Coronamassnahmen protestiert hat, woraufhin er von Söder strafversetzt wurde. Er ist Autor verschiedener Bücher, die gut verkauft wurden. Auf Platz 9 steht Michael Lüders, Politik- und Islamwissenschaftler und Autor mehrerer Bestseller in Deutschland. Er ist ein exzellenter Kenner der arabischen Welt und der internationalen Politik. Er ist bisher nie als Parteipolitiker in Erscheinung getreten, ist aber ein Kritiker der gegenwärtigen moralisierenden Aussenpolitik. Das ist nur eine Auswahl, aber es sind Menschen, die in verschiedene Bereiche der Gesellschaft hineinwirken und nicht alle aus «unserem Stall» kommen. Es ist eine sehr gute Mischung, und ich glaube, dass unsere Liste angenommen wird.

Gibt es ein Programm für die EU-Wahl?

Wir haben ein Wahlprogramm verabschiedet. Es unterscheidet sich deutlich von anderen Programmen, weil es eine differenzierte Integration in Bezug auf die EU beinhaltet. Es ist nicht gegen die EU als solche gerichtet, denn in manchen Bereichen hat die EU einen Sinn, in anderen aber nicht. Da muss man bereit sein, auch zurückzubauen. Das Programm folgt nicht der Ideologie, je mehr Europa, desto besser, sondern es folgt eher einer vernunftbasierten Überprüfung, was sinnvoll ist und was nicht. Es ist sicher sinnvoll, Big-Tech-Konzerne zu kontrollieren oder Gegenmodelle dazu aufzubauen. Ein Beispiel beträfe Kommunen, die, wenn sie etwas bauen wollen, eine europaweite Ausschreibung machen müssen. Aus welchem Grund soll ein portugiesisches Unternehmen den Zuschlag für die Ausschreibung einer finnischen Gemeinde bekommen, wenn es nur um billigere Löhne geht? Es ist in dem Sinne EU-kritisch, aber nicht grundsätzlich gegen eine EU. Eine zentrale Forderung in dem Programm ist eine unabhängige EU und nicht eine EU als Filiale der USA.

Wo platzieren Sie die neue Partei im Parteienspektrum?

Wir wollen keine Linke 2.0 sein. Dennoch sind wir im klassischen Sinn im progressiven linken Spektrum zu verorten wie Zeitgeschehen im Fokus auch. Die Begriffe links und rechts sind heute komplett sinnentleert, weil man sich so weit von der ursprünglichen Bedeutung entfernt hat. In Fragen der Sozial-, Wirtschafts- und Aussenpolitik verstehen wir uns eher als links, gesellschaftspolitisch vielleicht in einigen Bereichen konservativ, in dem Sinne, dass wir nicht jedem gesellschaftlichen Trend folgen.

Der Fachbegriff für die Positionierung in unserem Wahlprogramm bezüglich der EU heisst «differenzielle und flexible Integration». Das bedeutet, in bestimmten Gebieten braucht es eine Vertiefung und in anderen einen Rückbau der EU.

Gibt es bei der Wahl ins EU-Parlament eine Fünf-Prozenthürde?

Nein, in Deutschland gibt es das nicht. Wenn eine Partei knapp ein  Prozent bekommt, kann sie meistens auf einen Sitz hoffen. Das ist die Hürde bei 96 Abgeordneten. Ich hoffe, dass wir mit zehn Abgeordneten einziehen. Das wäre mein Wunsch.

Wie gestaltet sich das politische Leben im EU-Parlament?

Es wird darüber sicher eine Debatte geben, in welcher Fraktion sich die Partei ansiedelt. Es könnte sein, dass es Umgruppierungen gibt. Es gibt dort auch eine Linksfraktion. Die besteht aus guten Parteien und weniger guten Parteien. Es gibt aber auch andere, die sich nicht in eine der Fraktionen einfügen wie zum Beispiel die 5-Sterne aus Italien. Möglicherweise finden dann nochmals neue Diskussionen statt. Die 5-Sterne möchten das auch ändern, weil sie im Moment in gar keiner Fraktion sind und damit nicht so viele Rechte haben. Die Ausschüsse werden meistens über die Fraktionen besetzt, aber auch die Redezeiten und viele Gestaltungsmöglichkeiten sind an einen Fraktionsstatus gekoppelt. Nach der Europawahl wird es auf der Grundlage des Ergebnisses Verhandlungen geben, wie sich die Fraktionen neu zusammensetzen. Am Ende muss der Parteivorstand darüber befinden, wo und mit wem die Partei Politik machen möchte.

Wie sieht das politische Leben der Partei im Bundestag aus?

Im letzten Oktober sind zehn Abgeordnete aus der Partei DIE LINKE ausgetreten. Daraufhin hat sich die Fraktion aufgelöst, und wir waren eine Zeit lang fraktionslose Abgeordnete. Seit dem 2. Februar sind wir vom Bundestag als «Gruppe» anerkannt. «Gruppe» ist nicht Fraktion. Es ist ein Status zwischen Fraktion und Einzelabgeordneten, aber mit durchaus relevanten Rechten. Wir sind zehn Abgeordnete der BSW-Gruppe. Wir können Anträge schreiben und Anfragen machen. Im Gesamten bin ich damit sehr zufrieden, aber es gibt einen Wermutstropfen. Sie haben die kleinen Anfragen, die sehr wichtig sind, um Transparenz über Regierungshandeln herzustellen, auf zehn pro Monat limitiert. Solche Anfragen sind ein wichtiger Aspekt in der Arbeit der Opposition. Diese zu deckeln, halten wir für falsch und haben das auch deutlich gemacht, aber abgesehen davon, sind wir sehr froh, dass wir jetzt so als Gruppe arbeiten können.

Können Sie auch in Kommissionen Einsitz nehmen und mitgestalten?

Das können wir, aber es ist begrenzt. Wir haben zwölf Sitze in zwölf verschiedenen Ausschüssen. Ich werde voraussichtlich in zwei Ausschüssen Einsitz nehmen – im europapolitischen- und im Gesundheitsausschuss – und möchte mich dort für die Aufarbeitung der Corona-Zeit einsetzen.

Das wird viele Bürgerinnen und Bürger beruhigen, dass jemand einmal die Sache vorantreibt, sonst haben wir die nächste Pandemie und werden nicht nur in Deutschland erneut massiv in unseren Freiheitsrechten eingeschränkt. Man kann also sagen, BSW hat gut gestartet.

Ja, aber es ist ein grosses Projekt. Es wird sicher noch ein paar Jahre dauern, bis BSW in all seinen Facetten eine richtige Partei ist. Die wichtigsten Meilensteine sind jetzt erst einmal erreicht. Das bildet sich auch in den Umfragen ab. BSW wird wie die anderen Parteien von allen grossen Umfrage-Instituten abgefragt und hält sich stabil über fünf Prozent. Für eine so junge Partei ist das ein exzellenter Start.

Im September gibt es drei Landtagswahlen in Ost-Deutschland, das sind dann die nächsten grossen Herausforderungen.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Programm zur Europawahl 2024

Friedlich und gerecht

Ein unabhängiges Europa souveräner Demokratien

Die Welt um uns befindet sich im Würgegriff von Krieg und Gewalt. Wir leben in der Zeit mit den meisten, intensivsten und am längsten andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen seit dem Ende des Kalten Krieges. Immer häufiger wird versucht, Konflikte durch bewaffnete Gewalt oder die Androhung von Gewalt zu lösen. Die weltweiten Militärausgaben haben sich seit 1990 mehr als verdoppelt, und sie steigen weiter – gerade auch in den Ländern der Europäischen Union. Europa ist von zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen umgeben und betroffen. Seit zwei Jahren wütet in der Ukraine der größte und gefährlichste Krieg auf europäischem Boden seit dem II. Weltkrieg. In einer Welt der Gewalt und einer drohenden neuen Blockkonfrontation wird Europa aufgrund seiner geographischen Lage und seiner Abhängigkeit von Rohstoffen, Energieträgern und Exportmärkten zum Verlierer werden.

Der Irrglaube, dass nur Waffen und hochgerüstete Armeen die Lösung von Konflikten ermöglichen, hat sich auch innerhalb der Führung der Europäischen Union und in vielen Mitgliedsländern durchgesetzt. Die Sprache des Krieges herrscht wieder in Europa, und Sicherheit wird allein in militärischer Aufrüstung gesucht. Friedliche Lösungen durch Diplomatie und Interessenausgleich werden blockiert. Das wollen wir ändern, indem wir Europa erneut zu dem Friedensprojekt machen, als das es einst konzipiert worden war. Wir brauchen Frieden in Europa, um unsere eigenen Interessen in der Welt zu fördern, um unseren Wohlstand und unsere sozialen Errungenschaften zu schützen, um unsere Demokratie und unser rechtsstaatliches System zu verteidigen und um unsere Wirtschaft nicht durch Sanktionen, die Verteuerung von Energie und Rohstoffen sowie die Kappung des Handels mit den Wachstumsmärkten Asiens zu schwächen. Außerdem führen Kriege zu den schlimmsten Umweltschäden. Wir werden die Probleme, die durch die Veränderung des Weltklimas entstehen, nur im Frieden und durch internationale Kooperation bewältigen.

Die europäische Idee von Frieden, Wohlstand, sozialer Sicherheit und Freiheit stand am Anfang der europäischen Einigung. Viele Menschen haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg für diese Idee engagiert. Sie wollten die Schrecken des Krieges, Nationalismus und Gewaltherrschaft für immer hinter sich lassen und in eine bessere Zukunft aufbrechen. Sie besannen sich auf die gemeinsamen europäischen Traditionen: Demokratie, Aufklärung, Solidarität. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Menschen in Westeuropa näher zusammengerückt: auf Reisen, im Studium oder am Arbeitsplatz. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kamen Millionen Osteuropäer hinzu. Über Jahrzehnte ging diese Entwicklung Hand in Hand mit verstärkter Kooperation und Integration – von der Montanunion über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bis zur Europäischen Union (EU). Wenngleich der Integrationsprozess nie ohne Konflikte verlief, erlebte Europa in der Nachkriegszeit Jahrzehnte des Aufschwungs und des Friedens.

Quelle: www.bsw-vg.de/programm/europawahlprogramm-2024/

 

Frieden

Mehr Zusammenarbeit, Souveränität und Frieden

Für ein neues Selbstverständnis in der Außenpolitik

Unsere Außenpolitik steht in der Tradition des Bundeskanzlers Willy Brandt und des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow, die dem Denken und Handeln in der Logik des Kalten Krieges eine Politik der Entspannung, des Interessenausgleichs und der internationalen Zusammenarbeit entgegengesetzt haben. Die Lösung von Konflikten mit militärischen Mitteln lehnen wir grundsätzlich ab. Wir wehren uns dagegen, dass immer mehr Ressourcen in Waffen und Kriegsgerät fließen, statt in die Bildung unserer Kinder, die Erforschung umweltschonender Technologien oder unsere Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen. Atomare Aufrüstung und eskalierende Konflikte zwischen den Atommächten setzen das Überleben der Menschheit aufs Spiel und müssen beendet werden. Wir streben eine neue Ära der Entspannung und neue Verträge über Abrüstung und gemeinsame Sicherheit an. Die Bundeswehr hat den Auftrag, unser Land zu verteidigen. Für diese Aufgabe muss sie angemessen ausgerüstet sein. Den Einsatz deutscher Soldaten in internationalen Kriegen lehnen wir ebenso ab wie ihre Stationierung an der russischen Grenze oder im Südchinesischen Meer.

Eine Militärallianz, deren Führungsmacht in den zurückliegenden Jahren fünf Länder völkerrechtswidrig überfallen und in diesen Kriegen mehr als 1 Million Menschen getötet hat, schürt Bedrohungsgefühle und Abwehrreaktionen und trägt so zu globaler Instabilität bei. Statt eines Machtinstruments für geopolitische Ziele brauchen wir ein defensiv ausgerichtetes Verteidigungsbündnis, das die Grundsätze der UN-Charta achtet, Abrüstung anstrebt, statt zu Aufrüstung zu verpflichten, und in dem sich die Mitglieder auf Augenhöhe begegnen. Europa benötigt eine stabile Sicherheitsarchitektur, die längerfristig auch Russland einschließen sollte.

Unser Land verdient eine selbstbewusste Politik, die das Wohlergehen seiner Bürger in den Mittelpunkt stellt und von der Einsicht getragen ist, dass US-amerikanische Interessen sich von unseren Interessen teilweise erheblich unterscheiden. Unser Ziel ist ein eigenständiges Europa souveräner Demokratien in einer multipolaren Welt und keine neue Blockkonfrontation, in der Europa zwischen den USA und dem sich immer selbstbewusster formierenden neuen Machtblock um China und Russland zerrieben wird.

Quelle: www.bsw-vg.de/programm/frieden/

veröffentlicht 13. Februar 2024

Finnlands schulischer Einbruch als Weckruf für die Schweiz

von Dr. phil. Carl Bossard*

«Kann man finnische Schulen kaufen?» So soll ein Bildungsexperte aus dem Nahen Osten gefragt haben. Auch er pilgerte nach der ersten PISA-Studie ins verheissene Land der weltbesten Schulen – mit einer Copy-and-Paste-Absicht. Möglich machten solche Bildungsfahrten die PISA-Rankings. Das «Programme for International Student Assessment» (PISA) vergleicht das Können 15-jähriger Schüler in den Fächern Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Anhand einer Punkteskala werden die Ergebnisse erfasst und in Kompetenzstufen aufgegliedert.

Diskrepanz zwischen dem Vorausgesagten und dem real Erlebten

Die erste weltweite Bildungsstudie im Jahr 2000 sah Finnland auf einem globalen Spitzenplatz. Wie seine Langläufer erreichten auch die Schüler Weltruhm. Die finnischen PISA-Erfolge weckten schnell das internationale Interesse. Der Bildungstourismus boomte. Auch mich zog Finnlands Mythos wie ein Magnet an. Ich reiste ins Mekka des Bildungserfolges. Doch im hohen Norden erlebte ich nicht, was ich in der Schweiz gehört hatte, und ich sah nicht, was Bildungsfachleute predigten und postulierten: Lehrer, die sich als Lerncoachs verstehen und nicht anleiten, Lehrerinnen, die Gruppenarbeiten moderieren und nicht unterrichten, Lehrkräfte, die selbstorientiertes Lernen (SOL) organisieren und nicht kollektiv ins Thema einführen. Keine Spur von Lernen ohne Lehrer (LOL), kein Anzeichen von individualisiertem Unterricht, kein selbstreguliertes Lernen mit Wochenplänen.

In allen besuchten Schulen erlebte ich das pure Gegenteil, nämlich einen geleiteten und gemeinsamen Unterricht im Klassenverband – strukturiert und in kleine Teile portioniert, mit Rückfragen und Diskursteilen aufgelockert, aber stringent geführt. Daran schlossen sich gemeinsame Übungsteile an – mit präzisen Aufgaben und lernförderlichen Feedbacks. Assistentinnen unterstützten die Kinder und trainierten mit ihnen. Entspannt im Ton, intensiv im Tun: Abwechslung ohne Zerstreuung. Kein Schüler, keine Schülerin war sich selbst überlassen.

Spürbarer Wirkwert der «direct instruction»

Ob darin Finnlands Geheimnis liegt und seinen Spitzenrang erklärt? Das fragte ich mich auf dem Rückweg von der Pilgerstätte. Als aufmerksamer Beobachter entdeckte ich vieles von dem, was der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie in seiner Studie «Visible Learning – Lernen sichtbar machen» von 2009 als lernwirksam definiert: einen geführten und strukturierten Unterricht – schülerzentriert, sachorientiert, aber lehrergesteuert. Hattie spricht von «direct instruction».

Viele Bildungsexperten disqualifizieren diese Form als altmodischen Frontalunterricht und verwerfen sie. Doch sie ist lernwirksam. Das zeigen empirische Studien. Franz E. Weinert, Kronzeuge für den Lehrplan 21 und Direktor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München, hält lapidar fest: «Zum Entsetzen vieler Reformpädagogen erwies sich in den meisten seriösen Studien eine Lehrform als überdurchschnittlich effektiv, die [ … ] als ‹Direkte Instruktion› bezeichnet wird. Sie verbessert die Leistungen fast aller Schüler.»

Finnlands Schulleistung als «sehr besorgniserregend» taxiert

Doch das finnische Bildungswunder ist nicht von langer Dauer. Zwischen 2003 und 2012 verliert das Land insgesamt 25 PISA-Punkte; das entspricht dem Lernerfolg eines ganzen Schuljahres. In den internationalen Studien sinken die finnischen Lernleistungen weiter. Die Ergebnisse von 2022 taxiert Finnlands Bildungsminister gar als «sehr besorgniserregend». Dabei liegt das ehemalige Bildungsparadies in den Naturwissenschaften und im Lesen noch vor der Schweiz. Bei uns bewertet die Präsidentin der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz EDK, die Zürcher Regierungsrätin Silvia Steiner, die Resultate als «gut» bis «sehr gut». Sie betont das Relativierende, verweist auf das noch schlechtere Abschneiden vergleichbarer Länder wie Deutschland und tröstet sich damit.

Warum aber dieser Erfolg des finnischen Bildungssystems? Und warum dieser Absturz? Manche Lernforscher erklären Finnlands Bildungswunder mit dem alten Schulsystem: starke Lehrerpersönlichkeiten, die Einfluss nehmen und führen, ein geleiteter und klar strukturierter Unterricht, eine eher traditionelle Methodik. Mitte der 1990er-Jahre ändert das Land sein Credo. Stabsleute lösen die praxis­erfahrenen Schulinspektoren ab. 

Der Absturz beginnt parallel zum Wirken der Reformen

Das Bildungssystem setzt nun auf Pädagogen, welche die Rolle des Lerncoachs übernehmen und als «Lehrkoordinatoren» den Fokus auf das einzelne Kind und sein selbstgesteuertes Lernen legen statt auf die Klasse. Gleichzeitig werden die Lehrpläne umgestellt: Sie sind nicht mehr inhalts- und zielbezogen, sondern einseitig kompetenzorientiert formuliert. Ab 2012 greifen die Reformen. Dazu braucht es zehn bis fünfzehn Jahre, sagt die Bildungsforschung. Entsprechend schwächer schneidet Finnland in den Tests ab. Die PISA-Noten werden genau dort schlechter, wo die Reformen zu wirken beginnen.

Finnlands Fehler führen zum Trend nach unten – und zwar dramatisch. Daraus lässt sich lernen. Auch die Schweiz ist bei den Reformen den gleichen Weg gegangen. Eine verantwortungsvolle Bildungspolitik beschönigt nicht; sie müsste Gegensteuer geben. Bildungsverlierer sind immer die lernschwächeren Kinder.

* Carl Bossard, Dr. phil., dipl. Gymnasiallehrer, war Rektor des Nidwaldner Gymnasiums in Stans, Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Heute leitet er Weiterbildungen und berät Schulen. Sein Hauptinteresse gilt bildungspolitischen und gesellschaftlich-historischen Fragen. Publikationen unter www.carlbossard.ch.

 

veröffentlicht 13. Februar 2024

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